Was wir nie vergessen werden... von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: 1... --------------- Die Sache ist jetzt zwei Jahre her und niemand von uns redet gern darüber. Schon gar nicht Hizumi. Erst letztens versuchte er wieder, sich mit dem Küchenmesser das Leben zu nehmen und liegt nun im Krankenhaus, nachdem er vorher einige Monate in psychiatrischer Behandlung war. Womöglich wird er nie darüber hinweg kommen, weswegen er, Tsukasa und ich in einer Wohngemeinschaft leben, um ihm zu helfen und ein Auge auf ihn zu haben. D’espairsRay - gibt es nicht mehr. Man wird sich wundern, warum ich Karyu nicht erwähne. Denn er ist an all dem Schuld. Nicht etwa, dass wir ihn nicht mögen würden, denn das taten Tsukasa und ich noch immer. Zumindest ein wenig, denn wir wussten selbst noch nicht, wie wir ihm entgegentreten sollen. Was er getan hatte, lag an der Grenze des Übernatürlichen, wenn es sie nicht sogar überschritt. Deswegen haben wir nie jemandem davon erzählt. Und deswegen wissen wir auch nicht genau, ob wir ihn noch mögen. Wir haben Karyu seit diesem Tag nicht wieder gesehen. Sämtliche Anrufe bei ihm blieben unbeantwortet. Auch alle Mails, SMS und Briefe. Ob wir uns darüber freuen können, wissen wir nicht. Denn Tsukasa und ich vermissen Karyu, selbst nachdem, was er getan hat. Alles, was wir wollen, ist nur noch einmal mit ihm darüber zu reden. Aber es soll wohl nicht sein. Ich möchte jetzt auch gar nicht erst wieder anfangen, von der schönen Zeit damals als Band. Sondern ich möchte die Geschichte erzählen. Zum ersten Mal ganz und von Anfang an. Kapitel 2: 2... --------------- Hizumi und ich standen gerade in der Küche unseres Studios und machten uns einen Tee, als Tsukasa mit der Nachricht herein kam, dass in der letzten Nacht ein Passant tot in der Innenstadt auf einem Gehweg gelegen hatte. Blutüberströmt und mit zwei Einstichen am Hals. „Haben wir jetzt auch noch Vampire in der Stadt? Laufen ja noch nicht genug Irre rum“, scherzte unser Sänger, während er einen Teebeutel in seiner und meiner Tasse versenkte. „Tja… wir sind scheinbar vor gar nichts mehr sicher. Mal sehen, wann die nächste Schlagzeile kommt. So was wie ‚Frau von Aliens entführt! Erde als Lösegeld gefordert‘ oder so.“ „Manchmal bist du echt krank, Tsukasa. Wirklich krank!“ Hizumi lachte und warf zwei Zuckerwürfel in seine Tasse. Ich verfolgte jede einzelne seiner Bewegungen aber nahm sie irgendwie nicht wahr. Etwas war anders an diesem Tag, das fühlte ich. Und es hatte etwas mit dem zu tun, was in der Nacht zuvor passiert war. Ich dachte mir, ob es die beiden nicht auch beunruhigte, dass ein Mensch draußen auf der Straße liegt, mit zwei Einstichen am Hals und um ihn herum überall Blut? Wo man sonst in der Zeitung lesen konnte, dass wieder so ein Irrer seine Frau und sein Kind getötet hatte, stand nun das. Sollte einem das nicht eigentlich zu denken geben? „Heh! Michi… alles klar?“ Jemand fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum und das in meinen Gedanken entstandene Bild dieses Passanten verflüchtigte sich allmählich. Ich zuckte richtig zusammen, als ich dann in Karyu‘ s Augen sah, der wohl gerade erst gekommen sein musste. „Was ist, gefallen dir meine neuen Kontaktlinsen etwa nicht? Ach Mensch, und ich fand sie so schön.“ Karyu schob demonstrativ die Unterlippe vor, sodass ich nicht anders konnte, als zu lachen. Er hatte sich blutrote Kontaktlinsen gekauft, mit denen er zugegebenermaßen atemberaubend aussah. Was mich allerdings störte war, dass sie so echt aussahen. Zu echt, um dass sie hätten Fake sein können. Kein durchsichtiger Rand um die Pupille, wie man ihn normal sofort gesehen hätte. Nicht mal verrutschen taten sie. Die anderen mussten meinen misstrauischen Blick bemerkt haben. Hizumi‘ s Stimme war die erste, die sich erhob. „Ich denke, wir sollten anfangen. Sonst bekommt unser Zerochen noch nen Koller.“ Tsukasa und Karyu verließen lachend die Küche in Richtung Tonstudio. Hizumi sprang von der Anrichte und sah mir direkt in die Augen. „Was ist los, Michi?“ Er war tot ernst. Aber was sollte ich sagen? Etwa ‘hey Hizu, ich hab nur ein komisches Gefühl wegen dem, was heute Nacht passiert ist‘? Nein. Und schon gar nicht konnte ich ihm von meinem Misstrauen gegenüber Karyu erzählen, da ich es erstens selbst lächerlich fand und mich zweitens sicherlich auch bei unserem Sänger damit zum Affen machte. „Nichts. Mir geht’s nur heut‘ nicht so gut.“ „Hm… lass uns loslegen. Vielleicht geht’s dann etwas.“ Ich nickte ihm zu. So was Blödes. Wie konnte ich auch ernsthaft denken, dass Karyu wirklich rote Augen hatte. So was gab es vielleicht in Filmen, aber doch nicht im Real-Life. Hätte ich damals nur gewusst… Kapitel 3: 3... --------------- Die Luft in unserem Tonstudio setzte mir an diesem Tag so zu, dass ich Hizumi bat, kurz draußen eine rauchen zu dürfen. „Sicher kannst du. Ich will ja nicht als Unmensch dastehen!“, lachte er. Ich lehnte mich erschöpft an meinen Wagen, der direkt neben der Tür stand. Am liebsten wäre ich einfach nach Hause gefahren, da ich schon wieder Kopfschmerzen bekam. Wenn man permanent mit vier Leuten auf einen einzigen, winzigen Bildschirm starrte, waren Kopfschmerzen ja auch vorprogrammiert. Ich musste meine Augen etwas entlasten. Da kam der schöne weiße Schnee genau recht. Langsam ließ ich den Blick über die weiße Schneedecke vor mir schweifen und zog nebenbei an meiner Zigarette, wobei ein wenig Asche von ihr abfiel. Ich sah ihr hinterher, bis sie auf dem Boden landete – direkt neben einem roten Fleck. Stutzend bückte ich mich herunter. Wo kam der denn auf einmal her? Ich nahm den gefärbten Schnee zögernd mit der Hand auf. Diese Farbe kam mir sehr bekannt vor. Dieses dunkle, fast stechende, blutige Rot. Karyu‘ s Augen. Ich sah mich nach weiteren Flecken um und tatsächlich… eine Spur. Ich folgte den vielen, nun wesentlich feineren Punkten, die nach einigen Metern aber abrupt aufhörten. Irgendetwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Als ich aufsah, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich stand vor Karyu‘ s Wagen. Plötzlich packte mir jemand auf die Schulter und ich konnte einen Schrei nicht unterdrücken. „Michi! Du solltest dich wärmer anziehen! Sonst erkältest du dich noch.“ Tsukasa lächelte mich an und nahm die Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche meines Hemdes. Mein Herz hämmerte wie verrückt und ich schaffte es nicht im Geringsten zu atmen. Wie konnte er mich so erschrecken? „Hör zu, ich weiß ja nicht, ob Karyu Menstruationsprobleme hat oder so…“, begann ich zu erklären, als ich meinen Herzschlag wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, allerdings nur, um gleich danach den nächsten Schock zu bekommen. Die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich sah, dass von den Tropfen, die zumindest aussahen wie Blut, nichts mehr zu sehen war. Tsukasa prustete los. „Also Zero, ernsthaft… manchmal denke ich, du solltest ein Buch schreiben. Bei den verrückten Gedanken die du hast, wird das sicherlich ein Bestseller.“ Während er sich den Bauch vor Lachen hielt, stand ich einfach nur da und starrte auf den weißen Schnee. War ich jetzt vollkommen verrückt? So irre konnte ich nicht sein, mir das alles eingebildet zu haben. Dafür war es einfach viel zu echt. Da viel mir ein… hatte ich das heute nicht schon einmal? Viel zu echt um Fake zu sein? In diesem Moment kam Karyu zu uns. „Was’n mit dem los?“, fragte er an mich gewandt, wie gewohnt gespannt auf die Antwort, um mitlachen zu können. Aber auf die Antwort wartet er wohl noch heute vergebens. Denn ich ließ ihn wortlos mit Tsukasa zurück. Im Aufenthaltsraum unseres Studios setzte ich mich auf die Couch und schloss die Augen. Was war nur in mich gefahren? Warum traute ich Karyu plötzlich nicht mehr? Er konnte doch nichts dazu, was letzte Nacht passiert war. Oder…? „Michi… .“ Als ich die Augen aufmachte, sah ich genau in Hizumi‘ s schöne, braune Augen. Wie ich mir diese Augen doch lobte. So normal und… natürlich. Er setzte sich neben mich. „Dir geht’s heut‘ echt nicht gut, was?“ „Nein… keine Ahnung, was los ist. Wahrscheinlich zu wenig geschlafen.“ Er dachte nach. „Wir haben unseren Tee vorhin gar nicht getrunken. Ich mach ihn uns nochmal warm, okay?“, lächelte er aufmunternd. Dieses Angebot konnte ich nicht ablehnen und so nickte ich. „Sag mal…“, kam es dumpf aus der Küche, bevor Hizumi am Türrahmen vorbeischaute. Ich hoffte sehr, dass es nichts mit Karyu zu tun hatte. „… findest du auch, dass Tsukasa ganz schön zugenommen hat?“ Seine ernste Mine verschwand schlagartig und verwandelte sich in ein gemeines Grinsen, bevor er wieder in der Küche verschwand. Ich lächelte und ging zu ihm. „Naja… ich sag’s mal so… er war schon schlanker.“ Wir kicherten und lachten über gefühlte tausend Dinge, die Hizumi erzählte und vergaßen dabei völlig die Zeit. Wie schnell doch zwei Stunden vorbei gingen. „Wo sind eigentlich Tsukasa und Karyu?“, fragte Hizumi nach einiger Zeit des Schweigens und sprach damit genau das aus, was ich dachte. „Hab ich mich auch schon gefragt… vorhin waren sie noch draußen.“ „Vorhin war vor zwei Stunden. Die sind sicher nach Hause. Nur komisch, dass sie nicht Bescheid gesagt haben.“ „Wollen wir mal draußen gucken?“ Hizumi nickte. Und nachdem wir alles aus gemacht und er abgeschlossen hatte, fanden wir die beiden fröhlich lachend in Karyu‘ s Auto wieder. Während Hizumi zu den beiden ging, hielt ich allerdings Abstand zu dem Wagen und sah mich unauffällig nach Bluttropfen um. Nichts zu sehen. Als Hizumi die Autotür öffnete, wurde die angenehme Stille durch das laute Lachen der beiden gebrochen. „Hizu… schon den neusten Witz gehört? – Kommt ‘ne Frau beim Arzt!“ „Haha! Pass auf, dass du nicht kommst! Morgen zu spät zur Arbeit, es ist nämlich halb sechs durch.“ Ich liebte Tsukasa‘ s schockiertes Gesicht in Bezug auf Hizumi‘ s Schlagfertigkeit. Es war einfach zu herrlich. „Werd‘ ich schon nicht. Keine Angst, du Mensch des Gesanges!“ Jetzt musste, abgesehen von den anderen auch ich lachen. Und zu mir sagte Tsukasa, ich hätte verrückte Gedanken. Kapitel 4: 4... --------------- Auf dem Nachhauseweg schossen mir so viele Dinge durch den Kopf, dass ich mich eigentlich gar nicht auf den Straßenverkehr konzentrierte. Es war, als steuerte sich das Auto selbst durch Tokyo‘ s Straßen. Dass ich lebend nach Hause kam, war schon irgendwie ein kleines Wunder. Im Haus war es ruhig. Wie immer, denn ich lebte allein. Abgesehen von meinem kleinen Hamster Tedman. Wie ich auf diesen Namen gekommen war? Lange Geschichte. Es hatte auf jeden Fall auch Hizumi seinen Anteil an diesem Namen. ~Flashback~ „Hm… guck mal, heut Abend kommt Batman im Fernsehen.“ „Hizumi! Ich hab dich gefragt, wie ich meinen Hamster nennen soll!“ „Oh ja, sorry… hm… also du sagst, er ist ein Teddyhamster, richtig?“ „Ja.“ „Na dann… irgendwas mit Ted würd ich sagen. Wie wär‘s mit Teddy?“ „Meinst du? Nein, das gefällt mir nicht.“ „Hm, ich weiß nicht. Teddy... Ted…“ „Tedman!!!“ „Hä?“ „Batman. Ted. Ted plus man? Tedman!“ „Du bist wirklich gestört, Zero!“ ~Flashback Ende~ Die Erinnerung zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Auch, wenn mir eigentlich gerade gar nicht zum Lächeln zumute war. Denn zum x-ten Mal an diesem Tag musste ich an Karyu denken. Man konnte mich schizophren nennen, aber wie hätte ich mir einbilden können, Bluttropfen im Schnee gesehen zu haben? Und vor allem Bluttropfen, die dieselbe Farbe wie Karyu‘ s Kontaktlinsen hatten und die plötzlich ausgerechnet vor dem Wagen unseres Gitarristen endeten? Ich zuckte zusammen, als auf einmal mein Handy auf dem Glastisch anfing, laut zu vibrieren. Konnte man nicht einmal in Ruhe über etwas nachdenken? „Fangen morgen ‘ne Stunde später an. Hab Tsukasa Fettsack genannt und jetzt redet er kein Wort mehr mit mir. Naja, du weißt Bescheid. Bis dann. Hizumi.“ ‚Auch das noch‘, dachte ich lächelnd und fragte mich im nächsten Moment, warum die beiden eigentlich kein Paar waren. So wie sie sich ansahen und wie sie miteinander umgingen. Da konnte nur Liebe im Spiel sein. Aber wie ich die beiden kannte, traute sich der eine nicht, es dem anderen zu sagen. Der Gedanke daran, wie ein aufklärendes Gespräch zwischen den beiden laufen könnte, heiterte mich auf und ich vergaß für einen Moment Karyu. Mitten in der Nacht wurde ich wach. Ich war tatsächlich in meinem Sessel eingepennt. Verschlafen tastete ich den Boden mit meinen Füßen ab, in der Hoffnung, irgendwo meine Hausschuhe zu finden. Natürlich, wie sollte es auch anders sein, waren sie nicht da. Kurz überlegte ich, nicht hier im Sessel weiterzuschlafen, vergaß diesen Gedanken allerdings schnell wieder, als mir einfiel, welche Folgen das das letzte Mal gehabt hatte. Tagelange Rückenschmerzen. Und die konnte ich nicht gebrauchen. Überhaupt nicht. Ich orientierte mich beim Aufstehen an Ted, wie ich ihn liebevoll nannte, der kein Geheimnis daraus machte, dass ihm langweilig war. Er hing nachts stundenlang an seinem Gitter und nagte. Das Geräusch, das dabei entstand war unheimlich nervig, könnte mir jetzt aber helfen, schneller ins Bett zu kommen. Dachte ich zumindest. Denn nachdem ich vorher zwei Mal mit dem Fuß gegen mein Sofa gestoßen war, stand ich nun endlich im Flur. Aber irgendwas war unheimlich. Ich fühlte, dass ich nicht allein war. Ganz und gar nicht. Es war, als wäre jemand bei mir, sogar direkt hinter mir. Panik machte sich in mir breit. Furchtbare Angst durchfuhr meinen Körper und ließ meinen Atem aussetzen. Ich lauschte angespannt in die Stille hinein, doch je mehr ich mich auf genau diese Stille konzentrierte, desto unheimlicher wurde das alles. Unterbrochen wurde die Stille dann durch einen panischen Aufschrei meinerseits. Eine Stimme hatte urplötzlich meinen Namen in mein Ohr geflüstert. Ich kannte diese Stimme. Sie war mir sehr vertraut. Doch noch bevor ich weiter denken konnte, hörte ich sie schon wieder. Diesmal weiter weg. „Zero… ich werde es euch zeigen. Helft Hizumi, solange ihr dazu noch in der Lage seid…“ „Karyu was soll das?!“ Ich drängte mich an die Wand. Meine Frage blieb jedoch unbeantwortet. +++ Um Punkt sieben Uhr klingelte mein Wecker. Eigentlich hatte ich keine Lust, mich zu bewegen, aber das penetrante Piepen ging mir so auf den Zeiger, dass ich mühsam den Arm hob und ihn über dem Wecker wieder fallen ließ. Ruhe. Die perfekte Bedingung, um weiter zu schlafen, wären da nicht die Erinnerungen von letzter Nacht. Ich setzte mich auf und starrte an die gegenüberliegende Wand. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Hizumi! Ich musste ihn anrufen! Ich fühlte mich hellwach, als ich mein Handy ans Ohr hielt und dem schier unendlichen Tuten lauschte. Geh doch ran, verdammt! „Moshi moshi, Zero-san. Du rufst mich an? Um die Uhrzeit? Und obwohl du weißt, dass wir ‘ne Stunde später anfangen?“ „Hizumi, wie geht es dir?“ „Äh-hh… gut. Warum fragst du das? Alles in Ordnung mit dir?“ Ich seufzte erleichtert auf und fragte mich im nächsten Moment, was ich hier eigentlich tat. Ich rief gerade ernsthaft Hizumi an, aufgrund einer einfachen Halluzination die ich in der Nacht mal wieder hatte? „Ach, nur so. Du, ich muss dann auch erst mal wieder. Wir sehen uns nachher. Tschüss!“ ‚Michi, reiß dich zusammen‘, dachte ich mir. ‚Du musst aufhören, dich in die Sache mit Karyu und dem Kerl in der Stadt so rein zu steigern.‘ Wie wäre es vielleicht erst mal mit der Zeitung? Langsam, sehr langsam schlurfte ich zur Haustür, da mich plötzlich Müdigkeit überkam. Auch die frische, kalte Luft änderte daran nichts. Am Tisch ließ ich erst einmal den Kopf auf selbigen sinken und schloss die Augen. Automatisch ließ mein Gehirn noch einmal alles revuepassieren. Da lag ein Mensch mitten in der Stadt auf der Straße, mit zwei Einstichen am Hals und blutüberströmt. Karyu kam mit roten Augen zur Arbeit und tat, als wären es Kontaktlinsen gewesen. Dann die Blutspur, die plötzlich vor seinem Auto endete. Und zuletzt seine Stimme in meinem Ohr, die damit drohte, Hizumi etwas anzutun. Konnte ich mir das einbilden? War ich wirklich so krank? Ich hob den Kopf an und las die erste Zeile des Titelblatts. „Junge Frau mit zwei Einstichen am Hals tot aufgefunden! Zweiter Fall innerhalb von zwei Tagen!“ Was?! Ich zuckte zusammen, mein Mund klappte auf. Ungläubig las ich, was da geschrieben stand und Tränen rannen meine Wangen herunter. „Es ist der zweite Todesfall innerhalb von zwei Tagen, der ein und demselben Motiv angehört. Am Abend des gestrigen Tages fanden zwei Passanten im Stadtpark eine junge Frau tot auf einer Parkbank. Mit zwei Einstichen am Hals als Todesursache, ist sie nun das zweite tragische Opfer einer scheinbar laufenden Mordserie. Der Täter ist weiterhin unbekannt. Eine Obduktion der Frau ergab, dass sie wohl nicht durch Menschenhand getötet wurde. Zumindest wiesen keinerlei Spuren darauf hin, dass es sich um einen Menschen handele. Die örtliche Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Sollten Sie…“ Die letzten Zeilen brannten sich in meinen Kopf. ‚…zwei Einstiche am Hals… wohl nicht durch Menschenhand… keinerlei Spuren…‘ Schlagartig wurde mir schlecht. Ich lief zur Toilette und übergab mich. Wie konnte das sein? Schon wieder? In so kurzer Zeit? Was lief hier falsch? Kapitel 5: 5... --------------- Auf dem Weg zum Studio fragte ich mich, ob ich nicht mit jemandem über das reden sollte, was mir in letzter Zeit passiert war. Ich wusste, dass mich alle für verrückt halten würden, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt ziemlich egal. Ich hatte höllische Angst um Hizumi. Was auch immer Karyu ihm antun wollte, es war schrecklich. Moment, verrannte ich mich da gerade schon wieder in diese Halluzinationen? Ich wollte das doch eigentlich gar nicht mehr. Schon gar nicht beim Autofahren. Und als hätte ich nicht gerade noch daran gedacht, trat ich reflexartig auf die Bremse und kam nur Millimeter vor meinem Vordermann zum Stehen, nachdem ich auf der verschneiten Fahrbahn noch einige Meter gerutscht war. Eine rote Ampel hätte mich beinahe viel Geld gekostet. Im Innenspiegel des Wagens vor mir sah ich, wie der Fahrer mich kopfschüttelnd ansah. Ob ein entschuldigender Blick reichte? Nein, immerhin kam ich mit fünfzig auf ihn zu. Verdammt nochmal Michi, jetzt reiß dich zusammen. Es musste aufhören. Es musste einfach aufhören. ICH musste damit aufhören, mir ständig Dinge einzubilden, die gar nicht da waren. Was in Gottes Namen sollte Karyu schon mit den beiden Toten zu tun haben?! Er könnte keiner Fliege etwas zu leide tun! Und dann sollte er Menschen umbringen? Ich gehörte in die Klapse. Eindeutig. Und schon wieder bekam ich nicht mit, dass die Ampel auf Grün schaltete. Erst die Hupen der Fahrer hinter mir holten mich aus meinen Gedanken. Wütend auf mich selbst löste ich die Handbremse und fuhr an, dass die Reifen durchdrehten und dem Wagen hinter mir Schnee auf die Windschutzscheibe flog. +++ Ich parkte neben Hizumi. Er war der erste, der da war. Wie immer eigentlich. Hektisch sprang ich die Stufen hoch und war dann irgendwie erleichtert, als ich unseren Sänger lebendig auf dem Sofa sitzen sah. Michi!! Du wolltest es doch lassen! „Guten Morgen, Hizumi.“ „Oh, Guten Morgen. Ich hab dich gar nicht reinkommen hören.“ Wie immer hängte ich zuerst meine Jacke an die Garderobe. „So wie ich die Treppe hochgetrampelt bin?“ Er lachte und stand auf. „Hast du schon gelesen? Schon wieder eine Tote. Irgendwie bekomm ich gerade etwas Angst.“ Auch das noch. Jetzt sprach Hizumi mich auf das Thema schlechthin in den letzten zwei Tagen an. Moment, was hieß das Thema schlechthin? Ich war der einzige, der sich darüber den Kopf zerbrach. Vollkommen unnötig war das doch. „Ja, ich hab‘s gelesen. Schon witzig. Aber du, sag mal… ein ganz anderes Thema. Hast du gestern Karyu erreicht?“ Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Vollkommen unkontrolliert. Hatte ich jetzt auch noch den letzten Rest Verstand verloren, Hizumi nach Karyu zu fragen? Perplex sah er mich an. Spätestens jetzt musste er bemerkt haben, dass mit mir etwas voll und ganz nicht stimmte. „Ich hab ihn erreicht. Michi… ich glaube, wir sollten mal über Karyu reden. Findest du nicht?“ Mein Hals war staubtrocken, als ich versuchte, ihm zu erklären, dass das nicht nötig sei. Da kam Tsukasa genau richtig. „Guten Morgen Michi…“ „Guten Morgen.“ „Tsukasa! Bitte, man das war doch gestern nicht so gemeint!“ Hä? Was ging denn hier… natürlich! Der Streit. Den hatte ich ja vollkommen vergessen. Eigentlich hasste ich es, wenn es zwischen zwei Bandmitgliedern Streitigkeiten gab, aber im Moment war ich einfach überglücklich, dass sich die beiden stritten. So vergaß Hizumi meine Frage ganz schnell. +++ Um zwei hatte sich die Lage wieder etwas beruhigt. Und nachdem Hizumi gefühlte hundert Mal beteuert hatte, wie leid es ihm tat, hatte Tsukasa die Entschuldigung angenommen. Wirklich reden taten die beiden allerdings auch nicht. Denn unser Drummer war noch immer sauer. Allerdings nicht auf Hizumi. Viel mehr auf Karyu, da sich dieser noch überhaupt nicht hatte blicken lassen. „So ein Dreck! Wieso geht der nicht an sein scheiß Handy?!“ „Vielleicht ist er krank geworden. Er sah doch gestern auch nicht wirklich gesund aus“, versuchte Hizumi Tsukasa zu beruhigen. Aber das klappte überhaupt nicht. Ich hielt mich aus allem raus. Äußerlich zumindest. Denn innerlich kochte es in mir. Wo trieb sich Karyu herum? Und warum meldete er sich nicht ab? Je später es wurde, desto nervöser wurde ich. Die Uhr zeigte mittlerweile fünf und Hizumi hatte bereits seine Sachen zusammen gepackt. Kurz bevor er allerdings gehen wollte, vibrierte Tsukasa‘ s Handy auf dem Tisch. Wie gebannt starrten wir auf das Display… und konnten es nicht glauben. Kapitel 6: 6... --------------- „Karyu! Komm hier her und ich dreh dir den Hals um!", brüllte Tsukasa in den Hörer. Wenn er etwas hasste, dann, dass jemand sich nicht abmeldete. „Ach, du hast verschlafen... es ist fünf Uhr abends!!! Und mir ist egal, wie lange du brauchst! Schwing deinen Arsch zur Arbeit! Sofort!" Kompromisslos drückte er unseren Gitarristen weg und sah uns nacheinander fassungslos an. „Der wollte mir ernsthaft erzählen, dass er bis jetzt gepennt hat... also ich kenn ja seine blöden Scherze manchmal... aber das hier geht echt zu weit!" Krampfhaft versuchte ich, meine Gedankengänge unter Kontrolle zu bekommen. Aber wie sollte ich das anstellen, bei so viel neuem Stoff? Karyu schlief also seit neuestem tagsüber. Das musste heißen, dass er nachts wach war. Und wenn er nachts wach war, musste das ebenfalls heißen, dass er auch nachts unterwegs war. Und wurden nicht die beiden Passanten nachts getötet? „Michi... hey! Michi!" Hizumi fuchtelte wie wild mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. Die Bilder vor meinen Augen verschwanden. „Hm? Was?" „Sag mal, was ist denn los mit dir? Du bist schon seit Tagen so komisch. Seit das erste mal in der Zeitung stand, dass ein Passant getötet wurde. Was ist denn los?" Mein Blick lag auf Tsukasa, ich zitterte leicht. Sollte ich es ihm sagen? Sollte ich ihm wirklich erzählen, was ich dachte? Jetzt hatte ich die Chance. Sollte ich sie ergreifen? Nein, nicht, wenn Hizumi dabei war. Denn um diesen ging es ja bei der ganzen Sache. „Gar nichts, ich habe nur in letzter Zeit öfters Kopfschmerzen. Mehr nicht." Tsukasa setzte zu einer Antwort an, als plötzlich die Tür aufging. Im Raum stand Karyu. Mit Hut und Sonnenbrille. „Ach, dass sich der Herr auch noch zur Arbeit begibt?" Tsukasa verschränkte die Arme vor der Brust, aber Karyu schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Wie wär's, wenn du mal diese alberne Sonnenbrille abnimmst? Es ist mittlerweile halb sechs." „Ich kann tragen was ich will, Tsukasa." Hizumi riss die Augen auf und sah mich an. Auch ich schluckte. Noch niemand hatte sich unserem Drummer widersetzt. Zumindest dann nicht, wenn er sauer war, so wie zu diesem Zeitpunkt. Aber... wieso um alles in der Welt trug Karyu eine Sonnenbrille? Um diese Uhrzeit? Und obwohl heute den ganzen Tag die Sonne nicht geschienen hatte? Tsukasa stand von seinem Platz auf. Das erste mal seit drei Stunden. „Würdest du jetzt bitte die Brille abnehmen?" „Nein. Meine Augen sind seit vorhin wieder sehr empfindlich. Du müsstest das doch eigentlich am besten wissen. Oder hast du das Konzert damals in Tokyo schon wieder vergessen? Deine tollen Scheinwerfer, die du unbedingt haben wolltest, haben mich die Show gekostet." Tsukasa räusperte sich. Er war sichtlich angespannt und kurz davor, sehr laut zu werden. „Na schön. Dann erklärst du mir jetzt aber bitte, wieso in Gottes Namen du bis fünf geschlafen hast?" Alle Blicke lagen gespannt auf unserem Gitarristen. Besonders meiner. Ich hielt es keine Sekunde mehr aus, die Antwort zu erfahren. Aber eine Antwort bekam Tsukasa nicht mal. Karyu hatte etwas ganz anderes ins Auge gefasst. Unseren Sänger. „Hizumi...", begann er, als er auf Angesprochenen zuging. „... darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du heute besonders gut aussiehst?" Was? Was hatte er da gerade gesagt? Plötzlich spürte ich einen unangenehmen Schmerz am Kopf. Ich fasste mir an die Stirn, die Stelle, von der dieser Schmerz ausging. Er war kaum auszuhalten. Krampfhaft kniff ich die Augen zusammen. Warum hörte das nicht auf? Nur Sekunden später sah ich wieder Karyu vor mir. Aber ich wusste, dass ich nicht wach war. Es war wie eine Art Trance, wie ein Traum, der mich gerade in seinen Bann zog. Karyu stand einfach nur da und starrte mich an. Seine leuchtend roten Augen brannten sich förmlich in meinen Kopf. Dagegen unternehmen konnte ich jedoch nichts. Einige Zeit stand er nur so da, starrte auf mich herab, als wolle er mir irgendetwas sagen. Aber das tat er nicht. Erst, als er einen Schritt zur Seite wich, erkannte ich, was er mir zeigen wollte. „Hizumi! Nicht!" Ich wollte schreien, aber ich blieb stumm. Was tat Karyu da mit Hizumi? Noch nie hatte ich unseren Sänger so gesehen. Er saß an einer dunklen Wand auf dem Boden, mit einem Messer in der Hand, an dessen Klinge Blut herunterlief. Was tat er da? Warum hörte er nicht auf?! Tränen liefen mir über die Wangen. „Hizumi! Hör doch auf damit!!" Wieder blieb ich stumm. Was ging hier vor? Ich sah zu Karyu auf, doch er war nicht mehr da. +++ „Pssst, er wacht auf!" Da war Licht. Viel zu hell, um die Augen zu öffnen. Also ließ ich sie vorerst geschlossen. Trotzdem hörte ich, was um mich herum geschah. „Michi? Hey... kannst du mich hören?" Es war Tsukasa, der das sagte. Ich nickte kurz und versuchte ein Lächeln, dass allerdings auf der Strecke blieb. „Hiroshi, ruf einen Krankenwagen. Er muss untersucht werden." Was war denn jetzt los? Tsukasa nannte Hizumi bei seinem richtigen Namen? Ein erneuter Versuch, die Augen zu öffnen. Diesmal mit etwas mehr Erfolg. Tsukasa kniete vor dem Sofa und sah mir ins Gesicht. Aus dem Augenwinkel erkannte ich Hizumi, der neben dem Tisch stand und sich gerade sein Handy ans Ohr hielt. Aus irgendeinem Grund war ich müde. Zu müde, um mich noch länger umsehen zu können. Meine Augen vielen zu. Ich schlief ein. Kapitel 7: 7... --------------- Als ich zum zweiten Mal aufwachte, fand ich mich in einem Krankenhausbett wieder. Ein stechender, fast unaushaltbarer Schmerz ging von meinem Hinterkopf aus, weshalb ich kaum die Augen öffnen konnte. Entfernt hörte ich irgendwelche Stimmen. Sie mussten vom Flur kommen. Aber das alles interessierte mich nicht sehr. Viel mehr wollte ich wissen, wieso ich hier war? Was war passiert? Bei dem Versuch, mich an irgendetwas zu erinnern, strengte ich mich so sehr an, dass ich die Finger in das sterile, weiße Bettlaken krallte. Aber so sehr ich es auch wollte, es war nichts da, woran ich mich auch nur im Geringsten erinnern konnte. Alles, was ich noch vor meinen Augen hatte war, wie Karyu im Aufenthaltsraum unseres Studios stand und sich mit Tsukasa unterhielt. Danach herrschte gähnende Leere in meinem Kopf. „Michi?", sagte plötzlich eine zaghafte Stimme direkt neben mir. Ich schreckte leicht hoch, ließ jedoch die Augen geschlossen. Das konnte nur Hizumi sein. Zur Sicherheit fragte ich jedoch noch einmal nach. Aber mit jedem Wort, dass ich sagte, wurden die Schmerzen stärker. „Ja, ich bin's! Hast du noch Schmerzen?" Ich nickte nur. Noch ein weiteres Wort und mein Kopf wäre sehr wahrscheinlich geplatzt. „Warte, ich hole dir noch Schmerzmittel. Und Tsukasa sag ich auch gleich bescheid. Er kommt gleich zu dir, nicht, dass du dich wieder erschreckst." Die Tür fiel ins Schloss und wurde kurz darauf wieder geöffnet. Tsukasa besaß die Freundlichkeit, gleich von der Tür aus zu sagen, dass er es war, der reinkam. „Erschreck dich nicht, ich bin's Tsukasa." Er blieb direkt neben dem Bett stehen. Ich hatte die Augen noch immer geschlossen. „Schläfst du?" „Nein..." Ich flüsterte nur. Und selbst das war mit Schmerzen verbunden. Tsukasa musste es bemerkt haben. „Hizumi holt dir was vom Arzt." Eine kurze Pause. Ich wusste, dass er noch etwas sagen wollte, sich aber wahrscheinlich nur nicht traute. „Du... willst sicher wissen, was passiert ist, hab ich Recht?" Ich nickte etwas stärker, damit er wusste, dass ich die Antwort sofort wollte. „Nun ja... dir war auf einmal schlecht und du hattest plötzlich irre Kopfschmerzen. Und dann bist du auf Karyu zu und... du hast ihm die Sonnenbrille runtergerissen. Und dann hast du irgendwas gesagt... hörte sich an wie 'nein Hizumi, nicht' oder so. Naja... und dann bist du auf einmal bewusstlos geworden und mit dem Kopf auf unseren Holztisch gefallen." Ich schwieg einen Moment und versuchte noch einmal, mich zu erinnern. Aber so sehr ich mich auch anstrengte... da war nichts. Unter Schmerzen öffnete ich die Augen und sah unseren Drummer zum ersten Mal vollkommen besorgt und am Ende. „Tsukasa...", ich streckte die Hand nach ihm aus, die er sofort in seine nahm. Kurz schloss ich wieder die Augen und die Schmerzen ebbten kurz ab. Ich wollte wissen, was mit Karyu war. Was er getan hatte, nachdem ich ihm die Sonnenbrille abgenommen hatte. und ich zögerte keine Sekunde länger, ihn danach zu fragen. „... was ist mit Karyu?" Der Blick unseres Schlagzeugers war so ernst wie schon lange nicht mehr. Auch ein Funken Trauer war in ihm auszumachen. Trotzdem hielt ich ihm stand. „Karyu... hat Hizumi geküsst. Einfach so. Er hat sich ihm total aufgedrängt. Und dann bist du plötzlich dazwischen und dann... als du die Sonnenbrille auf einmal in der Hand hattest... da... da war so etwas in seinen Augen. So etwas, das ich gar nicht beschreiben kann. So ein Funkeln... so ein bösartiges Funkeln. Er hatte zwar wieder seine Kontaktlinsen drin, aber... diese Augen... die lassen mich nicht mehr los, Michi. Ich kann sie nicht vergessen." Tsukasa bettete meine Hand auf der weichen Matratze und setzte sich verzweifelt. Ich dachte nach, während ich mich aufsetzte. Zwar schwerfällig, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt egal. Ich musste unserem Drummer sagen, was ich von Karyu hielt. Aber zuerst musste ich wissen, was danach passiert war. Kapitel 8: 8... --------------- Hizumi und Tsukasa gaben sich die größte Mühe, damit es mir schnell wieder besser ging. Erst den zweiten Tag war ich nun hier und meine Kopfschmerzen waren fast weg. Auch die Stimmung zwischen uns war wieder die alte. Naja, zumindest fast. Denn Karyu hatte sich nicht ein einziges Mal im Krankenhaus blicken lassen. Wo ich gerade wieder bei Karyu war... ich war nicht mehr dazu gekommen, Tsukasa nach dem zu fragen, was danach passiert war. Warum? Wegen Hizumi. Er war kurz darauf herein gekommen. Und ich wollte einfach nicht, dass er etwas davon mitbekam, was ich zu sagen hatte. „So Leute... ich werd dann mal eben die Zeitung holen. Hab zwar überhaupt keine Ahnung, wo die hier im Krankenhaus die Tageszeitung haben, aber... naja. Wenn ich in ner Stunde nicht wieder da bin, dann gebt 'ne Vermisstenmeldung auf." Augenzwinkernd verschwand Tsukasa auf dem Flur. Es wurde still im Raum. Unauffällig sah ich Hizumi an, der rechts neben meinem Bett saß und aus dem Fenster schaute. Er sah alles andere als glücklich aus und ich konnte mir denken, woran das lag. Ansprechen wollte ich ihn darauf eigentlich nicht, aber ich wusste mir einfach nicht mehr zu helfen und so tat ich einfach, was mein Willen von mir verlangte. „Woran denkst du?" Kurz gehörte sein Blick mir, dann dem Boden. „Karyu... weißt du, er hat sich seit zwei Tagen nicht gemeldet. Ich hab einfach Angst, dass etwas passiert ist." Er überlegte kurz, während er nervös mit einem Kugelschreiber spielte, den er eben von dem kleinen Tisch neben sich genommen hatte. „Außerdem... ich kann ihm nicht böse sein für das, was er getan hat. Was ich nur nicht verstehe ist... warum er einfach abgehauen ist. Er ist einfach so weggerannt. Nur, weil du ihm die Sonnenbrille abgenommen hast." Ich richtete mich auf und mein Gehirn begann quasi von selbst zu arbeiten. Karyu war also weggerannt, als ich ihm die Sonnenbrille runtergerissen hatte? Das musste doch heißen, dass er nicht wollte, dass jemand seine Augen sieht. „Hast du ihn nochmal angesehen, bevor er weggelaufen ist?" Jetzt war mir alles egal. Ich wollte einfach nur noch wissen, ob Hizumi dasselbe gesehen hatte, wie Tsukasa und ich. Aber ich wurde enttäuscht. „Ja, aber... er hat sich ja sofort die Hand vors Gesicht gehalten. Weißt du das denn nicht mehr?" „Nein... ich habe keine Ahnung mehr, was passiert ist." Nur Sekunden später flog die Tür auf und Tsukasa stand im Zimmer. Vollkommen aufgelöst und aus der Puste. „Seht euch das an! Ihr werdet es mir nicht glauben! Schon wieder eine Tote! Diesmal eine siebzehn Jährige! Die gleichen Symptome, die gleiche Todesursache! Und jetzt guckt euch mal das Bild an!" Tsukasa warf mir die Zeitung auf die Beine und setzte sich mit einem auffordernden Blick wieder neben das Bett. Gespannt, aber doch irgendwie nicht, las ich, was da auf der Titelseite stand - und sofort überkamen mich unangenehme Bauchschmerzen. Mir wurde schlecht als ich sah, wem die Person auf dem Bild dort zum Verwechseln ähnlich sah. „Zeig mal her", bemerkte Hizumi und riss mir die Zeitung aus der Hand. Laut las er die Bildunterschrift und musterte dann das Bild. „Möglicher Täter von Passanten fotografiert." Einen Moment beäugte er konzentriert das Bild und sah dann Tsukasa an. Sein Gesicht glich dem eines Toten. Er hielt mir die Zeitung hin, als wolle er sie loswerden. Ich nahm sie an mich, nur, um mir das Bild noch ein zweites Mal anzusehen. Die Person dort wurde aus einer seitlichen Perspektive fotografiert. Das Licht der Parklaterne zeigte deutlich, dass die auf jeden Fall männliche Person braune Haare hatte, die schon leicht ins rötliche gingen. Der Mann war sehr groß, ich schätzte ihn auf 1,80m, aufgrund eines Mülleimers, neben dem er stand. Er trug eine schwarze Jacke, die im Dunkeln aber eher wie ein Umhang aussah. Sein Gesicht wurde von einer Kapuze und Haaren verdeckt. Ich traute mich nicht, jetzt aufzusehen. Die Gesichter der beiden hätte ich nicht ertragen. Diese Silhouette war dann doch sehr eindeutig. Es schien sich bei der Person tatsächlich um Karyu zu handeln. Tausende Dinge schossen mir in diesem Moment durch den Kopf. Angefangen von Karyu's seltsamen Kontaktlinsen, über die Blutspuren, die mich zu seinem Auto geführt hatten, bis hin zu der Aktion vor zwei Tagen. Ich ließ die Zeitung sinken und sah zu unserem Schlagzeuger auf. Sein Blick sprach Bände. Er dachte genau dasselbe wie ich. Das konnte nur Karyu sein. Nein, er war es sogar! Mein Blick wanderte zu Hizumi, der wie versteinert da saß und auf den Boden starrte. Auch aus seinem Gesichtsausdruck konnte ich alles lesen. Schock, Unsicherheit... aber... da war noch etwas. Etwas, das ich nicht auf Anhieb deuten konnte. War es Angst? Ja. Es war Angst. Hizumi hatte Angst. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Hizumi ängstlich. Er saß dort, wie ein kleines Kind, das Angst vor den Konsequenzen einer falschen Tat hatte. Plötzlich erhob sich Tsukasa. Hizumi's und mein Blick lagen auf ihm. Sagen tat er jedoch nichts. Er verließ einfach wortlos den Raum. Was hatte er vor? Er konnte doch jetzt nicht einfach gehen! „Tsukasa!!" Ich warf die Decke zur Seite, spürte jedoch gleich eine Hand, die mein Handgelenk fest umfasste. „Lass ihn, Michi. Lass ihn gehen." „Ich kann nicht, wenn ich nicht weiß, was er vor hat!" „Lass ihn und leg dich wieder hin! Du bist noch nicht so weit! Du musst dich ausruhen! Er kommt sicher gleich wieder! Lass ihm die Zeit!" Hizumi zuliebe legte ich mich wieder hin. Auch, wenn ich unserem Drummer zu gern gefolgt wäre. Kapitel 9: 9... --------------- Einen Tag später hatte ich mich selbst aus dem Krankenhaus entlassen und war nun, gemeinsam mit Hizumi, auf dem Weg zu unserem Drummer, der uns zu sich gebeten hatte. Während der ganzen Fahrt fielen nur wenige Worte. Die Stimmung war gedrückt und angespannt. Tsukasa erwartete uns bereits, als Hizumi seinen Wagen vor dessen Wohnung parkte. Wir folgten ihm wortlos durch das Treppenhaus in seine Wohnung. „Okay. Setzt euch doch!... Erst einmal... wie geht es dir, Michi?" „Gut! Mach dir um mich keine Sorgen!" Tsukasa nickte beruhigt und ich merkte auch, dass ich seine kleinste Sorge war. „Es geht um Karyu. Ich hab versucht, ihn zu erreichen. Aber entweder ist sein Handy aus oder er geht nicht ran." Er atmete kurz tief ein und stieß die Luft dann schnell wieder aus. Dann gehörte sein verzweifelter, leicht genervter Blick uns. „Habt ihr irgendwas von ihm gehört?" Hizumi und ich schüttelten zeitgleich den Kopf. Die Situation war unheimlich, da Karyu uns sonst immer mitteilte, wo er sich gerade aufhielt. Er selbst hatte sogar mal gesagt, wenn er sich einmal länger als zwei Tage nicht melden würde, wäre er höchstwahrscheinlich tot. Genau diese Situation war eingetroffen. Aber er konnte nicht tot sein. „Was haltet ihr von dem Zeitungsartikel gestern?", erhob nun Tsukasa wieder die Stimme. Ein kurzer Moment der Stille trat ein. „Ich will ehrlich sein...", sagte ich dann, „... es war Karyu. Diese Kleidung, die Haarfarbe, die Größe. Außerdem, die Silhouette. Das kann nur Karyu gewesen sein. Auch, wenn wir das vielleicht nicht wahrhaben wollen. Wer sonst sollte es gewesen sein?" „Mag ja sein, dass er das auf dem Bild war. Aber er würde niemals Menschen töten. Und vor allem... überleg mal, wie die gestorben sind. Mit zwei Einstichen am Hals. Das müsste ja entweder heißen, Karyu ist vollkommen geistesgestört, etwas zu entwickeln, womit er die Menschen töten kann, oder er ist ein Vampir. Da ich von beidem mal nicht ausgehe, ist die Antwort doch eindeutig! Also... ich schreibe ihm ne SMS. Morgen um zehn will ich euch bei der Arbeit sehen. Wir werden ja sehen, ob er kommt oder nicht. Ich mein, er wird ja wohl seine Band nicht im Stich lassen." Tsukasa brachte uns zur Tür, mit der Bitte, dass wir uns noch einmal nach Karyu umhörten. Danach wurde ich von Hizumi nach Hause gebracht. +++ In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Meine Gedanken kreisten ununterbrochen um Karyu und das Bild in der Zeitung. War es wirklich er gewesen? Und wenn ja, hatte er diese Menschen umgebracht? Oder war das alles nur ein dummer Zufall? Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es gleich halb vier war. Halb vier am Morgen und ich hatte nicht eine Minute geschlafen. Umso müder war ich natürlich sechs weitere, schlaflose Stunden später. Vollkommen fertig und mit fetten Augenringen stieg ich in meinen Wagen und fragte mich sogar, ob es nicht besser war, mich abholen zu lassen. Ich entschied mich jedoch dagegen. Um Punkt zehn Uhr stand ich dann vor unserem Studio. Tsukasa und Hizumi waren bereits da. Von Karyu und seinem Wagen - keine Spur. Müde stieg ich die Treppen rauf, stolperte dabei noch über meine eigenen Beine und kam schließlich endlich an. „Mein Gott...", war Tsukasa's erste Reaktion. „... wo bist du denn gewesen?" „Jetzt frag nicht noch sowas. Oder konntest du etwa schlafen?" Ich ließ mich erschöpft auf die Couch fallen. Entfernt bemerkte ich schon die Kopfschmerzen, die sich anbahnten und schloss deshalb zur Vorsorge die Augen. Natürlich brachte das alles nichts. „Karyu hat sich nicht gemeldet. Aber ich hoffe trotzdem, dass er kommt." „Ja... aber mal angenommen, er kommt gar nicht mehr. Nie wieder. Er kann doch nicht einfach seine Band so fallen lassen. Das alles, was wir uns aufgebaut haben, dank ihm." Hizumi klang traurig und das verstand ich auch vollkommen. Schließlich fragte ich mich ja selbst, was Karyu geritten haben könnte, uns einfach so sitzen zu lassen. Zu unser aller Überraschung ging jedoch im nächsten Moment die Tür auf. Im Raum stand ernsthaft Karyu. Ganz normal, ohne rote Augen und ohne Sonnenbrille. Ich glaubte zu träumen, da ich ihn schon lang nicht mehr gesehen hatte. Auch Hizumi staunte nicht schlecht, als er unseren Gitarristen wahrnahm. Einzig in Tsukasa kochte es, das sah man ihm an. Aber er versuchte, aus der Situation das Beste zu machen und ging die Sache ruhig an. „Yoshitaka.. dich hätte ich hier nicht mehr erwartet. Wo warst du denn die ganze Zeit Herrgott nochmal?" Karyu ließ sich Zeit mit der Antwort, hängte erst einmal ganz in Ruhe seine Jacke an die Garderobe, als wenn nichts gewesen wäre. Dann setzte er sich zu mir auf die Couch und lächelte mich an. „Ich hab euch vermisst", sagte er, gewohnt fröhlich. Ich stutzte etwas, da er scheinbar nicht zu wissen schien, dass er uns eine Menge zu erklären hatte. „Wir dich auch. Und deswegen würden wir gern wissen, warum unser Gitarrist so lang nicht zur Arbeit erschienen ist!" Tsukasa's Stimme bebte. Er wollte die Antwort, wie alle anderen. Jetzt! „Ja, tut mir leid! Ich hab mir einfach ein paar Tage Ruhe gegönnt. Wisst ihr, mir ging es nicht gut, ich hatte total ätzende Kopfschmerzen und Husten. Aber ich bin echt froh, euch jetzt wieder zu sehen." Zugegeben, ich war baff. Wir waren baff. Karyu schien echt nichts mehr von dem zu wissen, was passiert war. Hizumi's verletzter Blick lag auf ihm, aber er schien das gar nicht zu bemerken. Er war scheinbar vollkommen zufrieden mit seiner Erklärung. Nach einem Moment der Ruhe platzte es allerdings aus Tsukasa heraus. „So! Kopfschmerzen und Husten?! Dann erklär mir doch mal bitte das hier!!! Wie kommt dieses Foto von DIR in die Zeitung, zusammen mit den Morden und was sollte der Auftritt vor drei Tagen mit Hizumi?!" Er funkelte Karyu wütend an. Als dieser sein Bild in der Zeitung sah, wurde er plötzlich nervös und rutschte auf der Couch hin und her. Er schien nach einer Ausrede zu suchen, fand jedoch scheinbar keine, weshalb wir nun alle um ihn herum standen und mit unseren Blicken versuchten, die Wahrheit aus ihm heraus zu bekommen. Und plötzlich passierte das Unvorhersehbare. Karyu sprang auf und warf sich auf Hizumi. Zuerst glaubten Tsukasa und ich, es sei bloß Spaß, doch was wir dann sahen, sitzt uns bis heute in den Knochen. Karyu saß über Hizumi, der bereits am Boden lag, seine Fingernägel in dessen Arme gedrückt, sodass Blut aus der Haut unseres blassen Sängers quoll. Auf dieses Horrorszenario folgten Hizumi's qualvolle Schreie, die ich jedoch zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht wahrnahm, genauso wenig, wie Tsukasa das tat. Wir standen da wie versteinert, trauten uns nicht, zwischen die beiden zu gehen, bis Karyu uns dann sein Gesicht zuwandte. Ich schrie vor Schreck und wich einen Schritt zurück, als ich wieder in diese stechend roten Augen sah. „Ich habe dich gewarnt, Michi! Mehr als einmal! Jetzt musst du eben zusehen, wie ich ihn umbringe!" „Nein!!!" Ich setzte zu einem gezielten Tritt an, doch Tsukasa hielt mich auf. „Was ist denn hier los, Michi?! Was soll das?!" „KARYU!! NEIN!!!" Das Studio erfüllte ein langer, schmerzerfüllter Schrei unseres Sängers, der mir das Herz brach und mich in eine einzige Dunkelheit hüllte. Hunderte Male hallte er in meinen Ohren wieder und ich hatte das Gefühl zu ertrinken, in Hizumi's Flut aus Schmerzen. Dieser Schrei machte mir mehr zu schaffen, als alles andere. Denn er galt einzig und allein mir. ICH war derjenige, der das alles hätte verhindern können. Und ICH war es, der Karyu's Warnungen als einfache Halluzinationen gedeutet hatte. Und jetzt? Ich wachte auf aus dem scheinbaren Traum und sah nur noch Karyu, wie er durch die Tür verschwand. Und Tsukasa... wo war Tsukasa? „Hizumi... hey!!! HIZUMI!!! Hörst du mich?! Wach auf! HEY!!!" Mein Blick fiel auf den Boden, wo unser Drummer vor Hizumi kniete und verzweifelt versuchte, ihn anzusprechen. Blut lief aus den beiden Einstichwunden an dessen Hals. Ich riss die Augen auf. „Michi!! Ruf sofort einen Krankenwagen!!! JETZT!!" Beinahe automatisch griff ich nach meinem Handy und wählte den Notruf, dem ich lediglich sagte, dass es sich um eine ernste Sache handele, die ich nicht weiter beschreiben konnte. Dann legte ich einfach auf, bevor meine Beine unter mir zusammensackten und ich entschuldigend Hizumi's Hand nahm. +++ Kapitel 10: 10... ----------------- An alles, was danach passierte, erinnere ich mich nur schemenhaft. So zum Beispiel weiß ich noch, wie Hizumi in den Krankenwagen getragen wurde und dort wiederbelebt werden musste. Tsukasa und ich standen damals jedoch zu sehr unter Schock, als dass wir hätten wirklich aufmerksam sein können. Noch heute zerbrechen wir uns darüber den Kopf, was Karyu für ein Mensch war... nein, so konnte man ihn nicht bezeichnen... er war ein Monster, das übernatürliche Kräfte besaß. Wir hatten, Tage, Wochen, ganze Monate versucht, ihn zu erreichen, ihn zu fragen, woher er eine solche Macht besaß. Aber nichts tat sich. Hizumi ging es mit der Zeit zunehmend schlechter, bis wir dann beschlossen, in eine WG zu ziehen, um für ihn zu sorgen und ihm zu helfen. Zeitgleich ging er für drei Monate in psychiatrische Behandlung und alles schien einigermaßen gut zu werden. Bis er dann vor zwei Wochen versuchte, sich das Leben zu nehmen - mit einem Küchenmesser. Tsukasa hatte ihn damals im Bad gefunden und sofort ins Krankenhaus gebracht, wo er sich auch jetzt noch befand. Momentan überlege ich, nicht doch wieder zu versuchen, den Kontakt zu Karyu wieder herzustellen. Das allerdings soll vorerst mein Geheimnis bleiben. Zuerst einmal musste es Hizumi wieder besser gehen. Danach würde ich mich mit Tsukasa unterhalten. Aber bis es soweit ist, dauert es noch. Und vielleicht... nur vielleicht, finden wir Karyu doch eines Tages noch und er kann uns endlich erklären, wie und vor allem warum er das getan hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)