Atemzug von TommyGunArts (Grey Mr. Grey) ================================================================================ Die Sonne ging unter, auf und wieder unter. Wäre mein Verstand eingeschaltet gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich gefragt, warum ich noch am Leben war, wo ich doch schon längst am Galgen baumeln sollte. Aber mein Ich befand sich weit weg. Erneut. Deshalb bemerkte ich auch nicht, dass die Tage nur so verstrichen. Manchmal kam jemand vorbei und warf mir eine Schüssel mit Essen hin, doch ich registrierte nicht, wie ich aß. Und ich realisierte auch nie, dass die Schüsseln abgeholt wurden – wenn sie denn abgeholt wurden. Das ein oder andere Mal kamen Leute vorbei, die mich mit Fragen löcherten, die ich nicht verstand und deshalb auch nicht beantworten konnte. Vielleicht waren sie auch nicht wirklich da, diese Leute, sondern entstammten bloß meiner Fantasie. Mein Blick war stets nach draußen gerichtet, stach durch die Gitterstäbe und versuchte ein Stück Freiheit zurückzugewinnen. Er wollte die wenigen Sonnenstrahlen aufsaugen und sie meiner jämmerlichen Gestalt als Geschenk anbieten, mir Kraft geben und Hoffnung. Wollte mich aufbauen, als wäre da noch irgendetwas in mir gewesen, das man hätte aufbauen können. Viele Tage vergingen, in denen ich in meinen eigenen Ausscheidungen hockte, zitternd, heulend, mit mir selbst redend. Der Entzug war heftig, die Schmerzen unerträglich und der Gestank von Kotze und Scheiße unzumutbar. Aber das war alles irgendwie in Ordnung. Wirklich zerrissen hat mich nur die Tatsache, dass sich meine Erlösung keine zehn Fuß von mir entfernt, am anderen Ende der Zelle befand. Aber mit der Zeit vergaß ich auch das. Und gerade, als ich kurz davor war an der Leere zu ersticken, die sich in dem Rest meiner ausgebrannten Seele breit gemacht hatte und mich hinab zog, in einen Abgrund, dessen Finsternis jedes noch so grelle Licht verschluckte, wurden mir die Fesseln abgenommen. Zwei kräftige Männer packten mich unter den Armen und trugen mich aus der Zelle. Sie schleppten mich eine ganze Weile durch die Gegend, Treppen runter und wieder rauf, als hätten sie nichts Besseres zu tun. Ich – noch immer mehr in der Traumwelt als in der Realität – fand mich schließlich nackt und sabbernd in einem Zuber wieder. Das Wasser war wohlig warm und ich fürchtete schon im Himmel zu sein – es fehlte bloß noch eine hübsche Dienerin, dir mir Obst reichte –, als der alte, faltige Mann das Bild verschandelte. Er streckte mir mit seinem verbliebenen Arm einen Schwamm entgegen,  und begrüßte mich mit den Worten: »Wasch dich!« Ich konnte kaum den Arm heben. Die letzten Tage hatten meine Kraft vollständig verbraucht. Deswegen fiel es mir auch so schwer, den Schwamm über meinen verdreckten Körper gleiten zu lassen. »Das dauert zu lange!«, fauchte Cip, entriss mir den Schwamm wieder und übernahm schließlich die Aufgabe, den Dreck von meiner Haut zu schrubben. Als er fertig war legte er mir ein Handtuch über die Schultern, warf mir frische Kleidung entgegen und meinte: »Zieh das an. Und beeil dich. Die Zeit ist knapp.« »Ok«, antwortete ich mit eingerosteter Stimme, doch Cip hatte schon den Raum verlassen. Nur noch die beiden Wachleute, die mich hergebracht hatten, waren noch da und sorgten dafür, dass ich nicht auf dumme Gedanken kam und versuchte zu fliehen. Mit schwachen Beinen stieg ich aus dem Zuber, trocknete mich ab und kleidete mich ein. Das Ganze schien eine Ewigkeit zu dauern, aber mehr war aus meinem geschundenen Körper nicht rauszuholen. »Mitkommen!«, befahl eine der Wachen: ein hochgewachsener Mann mit braunen, nach hinten gekämmten Haaren, ebenso braunen Augen und dem wohl mürrischsten Gesichtsausdruck, den ich je gesehen hatte. Der andere Wachmann schien etwas jünger zu sein. Er wirkte auch nicht so unfreundlich, sondern im Gegenteil eher nett. Auch bei ihm stimmten Augen- und Haarfarbe überein. Ich konnte nur nicht wirklich sagen, ob es jetzt eher orange oder mehr rot war. »Hörst du schlecht?«, brüllte der Mürrische und gab mir einen Klaps gegen den Hinterkopf. Wir gingen durch die Tür und betraten einen Gang, dem wir bis zum Ende folgten und dann in einen weiteren Raum einbogen. Die Wachen ließen mich eintreten, sie selbst blieben draußen stehen. Hier war es deutlich heller als im Zimmer mit dem Zuber. Kerzen beleuchteten den Holztisch, auf dessen Oberfläche sich Papier stapelte. Dahinter saß Cip, die Sachen betrachtend, die vor ihm ausgebreitet dalagen. Meine Sachen. Er nahm die Kette meines Bruders zur Hand und betrachtete sie ausgiebig. Sie war aus reinem Glas, umgeben von einem Gitter, um für Stabilität zu sorgen. Früher hatte sie geleuchtet, in rot und gelb, wie eine kleine Laterne. Aber ihr Licht war mit dem meinem erloschen. »Hübsch, dieses Ding«, bemerkte Cip. »Woher hast du es?« »Geschenkt bekommen.« Er sah mich bedeutungsvoll an und fragte: »Und seit wann hast du es? Ich habe es noch nie an dir gesehen.« »Ich habe die Kette…«, begann ich, brach aber mitten im Satz ab. »Im Prinzip ist das auch völlig einerlei.« Cip stand auf und legte mir die Kette in die Hand. »Schließlich gehört sie dir.« Verdutzt nahm ich sie an mich und legte sie dahin, wo sie hingehörte: Um meinen Hals. »Warum bin ich hier?«, erkundigte ich mich. »Nun, vermutlich, weil dein Tod durch Erhängen auf heute früh bei Sonnenaufgang angesetzt ist.« »Der Termin war schon vor etlichen Wochen. Was hat sich ergeben?« Ich selbst hatte es gar nicht gemerkt, aber Cip hob erstaunt die Augenbrauen. Anscheinend hatte sich meine Auffassungsgabe zu mir zurückgesellt. »Da meldet sich dein Ermittler-Hirn. Erstaunlich, was ein Entzug alles bewerkstelligt. Aber ja, du hast Recht, es hatte sich etwas ergeben. Und zwar habe ich in den letzten drei Wochen jeden erdenklichen Hebel in Bewegung gesetzt, um Beweise für deine Unschuld zu finden. Ich habe mehrere Male um eine Verschiebung des Termins gebeten und habe Tag und Nacht durchgearbeitet, nur um dir deinen Arsch zu retten. Leider hat da jemand verdammt gründlich gearbeitet.« Ich fuhr mir mit der Hand durch das frisch gewaschene und noch nasse Haar. »Warum solltest du mir helfen wollen?« Er ging um den Schreibtisch herum und trat an mich heran. Seine meerblauen Augen sahen betrübt in die meinen. »Ich kenne dich seit du ein kleiner Knirps bist. Ich weiß noch, wie du heulend auf der Straße standst, weil dein Vater den Bastard in seiner Familie loswerden wollte. Während er zurück nach Nordholm ritt, bliebst du hier. Du wusstest nicht einmal warum. Manchmal sehe ich noch heute dieses unschuldige Kind von damals in dir, dass … Ach … was rede ich?« Er seufzte und wandte den Blick ab. »Jedenfalls habe ich es nicht geschafft das Kollegium von deiner Unschuld zu überzeugen.« Ich kannte sie ja, unsere werten Kollegen. Es waren schon immer versteifte Trottel gewesen, die lieber den Geschichten verwirrter Leute glaubten, als handfesten Beweisen. Aber was sollte ich schon machen? Als Verdächtiger hatte man in Geek nicht das Recht, seine eigene Sichtweise vorzutragen. Und man konnte auch keinen Einspruch erheben oder um Gnade bitten. Einfluss hatte man nur, wenn man außerhalb stand. Und selbst dann war es schwer. Letztendlich konnte ich die Ermittler auch verstehen. Das Volk machte ihnen Druck und wollte jemanden möglichst schnell für die Tat hängen sehen. Da war es eigentlich egal, ob man tatsächlich den Täter hängte oder nur einen armen Idioten, der gerade auf die Rolle des Sündenbocks passte. »Du hast noch ein paar Stunden«, erklärte Cip, während er die Sachen auf dem Tisch – Mantel, Hut und Stiefel – zusammenpackte und mir übergab. Dann gab er den beiden Wachleuten Anweisung hier zu bleiben, während er mich zurück in die Zelle geleitete. Auf unserem Weg schwiegen wir. Für mich war es die Probe für meinen letzten Marsch und erst jetzt wurde mir die Endgültigkeit bewusst, mit der das Todesurteil wirken würde. Ich würde nie wieder auch nur einen Schritt machen, nie wieder reden, nie wieder schweigen, nie mehr denken, nie mehr fühlen und nie mehr leben. Aber wahrscheinlich hatte ich eh niemals wirklich gelebt. Die Gänge waren leer, genau wie die Zellen. In diesem Bereich des Kerkers wurden selten Gäste untergebracht. Die meisten verfrachtete man in die Ostseite, nicht in die Westhälfte. Cip öffnete die Zellentür und ich trat ein. Ich sah ihn durch die Gitterstäbe an, den alten, einarmigen Mann, dessen müdes Gesicht von Furchen übersät war. »Ich habe alles gegeben, Stix. Mehr als du verdient hast. Aber ich kann nichts mehr für dich tun. Ich bin nur ein seniler Greis, der auch nicht mehr alles so kann wie früher. Der auch mal etwas vergisst.« Ich sah ihn verdutzt an. Worauf wollte er hinaus? »Ich werde dich nicht zum Galgen begleiten können. Jedenfalls … komm gut auf die andere Seite.« Ich nickte sichtlich verwirrt. Thomas Cip wandte sich zum Gehen. Und mit jedem seiner Schritte umklammerte ich die Gitterstäbe fester. Dann war er fort. Und ich hatte es auch jetzt nicht geschafft mich bei ihm zu entschuldigen. Erschöpft lehnte ich mich gegen die Zellentür, die Gitter noch immer fest umklammert. Und plötzlich erklang ein leises Quietschen. Ein Ruck fuhr durch mich hindurch und ich stolperte geradewegs aus der Zelle heraus. Erst jetzt erkannte ich den Sinn in den Worten meines Partners. Er hatte absichtlich vergessen die Tür zu verriegeln und mir damit eine letzte Chance gegeben. Schnell zog ich die Stiefel an, schlüpfte in den Mantel und ließ den Hut auf meinem Haupt thronen. Ohne Zeit zu vergeuden nutzte ich die Vorteile der Nacht und machte mich aus dem Staub. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)