Gin x Whiskey von Shoot_the_puppy (written by crazypark & me) ================================================================================ Kapitel 11: Every Pawn Is A Potential Queen ------------------------------------------- Kapitel 11 - Every pawn is a potential queen Jin Ich war beinahe so etwas wie erstaunt, dass sich Kamenashi nach gestern noch traute, in mein Auto einzusteigen. Die Freude darüber löste sich allerdings auf, als mich Tomo in der Pause abfing und mir die Botschaft überbrachte. Kamenashi würde also mit seiner Oma fahren, dass ich nicht lache. So eine seltendämliche Ausrede hatte ich lange nicht mehr gehört. Die gute Frau konnte von Glück reden, wenn sie eine Machete fand, um sich aus dem Pflanzendickicht in ihrer Küche hervorzukämpfen. „Was genau läuft da eigentlich zwischen euch?“, brachte Pi zur Sprache, nachdem er mich über Kamenashis Plan in Kenntnis gesetzt hatte. „Nicht hier“, murmelte ich und befürchtete, dass es ohnehin schon ein Fehler gewesen war, solche Dinge auf dem gefüllten Schulflur zu besprechen. Augen und Ohren waren überall und wer weiß, wer bereits alles sein Urteil über Kamenashi und mich gebildet hatte. Nicht, dass mich Gerüchte aus der Ruhe bringen würden, aber hier ging es eben auch nicht um meine Sichtweise Johnny schätzte es gar nicht, wenn über mögliche Affären innerhalb der Schulmauern gemunkelt wurde. Ich war froh, dass er wenigstens Tatsuya inzwischen duldete. Daher lotste ich meinen besten Kumpel zu einem unbevölkerten Platz, um seine Neugier zu stillen. „Also?“, fragte er, sobald wir ungestört waren. „Was genau willst du denn wissen?“ „Warum ihr gemeinsam zur Schule fahrt, für den Anfang.“ „Hat sich so ergeben“, zuckte ich mit den Schultern. „Du spielst sonst nicht grundlos den Samariter…außer bei mir natürlich“, fügte Tomo mit einem kleinen Grinsen an. Seine Augen begannen auf einmal mit einer Erkenntnis zu leuchten, die mir so gar nicht gefiel. „Du magst ihn doch nicht etwa?“ Welche Schlüsse der Junge manchmal zog, war mir unverständlich. Ich wusste nur, dass er nicht eher aufhören würde, zu nerven, bis ich ihm eine plausible Antwort geliefert hatte. "Er würde ohne mich Gefahr laufen, U-Bahn-Grabschern zum Opfer zu fallen", fasste ich die ganze Schose zusammen. "Du magst ihn also wirklich", lächelte Tomo seltsam zufrieden. "Unsinn. Du solltest am besten wissen, wie ich dazu stehe." Meine Worte taten mir sofort leid, als ich sah, wie sie Tomos Grinsen vom Gesicht vertrieben. Ich wollte ihn nur ungern an vergangene Vorkommnisse erinnern, aber noch weniger wollte ich mir fantasierte Gefühle andichten lassen. Ich hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. "Red' dir das nur als einzigen Grund ein", brummte er. Ich zog es vor, darauf nicht mehr zu antworten. Die kurze Pause war ohnehin fast vorbei und ich begab mich zur letzten Stunde für den heutigen Tag. Am nächsten Morgen parkte ich pünktlich zehn vor sieben Uhr vor Kamenashis Haus. Wollten wir doch mal sehen, wie viel an seiner Ausrede wirklich dran war. Es dauerte nicht lange, bis mir die Tür von Moriko geöffnet wurde. "Guten Morgen, Jin. Wolltest du Kazuya abholen?" Ich bejahte einfach mal ihre Frage. Laut meiner Theorie hatte sie eh keine Ahnung von dem, was Kamenashi gestern behauptet hatte. "Er ist letzte Nacht nicht heimgekommen. Ich hatte gedacht, dass er dir Bescheid geben würde", seufzte sie. Nicht heimgekommen, Bescheid geben? Nun war ich wirklich verwirrt. Offensichtlich merkte das auch Moriko und bugsierte mich in die Küche, um mich auf einen Stuhl zu drücken. Kurze Zeit später hatte ich mal wieder eine Tasse mit dampfendem Inhalt, über den ich lieber nichts wusste, vor mir stehen. Von den Brownies, die sie im Anschluss servierte, wollte ich noch weniger die Inhaltsstoffe kennen. "Er hatte nicht erwähnt, dass er woanders übernachten würde, sonst hätte ich ihn von dort abholen können...wo auch immer das ist", sagte ich mit meiner unschuldigsten Miene und hoffte, dass sie meine Wissenslücken füllen würde. "Es ist wirklich ärgerlich, dass du jetzt völlig umsonst hierher gefahren bist. Ich werde Kazuya ins Gewissen reden!" Mich würde wirklich brennend interessieren, bei wem er übernachtet hatte. Taka konnte es nicht sein, da er mit seiner Band gerade für drei Tage auf Tour war. "Das ist wirklich nicht nötig", winkte ich ab und fügte lächelnd an: "Außerdem ist ein Besuch bei Ihnen nie vertane Zeit." Meine Worte entlockten ihr wie üblich ein amüsiertes Lachen. "Du bist wirklich was Spezielles." "Ich hoffe doch, das ist positiv gemeint", grinste ich und nach einem bestätigendem Nicken fuhr ich fort: "Sie wissen nicht zufällig, bei wem Kazuya gestern war?" Es war das erste Mal, dass ich seinen Vornamen aussprach. Erstaunlich, wie leicht er mir über die Zunge gerollt war. Ich fragte mich unwillkürlich, ob es mir nicht nur beim Namen leicht fiel, ihn in den Mund zu nehmen. Aber die Diskussion dieser Frage sollte ich wirklich an anderer Stelle fortführen "Er sagte bei einem Freund. Den Namen hat er nicht erwähnt." Schade aber auch. Ich war verdammt neugierig, mit wem er neben Taka seine Freizeit verbrachte. Pi oder Tatsuya konnte ich mir nicht so recht vorstellen, aber wer blieb sonst? Eine Frage, die mir Moriko definitiv nicht beantworten konnte. Also verabschiedete ich mich, nachdem ich brav den Kräutertee ausgetrunken und mir die Brownies hatte einpacken lassen und machte mich auf den Weg zur Schule. Dort angelangt erwartete mich gleich eine unangenehme Aufgabe: Ich musste ins Sekretariat. Das konnte nur weitere nervige Pflichten darstellen. "Guten Morgen", flötete die junge Frau hinter dem Schreibtisch. Vermutlich war ihre Freundlichkeit nur eine Methode, mich gnädig zu stimmen für das, was sie mir zu sagen hatte. "Wir haben ab heute einen neuen Schüler. Er heißt Miura Haruma und ist der Sohn eines japanischen Botschafters, welcher kurzfristig umziehen musste. Ich würde dich normalerweise nicht mit dieser Sache behelligen, aber Kamenashi ist noch nicht aufgetaucht..." Ich beschloss, ihren Monolog zu unterbrechen, bevor das noch ausartete und fragte mich zeitgleich, warum sie nicht einfach dessen Stellvertretung dafür beauftragt hatte. Aber so, wie sie mich aus funkelnden Augen musterte, lag die Antwort im Grund klar auf der Hand. Weiber… "Kamenashi ist beim Arzt. Er fühlte sich gestern nach der Schule bereits unwohl. Hat denn seine Großmutter nicht angerufen?" Johnnys Tippse schluckte die Lüge, welche sie mit Sicherheit sogleich weiterleitete. Man, dafür war mir der Kerl echt was schuldig und vor allem für den Dreck, den ich dank seiner Abwesenheit erledigen durfte: Einen mit großer Wahrscheinlichkeit aufgeblasenen Botschaftersohn willkommen heißen. Dadurch, dass unser Schulsprecher Verspätung hatte, geisterte der Schnösel bereits irgendwo herum. Wenigstens würde es nicht allzu schwer werden, den Neuen zu finden. Frischlinge waren dafür bekannt, schnell einen Streit vom Zaun zu brechen oder selbst in einen zu geraten, wenn sie niemand gleich zu Beginn an die Hand nahm. Wie erwartet kostete es mich keine fünf Minuten, das neue Gesicht auszumachen. Der Depp war gerade munter dabei, eines der wichtigsten Gesetze zu brechen: Eine Person, die unter meinem Schutz stand, zu bedrängen. Maru gehörte nicht unbedingt zur Crème de la Crème meiner Truppe, war aber dennoch ein Teil davon. Niemand durfte ihm ein Haar krümmen außer mir persönlich. Diese Privilegien zu missachten machte mich verdammt ungehalten - Frischling oder nicht. Mit schnellen Schritten war ich beim Geschehen, um zu verhindern, dass Maru sein Geld geklaut wurde. Dabei sollte man eigentlich meinen, dass an einer Privatschule jeder genug davon hatte. "Oi!", fuhr ich den Neuling an und zog ihn am Nacken zurück. "Was glaubst du, was das hier wird?" Für einen kurzen Augenblick schaute mich das zugegebenermaßen recht hübsche Bürschchen geschockt an, bevor er sich fing und mich selbstgefällig von oben bis unten betrachtete. "Weißt du überhaupt, wen du vor dir hast?", plusterte er sich künstlich auf. "Mir herzlich egal. Innerhalb des Schulgeländes herrschen ein paar Regeln - meine. Dazu gehört vor allem, die Finger von meinen Leuten zu lassen." Und Gnade ihm Gott, sollte er sich nicht daran halten. "So eine Behandlung lass ich mir von einem Landstreicher wie dir nicht bieten. Ich geh jetzt zu Kitagawa und..." "Ich sag dir das nur einmal, also hör gut zu", zischte ich mit gesenkter Stimme und packte ihn am Kragen, um den Kleineren auf Augenhöhe zu ziehen. "In dieser Schule ziehe ich die Fäden. Johnny wird dir nicht helfen. Also würde ich dir raten, dich an meine Spielregeln zu halten, solltest du nicht die Konsequenzen spüren wollen. Und glaub mir, das würdest du nicht wollen." Eigentlich wollte ich ihm meine Hausordnung nicht vor versammelter Mannschaft vorlesen, aber sein Verhalten hatte mir keine andere Wahl gelassen. Wenn der Knirps zum Rektor gerannt wäre, hätte ich mir eine Pfeife anbrennen können. Ganz offensichtlich hatte er nicht mit einem Ausbruch von meiner Seite gerechnet. Er schaute mich jedenfalls mit aufgerissenen Augen an und öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, ohne ein Wort herauszubringen. "Hast du mich verstanden?", fragte ich und ließ von ihm ab. Im Grunde war das eine rein rhetorische Frage, da mir seine Reaktion bereits die Antwort gegeben hatte. Ich erntete ein Nicken und drehte mich zufrieden zu Maru, welcher immer noch stocksteif gegen die Wand gepresst stand. "Sorry, dass ich nicht eher eingreifen konnte. Alles okay bei dir?" "Geht schon", quäkte er heiser und schälte sich endlich mal vom Gemäuer. So ein Trubel zum frühen Morgen war wahrlich nichts für mich. Nach einem prüfenden Blick stellte ich fest, dass er keine Verletzungen aufwies. Damit war die Sache für mich gegessen. Sollte der neue Idiot sich doch selbst zurecht finden. Dank seiner Aktion hatte er sich sämtliche Sympathiepunkte bei mir verspielt. Außerdem hatte ich meine gute Tat für heute damit rein und irgendeiner würde ihm schon die Regeln einbläuen. Als ich mich zum Gehen wandte, konnte ich Kamenashi unter der Traube Schaulustiger ausmachen. Der verlorene Sohn hatte also in einem Stück nach Hause zurück gefunden. Besser spät als nie oder wie war das? Der Schultag verlief bis zur Mittagspause glücklicherweise unspektakulär. Noch so einen Aufstand hätte ich auch nicht gebrauchen können. Im Speisesaal hatten sich bereits alle versammelt bis auf Kamenashi, welcher uns seit Tagen wie die Pest mied. Ich fragte mich, ob es immer noch an unserer Knutschaktion lag, was reichlich dämlich wäre. Als ob ich ihn mitten auf dem Esstisch nageln würde. Obwohl die Vorstellung natürlich was hatte. "...noch ein paar Stunden und ich kann die Prüfung machen und dann endlich mit der Praxis beginnen", drangen Kokis Worte an meine Ohren, als ich mich mit einem Tablett bewaffnet näherte. "Also bist zumindest du bei deinem Vorsatz ein Stück weiter gekommen", sprach Junno und nickte anerkennend. "Hey, Jin. Wie sieht's denn da bei dir aus?" Kaum, dass mich die beiden entdeckten, machten sie sich lustig über mich. Ich hätte sie definitiv nicht über meine Pläne informieren sollen. "Läuft." Das musste reichen. Ich hatte keine Lust, diese Sache im Beisein von Pi und Ueda zu besprechen. Offenbar dachte aber nur ich so. "Ah, deswegen sehe ich ihn an deinen Hacken kleben. Wo hast du ihn versteckt? So klein, dass er in deine Unterhose passt, ist er nun auch wieder nicht", lachte Junno. Blöder Penner. "Wahrscheinlich hast du ihn mit deiner Art vergrault", warf mir Koki scherzhaft vor. Wobei ich mich fragte, ob er damit gar nicht mal so falsch lag. "Könnten wir das Thema wohl ein anderes Mal bequatschen?", fragte ich genervt und widmete mich demonstrativ meinem Essen. "Uuuh, haben wir etwa einen wunden Punkt getroffen?" "Ich werde dir gleich einen wunden Punkt verschaffen, wenn du nicht aufhörst zu sticheln." Ernsthaft, wie alt waren die beiden? Zwölf? Manchmal konnte ich kaum glauben, dass wir zu dritt erfolgreich die Geschäfte unserer Eltern unterstützten. Bis zum Ende unserer Nahrungsaufnahme hielten sich die Zwei tatsächlich zurück und ließen auch mal Tomo und Tatsuya zu Wort kommen. Als wir alle fertig waren, packte ich die Brownies aus. Moriko hatte mir so viel mitgegeben, dass ich unmöglich alle allein essen konnte. "Hat die dir Ueda gebacken?", feixte Junno dümmlich. "Sehe ich aus wie sein Koch?", fragte erwähnte Person entsetzt. "Nein, aber wie seine Frau", lachte Koki so, als hätte er einen wahnsinnig tollen, neuen Witz zum Besten gegeben. "Du hattest auch schon bessere Sprüche", sagte Pi und ließ mich damit über beide Ohren grinsen. Der Kleine könnte wirklich mein Bruder sein. Nebeneinander aufzuwachsen kam dem Ganzen wohl sehr nahe. "Stellt nicht immer so dumme Fragen, sondern esst einfach. Ich bin selten in Geberlaune." Ich würde den Teufel tun und der neugierigen Bande den Ursprungsort der Brownies verraten. Da konnte ich mir auch gleich selbst ins Bein schießen. "Irgendwie schmecken die eigenartig", sinnierte Koki und kaute nachdenklich auf dem Gebäck herum. Ich stützte mich auf meine Ellbogen und beugte mich weiter über den Tisch, um ihn genauer zu betrachten. "Eigenartig im Sinne von...?", fragte ich und war gespannt, was der Experte zu sagen hatte. "Ich kann es nicht genau deuten...Kann ich mir einen mitnehmen und ihn untersuchen lassen?" Hatte ich es doch gewusst! Am Ende war das wirklich eine neue Art Hash-Brownies. "Nimm nur mit. Ich würde es selbst gern wissen." Nach meinen Worten ließen alle ihren Nachtisch fallen. "Deswegen isst du keinen davon", mutmaßte Junno und starrte mich anschließend anklagend an. "Heißt das, wir nehmen hier gerade Drogen zu uns?", zischte auch Ueda fassungslos. "Ich nehme an, du hast schon weitaus andere Sachen geschluckt", zuckte ich unbeeindruckt die Schultern. "Die waren aber wenigstens nicht bewusstseinserweiternd." "Krieg dich wieder ein, ich wette da ist nichts Schlimmes drin. Immerhin stammen sie von Kamenashis Oma." Toll, nun hatte ich es doch beichten müssen. Die Verarbeitung der Information brauchte wohl eine Weile, aber als es geschah, fingen alle der Reihe nach an wissend zu grinsen. Oh Jesus, was hatte ich nur wieder angerichtet. *** Kame Es war eine ungewohnte Wärme, welche mich weckte, gepaart von einem Gewicht unbekannter Herkunft. Schläfrig versuchte ich mich näher an die Wärmequelle zu pressen und wieder einzuschlafen, doch irgendein Gefühl nagte an mir, dass hier etwas nicht stimmte und ließ mir keine Ruhe. Es traf mich wie der Blitz, was an dieser gesamten Szene grundlegend falsch war. Ich riss die Augen auf und blinzelte verwirrt. Nicht mein Zimmer und definitiv nicht mein Bett. Warmer Atem traf auf meine Halsbeuge und sorgte für ein Kribbeln auf meiner Haut. Ryo. Wer sollte es auch sonst sein? Das Kribbeln wurde stärker und wenn ich nicht gleich etwas dagegen unternahm, würde ich bald ein Problem haben, welches ich nicht erklären wollte. Ich wollte gar nicht wissen, wie wir in diese Lage gekommen waren, noch wohin meine Klamotten verschwunden waren, denn zu meiner Verwunderung musste ich feststellen, nur noch meine Shorts zu tragen. Ich konnte mich nicht erinnern, mich ausgezogen zu haben. Doch vor dem ersten Kaffee war meine Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, sowieso eingeschränkt. Ich versuchte den Arm, welchen Ryo um mich geschlungen hatte, vorsichtig zu entfernen, ohne ihn zu wecken. Doch es war zwecklos, da dieser scheinbar an mir festgewachsen schien. „Mensch Ryo, ich bin nicht dein verdammtes Kuscheltier", seufzte ich frustriert. Langsam wurde es kritisch. „Ich weiß." Beinahe hätte ich vor Schreck aufgeschrien. Warum war der Depp wach und warum zur Hölle unternahm er nichts gegen diese prekäre Liegeposition? „Dann lass mich los", zische ich ungehalten und versuchte mich aus der engen Umarmung zu winden. „Kratzbürstig am Morgen was?", feixte der Ältere, aber ließ mich tatsächlich gehen. So schnell wie ich konnte, krabbelte ich aus dem Bett und hielt Ausschau nach meiner Schuluniform. Es war mir nicht geheuer, weiterhin halbnackt hier herumzutanzen. „Wo sind meine Sachen?" „Hab sie dort hinten irgendwo hingelegt", antwortete der Ältere und schob sich wenig motiviert aus dem Bett. „Du?" „Wer sonst oder wolltest du in den Klamotten schlafen?" Okay, das klang plausibel, aber ich bekam dennoch das flaue Gefühl in meiner Magengegend nicht weg. Ein Blick auf die Uhr genügte und auch das war vergessen. „Shit!" Sobald ich das Schulgelände erreichte, musste ich jedoch feststellen, dass ich scheinbar nicht nur meine Pflichten versäumt hatte. Auf dem Schulhof herrschte ein regelrechter Tumult. Der Ursprung war mir noch ein Rätsel, wenn auch der Urheber nicht völlig unbekannt. Akanishi stand – zu meiner unglaublichen Überraschung – mal wieder im Mittelpunkt des Geschehens. Leider mussten Nachforschungen, was zum Geier hier vor sich ging, bis nach dem ersten Stundenblock warten, aber wie ich diese Tratschtanten kannte, würde ich schon währenddessen mehr oder weniger wahre Details erfahren. Die Klingel ertönte und ich ließ mich von der Masse in das Hauptgebäude schwemmen. Mittagspause und ich war verwirrter als zuvor. Unwissenheit war doch ein Segen, da man seine grauen Zellen gar nicht erst anstrengen musste, um Zusammenhänge zu verstehen. Die Verbindung aus neuem Schüler, Maru und Akanishi war schon undurchsichtig genug, ließ sich aber schnell klären. Unerklärlich blieb jedoch die offizielle Entschuldigung für meine verspätete Ankunft heute Morgen. Meinen „Retter“ würde ich sicherlich nicht über seine Gründe ausfragen. Wenn er mir nicht ans Bein pissen wollte, gab es nur eine andere Sache, welche diese plötzliche Nettigkeit hervorrief. Und diese galt es unter allen Umständen zu vermeiden. „Hey Nakamaru“, grüßte ich meinen Mitschüler, als ich den kleinen Raum betrat. Ich wusste doch, dass ich ihn hier finden würde. „Kamenashi, Lust auf eine Partie?“, lächelte dieser und wies auf das Schachbrett vor ihm. „Gern.“ Ich nahm ihm gegenüber Platz und wartete ab, bis Maru das Spiel eröffnete, ehe ich das Gespräch auf die gewünschte Fährte lenkte. Um den Schein zu wahren, übte ich mich in Geduld, bis der dritte Zug von mir beendet wurde. „Ich habe gehört, du hattest heute Morgen ein paar Probleme.“ Ich versuchte, meine Stimme so gleichgültig wie möglich klingen zu lassen. „Das Übliche, wenn ein Neuer die Regeln noch nicht versteht.“ Ich nickte und gab vor zu verstehen, was er mir damit mitteilen wollte. Mir hatte nie jemand von irgendwelchen Regeln erzählt, aber ich musste mich auch nicht an meinem ersten Tag mit Akanishi auseinandersetzen. Ich tätigte meinen nächsten Zug und erkannte, dass diese Partie wohl an meinen Gegner gehen würde. Mein letztes Spiel war eine Weile her. Maru war Vorsitzender des Schachclubs und äußerst begabt. Wenn ich nicht mit anderen Sachen ausgelastet wäre, würden wir sicher fast täglich hier hocken. Es war schwer, einen ebenbürtigen Partner in dieser Schule zu finden. „Und nun kennt er sie?“ Ich wollte ja nicht zu neugierig wirken, aber ohne dämliches Nachhaken schien er mir leider nichts zu erzählen. Hätte ich mir auch denken können. Er war nicht gerade als gesprächig bekannt. „Sollte er, wenn er weitere Konfrontationen mit Akanishi vermeiden will“, erklärte mir Nakamaru, als ob er gerade versuchte, irgendwelche natürlichen Gesetzmäßigkeiten einem Grundschüler zu erläutern. „Und Kitagawa lässt das zu?“ Ich konnte mir schwerlich vorstellen, dass unser Herr Rektor einen zweiten Diktator neben sich in diesen heiligen Hallen duldete. Mein Gegenüber musterte mich daraufhin nachdenklich und schien abzuwägen, was und wie viel er erzählen konnte oder durfte. „Jin ist keiner von den Bösen, Kamenashi“, fing er schließlich an. Von den Guten ebenso wenig, aber ich wollte Maru nicht unterbrechen. „Er hat mir geholfen, wie er es immer tut.“ Er blickte beim Sprechen nicht mehr von dem Schachbrett auf, aber ich konnte deutlich hören, wie ernst er es meinte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Akanishi jemals jemanden - außer sich selbst - helfen würde. "Wie das?", fragte ich daher nach. Nun hatte ich es doch geschafft das Nakamaru seine Aufmerksamkeit von dem Schachbrett abwendete. Erneut schien er sich nicht sicher, was er tun sollte, entschied sich aber nach dem Schlagen einer meiner Bauern, doch zu antworten. „An meiner alten Schule war ich nicht gerade beliebt. Es wurde so schlimm, dass meine Eltern beschlossen, einen Wechsel zu veranlassen. Ich hatte wenig Hoffnung, dass es hier besser werden würde. Doch Jin bot mir eine Übereinkunft an und ich nutzte diese, um endlich meine Ruhe zu haben.“ Mit Sicherheit im Tausch gegen jegliche Arbeiten, bei welchen Akanishi sein nicht vorhandenes Gehirn anstrengen müsste. Oh ja, wir sollten ihm einen Heiligenschein verpassen und in Mutter Theresa umbenennen. Ich verkniff mir lieber mein Kommentar, denn Maru schien seine festgefahrene Meinung über sein Idol wohl demnächst nicht ändern zu wollen. „Schachmatt", lächelte er mich irgendwann fröhlich an. „Du weißt schon, dass ich dich gewinnen lassen habe", grinste ich zurück. Zum Teil stimmte diese Aussage sogar. Ich musste meine Konzentration auf andere Dinge legen. „In deinen Träumen, Kamenashi Aber ich gebe dir gern eine Revanche." Wenn er wüsste, wovon meine Träume handelten... „Ein anderes Mal vielleicht." Ich hatte erst einmal alles, was ich wollte. Eine Begegnung mit dem Neuen ließ auch nicht lange auf sich warten. Ein wirkliches Herzchen, wie sich herausstellte, welches sich für das Zentrum des Universums hielt. Zumindest dahingehend hatte er einiges mit Akanishi gemeinsam. Ich versuchte erst gar nicht, mich für mein Versäumnis zu entschuldigen, nachdem er klar gemacht hatte, was er von mir und dieser Schule hielt. Sammelbecken für unterprivilegierten Dreck, welcher zufällig zu Geld gekommen war, lautete, soweit ich mich erinnern konnte, seine Wortwahl. Das Positive an einem Botschaftersohn war, dass er genauso schnell verschwand, wie er gekommen war. Bis dahin würde ich ihm einfach aus dem Weg gehen. Ich hatte schon so genug eigene Probleme. Akanishi und der kommende Samstag zum Beispiel. Keine Ahnung, wie ich das überleben sollte oder ob der Herr von seinem Glück überhaupt wusste. Johnny redete bei diesem Thema immer in Rätseln. Hauptsache ich machte meinen Job. Mehr bräuchte mich nicht zu interessieren. Fünf Minuten vor dem Stundenbeginn hatte ich es wieder an meinen Platz geschafft und bereitete mich auf zwei Stunden japanische Geschichte vor, als plötzlich eine Tüte mit undefinierbarem Grünzeug auf meinen Tisch geworfen wurde. „Du klaust Essen aus der Kantine?“, fragte ich Pi, welcher mich mit verschränkten Armen anstarrte. „Ja, und ich stopfe es dir höchstpersönlich in den Mund, wenn du nicht freiwillig isst.“ Er klang, als wäre er wirklich nicht zum Scherzen aufgelegt. Ueda zuckte nur mit den Schultern und nahm auf seinem Stuhl Platz. „Uhm danke“, erwiderte ich und beäugte die seltsame Auswahl. „Das nächste Mal sitzt du wieder mit am Tisch oder du wirst es bereuen“, sprach unsere Glucke weiter. Es fehlte bloß noch das Wedeln mit dem Zeigefinger und die Szene wäre perfekt. „Ja, Mama.“ Es war wirklich rührend, wie Yamapi sich um jeden sorgte, aber solange sich Akanishi im Speisesaal herumtrieb, war mein Appetit sowieso nicht vorhanden. „Denke nicht, ich zerre dich nicht selbst dort hin“, drohte er mir noch, bevor auch er seinen Platz aufsuchte. Fantastisch, jetzt musste ich schon versuchen, mich vor zwei Leuten zu verstecken. Nach dem Unterricht verließ ich gerade das Gebäude, als ich auch schon Nummer eins ausmachte. Langsam entwickelte ich einen regelrechten Radar, was Akanishi anbelangte. Vielleicht war das aber auch gar nicht so unpraktisch, wenn man die derzeitige Situation mal in Betracht zog. Eher erstaunt war ich, Ryo neben ihm zu erblicken – schon wieder! „Die meisten sind froh, wenn sie nach ihrem Abschluss keine Schule mehr betreten müssen“, begrüßte ich den Älteren und versuchte einfach die Anwesenheit meines persönlichen Alptraumes zu ignorieren. „In Ermangelung eines Abschlusses kann man diese Regel nicht auf Ryo anwenden“, gab Akanishi natürlich seinen ungebetenen Kommentar zum Besten, da er wohl nicht gewillt war, es mir gleich zu tun. „Halt die Klappe, Jin. Kame, du hast das bei mir vergessen. Dachte, du könntest es vielleicht gebrauchen“, wandte sich Nishikido an mich und überreichte mir mein Handy. Oh, mir war die Abwesenheit meines Mobiltelefons noch nicht einmal aufgefallen. „Danke. Du hättest dir nicht extra die Mühe machen müssen, her zu kommen.“ Obwohl ich wahrscheinlich heute Abend kollabiert wäre, wenn ich den Verlust spätestens bemerkt hätte. „War sowieso in der Nähe. Soll ich dich heimfahren?“ Ich würde zu gerne zusagen, schon allein, weil Akanishi aussah, als hätte er gerade auf eine Zitrone gebissen. Da schien jemanden wohl irgendetwas nicht zu passen. „Ich würde sofort ‚ja‘ sagen, aber ich hab noch Training. Trotzdem danke“, antwortete ich und versuchte nun, extra viel Bedauern in meine Stimme zu legen. „Kein Problem. Ich ruf dich an.“ Ryo verabschiedete sich mit einem Winken von uns beiden und zog von dannen. Etwas unschlüssig stand ich nun da. Mein Fluchtreflex schlug voll aus, aber egal, wie ich es drehte, wenigstens seine Hilfe musste ich anerkennen. Besser ich brachte es gleich hinter mich. „Danke für die Deckung heute Morgen.“ „Du kennst ja den Preis.“ Und wie ich diesen kannte. Ich konnte mir ein ironisches Lächeln nur schwer verkneifen. Das Schlimme daran war, das ein Teil von mir die „Zahlung“ nur zu gerne umsetzen wollte. Zum Glück war Selbstbeherrschung eine der wenigen Tugenden, die ich wirklich perfektioniert hatte. „Nur ein Tipp. Du solltest Vorkasse verlangen“, konterte ich schelmisches und zwinkerte dem Älteren zu, bevor ich mich auf den Weg in Richtung Sporthalle machte. Früher oder später würde einer von uns nachgeben. Es war nur eine Frage der Zeit und diese spielte gegen mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)