Wintersonnenwende von Lianait (Götterfunken / 21. Türchen 2012) ================================================================================ Kapitel 1: Rauhnacht -------------------- David rieb sich die Augen und starrte dann wieder müde auf sein Interface, während eine Unzahl an Informationen durch sein Hirn flutete. Er war der Letzte in der Bibliothek, alle anderen waren schon gegangen, aber ehe er endlich auch in die Winterferien gehen konnte, musste er erst noch diesen Projektbericht vor ihm beenden. Es war erst Nachmittag, doch draußen vor den Fenstern setzte bereits die Dämmerung ein und begann dunkel gegen die Scheiben zu drücken. Glücklicherweise war David bereits im letzten Teil seines Berichts und konnte hoffentlich auch bald nach Hause gehen. Doch scheinbar war das große kosmische Etwas ganz und gar nicht dafür. Sein Interface begann zu flackern und in aller Panik gelang es ihm gerade noch so seinen Text zu sichern, aber er konnte es nicht wieder zum Laufen bringen, egal, was er auch versuchte. Seine Hand wanderte wie von selbst zu seinem Nacken hinauf, um den Input in seinem Nacken zu kontrollieren, aber die Flut an fremden Informationen in seinem Hirn ließ ihn vermuten, dass dieser noch in Ordnung war. „Super…“, seufzte er geschlagen. Wahrscheinlich war es wieder der Transponder, der nicht richtig funktionierte; er hatte schon häufiger damit Probleme gehabt und sollte den Transponder wohl besser langsam ersetzen, wenn er nicht wollte, dass auch noch sein Interface durch die fehlerhafte Verbindung zu leiden hatte. Kurzerhand schob David seinen Schreibtischstuhl zurück, griff den länglichen, silbernen Stab, sein Holodrid, der sowohl Interface-Projektor als auch Transponder beinhaltete, und erhob sich, um das Tech Labor aufzusuchen. Vielleicht hatte er ja wider Erwarten Glück und er war doch nicht der einzige Mensch in der Akademie, obwohl er sich so fühlte. Seine Schritte hallten laut durch die leeren, hell beleuchteten Gänge und ihm begegnete auf seinem Weg keine Menschenseele, noch nicht einmal der Sicherheitswärter. David wanderte eine Weile durch das Gebäude, ehe er schließlich die halb geöffnete Tür des Labors erreichte; er konnte erkennen, dass Licht im Inneren des Raumes brannte. Das Tech Labor war kein Labor im eigentlichen Sinne, sondern viel eher eine feingliedrige Werkstatt, in der sich für gewöhnlich die Mitglieder des Technik-Clubs und vielleicht dann und wann ein paar interessierte Lehrer aufhielten. Sein Input sagte ihm, dass es bereits fünf Uhr an diesem letzten Unterrichtstag vor den Ferien war, was bedeutete, dass sich in Clubräumen mit teurerem Equipment eigentlich nur noch Lehrkörper befinden sollten, die hinterher die Räume abschließen konnten. Seine Chancen, seinen Transponder repariert zu bekommen und somit im Endeffekt seinen Bericht fertigzustellen, waren gerade um ein vielfaches angestiegen. Er klopfte an die ungeschlossene Tür, um wem auch immer auf der anderen Seite zu signalisieren, dass er sich hier aufhielt. Ohne auf eine Antwort oder eine Aufforderung von drinnen zu warten, öffnete er die Tür und trat in den mit Geräten überfüllten Raum. Doch als er die einzige Person im Labor erkannte, musste er einen weiteren Seufzer unterdrücken, denn zu seiner Überraschung fand er keinen Lehrer vor, sondern Williams. Milena Williams war ein Sonderling. Sie war nicht unbedingt wegen ihres Äußeren auffällig – nicht wenige Leute hatten blaue Haare und trugen viereckige, schwarze Hornbrillen, die, wie ihm sein Input vermittelte, scheinbar etwa alle zwanzig Jahre wieder in Mode kamen – sondern vielmehr aufgrund ihres Verhaltens. Sie war eigenbrötlerisch und isolierte sich selbst von allen, auch wenn dies laut Aussagen einiger seiner Mitschüler wohl nicht immer so extrem gewesen sein musste, aber wohl nach dem Tod eines Mitschülers noch vor Davids eigener Ankunft hier eskaliert war. Es war ja nicht so, dass er sie nicht leiden konnte, aber er empfand es als ungewöhnlich schwer, mit ihr ein Gespräch für länger als ein paar Minuten zu führen. Auf der einen Seite war er überrascht, dass sie offensichtlich einen Schlüssel für dieses Labor haben musste, schließlich war sie auch nur eine Schülerin, aber der anderen Seite wiederum nicht. Zugegeben, sie war zwar nicht unbedingt die Person, die er gehofft hatte, hier vorzufinden, aber trotz ihrer sozialen Unbeholfenheit und der Tatsache, dass sie nicht unbedingt die beliebteste Person der Akademie war, waren sich alle Meinungen einig, dass sie ein regelrechtes Technikgenie war. Glücklicherweise sah sie nicht gleich auf, als er eintrat, sodass er die Gelegenheit hatte, sich erst wieder zu fangen, sondern schraubte stattdessen an etwas herum, das wie eine alte Schaltplatte aussah. Schließlich sah sie auf und ihre Haare hingen ihr ein wenig wild ins Gesicht, als sie ihn durch ihre Brille anblinzelte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde jedoch schnell verschlossen, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte. David beschlich das unbestimmte Gefühl, dass sie ihre bisherigen minimalistischen Gespräche auch nicht viel mehr genossen hatte, als er selber. Er nahm es nicht persönlich, nicht wirklich; schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, je einen anderen Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen zu haben. „Farley? Warum bist du noch hier?“ Er schluckte, aber es half alles nichts, wenn er heute noch hier weg wollte, müsste er sie fragen. „Ich war gerade dabei, noch meinen Projektbericht zu schreiben, als mein Holodrid kaputt gegangen ist“, sagte er und hielt das silberne Gerät hoch. „Ich hatte gehofft, hier noch jemanden zu finden, der mir vielleicht damit helfen könnte…“ Sie runzelte die Stirn und ließ dann ein leichtes Schnauben vernehmen. Offenbar war sie nicht sonderlich erbaut darüber, ihm helfen zu müssen, doch sie legte schließlich das Schaltbrett beiseite und streckte die Hand aus. „Gib her“, seufzte sie schließlich geschlagen. Er tat wie ihm geheißen, ehe sie es sich noch anders überlegte. „Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, aber ich habe schon seit einer Weile Probleme mit dem Transponder…“, erklärte er. Aber kaum hatte er ihr diese Information gegeben, breitete sich ein Gefühl ihn ihm aus, das Unruhe und zugleich ein leichtes Unwohlsein in sich vereinte, schließlich würde sie sehen, dass der Transponder nicht mehr ganz das Wahre war, sobald sie das Gerät öffnete. Es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen und er wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte. Williams schraubte mit gezielten Handgriffen schnell den Holodrid auf und begutachtete dessen Inneres. Bis zu diesem Punkt wäre David auch gekommen, aber in nur wenigen Augenblicken hatte Williams das ganze Gerät auseinandergebaut und überall auf ihrem Tisch lagen kleine Teile, die für David alle gleich aussahen, aber sie schien zu wissen, was sie tat. „Jap, dein Transponder ist im Eimer, ein wahres Wunder, dass er es überhaupt noch gemacht hat, einige der Ports sind vollkommen durchgeschmort“, erklärte sie abwesend und er nickte. Allerdings hätte sie ihm alles Mögliche sagen können und er hätte es ihr geglaubt; Technik war nicht unbedingt seine Stärke. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte, stand auf und begann in den Schränken nach irgendetwas zu suchen, höchstwahrscheinlich Ersatzteilen. Sie kramte eine Weile und ging schließlich schnellen Schrittes an ihren Platz zurück, nur um noch schneller an den gefühlten tausend Teilen des zerlegten Holodrids zu schrauben, während David nichts anderes übrig blieb, als sich in dem viel zu vollgepackten Technik Labor umzusehen. Überall standen kleinere und größere Teile von alten und neuen Computern, Schaltplatten, Kabel und Holo-Bildschirme. Als er wieder zu Williams sah, fand er sie vollkommen vertieft in ihre Aufgabe. Es war offensichtlich, dass sie Spaß an ihrer Arbeit hatte, denn er glaubte nicht, dass sie darauf achtete, was ihr Gesichtsausdruck in diesem Moment wohl zeigen mochte, als sie den Holodrid Stück für Stück wieder zusammensetzte. Warum setzt sie überhaupt immer diesen abweisenden Gesichtsausdruck auf? Doch anstatt sie dies zu fragen, weil es ihn ja eigentlich nichts anging, sagte er: „Danke.“ Sie sah auf und blinzelte, als hätte sie erst in diesem Moment, in dem er sie ansprach, wieder realisiert, dass er überhaupt hier war. Auf seine Dankesbekundung ging sie nicht ein, sondern stellte ihm eine Frage. „Weißt du, was heute für ein Tag ist?“ David hatte nicht mit so einer Frage gerechnet und runzelte die Stirn. „Der 21. Dezember, warum?“ Diese Antwort schien sie jedoch nicht zufrieden zu stellen. „Und was ist an diesem Tag so besonders?“, fragte sie. Das ein- und ausschaltbare Implantat in seinem Nacken, sein Input, war noch immer mit dem globalen Netzwerk verbunden und die darin enthaltenen Informationen, sprossen in vielen Stichworten wie kleine Triebe aus dem Boden. „Radium wurde an diesem Tag entdeckt, es ist Wintersonnenwende und dadurch auch die längste Nacht des Jahres, vor knapp 70 Jahren dachten die halbe Menschheit, die Welt würde aufgrund eines alten Kalenders untergehen-“, ratterte er die ersten Stichworte herunter, die klarer hervortraten. „Schon gut!“, sagte sie, ehe er fortfahren konnte. Obwohl Williams ihn nach diesen Informationen gefragt hatte, klang ihre Unterbrechung ein bisschen harsch. Aber warum hatte sie ihn danach gefragt? Fast jeder Mensch besaß mittlerweile einen Input und Williams war keine Ausnahme. Warum hatte sie ihn, David, danach gefragt, wenn sie es selber hätte nachschauen können? „Und warum fragst du danach, wenn du es dann doch nicht wissen willst?“, hakte er verwirrt nach. „Ach, ist nicht so wichtig“, murmelte sie und wich seinem Blick aus. Statt ihn anzusehen, starrte sie mit einem undeutbaren Blick aus dem Fenster. Ehe David jedoch weiter fragen konnte, klopfte es an der Tür und ihrer beider Aufmerksamkeit richtete sich darauf. Der Sicherheitswärter, wunderbar an seiner schwarz-weißen Uniform zu erkennen, erschien und sah von einem zum anderen. „Wisst ihr zufällig, wo der Schüler aus Raum 337 abgeblieben ist? Da oben liegen noch Unterrichtsutensilien, ein Rucksack und eine Jacke, aber kein Schüler“, wollte der Wärter wissen. „Oh, das sind meine Sachen“, erklärte David. „Als ich einen Bericht geschrieben habe, hat mein Holodrid den Geist aufgegeben und ich bin hergekommen, um Milena hier um Hilfe zu bitten.“ Der Wachmann nickte verstehend. „Ah, gut. Ich lasse euch dann besser weiterarbeiten, aber denkt dran, um acht muss ich hier alles abschließen. Und ihr wollt ja sicher auch möglichst schnell in die Ferien, oder?“ Er zwinkerte ihnen zu. „Schon in Ordnung“, sagte Williams jedoch, „ich bin ohnehin fertig.“ Rasch reichte sie David das reparierte Gerät zurück und setzte sich dann wieder. „Äh, danke“, entgegnete David überrumpelt als er den Holodrid unbeholfen entgegennahm. „Gut. Dann, mein Junge, bring ich dich gerade hoch zu deinen Sachen“, meinte der Wachmann und führte David aus dem Raum. Er warf noch einen Blick zurück über die Schulter auf Williams, doch sie erwiderte seinen Blick nicht und war schon wieder in ihre Arbeit an dem alten Schaltbrett vertieft. Kapitel 2: Die Wilde Jagd ------------------------- Es war schon nach sieben als David die Akademie endlich verlassen hatte. Er wäre wahrscheinlich viel schneller fertig gewesen, wenn er nicht noch Informationen über den 21. Dezember eingeholt hätte und dann nicht auch noch zusätzlich dabei abgedriftet wäre. Sobald er das Netzwerk nicht mehr brauchte, schaltete er seinen Input aus, denn all die Informationen, die über die sehr starke Akademieverbindungen direkt in seine Gedanken gelangten, bereiteten ihm auf Dauer immer Kopfschmerzen. Der frisch gefallene Schnee knirschte unter seinen Schuhen, aber David glaubte nicht, dass er liegen bleiben würde. Sein Atem stieg in kleinen weißen Wölkchen nach oben, als er zum Himmel aufblickte. Er konnte nur ein paar wenige Sterne sehen, denn die Lichter der Stadt überblendeten sie. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, dass er nun schon genau ein Jahr hier lebte. Die Nacht, in der er in die Stadt gekommen war, um hier zur Schule zu gehen, war genauso wie diese gewesen: kalt, aber kaum Schnee, obwohl es auf das Jahresende hinauslief. Er erinnerte sich noch, dass ihm damals ein Mädchen auf der Straße begegnet war und er gedacht hatte, wie anders diese Stadt doch von der Vorstadt, in der seiner Familie lebte, war. Er wusste nur noch, dass sie selbst für einen Städter exzentrisch gekleidet gewesen war, und glaubte, dass sie grüne oder blaue Haare gehabt haben musste. Er konnte sich nicht an ihr Gesicht erinnern, weil er kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte und es dunkel gewesen war, aber das war die erste Erinnerung, die er an diese Stadt, die nun schon seit einem Jahr seine Heimat war, hatte und er musste aufgrund der Albernheit dieser einfachen Erinnerung lächeln. Er war schon auf halben Weg zu seiner Haltestelle am Kulturmuseum, als ihm einfiel, dass er noch eines seiner Textbücher, das er eigentlich hatte über die Ferien mit nach Hause nehmen wollen, in seinem Spind vergessen hatte und er machte auf dem Absatz kehrt und eilte zur Akademie zurück, was glücklicherweise nicht lange dauerte, denn auch wenn er kein Talent für Technik hatte und froh war, überhaupt seinen eigenen Herd bedienen zu können, lag seine Stärke eher in der Leichtathletik. Mit Mühe und Not verstaute er schließlich auf seinem Rückweg das Buch in seinem überfüllten Rucksack, als er eine Nachricht von seiner Schwester Elaine bekam. Hey. Mir ist etwas dazwischen gekommen und ich kann heute leider nicht mehr vorbeikommen, sorry. Aber morgen bestimmt~! David seufzte. Hätte sie ihm das nicht früher sagen können? Elaine war sechs Jahre älter als er, aber war immer sehr impulsiv und so verplant, sodass er oft das Gefühl hatte, der Ältere sein zu müssen. Aber statt sich zu beschweren, schrieb er ihr Schon okay. zurück, schließlich kannte er seine Schwester und wusste, dass sie es nicht böse meinte. „Oh, du bist noch hier?“, ertönte eine männliche Stimme hinter ihm, als er bereits wieder auf den Ausgang zuhielt, und David drehte sich um. Der Sicherheitswärter stand etwas entfernt im Gang hinter ihm und schloss rasch zu ihm auf, mit einem Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht. „Ich finde es sehr nett von dir, dass du deine Freundin abholen willst; ich sehe das arme Mädchen immer nur alleine im Tech Labor sitzen“, meinte der Wachmann und David brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er fälschlicherweise glaubte, dass David und Milena Williams Freunde waren. David wollte das Missverständnis aufklären, doch der Wachmann sprach bereits bedauernd weiter. „Aber sie ist leider schon gegangen. Allerdings erst vor ein paar Minuten, vielleicht hast du ja Glück und erwischst sie noch“, fügte der Wachmann hinzu und klopfte ihm sachte auf die Schulter, als er ihn aus der Akademie geleitete. David überlegte noch einmal dem Sicherheitswärter zu sagen, dass sie eigentlich keine Freunde waren, doch beließ es dann dabei. Er nickte dem Mann nur freundlich zum Abschied zu, schließlich meinte er es auch nur gut, und verließ dann zum zweiten Mal an diesem Abend das Gebäude. Er schlug jedoch dieses Mal den Weg zu einer anderen Haltestelle, der am Nordpark, ein, da seine Bahn am Museum bereits abgefahren war. Um diese Bahn nicht auch zu verpassen und womöglich noch eine halbe Stunde in der Kälte auf die nächste warten zu müssen, ging er einen Schritt schneller. Es waren nur wenige Menschen auf dem Gehweg, denn die meisten Einwohner waren in den Einkaufsstraßen damit beschäftigt, Geschenke zu kaufen. Wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten. In der Ferne konnte er schließlich eine bekannte Uniform entdecken, die Uniform seiner Schule. Gepaart mit blauen Haaren. Milena Williams. Super, bei meinem Glück sitzt sie jetzt auch noch in derselben Bahn… Doch wider Erwarten ging sie nicht die Treppen zur Station hinunter, sondern ging schnurstracks daran vorbei und David runzelte die Stirn. Wohin geht sie? Aber eigentlich ging es ihn ja nichts an und er hatte schon einen Fuß auf die Stufen hinunter zur Station gesetzt, als er ihr wieder hinterher sah. Allerdings stellte sich ihm auch die Frage, was eine Person wie Milena Williams mit ihrer Freizeit anfing, schließlich schien sie keine wirklichen sozialen Kontakte zu haben. Er sah die Stufen zur Station hinunter. Dann sah er wieder auf Williams‘ kleiner werdende Figur. Er war diesen Abend ohnehin alleine… Station. Williams. Ach, was soll’s?! Kurzerhand entschied er sich dazu, ihr zu folgen. Wenn man ihn hinterher gefragt hätte, warum, hätte er keinen triftigen Grund angeben können. Sie hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um sich vor der Kälte zu schützen und ihr anfängliches, langsames Schlendern wurde langsam aber stetig zu einem festeren, schnelleren Gang. Er folgte ihr durch die Straßen, doch sie schien kein spezifisches Gebäude anzupeilen, bis sie schließlich den Weg zum Park einschlug. Im Gegenzug zu den Straßen war der Park weniger stark beleuchtet und nur dann und wann fand sich eine einsame Laterne, die den Kiesweg erhellte. David konnte sehen, wie Williams immer häufiger in die Schatten unter den Bäumen schaute und durch ihr nervöses Verhalten wurde er selber so paranoid, dass er glaubte Bewegungen in der Dunkelheit sehen zu können. Er folgte ihr eine Weile durch den dunklen Park, doch als sie ihn verließ, nutzte sie keinen der Hauptausgänge, sondern einen Nebenausgang in eine kleine, nasse Gasse. In einem Abstand, den er als sicher erachtete, ging er ihr durch weitere schlecht beleuchtete Gassen nach, die noch schlechter rochen, als sie aussahen. Gelegentlich hörte er streunende Hunde heulen, doch zum Glück sah er keinen von ihnen. Mit kleineren Hunden kam er klar, aber alles ab Schäferhundgröße verpasste ihm ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. David kannte diesen Stadtteil nicht, in dem sie sich bewegten, auch wenn er ihn geographisch grob einordnen konnte; er glaubte, sich nur einen Stadtteil entfernt von seinem Wohnblock zu befinden. Williams‘ offensichtliche Nervosität war mittlerweile auf ihn übergangen, sodass er sich sogar seltsame Geräusche wie das Wiehern eines Pferdes wahrzunehmen einbildete. Er schüttelte das seltsame Gefühl in seinem Nacken ab und versuchte die Obdachlose mit den seltsam aussehenden Augen zu ignorieren. Fast glaubte er, Williams verloren zu haben, als er um eine Straßenecke in eine Sackgasse bog und sie nicht mehr sehen konnte. Am Ende der Gasse konnte er ein schmutziges Schaufenster ausmachen. Ein Laden? Hier? Er trat näher heran, konnte aber nicht entziffern, was auf dem Schild über dem Fenster stand. Er drehte sich einmal im Kreis, um zu sehen, ob Williams vielleicht eine andere, versteckte Gasse betreten hatte, doch konnte dann auf der anderen Seite des schmutzigen Schaufensters sehen, wie sich etwas Blaues bewegte. Seine Füße bewegten sich wie von selbst und ehe er sich versah, hatte er die Tür des Ladens geöffnet und trat ins Innere hinein. Es war dunkel in diesem Laden und überall hingen seltsame Kräuter und sonderbare Gehänge von der Decke. In den aufgestellten Vitrinen standen Dinge, die er nur mit veralteten Worten, wie ‚Artefakt‘ beschreiben wollte, auch wenn er keine Ahnung hatte, wofür diese Gerätschaften überhaupt gebraucht wurden. Doch was ihm wohl am meisten auffiel, war der Geruch. Eine Mischung aus Gewürzen und Kräutern gepaart mit einem süßlichen Duft, der alles andere unterlief, den er aber nicht recht zuordnen konnte. „Was ist das hier für ein Laden?“, fragte er schließlich laut, als er sich umsah und etwas erblickte, das wie getrocknete Ohren aussah. Vollkommen überrascht wirbelte Williams herum und sah ihn entgeistert an. „Was machst du denn hier?!“, zischte sie. „Also ich finde die Frage viel interessanter, was du hier machst“, warf David ein und betrachtete die Dinger, die wie Ohren aussahen, genauer. Einen Laden für geklaute Computerteile hätte er eher erwartet, als das hier. „Ich… ähm, hole nur etwas ab…“, murmelte sie und klang verlegen. Er richtete seinen Blick auf sie, doch Williams sah ihn tunlichst nicht an. „Ich fürchte nicht“, sagte eine neue Stimme und sowohl Williams als auch David wandten sich ihr zu. Ein hochgewachsener Mann war hinter dem Tresen in einem Gang erschienen und hielt noch immer einen dunklen Vorhang beiseitegeschoben, so als hätte er mitten in der Bewegung innegehalten. „Aber Mr. Alexander hatte ihn mir zurückgelegt!“, warf Williams ein und in ihre Stimme hatte sich ein Hauch von Panik geschlichen. „Nun Mr. Alexander ist aber nicht hier“, entgegnete der Mann kühl und lächelte ein unwirkliches Lächeln. Seine Augen funkelten in der Dunkelheit und wirkten auf David irgendwie beängstigend. Scheinbar war er mit diesem Gefühl nicht alleine, denn Williams trat einen Schritt zurück und er konnte sie schlucken hören. „Und… wo ist Mr. Alexander?“, fragte sie nervös. Der Mann lächelte jedoch nur sein Lächeln und antwortete nicht. Stattdessen glaubte David das Knurren eines Hundes hören zu können und Williams trat einen weiteren Schritt zurück, sodass sie mit David fast Schulter an Schulter stand. So nah bei sich konnte er einen gemurmelten Fluch von ihr vernehmen und die kleinen Haare in seinem Nacken stellten sich langsam auf, als das Knurren erneut ein wenig lauter und unverwechselbar ertönte. Schon fast automatisch wanderte Davids Blick durch den Laden, auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches, doch er konnte nichts sehen. Nun ja, zumindest sagte ihm dies sein logisch denkender Verstand. Seine irrationale Nervosität, die höchstwahrscheinlich nur eine Mitläufereigenschaft war, ausgelöst durch Williams‘ Panik, wollte ihm weismachen, dass sich etwas Großes in den Schatten um sie herum bewegte. David gab seinem inneren Drängen nach und schüttelte kurz mit geschlossenen Augen den Kopf, um wieder klar zu werden, doch als er danach die Augen wieder öffnete, waren die sich bewegenden Schatten noch immer nicht verschwunden. Scheinbar weigerte sich sein Kopf mit den Spielchen aufzuhören, denn die Schatten schienen sich nun auch noch zu verdichten. Erst als sich drei geisterhafte Hunde von der Größe einer ausgewachsenen Dogge mit roten Augen und Ohren und ansonsten fast transparenten, weißen Körpern aus den Schatten lösten und tiefe, unwirkliche Knurrlaute ihren Kehlen entsprangen, wollte David einräumen, dass es hier nicht ganz mit rechten Dingen zuging. Der Mann stand noch immer an Ort und Stelle, doch nun bemerkte David, was mit seinen Augen nicht stimmte; sie waren so rot, wie die der Hunde. Und sein Lächeln war den gefletschten Zähnen der Tiere nicht unähnlich. „Ihr gehört mir.“ Er sagte nichts weiter, aber weder Williams noch David baten ihn lange darum, wobei David nicht wirklich eine Wahl gehabt hatte, denn Williams griff nach seiner Hand und zog ihn mit sich aus dem Laden. „Lauf!“, rief sie und David ließ sich nicht zwei Mal bitten. Als hätten die unwirklichen Hunde nur darauf gewartet, setzten sie ihnen nun nach und es fühlte sich so an, als wären sie mit ihrem heißen, feuchten Atem direkt an ihren Nacken. Ohne ein wirkliches Ziel zu haben, rannten Williams und David einfach nur durch die Gassen, in der Hoffnung, sich ja nicht erwischen zu lassen und die Ungetüme vielleicht in diesem Gassenwirrwarr zu verlieren. Mehr als nur einmal hörte David wie sie hinter ihnen ins Schlittern kamen, doch er wagte es nicht, sich umzudrehen. In der Ferne glaubte er ein galoppierendes Pferd zu hören und das manische Lachen einer Frau. Als sie den Park erreichten, hielt Williams ihn davon ab, hineinzugehen und nach einem Moment, wusste er auch warum, als etwas auf sie zukam, das wie ein wandelnder Baum aussah. „Hier lang!“, keuchte er, da sie nun wieder in ihm bekannten Gefilden waren, und zog Williams, deren Hand er noch immer hielt, mit sich, auf einen Platz, der für gewöhnlich immer gut besucht war. Er hatte die Hoffnung, dass die vielen Gerüche diese Ungeheuer vielleicht verwirren würden. „Wir brauchen einen sicheren Unterschlupf“, meinte sie ebenfalls keuchend, als sie auf dem Platz einen fast nicht existenten Moment verschnaufen konnten, da sie in der Menschenmasse untergetaucht waren. „Wie zum Beispiel?“ David versuchte über die Köpfe der Menschen hinweg, ihre Verfolger auszumachen. „Eine Kirche oder ein privates, abgesichertes Haus oder eine Wohnung. Sie haben Probleme mit den Türschwellen“, erklärte sie schnell sprechend und ihre Worte überschlugen sich fast. Er hörte viel näher als ihm lieb war, den Aufschrei einer Frau und in der Menschenmenge entwickelte sich eine neue Dynamik als die Leute versuchten, vor den riesenhaften Hunden davonzulaufen, die sicher ohne Zweifel auch hier angekommen sein mussten „Meine Wohnung ist nicht weit“, meinte er und zog sie wieder rasch mit sich, aber sie erhob keine Einwände. So schnell sie konnten, kämpften sie sich durch die Menge und achteten nicht darauf, wie viele Menschen sie anrempelten; sie wollten nur so schnell, wie es ging, die größtmögliche Distanz zwischen sich und die Hunde bringen. Sobald sie in eine der Nebenstraßen gelangten, rannten sie nur noch so schnell sie konnten. Glücklicherweise hatte David den Schlüssel zu seinem Wohnhaus bereits in seiner Jackentasche, als sie wieder lauter werdend das Bellen und Knurren der Hunde hören konnten. Er schloss mit fahrigen Händen die Tür auf, schob Williams hinein und nachdem er die Haustür zugeknallt und von innen verschlossen hatte, stürmten sie die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. „Zweiter Stock, rechts“, rief er ihr zu, damit sie wusste, wo sie halten musste. Auch hier schloss er die Tür mehr zittrig als stetig auf und erst als er die Tür zweimal hinter sich verschlossen hatte, sank Williams inmitten seines kleinen Flurs zu Boden und er glitt schwer atmend und mit hämmerndem Herzen mit dem Rücken an seiner Wohnungstür hinunter. „Ich glaube, … wir sollten reden…“, brachte er nur noch schnaufend hervor. Kapitel 3: Die längste Nacht des Jahres --------------------------------------- Williams nickte und mühte sich, erneut zu Atem zu kommen, um zu sprechen. Sie öffnete den Mund und schloss ihn dann aber wieder. „Ich weiß noch nicht einmal, wo ich am besten anfangen soll“, gab sie zu. „Vielleicht damit, was das für seltsame Hunde waren und warum sie uns verfolgt haben?“, schlug David vor. Eigentlich hatte er genervt klingen wollen, doch sah dann, dass sie zitterte. Scheinbar wollte sie nicht, dass er es sah, und ballte die Hände zu Fäusten. „Sie werden Cŵn Annwn oder auch Hunde von Annwn genannt“, erklärte sie noch immer um Atem ringend. „Geisterhunde. Sie sind ein Teil der Wilden Jagd.“ „… das ist ein Witz, oder?“, entgegnete er. Sie schnaubte. „Schön wär’s. Aber vielleicht siehst du ja häufiger riesige Hunde, die sich scheinbar aus dem Nichts manifestieren, was weiß ich schon?“ Er verzog das Gesicht, doch die Erinnerung daran, wie vorhin ein Baum auf ihn zugelaufen kam, ließ ihn nichts auf diese spitze Bemerkung hin erwidern. „Ich weiß, es klingt vollkommen absurd“, räumte sie seufzend ein und schlang die Arme um ihre Beine, „und besonders in einem Zeitalter der Technik sollten so etwas, wie Sagen und Legenden obsolet geworden sein, aber“ – sie holte tief Luft, so als bräuchte sie für das, was sie als nächstes sagen wollte, viel Kraft – „aber alles, was du je gehört hast, ist wahr. Alle Sagen- und Märchenfiguren, Fabelwesen, Helden aus Legenden. Es gibt sie alle wirklich.“ Ihr Gesicht spiegelte Zweifel wieder, so als würde sie zwar glauben, was sie selber sagte, wüsste aber nicht, wie David es aufnehmen würde. „Alles?“, fragte er nach. Er wollte skeptisch sein, aber er war noch zu geschockt von dem gerade zuvor Erlebten und Milena Williams war für ihn immer ein rational denkender Mensch gewesen, wenn er auch Verständigungsschwierigkeiten mit ihr hatte. Zudem schien sie aufrichtig verängstigt. Sie nickte bedröppelt. „Und es tut mir wirklich leid, dass du da mit hineingezogen wurdest.“ „Williams, warum ist die Wilde Jagd überhaupt hinter dir her?“ Sie zuckte leicht zusammen. „Nenn mich nicht ‚Williams‘; dabei fühle ich mich immer nur wie ein Profisportler“, entgegnete sie, ohne zu antworten oder ihn anzusehen. „Milena… warum ist die Wilde Jagd hinter dir her?“, wiederholte er noch einmal. Williams, nein, Milena stieß ihren angehaltenen Atem aus. „Das ist eine längere Geschichte…“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe nicht die Absicht irgendwohin zu gehen.“ Sie verzog das Gesicht. „Alles hat schon vor ein paar Jahren angefangen. Caleb und ich haben damals auch nicht daran geglaubt und uns nur aus Jux und Tollerei mit alldem beschäftigt…“ „Caleb?“, fragte David und runzelte die Stirn bei dem Versuch sich an eine Person mit diesem Namen zu erinnern. „Ich glaube, du kennst ihn nicht. Er war ein sehr guter Freund von mir, aber ist gestorben, ehe du überhaupt an die Schule gekommen bist“, erklärte sie und ihr Blick rückte in die Ferne; auf einen Punkt fixiert, den er nicht sehen konnte. „Das tut mir leid“, entgegnete er und sagte es nicht nur als obligatorische Phrase, die man in solchen Situationen wohl sagen musste, sondern meinte es so. Caleb musste der Schüler sein, nach dessen Tod sie sich noch mehr von allen isoliert hatte. Milena sah ihn an und er merkte, wie ihre Augen hinter der Brille feucht wurden, aber keine Träne lief ihr Gesicht hinunter. „Danke“, erwiderte sie und es klang, als wäre ihre Kehle wie zugeschnürt. Sie nahm schließlich einen zittrigen Atemzug, um fortzufahren. „Wie schon gesagt, haben wir uns damals einfach nur so mit Fabelwesen, Sagen und was-nicht-alles beschäftigt. Aus Interesse und weil wir zwischen Weihnachten und Silvester schlichtweg nichts zu tun hatten. Ich weiß noch, dass wir über unsere Inputs erfahren haben, dass an einem Punkt die Menschen glaubten, dass wenn eine unverheiratete Frau während der Rauhnächte an einer Kreuzung steht, sie ihren zukünftigen Ehemann treffen soll, aber nicht mit ihm sprechen darf. Caleb hat noch gescherzt, dass ich mich doch einfach an die Kreuzung vor seinem Wohnhaus stellen sollte, damit wir die Theorie so testen konnten. Dann hat draußen ein Hund geheult, als wäre er verletzt, und ich habe aus dem Fenster gesehen, um herauszufinden, was los war. Sein Zimmer war im ersten Stock und man konnte die Nachbarschaft immer gut von dort einsehen. Draußen auf der Straße unter Calebs Fenster stand aber kein Wagen, der vielleicht einen Hund angefahren hatte oder so etwas, sondern ein regelrechtes Heer aus zerlumpten Gestalten in Ketten, das von furchteinflößenden großen Hunden und unheimlichen Pferden begleitet wurde. Mitten in der Stadt! Ich konnte nicht wirklich glauben, was ich da vor mir sah, und habe Caleb zu mir gerufen. Er stellte sich neben mich und sah genauso ungläubig wie ich aus dem Fenster. Fast genau in diesem Moment sahen die Gestalten, ein Mann in nachtschwarzer Rüstung und eine wild aussehende Frau mit weißen Haaren, an der Spitze des Zuges zu uns hoch und die Frau stieß markerschütternde Schreie aus, die uns das Blut in den Adern gefrieren ließen. Caleb hat mich zu Boden gezogen und wir saßen unter dem Fensterbrett vor der Heizung, zu verängstigt, um aus dem Fenster zu sehen. Alles war viel zu surreal für uns und obwohl Calebs Eltern zu Hause waren, hörten wir sie nicht durch das Haus rennen, auf der Suche nach dem Ursprung der Geräusche, obwohl sie schon seitdem wir Kinder gewesen waren, sich immer bei jeder Kleinigkeit über zu laute Musik beschwert hatten. Es war so, als wären sie zwar im Haus, aber würden diese Schreie einfach nicht hören. Nach einer Weile fasste Caleb all seinen Mut und schob den Kopf nach oben, um zu sehen, ob diese Horde noch immer da war. Fast augenblicklich sprang er mit einem Aufschrei zurück und starrte voller Angst in der Mitte seines Zimmers auf dem Boden sitzend auf das Fenster direkt über mir. Ich drehte langsam den Kopf und sah wie über mir, direkt vor der Scheibe nur durch ein bisschen Glas von uns getrennt, ein riesiger Hund saß und zu uns mit glühenden Augen hineinschaute. Seine Schnauze war so dicht an der Scheibe, dass sie bei jedem Atemzug, den er tat, das Glas ein bisschen beschlug. Mit einem Satz und ebenfalls einem Aufschrei sprang ich auf Caleb zu und wir saßen mitten im Zimmer und starrten das Ungetüm auf der anderen Seite der Scheibe an. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber es konnte in Wirklichkeit nicht lange gewesen sein, bis schließlich von draußen ein lautes Horn ertönte und der monströse Hund den Kopf umwandte und hinunterschaute. Calebs Vater kam ins Zimmer und wollte wissen, warum wir denn um diese Uhrzeit herumschrien und fand uns noch immer auf dem Boden sitzend und auf das Fenster starrend vor. Er sah ebenfalls zum Fenster und runzelte die Stirn. Er konnte nicht sehen, was wir sahen und fragte uns, ob wir vielleicht irgendetwas geraucht hatten. Der Hund sah noch einmal kurz zu uns herein und sprang dann aber mit einem Satz hinfort. Wir haben eine Standpauke von Calebs Vater bekommen, in der es wahrscheinlich um Drogen ging, aber davon weiß ich nicht mehr viel. Danach haben Caleb und ich uns immer mehr mit seltsamen Vorkommnissen beschäftigt, in der Hoffnung eine Erklärung für den großen Hund vor Calebs Fenster im ersten Stock zu bekommen. Wir kamen schließlich zu dem Schluss, dass es sich um die Wilde Jagd gehandelt haben musste, die besonders während der zwölf Rauhnächte nach dem 21. Dezember durch die Welt reitet. Anfangs wollten wir nicht wahrhaben, dass diese geheime Welt in unserer eigenen tatsächlich existierte, erst recht, da wir keinerlei digitale Informationen darüber finden konnten, aber wir trafen auf immer mehr sonderbare Kreaturen und kamen zu dem Schluss, dass alles wirklich sein musste. Wir hatten Angst, dass die Frau an der Spitze der Wilden Jagd vielleicht eine Banshee gewesen sein könnte, die den Tod eines von uns beiden vorausgesagt hatte und wir machten uns auf die Suche nach… Schutzmaßnahmen. So trafen wir auf Mr. Alexander, dem dieser Laden für entsprechende Artefakte gehört, in den du mir gefolgt bist.“ Ihre Stimme klang nicht anklagend darüber, dass er ihr ohne ersichtlichen Grund einfach nachspioniert hatte, sondern einfach nur müde. Draußen konnte David das Heulen eines Hundes und das Rasseln von Ketten hören und ihm lief ein Schauer über den Rücken. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte alle Ein- und Ausgänge kontrolliert. „Mr. Alexander erklärte uns dann, dass es nicht nur eine einzige Wilde Jagd auf der Welt gibt, sondern viele verschiedene. Manchmal sind es Geisterzüge und in Ländern im fernen Osten, wie zum Beispiel Japan, manchmal Dämonenzüge, aber alle haben ein paar Charakteristika gemeinsam, wie dass sie die Menschen, die sie sehen, entweder jagten, dem Zug einverleiben oder deren Tod voraussagen. Manche Züge sind auf Sünder spezialisiert, andere auf gewaltsam gestorbene Menschen und wieder andere sind offen für alles. Manche ritten nur während der Rauhnächte, andere begannen ihre Jagd schon nach Samhain, der Nacht zu Allerheiligen, Halloween, wie auch immer du es nennen willst. Er riet uns, uns besonders an den Rauhnächten immer drinnen aufzuhalten, da Geister und Dämonen keine Türschwellen zu Eigenheimen oder heiligen Orten, wie Kirchen oder anderen Gotteshäusern überqueren konnten, und die Wilde Jagd während dieser Zeit hier in der Gegend immer besonders aktiv war, aber die Hunde von Annwn schon nach Samhain durch die Nacht jagten. Er bot uns an, uns einen Schutzzauber zu besorgen, der aber jedes Jahr wieder erneuert werden müsste, uns dafür aber auch vor anderen Dingen schützen könnte, sofern wir es nicht ablegten. Natürlich nahmen wir an.“ Milena rieb ihr linkes Handgelenk, so als würde sie etwas daran vermissen, das sonst immer da war. „Allerdings geriet Caleb vorletzten Herbst in einen Streit zwischen zwei Kobolden, die sein Schutzarmband abrissen, als er sich schlichtend zwischen sie stellen wollte. Ich war nicht dabei, deswegen weiß ich nur, was Mr. Alexander herausfinden konnte. Scheinbar waren einige Hunde von Annwn in der Nähe gewesen und jagten ihn, sobald sein Schutz dahin war und sie ihn wahrnehmen konnten. Die Polizei fand ihn und es war offiziell Herzversagen, obwohl Caleb erst 17 gewesen war, aber ich glaube, ich war die einzige, die bei seiner Beerdigung seine weißen Haare bemerkt hat; für alle anderen schienen sie noch immer braun gewesen zu sein“, schloss sie ihre Erzählung. „Aber warum bist du dann heute nicht direkt nach Hause gegangen?“, frage David, als ihm einfiel, dass heute am 21. Dezember die erste Rauhnacht war, wie ihm seine vorangegangen Recherchen beigebracht hatten. „Dieses und auch schon letztes Jahr hatte Mr. Alexander Probleme damit den Schutz erneuern zu lassen. Letztes Jahr hat er es auch erst am 21. geschafft, sodass ich letztes Jahr um diese Zeit auch unterwegs war. Als ich das letzte Mal vor zwei Wochen mit ihm geredet hatte, hatte er gemeint, dass er sein Möglichstes versucht, die Hexe, die ihm die Zauber erneuert, aufzutreiben und ich war jeden Tag seitdem in seinem Laden. Gestern meinte er, dass ich mein Armband heute abholen könnte, aber erst nach sieben, weil er es vorher nicht schaffen würde. Und den Rest kennst du.“ „Aber wer war dann der Kerl in dem Laden?“, wollte David wissen. „Keine Ahnung“, seufzte sie. „Er hat mir gesagt, dass er Mr. Alexander vertritt, weil dieser unvorhergesehen ein Orakel aufsuchen musste, er aber mein Armband hier habe. Wahrscheinlich hat er auch noch nicht einmal gelogen, aber ich glaube, er war einer der freieren Reiter der Jagd. Laut Mr. Alexander nehmen sie es manchmal sehr persönlich, wenn man versucht sich ihrem Zugriff zu entziehen. Hoffentlich ist er in Ordnung…“ fügte sie niedergeschlagen hinzu. „Oh, Mr. Alexander meine ich, nicht den Reiter.“ Da er nicht wusste, was er sagen sollte, nickte David einfach nur. „Aber er ist mütterlicherseits zu einem Viertel Troll, er wird schon auf sich aufpassen können, denke ich…“ Sie schien verhältnismäßig von dieser Aussage überzeugt zu sein, auch wenn sie die Stirn in Überlegung runzelte. Und David ein vollkommen neues Bild von Mr. Alexander bekam. „Tut mir leid, dass du da mit reingeraten bist. Du wärst mir wohl besser nicht gefolgt“, meinte sie wehmütig. Doch dann runzelte sie die Stirn. „Warum bist du mir eigentlich überhaupt gefolgt?“ „Hm… Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung.“ Sie starrte ihn an, zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn dann noch einmal über den schwarzen Rand ihrer Brille hinweg, ehe sie trotz allem in schallendes Gelächter ausbrach. „Du bist seltsam“, lachte sie. Er schnaubte. „Und das muss ich mir von einem Technik-Nerd, der von mystischen Wesen verfolgt wird, sagen lassen…“ Anstatt auf irgendeine Weise beleidigt zu sein, lachte sie nur noch mehr, aber David fand, dass es ihr gut zu Gesicht stand. Wahrscheinlich hatte sie schon lange nicht mehr richtig gelacht und konnte nun nicht mehr aufhören. Aber ihr Lachen war ansteckend und obwohl er in seiner eigenen Wohnung festsaß und draußen Monsterhunde auf ihn warteten, musste er grinsen. Als sie sich wieder beruhigt hatten und Milena sich die Augen unter der Brille rieb, fragte David: „Aber was machen wir jetzt?“ „Ich weiß es auch nicht…“ Als er überlegte, neigte er den Kopf. „Deswegen hast du mich vorhin auch gefragt, was heute für ein Tag ist, oder?“ Sie machte eine Bewegung zwischen Nicken und Schulterzucken und ihr Gesicht verschloss sich wieder, als offenbar das ganze Gewicht ihrer Situation wieder auf ihre Schultern hinuntersank. „Danach habe ich noch ein paar Nachforschungen angestellt, weil ich wissen wollte, was du von mir wolltest“, erzählte er. „Irgendwo stand, dass man früher Kerzen in alle Fenster während der Rauhnächte gestellt hat, um Geister fernzuhalten.“ Milena nickte. „Ja, das funktioniert sogar. Irgendetwas an der Wärme und dem Licht des Feuers schreckt sie ab.“ Er stand von seiner sitzenden Position wieder auf, um sich auf die Suche nach Kerzen zu machen, und reichte auch Milena eine Hand, um ihr aufzuhelfen. Nach einem kurzen Zögern ergriff sie seine dargebotene Hand und er zog sie auf die Füße. „Ich glaube, meine Schwester hat hier irgendwo welche gelagert.“ Er öffnete die Schränke, die er am wenigsten benutzte, weil dort die Chancen immer gut waren, dass Elaine irgendetwas dort hineingeräumt hatte. Manchmal hatte er das Gefühl, dass ihr ihr eigener Lagerraum in ihrer Wohnung nicht ausreichte und sie deswegen alles hier bei ihm bunkerte. Schon sehr bald fand er auch schon Kerzen und gab Milena ein paar ab, sodass sie ihm helfen konnte die Kerzen in die Fenster zu stellen, während er Streichhölzer aus der Küche holte. Seine Wohnung war nicht groß, nur ein Wohnzimmer und ein minimalistisches Schlafzimmer, in das nicht einmal sein Kleiderschrank passte, sodass sie schnell fertig waren. „So, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Nacht auszuharren und morgen deinen Mr. Alexander zu suchen“, meinte er als alle Kerzen angezündet waren und er die Streichholzer in die Küche zurückbrachte. „Allerdings habe ich nur noch Ravioli hier.“ Er runzelte die Stirn, als er im Kopf alles Essbare durchging, das seine Wohnung zu bieten hatte. „Danke“, sagte Milena leise. Er wusste nicht warum, aber war sich ziemlich sicher, dass sie nicht die Ravioli meinte und zuckte mit den Schultern. Eigentlich recht unverständlich; er mochte Ravioli. „Passiert ist passiert und ändern können wir es ohnehin nicht mehr, also machen wir einfach das Beste draus.“ Sie musterte ihn und legte den Kopf schief. „Hattest du schon immer eine heroische Ader oder ist das noch der Schock?“ „Der Schock, definitiv“, meinte David leichthin und nickte bestimmt, als er versuchte der Raviolidose ihren Inhalt zu entlocken. Milena lächelte leicht. „Du bist wirklich seltsam, David.“ „Also ich empfinde mich eher als hungrig…“ Wie um ihn unterstützen zu wollen, knurrte sein Magen vernehmlich und sie lachte wieder auf. „Du solltest häufiger lachen“, meinte er nach einer Weile, als er die Ravioli in einem Topf erhitzte. Sie verzog die Mundwinkel ein bisschen. „Naja, ich hab nicht viel zu lachen…“ „Ach, das kann man ändern“, meinte er leichthin und wedelte das Argument mit einer Handbewegung beiseite. „Immer positiv denken. Zum Beispiel ist heute nicht nur die erste Nacht der Rauhnächte, sondern auch Wintersonnenwende. Jede Nacht nach dieser wird ein bisschen kürzer sein, als die vorangegangene.“ Sie schnaubte kurz, aber ein Lächeln schlich sich auf ihre Züge. „So kann man das auch sehen.“ „Außerdem haben wir Ravioli.“ „Und das verändert die Situation inwiefern?“ „Ravioli machen immer alles besser“, antwortete er schlicht. Als sie daraufhin erneut lachte, machte sich in ihm der Gedanke breit, dass doch alles gar nicht so schlimm war. Selbst wenn draußen große Geisterhunde durch die Gegend streiften und sie wahrscheinlich fressen wollten, konnte er die längste Nacht des Jahres hier drinnen gut mit Milena aussitzen, solange sie nur lachte. Und die Ravioli verbesserten die Situation natürlich noch zusätzlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)