Der Kuss des Kobolds von Jadis ================================================================================ Kapitel 6: SECHS ---------------- Beißender Wind schnitt mir ins Gesicht und brachte meine Augen zum tränen. Doch es machte mir nichts aus. Ich flog förmlich durch die Häuserschluchten Manhattans, wirbelte durch die Luft, schlug Saltos und rannte schließlich an der Fassade des Empire State Buildings nach oben, um den nahenden Sonnenaufgang zu bewundern. Ich fühlte mich lebendig, sog die kalte Winterluft in meine Lungen und stieß sie in weißen Wolken wieder aus. Ich fühlte mich großartig. Dann sprang ich kopfüber in die Tiefe und während die Stockwerke der Hochhäuser an mir vorbei rasten, überlegte ich, wo ich mein nächstes Opfer reißen konnte. ~ Ein Klopfen riss mich aus dem Schlaf. Schon wieder. Ich hatte geträumt, konnte mich aber schon nicht mehr daran erinnern, als ich barfuß und schlaftrunken zu meiner Wohnungstür schlurfte. Man konnte mir vieles nachsagen, aber nicht, dass ich nicht lernfähig war. Ich spähte durch den Türspion und schreckte zurück, als ich Officer Blake auf der anderen Seite der Tür erblickte, der seinerseits gerade von der Gegenseite durch den Spion guckte. Ich strauchelte ein paar Schritte nach hinten, stolperte über meine eigenen Füße und rastete mit einem »Plumps« auf meiner Couch ein. Okay, hier war ich gut aufgehoben. Ich würde es einfach aussitzen. Es klopfte erneut und ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mal sehen, wer hier den längeren Atem hatte. Wie kam der Typ eigentlich ständig ins Treppenhaus? Da hatte bestimmt der Hausmeister seine Hände im Spiel. Der war mir noch nie ganz koscher gewesen. Ich wusste nicht, was Officer Blake wollte, aber dass er erneut das Gespräch suchte, konnte mit Sicherheit nichts Gutes bedeuten. Ich erschrak halb zu Tode (Was passierte eigentlich, wenn man zweimal halb zu Tode erschrak?), als mein Mobiltelefon in einer tierischen Lautstärke »Rudolph The Red-Nosed Reindeer« spielte. Ich kniff die Augen zusammen und biss die Zähne aufeinander. Das war ja wohl perfektes Timing. Ich lehnte mich über die Couchlehne, da ich keine Zeit hatte, das Sofa zu umrunden. Mit meinem Gleichgewichtssinn stimmte irgendetwas nicht, musste wohl an der Gehirnerschütterung liegen, denn ich plumpste bäuchlings über die Lehne und knallte auf den Dielenboden. Super. Das hätte selbst ein Taubstummer gehört. Zumindest hätte er die Erschütterung gespürt. Wenigstens lag ich jetzt direkt vor meiner Umhängetasche, wühlte nach meinem Handy, klappte das Teil auf und sofort wieder zu, um den Klingelton abzustellen. Nachdem meine Mission erfolgreich war, rappelte ich mich, immer darauf bedacht kein Geräusch zu verursachen, auf und schlich zurück zur Tür. Ein erneuter Blick durch den Spion verriet mir, dass der Cop vor meiner Tür etwas ungehalten aussah. »Verschwinde«, sagte ich lautlos und wiederholte das Mantra immer wieder. Vielleicht half es ja. Dann gab Officer Blake auf, atmete einmal tief durch und suchte das Weite. Ätschibätsch! Ich atmete erleichtert aus, schlenderte in meine Küchenzeile und setzte erst einmal einen Kaffee auf. Mit ein bisschen Koffein, konnte ich fast jeden Tag überstehen. Mein Kopf tat weh und ich sah zu, dass ich die Brühe schnell fertig bekam. Schließlich setzte ich mich beruhigt im Schneidersitz auf die Arbeitsfläche und nippte am Kaffee. Das war mein Lieblingsplatz. Hier konnte ich wunderbar aus dem Fenster sehen und- Tess... Ich horchte auf. Stand da schon wieder jemand vor der Tür? Tess... Oh, Gott. Die Stimmen waren in meinem Kopf! Sie waren vielschichtig, sprachen immer leicht versetzt, sagten jedoch alle das Gleiche. Ich knallte meine Disney-Kaffeetasse neben mich, stürzte zu meiner Tasche und wühlte darin herum. Wo waren diese scheiß Tabletten?!? Wir können dir helfen, Tess, sagten die Stimmen weiter. Wir sind das, was du sein könntest. Ich schüttelte den Kopf. Das durfte doch nicht wahr sein. So fühlte es sich also an, wenn man den Verstand verlor. Endlich fand ich die Medikamente, drückte gleich zwei Tabletten aus der Verpackung und würgte sie trocken herunter. Wir wissen, nach was du dich sehnst. »Nein!«, sagte ich laut. »Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!« Wer waren diese widerhallenden Stimmen? Wir sind viele, kam prompt die Antwort und ich erspähte die Visitenkarte vor mir auf dem Boden. Musste wohl aus meiner Tasche gerutscht sein. Ich griff danach und las »Dr. Mary Margret Selfridge, Diplom-Psychologin, Arbeitsbereich psychologische Diagnostik, differentielle und Persönlichkeitspsychologie, Traumabewältigung.« Wie bitte? Sollte das etwa ein Zeichen sein? Vielleicht stand ich auch einfach nur unter posttraumatischem Stress und sollte einfach mal Urlaub machen. Die bevorstehenden Feiertage kamen da echt wie gerufen. Tess! Die Stimmen hatten sich verändert. Jetzt war sie klar und deutlich, kein verzerrtes Wirrwarr mehr. Und... Moment mal... die kannte ich doch... Weißt du noch, der Tag bei den Niagarafällen? Eddie!!! Ich sprang auf, taumelte zurück, konnte aber nicht vor mir selber fliehen. Ich wollte schreien, wollte- Meine Hose vibrierte und »Rudolph The Red-Nosed Reindeer« spielte erneut. Der Druck in meinem Kopf war verschwunden und wie ich hoffte, auch die Stimmen. Ich war tierisch froh über die Unterbrechung, holte das Telefon aus meiner Pyjamatasche hervor und inspizierte das Display. Eine Festnetznummer, die ich nicht kannte. Ich nahm das Gespräch an. »Ja?« Ich meldete mich nie mit meinem Namen. Also... nicht mit meinem richtigen. »Drei Tage, mein liebes Fräulein! Drei verdammte Tage versuche ich schon dich zu erreichen!«, brüllte es mir entgegen. »Hallo, Billy.« Ich wusste, dass dieses Gespräch früher oder später stattfinden musste. Wenigstens hatte ich es gleich hinter mir. »Wie geht es dir?«, fragte Billy und war plötzlich ganz ruhig. »Gut«, log ich und musste langsam mit der Sprach raus rücken. »Was den Wagen angeht...« »Der ist Schrott, ich weiß. Deswegen rufe ich auch an.« War ja klar. »Die Versicherung will nicht zahlen. Kaum zu glauben, dass ein Sturz von einem Hochhaus nicht abgedeckt ist, was?« Ich hatte mich zu meinem Kaffee zurück gekämpft und nahm einen Schluck. Wirklich ungeheuerlich! »Ich kann mir keinen neuen Wagen leisten und daher bist du... na ja...« »Überflüssig«, schlussfolgerte ich, verstand das Dilemma aber nur zu gut. »Schon klar.« »So hart wollte ich es gar nicht ausdrücken. Ich kann dich leider nicht mehr beschäftigen.« »Ich verstehe schon.« »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist. Lass den Kopf nicht hängen, ja Täubchen?« »Denkst du an mich, wenn sich etwas ergeben sollte?«, fragte ich und sah wieder aus dem Fenster. Ich hatte wenig Hoffnung, dass er sich melden würde. Und damit sollte ich auch Recht behalten. »Ich melde mich«, versicherte Billy. »Mach's gut«, verabschiedete ich mich und klappte das Telefon zu. Jetzt war ich also arbeitslos. Sofort klapperte ich gedanklich alle Bars ab, die ich kannte. Nach diesem kleinen Brainstorming war ich mir fast sicher, dass ich irgendwo eine Anstellung bekommen würde. Gut, ich war beim Fahrradfahren hingefallen, aber ich würde aufstehen und es weiter versuchen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon ziemlich spät dran war. Ich rannte durch den Raum (Eigentlich sprang ich auf einem Bein, da ich versuchte, im Gehen meine Hose loszuwerden) und verschanzte mich im Bad. Wenig später war ich abflugbereit. Ich hielt nur kurz inne, als ich nach den Kaschmirhandschuhen an der Garderobe griff. Natürlich wollte ich sie Harry zurück geben. Aber bis es soweit war, konnte ich sie genauso gut tragen. Ich musste an gestern Abend denken. Ich war so aufgedreht gewesen, dass ich hatte kaum schlafen können. Und dann wurde ich auch noch von unruhigen Träumen geplagt. Ich seufzte kurz und verließ meine Wohnung. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich Harry wieder sehen würde. Auf der Treppe zum Hauseingang zog es mir die Beine weg. Ich konnte mich gerade noch am Geländer abfangen. Blödes Glatteis. Wo war der Hausmeister, wenn man ihn einmal brauchte? »Miss Carlisle?« Ich strich meinen Mantel glatt und hob den Blick. Da parkte ein Streifenwagen direkt vor der Tür. Genau an der Stelle, wo Bernard gestern die Limousine zum Stehen gebracht hatte. »Officer Blake«, stellte ich angemessen überrascht und erschrocken zugleich fest. Verdammt, er hatte mich ausgetrickst. Ich rührte mich nicht und beobachtete, wie er das Fahrzeug an der Frontseite umrundete und mir entgegen kam. Ich musste schnell ein Ablenkungsmanöver starten, bevor er mir unangenehme Fragen stellen konnte. »Wo ist denn Officer... Levitt?«, fragte ich, als ich sah, dass er allein unterwegs war. Mein Namensgedächtnis war echt spitze. Aber mir fiel partout nicht ein, wie dieser eine Schauspieler hieß, der so aussieht wie der Typ aus »Green Lantern«. Aber das ist eine andere Erzähle. »Bei einer Vernehmung«, antwortete Blake und ich schluckte schwer. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Der Officer reichte mir seine Hand und halt mir die letzten vereisten Stufen hinab, was mir ein wenig unangenehm war. »Danke«, sagte ich dennoch und räusperte mich. Er nickte. »Ich war gerade an Ihrer Wohnungstür«, informierte er mich über Dinge, die ich bereits wusste. »Oh, da war ich wohl gerade unter der Dusche«, redete ich mich heraus und sah demonstrativ auf meine Armbanduhr. Ich wollte hier weg, und das schnell. »Ja, wahrscheinlich«, stimmte er mir zu. »Dürfte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?« Mist. Jetzt hatte ich den Salat, aber auch eine Ausrede parat. »Unwahrscheinlich gern«, sagte ich, trumpfte aber wohl ein bisschen zu viel auf, denn Blakes Miene zeigte Skepsis. »Aber leider habe ich es gerade tierisch eilig. Ich muss zur Uni und-« »Ich fahr Sie schnell hin. Steigen Sie ein. Wir können während der Fahrt reden«, bot mir der Officer an und ging zurück zum Streifenwagen. »Sie dürfen auch vorn sitzen«, fügte er hinzu, als er mein Zögern bemerkte und zeigte den Anflug eines Lächelns. Das war wirklich zu gütig. Scheißeeeeeee. Was konnte mich jetzt noch retten? Ein intergalaktischer Krieg vielleicht? Marsianer oder so. Aber das waren eben auch nur Männer. »Also gut«, ergab ich mich meinem Schicksal und setzte mich in Bewegung. Wirklich prima. War schon ein mulmiges Gefühl, in einem Polizeifahrzeug zu sitzen. Ich schnallte mich so sorgfältig an, als wäre es eine religiöse Handlung, dann sah ich zum Fahrer, der mich fragend ansah. »Columbia?« »Ja«, bestätigte ich, während Blake den Blinker setzte und sich in den fließenden Verkehr einordnete. »Ja, danke, meine ich. Fürs Fahren und so.« Ich wollte mir nicht nachsagen lassen, dass ich keine Manieren hatte. Wir überquerten die Park Avenue, als Blake das Funkgerät leise drehte und schweigend an einer Ampel hielt. »Wollten Sie mir nicht ein paar Fragen stellen?«, fragte ich, als die Stille unerträglich wurde und meine Neugier sich meldete. »Ach ja, richtig«, meinte mein Gegenüber, ganz so, als hätte er es völlig vergessen. Aber ich hatte ihn durchschaut. »Wie Sie sich vielleicht schon denken können, geht es um Mr. Brock. Sie sagten, dass Sie den Vermissten vor etwa einem Jahr zuletzt gesehen haben.« »Richtig«, gab ich zu und hatte bei dieser Antwort eine reine Weste. »Wie können Sie sich erklären, dass Ihre Fingerabdrücke in seinem Appartement gefunden wurden?« Der Wagen fuhr an, als die Ampel umschaltete und wir uns weiter Richtung Campus bewegten. Diese Frage war schon schwieriger zu beantworten. »Ich habe damals bei ihm gewohnt.« Ich hoffte, dass das Antwort genug war. »Verstehe«, meinte Blake und sah kurz zu mir, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder ganz der Straße widmete. »Seltsam daran ist nur, dass Fingerabdrücke in einer Nasszelle, zum Beispiel in einer Dunkelkammer, höchstens vier Monate bestehen bleiben.« Innerlich drehte ich total am Rad. Äußerlich rückte ich meinen Gurt zurecht und kratzte mich am Ohr. Wo blieben eigentlich die Marsianer? Wieder warf Blake mir einen Blick zu. »Okay, ich war da«, beichtete ich unter seinem eisernen Blick und er schien fast erleichtert darüber. »Ich weiß, ich hab Sie gesehen.« Verdammt. Mein kleiner Besuch in Eddies Appartement war doch nicht unbeobachtet geblieben. »Ich habe nur ein paar meiner alten Sachen geholt.« »Was war in der Kiste?« Da hatte aber jemand ganz genau hingesehen. Tja, so waren sie, die New Yorker Cops. »Erinnerungsfotos«, sagte ich und fügte, noch bevor er fragen konnte, ob er diese sehen konnte, hinzu: »Hab sie verbrannt.« »Waren wohl keine schönen Erinnerungen«, vermutete der Officer und ich hielt mich am Türgriff fest, als er um eine Rechtskurve bog. »Nicht alle.« Dann dachte ich an die Niagarafälle. »Aber die Meisten.« Einen Straßenzug lang war es still im Auto und ich lauschte nur dem leisen Rauschen des Funkgerätes. »Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte Blake, als das Universitätsgelände schon in Sichtweite war. Was er wohl meinte? Das Wetter von morgen? Die Lottozahlen? Meine Sozialversicherungsnummer? »Nein«, sagte ich daher und wartete bis er einen Parkplatz am Haupteingang gefunden hatte. Studenten strömten aus allen erdenklichen Richtungen dem Campus entgegen. »War das dann alles?« Blake nickte hastig. »Ja, vielen Dank für Ihr Zeit.« »Ich habe zu danken«, erwiderte ich und spielte damit auf die Tatsache an, dass er mich durch die halbe Stadt kutschiert hatte. Na gut... eigentlich waren es nur fünf Blocks gewesen, aber trotzdem. Ich wollte aussteigen, doch es ging nicht. Ich warf mich regelrecht gegen die Beifahrertür, aber das Luder wollte nicht nachgeben. Kindersicherung? »Augenblick«, sagte Blake und huschte aus dem Wagen. Ich beobachtete, wie er vor der Motorhaube um den Wagen lief, einmal, zweimal kräftig an der Tür zerrte und diese damit öffnete. »Klemmt manchmal.« »Danke«, war ich ehrlich dankbar. Nicht auszudenken, wenn ich nie wieder aus diesem Wagen hätte aussteigen können. Grusel. Ich wartete auf dem Bürgersteig bis Blake die Tür hinter mir zufallen ließ und sich wieder an mich wandte. »Glauben Sie, dass Mr. Brock einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist?« Jetzt musste ich vorsichtig sein. Ich konnte mich kinderleicht verplappern. Vielleicht hätte ich mir den Kaffee heute morgen doch lieber gleich intravenös verabreichen sollen. »Gibt es Grund zu der Annahme?« Gegenfrage. Ich war ein ausgefuchstes Ding. »Bis jetzt noch nicht. Er ist einfach nur... verschwunden.« Ich hoffte wirklich, dass ich nicht verdächtigt wurde, irgendetwas damit zu tun zu haben. »Wollen Sie demnächst die Stadt verlassen?« »Bin ich etwa verdächtig?« Officer Blake lachte schallend. »Nein, ich war nur neugierig.« Ach soooooo war das... Häh??? »Wissen Sie, ob Mr. Brock Feinde hatte?« Was? War das eine Fangfrage? Ich wusste nicht, was ich darauf... obwohl... »Vielleicht«, sagte ich leise und sah Officer Blake dabei in die Augen. Er legte leicht den Kopf schief und sah mich fragend an, dann explodierte die Welt. ~ Ende des 6. Kapitels ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)