Tears of Light von Rainblue (WB-Fanfic "Erosia" #2) ================================================================================ Kapitel 1: Tears of Light ------------------------- Da ist etwas in mir, Sodalith. Wie ein Geheimnis, das ich nicht ergründen kann. Ein Mysterium namens Sehnsucht. Etwas in meiner Welt fehlt, immerzu und beständig, es nähert sich nicht, noch verschwindet es aus meiner Erinnerung. Selbst wenn es genau neben mir stünde, wenn ich es fühlen könnte, wäre es doch nur ein Lichtfleck, der schon durch die Bewegung einer Fingerspitze von einem Schatten durchtrennt wird. Ich kann es nicht greifen. Auch wenn es anwesend ist, ist es doch nicht für mich anwesend. Es schenkt mir keine Aufmerksamkeit. Sieht es mich überhaupt, Sodalith?! Hat es die anderen lieber als mich? Ob es sie wohl mehr liebt als mich? Wenn es so ist, dann soll es ganz verschwinden! Wenn es nicht mir gehört, wenn es nicht nur mich und sonst niemanden liebt, dann soll es auch niemand bekommen. Dann soll es niemand mehr lieben oder brauchen. Es soll nur für mich da sein, immer an meiner Seite, meinetwegen auch nur als Lichtfleck, solange ich weiß, dass ich alles für es bin. Weil es alles für mich ist. Das kann es mir doch nicht abschlagen, oder, Sodalith? All meine Liebe nur für sie – da bleibt kein Platz von anderen geliebt zu werden. Und als Gegenleistung wird auch sie mich lieben, so sehr, dass kein anderer mich mehr lieben könnte… Aber wenn sie das nicht will, wenn sie ihr Glück nicht verstehen will, dann muss sie verschwinden und niemandem je wieder ihre Liebe schenken. Das ist der Preis dafür, wenn auch ich meine ganze Liebe für mich behalte. Auf alle Zeit. Das ist richtig, nicht wahr, Sodalith? So große Liebe darf nur einander gegeben werden. Sie darf nicht an andere verschwendet sein. So soll es sein, Sodalith. Das ist der Lauf des Wunderlandes. ~ Das Gefühl des Alleinseins war für Kairi stets ein Rätsel in Form einer wandelbaren Kapsel gewesen. Etwas gezwungen Abstraktes, unbegreiflich für die, die es nicht schon einmal empfunden hatten. Es gab viele unterschiedliche Arten der Einsamkeit, manche davon wurden wie Karten ausgespielt, wenn die Gelegenheit günstig war, um den Mitspieler zur Barmherzigkeit zu zwingen. Manche kamen so plötzlich und gingen ebenso unvermittelt, dass es wie ein Sturm war, der den Menschen für kurze Zeit an einen Ort trug, den sein Herz sich aus Trauer und Schmerz gebaut hatte, um diese Kammer dann wieder abzuschließen und zu warten, bis sie ihn erneut rufen würde. Doch die bisher durchdringendste Form der Einsamkeit war ihr nur wenige Male begegnet und an viel davon konnte sie sich auch nicht erinnern. Nichtsdestotrotz spürte sie es. Fühlte sich daran erinnert, wenn sie eine andere Nuance der Abgeschiedenheit sah. Denn wer diese Hülle einmal an einem Menschen beobachtet hatte, der konnte sie nicht mehr aus seinem Gedächtnis streichen, selbst wenn er wollte, selbst wenn Jahre daran rissen wie die Gezeiten an den Steinen an der Küste, an der Kairi stand und aufs Meer blickte. Es war einer dieser Tage, an denen ihre Augen juckten und tränten und umherhuschten, als würden sie nach etwas suchen. Die Unruhe löste sich nicht vollständig auf, wurde aber um einiges erträglicher, wenn sie zum Wasser ging und hinaussah. Und jedes Mal dachte sie an die Erinnerungen, die sie verloren hatte. Und neuerdings auch an die, die anfingen, wiederaufzuerstehen. Aus der kalten Asche, die das Pochen ihres Herzens dämpfte. Heute füllte ihre Gedanken eben jene Einsamkeit, die ihr vor so langer Zeit, in einem anderen Leben wie es schien, begegnet war und ihren Abdruck auf ihr hinterlassen hatte. Die Ursache dafür war der sich lösende Schleier über ihrem Geist, der sie sich wieder zweier Menschen entsinnen ließ, bruchstückhaft und langsam nur. Aber Kairi machte nicht den Fehler, den Vorhang grob beiseite zu zerren, denn sie fürchtete, die Erinnerungen damit zu zerstören. Da wartete sie lieber, auch wenn es von Zeit zu Zeit die reinste Folter war. Eine der Personen in diesem Widerhall hatte sie an das Gefühl des Alleinseins erinnert. Er hatte etwas an sich gehabt, das dem Bild in ihrem Kopf sehr nahe kam. Wie eine Vorstufe oder eine Abschwächung – beides schien möglich zu sein. Eine Schale aus Isolation. Permanent um den Körper desjenigen geschlungen, eine zweite Haut, die schütze, aber auch abschottete. Die das Herz ummantelte wie ein… wie ein weißer, seidener Kokon… Kairi taumelte und stützte rasch eine Hand auf dem Felsen zu ihrer Rechten ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Schmerz war unerwartet gekommen, genauso wie der Vergleich. Wie ein Stein war er gegen die Wand geprallt, die in ihrem Inneren Bewusstsein von Unterbewusstsein trennte. Dahinter schien etwas in Bewegung gekommen zu sein. Ein schimmernder Kokon, der das Herz umschließt. Sodass es in seiner Metamorphose stockt, sich nicht endgültig entwickeln, dem Gehäuse nicht entkommen kann. Wo hatte sie es gesehen? Wer hatte dieses Bild in ihr aufblühen lassen? In diesem Moment vernahm sie ein unbekanntes Geräusch, das im Rauschen des Meeres untergegangen wäre, hätte es sich nicht so andersartig angehört. Sie konnte keinen Vergleich ziehen, noch es beschreiben. Es war, als hätte irgendetwas den Widerstand zwischen den Welten durchdrungen, aber das… „Der Pfad liegt doch längst vor dir, warum gehst du nicht?“ Kairi zuckte zusammen und sah sich auf dem Strand um, der bis auf sie leer war. Zu dieser frühen Stunde nicht verwunderlich. Unbewusst legte sie eine Hand an ihre Schläfe. Sie konnte es sich nicht erklären, aber eben gerade schien jemand in ihrer Nähe und gleichzeitig in ihrem Kopf zu ihr gesprochen zu haben. Die Stimme eines Kindes, hoch und trällernd, auf keine Art gefährlich oder beunruhigend. Es war eine Stimme, der man vertrauen wollte. „Ah, ich verstehe!“, zwitscherte sie von neuem und Kairi warf noch einmal einen prüfenden Blick umher, lediglich aus Reflex. „Du kannst ihn gar nicht sehen! Deine Augen sind die Dunkelheit nicht gewohnt. Da wundert es mich nicht.“ Sie versuchte, etwas zu erwidern, doch das helle Klirren, das jedes Wort der Stimme begleitete, brachte sie zum Verstummen. Sie fühlte sich förmlich gezwungen, dieses empfindliche Summen nicht zu unterbrechen. „Damit dürfte die Sache eindeutig sein, du brauchst meine Hilfe!“ Auf einmal löste sich der Klang aus ihrem Kopf und bewegte sich federnd nach rechts, wie das Klingeln eines Glöckchens, das man erst nahe dem Ohr hält, um es dann soweit wie möglich von sich zu entfernen. Vor ihren vor Erstaunen geweiteten Augen materialisierte sich binnen Sekunden aus einem gleißenden Lichtschemen eine Gestalt, nicht größer als ein Kind von wenigen Jahren. Nur dass es nicht das Gesicht eines Menschen hatte, noch dessen natürliche Körperform, auch wenn es trotzdem mehr menschlich als tierisch erschien. „Aber ich helfe dir nur dieses eine Mal!“, flötete sie vergnügt. Ob der Stimme war sich Kairi sicher, ein Weibchen vor sich zu haben. Große, glänzende Augen sahen ihr entgegen, die Iris bunt, schillernd und mosaikartig wie ein Kirchenfenster. Der Rest ihres Gesichtes erinnerte stark an das eines jungen Hundes, bis darauf, dass die Ohren von einem sanften Rosa waren und aus ihrem Rücken kleine, leuchtende Flügel ragten, die sie auch vor Kairi in der Luft trugen. „Hast du das verstanden?“, fragte sie und wedelte ein paar Mal mit dem Stab in ihrer Hand herum, an dessen oberen Ende ein Stern prangte. „Ich zeige dir den Weg, aber danach musst du dich alleine zurechtfinden.“ „Den Weg wohin?“, versetzte Kairi leise. Der Hund kicherte, als hätte sie das Offensichtliche nicht begriffen. „Der Weg zu dem, was du dir wünschst, welcher sonst?“ Was sie sich wünschte? Wie in einem Zeitraffer sah sie vor ihrem geistigen Auge jemanden aus dem Wasser auf sich zukommen. Sie selbst stand am Strand und ruderte mit den Armen, weil sie sich freute, ihn zu sehen. Obwohl sie ihn gar nicht sehen konnte – die Sonne stand tief, schien aber so hell, dass sein Gesicht vollkommen im Schatten lag, nur ein paar seiner braunen Haarspitzen wurden von ihr angestrahlt. Dunkelheit. Durch die sie nicht hindurchsehen konnte… „Und du kannst mir diesen Weg zeigen? Wie?“ Die Hündin begann aufgeregt mit ihren Flügeln zu schlagen. „Nichts ist einfacher als das!“, lächelte sie und schwang ihren Stab herum, welcher anfing zu leuchten und Funken zu sprühen, während erneut diese sphärische Musik einsetzte. Und dann erschien wie aus dem Nichts eine Tür auf dem Sand, gerade hoch genug, dass Kairi aufrecht im Rahmen hätte stehen können. Auf dem gleichmäßig gemusterten Holz zeichnete sich ein Satz ab, wobei das erste und das letzte Wort in Großbuchstaben hervorgehoben waren. HEAVEN or HELL „Du brauchst dich nicht zu fürchten. Aber einmal hindurchgegangen liegt es an dir, ich kann dir dann nicht mehr helfen.“ Kairi blickte unschlüssig von der Tür zum Hund und wieder zurück. „Was denkst du? Wirst du sie öffnen oder nicht?“ Vorsichtig führte sie die Hand zum Türknauf, das Holz fühlte sich warm und glatt an. Einladend. Dennoch zögerte sie, ohne sich wirklich erklären zu können, warum. Himmel oder Hölle…? Glück oder Verderben. …ein großes Flügelpaar oder ein enger Kokon… Langsam drehte sie den Knauf, er gab mühelos nach und die ersten feinen Lichtfäden brachen durch den schmalen Spalt. Da gab sie sich einen Ruck und zog die Tür ganz auf. Das Licht blendete sie nicht, obwohl es so intensiv hervorströmte, dass sie das Dahinterliegende nicht erkennen konnte. „Sie ist offen“, vernahm sie die nach wie vor fröhliche Stimme des Hundes hinter sich. „Es ist deine Entscheidung, zu gehen oder auf die Sicherheit des Wartens zu beharren.“ „Nein“, sagte Kairi knapp. „Ich will nicht mehr warten, nicht mehr im Niemandsland bleiben, wo sich doch nie etwas verändert. Damit bin ich keinem eine Hilfe.“ „Du hast es erfasst!“, lachte sie. „Also dann, worauf wartest du?“ ~ Nur das Hallen der eigenen Schritte auf dem bodenlosen Schwarz unter ihren Füßen begleitete ihre Gedanken, die wie unruhige Wellen aus unbekannten Tiefen ihres Herzens hervorschwappten. Vielleicht hatte der Ort, an dem sich nun befand, es ausgelöst. Immerhin ließ es sich umgeben von nichts als Dunkelheit kaum vermeiden, Gefühle des Alleinseins zu unterdrücken. Und so passierten einige weitere Bruchstücke ihr Bewusstsein. Von der Einsamkeit dieses einen Menschen, den sie gekannt hatte, vor langer Zeit. Es kam ihr merkwürdig vor, so wie sie die Eindrücke aufglimmen und verschwimmen sah. Da waren Menschen in den aufgefangenen Bildern, eine große Zahl sogar, ständig um ihn herum. Doch obwohl er zu jedem von ihnen hätte gehen können, obwohl er von Licht umgeben war, schien der Boden, auf dem er ging, immer dunkel zu bleiben. Allein zu jeder Zeit. Kairi begann auch, sich daran zu erinnern, wie andere damit umgegangen, wie sie ihn gemieden und den Kopf über ihn geschüttelt hatten. Unter alledem hatte sie sich gefragt, ob je einer von ihnen versucht hatte, seine Einsamkeit nachzuempfinden, sie zu verstehen versucht hatte. Mit einem ernüchternden Ergebnis. Darum hatte sie es versucht, hatte alles gegeben, sich in ihn hineinzuversetzen und doch war es ihr nie gelungen. Bis sie anfing, sich für ihr Glück zu schämen. Wenn andere litten und einsam waren und niemandem davon erzählen konnten, niemanden hatten, mit dem sie lachen konnten, wie durfte sie dann lachen? Wie durfte sie laut singen und tanzen, wenn hinter ihr jemand stand, dem das Herz wehtat? Also begann sie, seine Nähe zu suchen. Damit er vielleicht nicht mehr ganz so einsam war, damit er vielleicht lachen konnte, wenn auch nur einmal… Unter den endlosen Gedankengängen war ihr entgangen, wie die Finsternis um sie herum allmählich ausgeblichen war und plötzlich knarzte unter ihren Schuhen trockene Erde. Als sie den Blick hob, erkannte sie grob behauene Höhlenwände, die hier und da von wurmstichigen Holzplatten verdeckt wurden – es musste sich um eine Mine handeln, auch wenn sie wahrscheinlich schon lange nicht mehr genutzt worden war. Ein Stück weiter vorn verengte sich der Stollen, die Wände waren dort gemauert und der Boden trotz einer dicken Staubschicht ordentlich gepflastert. Und obgleich die schwere, rostige Eisengittertür am Ende des Ganges sperrangelweit auf stand, konnte sie dahinter nichts mehr erspähen. Was daran lag, dass die Luft voller Dunst hing, zu fein für Staub, aber auch zu unruhig für Nebel. Es waberte beständig hin und her, reflektierte Farben und undeutliche Schemen von wer weiß woher. Außerdem kam es Kairi so vor, als würde es schon vom bloßen Anblick in ihren Kopf vordringen und sich dort weiterkräuseln, sie schläfrig machen und Dinge hervortreten lassen, Eindrücke, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie in ihrem Verstand lagen. Behutsam setzte sie den ersten Schritt, dann einen weiteren und noch einen, dem Eingang schleppend, aber stetig entgegenkommend. Schmetterling, du kleines Ding, Such dir einen Feenring Der Dunst schien mit jedem Zentimeter, den sie näherkam, dichter zu werden, sie zu durchdringen, mit ihrem Atem zu verschmelzen, ihr Herz zu umfangen, jedes Pochen aufzunehmen und tausendfach widerhallen zu lassen. Juchheirassa, juchheirassa, Oh, wie lieblich tanzt er da. Und ihre Lider wurden starr, die Wimpern zu Kristall, die Augäpfel fix wie die einer Puppe. Die Nebelwand lichtete sich um keinen Stich und doch konnte Kairi auf einmal Formen wahrnehmen, die sich mit jedem Meter schärften, wie welkes Laub blätterte das Grau von ihnen ab und wurde zu Farben, die ihr bekannt waren und von denen sie doch glaubte, sie zum ersten Mal zu sehen. Verträumt, leichtfüßig wie der Wind, wie ein kleines Blumenkind Aber als sie weit genug in den Raum hineingetreten war – nur am Rande bemerkte, wie irgendwo hinter ihr die Eisentür ins Schloss fiel – fiel die Trance teilweise von ihr ab. Ihr Verstand holte auf, erfasste die Wesen, die sie nun umringten und offenbarte ihr, dass sie etwas anderes waren, als die Betäubung des Smogs es ihr weisgemacht hatte… Hei, zierlich, sorglos wie der Wind, wie ein kleines Blumenkind. „Du hast von ganz allein den Weg zu mir gefunden, wie schön…“ Kairi stockte der Atem und sie taumelte kurz, als sie ihren Blick einmal über die gesamte Szenerie schweifen ließ, die sich vor ihr ausbreitete. Überall verstreut lagen Stofftiere in beißend grellen Pastelltönen, jedes von ihnen auf groteske Weise entstellt – einigen waren Nägel durch die Augen gebohrt worden, aus den aufgeschnittenen Köpfen anderer drang die rosafarbene Füllwatte, wieder andere waren mit weißen Jacken und Gürteln verschnürt worden, doch das Makaberste sollte erst noch kommen. „Und du bist genauso schön und anmutig wie ich dich in Erinnerung habe.“ Unwillkürlich schluckte sie, ehe ihre Augen von den befremdlich präparierten Spielzeugen abließen, um die Quelle des Gesangs von vorhin und den Worten aufzusuchen. Aber als sie sein Gesicht erreichte, erklang ein plötzliches, lautes und bedrohliches Zischen an ihren Ohren und aus dem Dunst funkelte ein Augenpaar mit reptilienhaft geschlitzter Pupille hervor. Kairi verspürte das Bedürfnis zu fliehen, doch stattdessen gefroren ihre Muskeln, sie versteifte sich wie ein… wie ein Tier im Angesicht… einer Schlange… „Nein, nein, nein“, murmelte die Stimme liebevoll, „hab keine Angst vor mir. Ich könnte dir niemals etwas zuleide tun. Niemals.“ Da erlosch das gierige Blitzen der Schlangenaugen und wich einem menschlichen Paar, eines gelb, das andere blau, aber das Gesicht blieb weiterhin im Nebel verborgen. „Komm. Komm zu mir.“ Eine Hand durchbrach die Schwaden und streckte sich ihr entgegen. Erneut hüllte sie dieses Gefühl von Leere ein, von Leichtigkeit, ja, der Dunst trug sie, wie der Wind einen Schmetterling… Mit tiefen Atemzügen trat sie auf ihn zu und bei jedem Schritt fühlte sie etwas in ihrem Rücken, das sie erst mit der Zeit benennen konnte. Es waren Blicke. Jemand beobachtete sie, aber damit war nicht er gemeint, er, dessen Hand weiterhin nach ihr ausgestreckt war. Noch jemand. Nein, sehr viele. Viele Augen in ihrem Rücken. Aber die Wärme des Rauches beschützte sie, trug sie weiter dem Jungen entgegen. Ein Junge? Warum war sie noch einmal hergekommen? Hatte das nicht mit einem Jungen zu tun gehabt? Doch da erreichte sie ihn und kaum, dass ihre Hand auf seine sank, tauchte sein Gesicht aus den Wolken auf und ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie konnte es an dem Echo hören, das sie beide umgab. „Licht“, flüsterte er nur und seine andere Hand strich ihr einmal behutsam durchs Haar. Die wirren blonden Strähnen und die verschiedenfarbigen Augen irritierten Kairi, doch das Gefühl der Vertrautheit seiner Züge war weit größer. War er es, den sie gesucht hatte? An den sie sich zu erinnern gewollt hatte? „Du erinnerst mich an jemanden und doch bist du anders.“ Bei seinen Worten kam es ihr so vor, als würde sein Kopf flüchtig in eine Richtung zucken und sie folgte dem Verlauf mit den Augen, ohne ihren Hals zu bewegen, da seine Hand immer noch in ihrem Haar vergraben war. Sie konnte eine dunkle Ecke ausmachen, in der eine Ansammlung von kleinen Gegenständen ruhte, keine Stofftiere, wie die vorne; sie waren viel kleiner, anders gearbeitet und vor allem unbeschädigt. Aber der Augenwinkel genügte nicht, um mehr als bloße Silhouetten zu erkennen und… längliche Schatten, die sich zischelnd um sie herum wanden… „Hab keine Furcht.“ Er legte eine Hand unter ihr Kinn und zog sie sanft zurück in sein Blickfeld. „Niemand wird dir schaden, darauf gebe ich dir mein Wort. Solange du hier bei mir bleibst“, fügte er dann hinzu und es klang eine Spur trotzig. Was nicht zusammenpasste und dieser winzige Unterschied reichte aus, um Kairi kurzzeitig aus dem Dämmerzustand zu befreien. Sofort schoss ihr Kopf herum und diesmal sah sie die Puppen, die an den Wänden oder aneinander lehnten klar und deutlich. Ebenso wie die glänzenden Schlangenleiber, die sie beschützend umkreisten wie ihre eigene Brut. Entsetzt fuhr sie wieder zu dem Jungen herum, aus dessen Kehle ein unterdrücktes Fauchen drang, während sich seine Pupillen in Kürze verengten, anfingen zu pulsieren und zu flirren. Heftig riss sie sich von seiner Berührung los und wich zurück, bis ihre Füße an etwas Weiches stießen. Und Warmes. Das ein elendes Geräusch von sich gab, ehe sie herumwirbelte. Die Stofftiere… Nein, sie lagen noch an Ort und Stelle und rührten sich keinen Millimeter. Aber in ihren Augen schimmerte es verdächtig und ganz gleich, dass keines von ihnen seinen Platz verließ, sah Kairi doch, dass sie sich bewegten. Innerlich. Von Schmerzen geplagt, gedemütigt und zum Stillstand gezwungen. „Du hast nur diese eine Wahl“, hörte sie den Jungen und es war, als würden zwei Stimmen gleichzeitig sprechen; die eine menschlich, aber im Tonfall eines verzogenen Kindes, die andere schlangengleich und nichts anderes als drohend. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, als sie sich langsam wieder zu ihm drehte. „Entweder du bleibst hier und schenkst mir all deine Aufmerksamkeit und Liebe, du bist für immer meine Spielgefährtin und dir wird nie etwas geschehen, weil ich dich vor dieser kranken Welt da draußen beschütze…“ „Oder…?“, fiel sie ihm ins Wort. Dabei fiel ihr Blick auf weitere menschliche Puppen, die aufgehängt von der Decke baumelten. Der Nebel musste sie vollständig gelähmt, sie Glauben gemacht haben, all diese grausamen Dinge würden nicht existieren. Selbst jetzt spürte sie noch, wie er nach ihr zu greifen versuchte. Er erinnerte sie in jeder Hinsicht an die Dunkelheit selbst… „Oder“, fuhr er mit schräg gelegtem Kopf und einem süßlichen Lächeln fort, „ich muss dich zu deinem Glück zwingen.“ Er war dabei von seinem Thron aufgestanden, welcher von zwei bizarr grinsenden Katzenköpfen flankiert wurde, mehr Skelett denn Tier. „Verstehst du es denn nicht? Wir sind füreinander bestimmt. Licht und Dunkelheit. Zusammen könnten wir diese Welt zu einem viel besseren Ort machen und von all denen befreien, die ihr nur schaden wollen. Wir könnten sie heilen, Schwesterchen!“ Noch einmal streckte er ihr die Hand entgegen. Aber Kairi setzte einen beherzten Schritt zurück. „Heilen? Wen willst du heilen können, wenn du diesen hier nur Schmerz zugefügt hast.“ Sie wies auf die Stofftiere ringsum. „Woher willst du überhaupt wissen, was gut für andere ist?“ „Weil ich alles weiß“, lachte er und seine Augen verdrehten sich dabei unnatürlich. Er hob die Arme triumphierend in die Höhe. „Die ganze Welt – ich weiß, wie sie funktioniert! Ich kenne die Wesen, die in ihr leben und was sie sich gegenseitig antun können. Sie leben vom Wahnsinn, verstehst du? Man muss ihn austreiben, um sie zu heilen. Aber dafür brauche ich dich…“ Das Zischen in seinem Ton wurde eindringlicher, härter, dominierte über die Stimme des Jungen. Und da erst wurde sie dem schwarzen Kopf mit den kleinen schillernden Augen gewahr, der sich über seine Schulter beugte. Es war nicht dieselbe Stimme gewesen, es waren zwei verschiedene. Die eine von ihm, die andere von der Schlange, die auf dem Stoff seines Umhangs nahezu unsichtbar geworden war. Sie blickte ihr direkt in die Augen, obwohl ihr Herz mit jedem Atemzug beißender schlug, ihre Kehle eng wurde, als würde sie nicht auf seiner Schulter sitzen, sondern auf ihrer und sie würgen, und doch hielt sie dem Glühen stand. Denn nur den Sekundenbruchteil später begriff sie es. „Nein“, stieß sie keuchend hervor, „du hast keine Ahnung von der Welt. Du bist… nur einsam.“ Er zuckte zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt und seine Augen brodelten fiebrig, aber Kairi ließ sich nicht beirren, mit jedem Wort kehrte mehr Atem in sie zurück, löste sich der Dunst um sie herum auf und legte die Wirklichkeit frei. „Das Gefängnis hier hast du dir selbst gebaut, weil man dir sagte, dass es richtig so wäre. Abgeschottet von allem, behütet und beschützt vor dem Leben da draußen. Aber...“ Auf einmal bäumte sich die Schlange auf seiner Schulter, riss das Maul auf und fauchte, zeigte zum ersten Mal ihre wahre Natur. Und Kairi erinnerte sich. An die wahre Natur eines anderen, die er ihr erst gezeigt hatte, als sie schon auf ihn hereingefallen war. Der Fluch den Alleinsein mit sich bringt. „Aber durch das Gitter eines Käfigs fallen nur Lichtstreifen, der Großteil liegt im Dunkeln. Und du kannst nicht zu denen gelangen, die dich wirklich beschützen, die mit dir lachen. Du bist allein. In einem Kokon, in einem weißen Raum, in einer Hülle aus Einsamkeit.“ Und auf einmal war es als löse sich ein Faden in ihrem Inneren, ein einziger, der das Konstrukt des Kokons, in dem ihre Erinnerungen lagen, festgehalten hatte. Mit einem Mal rissen alle Seile und die Memoiren entfalteten ihre Flügel… „Du musst wissen, Schmetterlinge sind auch einsam. Und manchmal sind sie so traurig darüber, dass sie weinen. Aber ihre Tränen fallen auf die Erde und weißt du, was dann aus ihnen wird?“ „Nein, was wird denn aus ihnen?“ „Na, sie werden zu Blumen! Da, wo ein Schmetterling eine Träne vergossen hat, wächst eine Blume in der Farbe seiner Flügel. Und wenn ganz viele gewachsen sind, dann sind die Schmetterlinge für lange Zeit nicht mehr so einsam, weil andere Schmetterlinge kommen und mit ihnen um die Blumen schweben.“ „Aber ich habe noch nie einen Schmetterling weinen gesehen.“ „Dummerchen, das kannst du doch auch gar nicht!“ „Warum nicht?“ „Weil ihre Tränen aus Licht sind. Aus warmem, aber unsichtbarem Licht.“ … „Ich verspreche dir, dass ich lesen lerne und dann lese ich dir das Märchen zu Ende vor. Versprochen? Xehanort… „Die Welt macht dich nicht krank. Nur die Methoden, die dagegen gehen. Du kannst nicht einmal etwas dafür, du bist unschuldig und doch wird Schuld auf dich geladen, bis du fest glaubst, dass es deine eigene ist.“ Die Sätze sagten sich wie von selbst. Es war als könnte sie jeden einzelnen in den Augen der Schlange lesen, die mit nach wie vor gebleckten Fängen auf sie hinabstierte. Der Junge war in seinem Thron zusammengesackt und hatte die Augen geschlossen, zusammengekauert wie ein Jungtier und am ganzen Körper bebend. „Nein, lasst mich… mich nicht in der Dunkelheit… ich kann nicht… ich kann mich nicht bewegen… lasst mich nicht… ich will nicht…“ Kairi nahm die Tränen auf ihren Wangen erst wahr, als sie sich gesammelt von ihrem Kinn lösten. Er war ein Kind, nichts weiter. Und trotzdem war sein Herz mit Dunkelheit umnebelt worden, so wie diese Kammer vom Dunst verschleiert war und alles vor ihm verbarg, was grausam war und falsch. Sie wischte die Tränen fort und ging zögerlich wieder auf ihn zu. Die Schlange keifte sie weiterhin an, aber aus irgendeinem Grund wusste Kairi, dass es nur dabei bleiben würde. Darum hob sie die Arme und schlang sie dem Jungen um den Hals. Er fühlte sich kalt an, als gäbe es kein Blut in seinen Adern, sondern nur Eis. „Selbst, wenn es nicht ich bin“, flüsterte sie und neue Tränen flossen über ihre Haut, fielen ins Haar des Jungen, „die dir helfen kann. Irgendjemand wird es.“ Und das sagte sie nicht nur, sie spürte es. Es würde jemand kommen, um ihm zu helfen, daran bestand kein Zweifel. “…dann lese ich dir das Märchen zu Ende vor. Versprochen?“ „Irgendwann, irgendwann… Ganz bestimmt.“ Während sie geredet hatte, hatte er die Arme gehoben und sich an ihr festgeklammert. Aber sie befreite sich behutsam aus seiner Umarmung und trat einen Schritt zurück. Als sie urplötzlich eine Veränderung im Raum registrierte, doch dann war es zu spät. Die Schlange schoss hervor und schlug blitzschnell die Zähne in ihren Arm. Aber anstatt direkt wieder loszulassen, verbiss sie sich in ihrem Fleisch, hielt sie fest, derweil sich der Junge etappenweise – wie eine Marionette – wieder aufrichtete und sie mit leeren, glasigen Augen ansah. „Du darfst nicht gehen. Du gehörst zu mir. Ich gehöre zu dir. Nur zusammen sind wir ganz. Nur zusammen sind wir richtig. Niemand darf dich lieben außer mir. Niemand darf mich lieben außer dir. Wir. Nur wir. Wir… wir… WIR!“ Die Schlange zerrte sie näher heran, Kairi versuchte, sich loszureißen, aber jede Bewegung jagte einen gellenden Schmerz durch ihr Handgelenk und den ganzen Körper. Sie hörte das Jauchzen der Stofftiere, das Zischeln der anderen Schlangen und das Kichern des Jungen in einem Sog aus überhellen Farben, scharfkantigen Schablonen und wüsten Ornamenten. Das Ziehen in ihrem Arm wurde unerträglich und die Versuchung, sich in dieses bunte, verdrehte Wunderland fallen zu lassen ebenso. Aber als sie schon glaubte, dem nicht mehr standzuhalten, drang ein kraftvoller Lichtstrahl an ihr vorbei, die Schlange wurde geblendet und ließ blind von ihr ab. „Ich wollte dir eigentlich nur dieses eine Mal helfen, aber ich gebe dir ausnahmsweise noch eine zweite Chance!“ Sie erkannte die Stimme in ihrem Kopf sofort wieder und sah sich wie erhofft einer weiteren Holztür gegenüber, als sie herumfuhr. HEAVEN or HELL Diesmal zögerte sie nicht, sondern griff ohne Umschweife nach dem Türknauf und zog sie auf, aber sie blickte noch einmal zurück, ehe sie hindurchging. Das Gesicht des Jungen hatte sich flehentlich verzogen, die Schlange zog sich eilig in den Schatten seiner Halsbeuge zurück, um nicht vom Licht getroffen zu werden, das aus der Tür herausstrahlte. Er streckte ihr nun beide Hände entgegen und bat sie mit jedem Ausdruck seines Körpers, bei ihm zu bleiben. Und ein Teil von ihr wollte sich ihm tatsächlich wieder zuwenden, ganz gleich, was er getan hatte. Aber das war nicht ihre Aufgabe. Sie war nicht die, die ihn heilen konnte. Und doch… „Dort, wo ein Schmetterling weint, wächst eine Blume. Denn seine Tränen sind aus Licht. Aus warmem, jedoch unsichtbarem Licht. Jemand wird diese Blume sehen und verstehen, was sie bedeutet… Versprochen.“ Damit wandte sie sich ab und trat durch die Tür, die hinter ihr zufiel und verschwand. Das Licht wurde stärker, alles um sie herum weiß und endlos und dann stand sie plötzlich wieder auf dem Sand des Strandes. An genau derselben Stelle, an der sie die Tür geöffnet hatte. Verwundert hob sie die Hand, aber die Haut war unbeschädigt, keine Spuren von einem Biss oder sonst irgendetwas. Vielleicht hatte die Schlange gar nicht zugeschnappt, vielleicht hatte sie das nur geglaubt… Vielleicht war es nur… nicht gebissen… kein Abdruck, nichts, keine Spur von… Zähnen, keine… nur in der Erinnerung… keine Erinnerung… nichts. „Was…?“, brachte sie mühsam hervor und fuhr über die unverletzte Haut auf ihrem Puls, ohne eine Ahnung, warum sie das tat. Und unter das Rauschen der Wellen mischte sich eine unscheinbare Melodie, wie ein Echo aus einer weit entfernten Welt. Anmutig und verspielt wie ein Kinderlied, aber die tosende Brandung verzerrte den Klang, unterlegte sie mit einem Zischen, fast ein Fauchen… Doch als sie sich von der Betrachtung ihres Armes loseiste, verstummte die wundersame Musik abrupt und warmes Meerwasser umfloss ihre Knöchel. Sie musste in einen Tagtraum versunken sein. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, der laue Küstenwind und das Spiel des Wassers verleiteten gern einmal dazu, den Kopf in die Wolken zu stecken. Und dennoch überkam sie das Gefühl, eine dünne Ballonschnur würde zwischen ihren Fingern hindurchgleiten und obgleich sie die Hand zur Faust ballte, konnte sie ihn nicht daran hindern, ihr zu entfliehen und irgendwo in die Weiten des Himmels zu verschwinden. Unerreichbar. Wie eine andere, verborgene Welt. ~ Es ist ihr Herz, Sodalith. Ihr Herz ist so rein, dass es von der Dunkelheit nicht einmal berührt werden kann. Sie ist vollkommen unempfänglich für den Wahnsinn. Und darum verschwand selbst ihre Erinnerung an die faulige Färbung des Irrsinns… Schmetterlinge könnten nicht länger fliegen, wenn ihre Flügel mit den gierigen, groben Händen der kranken Welt berührt würden… So unbegreiflich rein, das exakte Gegenteil von diesem Ort. Und genau darum… will ich sie… so sehr. Irgendwann, Sodalith, irgendwann… füge ich die zwei Teile, die doch von Anfang an dazu bestimmt waren, zusammenzugehören, aneinander. Irgendwann werde ich ganz. Und er auch. __________________________________________ Der GHS-Charakter Angel Dog spielt hier eine eher untergeordnete Rolle, was eigentlich nicht so geplant war, aber wer kennt das nicht? Von irgendwoher kommt ein Impuls und schon werden sämtliche Konzepte über den Haufen geworfen. Ich hoffe, dass der OS trotz mangelndem Engagement Angel Dogs als WB-Beitrag durchgeht? >x< Ich bin außerdem unzufrieden, mehr noch als beim ersten OS. Keine Ahnung, woran es liegt, aber nach fünfmal Überarbeiten hatte ich dann doch die Nase voll und dachte mir; komm, lad hoch, kann nur schief gehen! xD Nahezu alles, was hier passiert, ist reine Spekulation und was davon dem wirklichen Konzept nahe kommt oder der Länge nach fehlinterpretiert ist, das kann nur Raku sagen. Ich hoffe eigentlich nur, dass ich es nicht brutal übertrieben habe und einen Schlag auf den Hinterkopf von ihr kassiere. :‘3 Die Möglichkeit auf eine sechste Generalüberholung will ich jedenfalls nicht ausschließen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)