Time to remember von seththos ================================================================================ Kapitel 53: Verräter und Spion ------------------------------ Dennoch verstrichen noch mehrere schweigsame Minuten, in welchen Jono stumm auf die letzten verglimmenden Reste seiner Haare sah. Tiefe Stille umgab sie. Gleich einer Tunika, gewebt aus schwarz gefärbtem Stoff, schluckten die dunklen Mauern um sie herum beinahe jedes Licht. Trotz der brennenden Mittagssonne, die um diese Zeit hoch am Himmel stand, war es angenehm kühl hinter den dicken Mauern des Tempels. Ein tiefer lang anhaltender Ton bahnte sich seinen Weg durch die Gänge des Allerheiligsten. Das Signal für alle Priester, sich im Hypostil zu versammeln, wo um diese Zeit ein Ritual zur Ehrung des Horus beginnen würde. Jono wusste um die Bedeutung des Signals, hatte er sich doch in Kindertagen oft genug um diese Zeit von Seth verabschieden müssen. Alle anderen Anwesenden im Tempel würden der Zeremonie beiwohnen. Dies war der Moment, auf den er gewartet hatte. Das, was er zu erzählen hatte, ging niemanden sonst etwas an. Ohne, dass er ihn dazu auffordern brauchte, legte Seth, begleitet von einer kurzen Handbewegung und einem gemurmelten Befehl, einen magischen Bann über das Sanktuar. Ein zusätzlicher Schutz, um ungebetene Zuhörer vom Eintreten abzuhalten. Der Heeresführer war dankbar für das unsichtbare Band, welches sich in nur drei Wochen Reise zwischen ihnen gesponnen hatte. Es bedurfte nicht mehr vieler Worte, um sich miteinander zu verständigen. Leise begann er zu erzählen. „Meine Mutter war tot. Adham ebenfalls. Ich brauchte nur in das Gesicht von Aset zu sehen, um zu wissen, was sie von mir dachte. Die Dorfbewohner hatten mich schon immer gehasst. Da meine Mutter jedoch nicht mehr in der Lage war, ihre schützende Hand über mich zu halten, war ich ein Ausgestoßener und in ihren Augen … ein Mörder. Doch was das alles für mich bedeutete, begriff ich erst später. Ich rannte damals zum Fluss, wollte mir das Blut meiner Mutter und von Adham von den Händen und von meinem Körper waschen.“ Er sah auf seinen Unterarm, an welchem das frische Blut langsam trocknete. Bezeichnend hielt er ihn so, dass Seth die rote Kruste, die sich bildete, deutlich sehen konnte. „Es ging kaum ab. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich damals in dem Wasser stand, aber immer wieder schien neues Blut an meinen Händen zu kleben. Es dauerte, bis ich verstand, dass ich selbst auch verletzt war. Durch das Reiben meiner Haut, hatten sich die Wunden wieder geöffnet und neues Blut floss nach. Irgendwann wurde es dunkel und ich hörte auf, mich zu waschen. Aus dem Dorf konnte ich Stimmen hören. Aset, wie sie die Leute zusammenrief und von den Feldern holte. ‚Findet ihn!‘, ‚Tötet ihn‘, ‚Er hat Adham und seine eigene Mutter getötet!‘, schrien sie durch die Gegend. Ich versteckte mich im Schilf. Sie rannten an mir vorbei. Drei Tage ging das so. Wenn Horus hoch am Himmel wanderte, versteckte ich mich, des Nachts schlich ich ins Dorf, um mir Kleidung und etwas zu Essen zu stehlen. Dann…“ Eine kurze Pause folgte. Seth hielt sich mit Fragen zurück. Er wusste einfach, dass Jono ihm diesmal die ganze Wahrheit erzählen würde – auch ohne, dass er danach fragen musste. Der Blonde setzte erneut an. „Dann haben sie Adham und Mutter draußen in der Wüste begraben. Ich habe sie aus der Ferne beobachtet. Anschließend versteckte ich mich noch mehrere Wochen in der Nähe des Dorfes. Eine Höhle, weiter östlich, bot mir Schutz.“ Seine Augen schweiften in eine längst vergessene Zeit, die er am liebsten ganz aus seiner Erinnerung getilgt hätte. „Ich war noch ein Junge. Zu schwach, um allein die Wüste zu durchqueren und zur nächsten Stadt zu gelangen. Also blieb ich in der Nähe des Dorfes, auch wenn ich nicht wagen konnte, mich dort sehen zu lassen. Wenn ich Hunger hatte, stahl ich und wenn ich Durst hatte, schlich ich mich im Schutz des Schilfes zum Fluss. Ich kann nicht sagen, dass man das Leben nennen konnte. Ich habe geatmet, aber ich denke, die meiste Zeit war ich dem Tod näher als dem Leben. Nicht nur einmal habe ich mich gefragt, ob Mutter damals nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hat. Ob die Götter mich nicht vielleicht doch lieber tot sehen wollten und dies alles die Strafe dafür war, dass ich damals nicht schon geopfert worden bin.“ Nachlässig zuckte er mit den Schultern. „Letztlich ist es egal. Ich wollte am Leben sein. Also habe ich gekämpft. Keine Ahnung warum. Vielleicht wegen dir.“ Mit einem schwachen Grinsen sah er zu Seth, ehe er zur Anubis-Statue hinaufblickte. Seine Stirn legte sich in Falten, als er an das dachte, was danach geschehen war. „Im Laufe der Wochen konnte ich einige Priester in Begleitung von Dorfbewohnern beobachten. Sie stellten rings um das Dorf Fallen auf. Damals gab es in dieser Gegend viele Schakale, die nicht nur einmal das Vieh der Dorfbewohner angriffen. Im Laufe der Zeit wurden viele von ihnen eingefangen und hier“, er deutete auf den flach polierten Stein, „geopfert.“ Kopfschüttelnd deutete Jono auf die große Statue und den schwarzen Schakalkopf. „Dies ist der Tempel des Anubis. Die Schakale sind sein Ebenbild. Er ist ihr Schutzgott.“ Höhnisch lachte er auf. „Und diese Menschen hier glauben tatsächlich, dass sie Anubis EHREN würden, indem sie seine Kinder, sein Ebenbild töten und ihn als Opfer darbringen?“ Offenbar konnte er dieser verdrehten Vorstellung bis heute nichts abgewinnen. Seth schwieg. Als Priester, welcher in diesem Tempel aufwuchs, war er mit den Riten vertraut, vertrat jedoch insgeheim eine ähnliche Meinung. „Der Gedanke dahinter hat sich mir schon damals nicht erschlossen. Also habe ich sie, wenn ich einen von ihnen fand, wieder freigelassen. Vielleicht tat ich es auch, weil sie mich irgendwie an mich selbst erinnert haben. Geboren, gejagt, getötet, geopfert und zwischendurch der ständige Kampf, am Leben zu bleiben… Ich kann nicht sagen, dass sich auch nur einer von ihnen je bei mir bedankt hätte…“, stellte er lächelnd fest. Im Stillen dachte er an die vielen Bisse und Verletzungen, die er damals davongetragen hatte. An der einen oder anderen Stelle hoben sich noch immer deutlich sichtbare Narben von seiner sonst eher hellen Haut ab.   „… aber sie sorgten indirekt dafür, dass ich danach immer etwas zu Essen hatte“, beendete er seine Ausführung. Den fragenden Blick von Seth richtig deutend, setzte Jono erklärend hinzu: „Irgendwann bin ich auf ein ganzes Rudel gestoßen. Sie jagten und fraßen gemeinsam. Nach ein paar Wochen stellten sie wohl fest, dass ich keine Gefahr für sie darstellte. Sie begannen, mich in ihrer Nähe zu dulden. Mit der Zeit war es für mich immer gefährlicher geworden, in das Dorf zu schleichen. Ich fing an, das Fleisch zu essen, das die Schakale am Ende ihres Beutezuges übrig ließen. Nach und nach gelang es mir, selbst Fallen zu basteln und ein paar Kleintiere zu jagen. Hasen, Mäuse und ab und zu, mit etwas Glück, auch mal eine Gazelle oder ein paar Fische. Keine Ahnung, wann es begann, aber als ich es besser beherrschte, fing ich an, meine Beute mit den Schakalen zu teilen. So, wie sie es zuvor mit mir getan hatten.“ „Dann waren die Schakale, denen wir nahe der Oase begegnet sind…“, setzte Seth an, wurde aber von Jono unterbrochen. „Nein. Und ja. Es ist schon viele Jahre her, seit ich Teil des Rudels war. Die meisten Tiere dürften längst gestorben sein. Aber vielleicht… hat ihnen ja Anubis einen kleinen Hinweis gegeben?“, fügte er nachdenklich hinzu. Seth nickte nur. Er glaubte an die Götter. Und wenn Jono vormals dazu beigetragen hatte, das Leben der Schakale zu erhalten, so hatte sich Anubis womöglich auf diese Weise dafür bedankt. „Irgendwann begriff ich wohl“, fuhr Jono fort, „…dass es so nicht weitergehen konnte. Ab und zu zogen Handelskarawanen am Dorf vorbei, handelten mit Vieh oder Stoffen. Ähnlich der Männer und Frauen, mit denen wir hierher kamen. Lange Zeit hatte ich zu viel Angst, mich ihnen anzuschließen, da auch einige der Dorfbewohner im Schutz dieser Karawanen zur nächsten Stadt reisten. Die Gefahr, erkannt zu werden, wäre zu groß gewesen. Allerdings hatte ich auch nicht vor, den Rest meines Lebens in der Wüste zu verbringen. Also beschloss ich, der Karawane in einigem Abstand zu folgen.“ Um Verzeihung bittend, sah Jono zu ihm auf. „Der Tag, an dem ich zum letzten Mal zu dir kam, war der Tag der Abreise. Ich wollte dich noch einmal sehen, mich von dir verabschieden…“ Stille. „Aber ich konnte es nicht.“ Seine Brust zog sich zusammen, als er an den kleinen Seth von damals dachte. Er war immer darauf bedacht gewesen, ihn nicht spüren zu lassen, was ihm bis dahin alles wiederfahren war. Der kleine braunhaarige Junge war immer der Einzige gewesen, der ihn nie gescholten, geschlagen oder verraten hatte. Sie hatten sich kennengelernt, als er erst sechs Jahre alt gewesen war. Damals war er aus der Not heraus über die Mauer geklettert, um für seine Mutter und sich etwas Essbares aufzutreiben. Von Seth beim Klauen erwischt zu werden, hatte ihm einen großen Schrecken beschert. In Gedanken hatte er damals bereits die Schläge von Adham gespürt und sich selbst auf dem Altar liegend gesehen, während jemand anderes ihm die Kehle durchschnitt. Adham hatte ihm eingeprügelt, dass dies genau das war, was eines Tages mit ihm geschehen würde, wenn er noch einmal klaute oder nicht still war, wenn er sich an ihm verging. Aber Seth hatte ihn damals nicht verraten. Im Gegenteil. Er hatte ihm sogar noch beim Pflücken geholfen und ihm angeboten wieder zu kommen, wenn er Hunger habe. Jono, der solche freundlichen Worte damals nur von seiner Mutter gekannt hatte, hatte die Flucht ergriffen. Und doch hatte es ihn danach immer wieder zum Tempel gezogen. Heimlich hatte er in den Bäumen darauf gewartet, dass Seh seine Arbeit im Garten aufnahm. Er nahm an, dass der junge Priesteranwärter ihn damals sicher zwischen den Ästen gesehen haben musste, doch er hatte nie etwas gesagt. Aber immer, wenn er gegangen war, hatte er wie zufällig zwei oder drei reife Äpfel im hohen Gras am Mauerrand abgelegt, wo die anderen Priester sie nicht sehen würden. Es hatte einige Zeit gedauert aber irgendwann hatte er Vertrauen zu dem Jungen gefasst und angefangen, mit ihm zu sprechen und zu spielen. Was ‚spielen‘ hieß, hatte er bei anderen Kindern des Dorfes gesehen. Heimlich, hinter einer Ecke versteckt. Er selbst hatte nie dazu gehört. Ein Gefühl, das ihn mit Seth verbunden hatte. Auch der junge Priesteranwärter hatte auf dem großen Tempelgelände niemanden gehabt, der mit ihm zusammen gelacht hätte. Wahrscheinlich hatten sie sich deshalb so gut verstanden. „Verstehst du, Seth? Ich wusste, ich würde hier nicht überleben. Ich wusste, dass wir uns wahrscheinlich nach diesem Tag nie wieder sehen würden… aber ich wollte auch nicht ‚Lebewohl‘ sagen. Vielleicht, weil ich trotzdem immer die Hoffnung hatte, dass wir uns doch eines Tages wiederbegegnen würden.“ „Du hättest mir wenigstens sagen können, was geschehen ist.“ Ehrliches Bedauern lag in den Augen des Heeresführers. „Du warst 12, Seth. Es hätte nichts geändert, wenn du es gewusst hättest. Selbst die Priester haben anfangs nach mir gesucht, um mich zu töten. Du hättest mir nicht helfen können.“ Er sah Seth an und wusste, dass er seine Beweggründe verstehen konnte. Noch immer hielt er das Messer in der Hand, mit dem er seine Haare durchtrennt hatte. Ohne Hast legte er es auf den Opferstein und stützte seine Hände auf die kalten Kanten des Sockels. In Erinnerungen versunken, dachte er an das letzte Mal, als er an dieser Stelle gestanden hatte. „Nachdem ich dich im Garten verlassen hatte, kam ich hierher. An diesen Ort. Es war zur selben Zeit. Ihr wart alle draußen. Hier drinnen war alles so… ruhig. Leise. Ich schlich in diesen Raum und schloss einen Handel mit Anubis.“ Skeptisch wanderten beide Augenbrauen von Seth fast bis zum Haaransatz. Niemand schloss einen ‚Handel‘ mit den Göttern. Man konnte die Götter um etwas bitten oder sie anflehen, einem zu helfen - doch niemand würde je auf die Idee kommen, mit ihnen wie mit Händlern zu feilschen. Doch er sagte nichts. „Ich bat Anubis darum, eines Tages hierher zurückkehren zu dürfen, um dich noch einmal wiederzusehen. Im Gegenzug schwor ich ihm, dass er der einzige Gott sei, dem ich je dienen würde, wenn er es zuließe. Das hier“, bezeichnend griff er in seine nun kurzen Haare, „ist mein Dank an ihn, das er seinen Teil des Handels eingehalten hat. Ein Teil von mir, ihm zu Ehren.“ „Man kann mit Göttern nicht verhandeln“, ließ Seth ihn wissen. „Und doch habe ich dich wiedergesehen und bin hierher zurückgekehrt“, wies Jono die Belehrung von sich. Dem hatte Seth schwerlich etwas entgegenzusetzen. „Und die 12 Jahre danach?“, erkundigte er sich stattdessen. „Der Rest ist eigentlich relativ schnell erzählt. Ich folgte der Karawane. Lange Zeit ging es gut, doch bei der Ankunft in einer der Oasen, war ich unvorsichtig. Man entdeckte mich und wie ich es befürchtet hatte, erkannten mich zwei der mitreisenden Dorfbewohner. Sie forderten meinen Tod und ihre Bitte wurde ihnen, nachdem man sie angehört hatte, gewährt.“ Ein Schnauben voller Missbilligung ertönte aus Seths Richtung. „In der Wüste sind die Reisenden einer Karawane bisweilen Ankläger und Richter in einem. Niemand kann es sich leisten, sein Essen mit einem Mörder zu teilen, nur um ihn erst in der nächsten Stadt oder vom Pharao richten zu lassen.“ Während er weiter berichtete, bückte sich Jono und begann die goldenen Ringe von seinen Fußgelenken zu lösen. „Doch ich hatte, wenn man so wollte, Glück. Syrier überfielen, kurz nachdem man mich entdeckte, die Karawane. Sie töteten alle. Ich selbst lag noch immer gefesselt im Wüstensand. Im Gefolge der Männer gab es einige der Söldner aus dem Norden. Ich hatte bis dahin noch nie einen gesehen und kannte sie nur aus den Beschreibungen meiner Mutter. Damals verstand ich ihre Sprache noch nicht, aber da ich ohnehin längst zum Tode verurteilt worden war und sie alle anderen Karawanenmitglieder töteten, rechnete ich nicht damit, dass sie mich am Leben ließen. Doch genauso kam es. Heute denke ich, dass es mein Haar war, das mich rettete. Es war genauso hell, wie das der Nordmänner. Sie lösten meine Fesseln und redeten auf mich ein. Ich verstand sie nicht, also sagte ich nichts. Später hielten sie mich wohl für stumm.“ Das Rascheln der Kleidung zeugte davon, dass Jono sich wieder aufrichtete. Nachdem er die zwei gelösten Ringe auf den Rand des Opfersteins gelegt hatte, machte er sich daran, auch die zwei Reife an seinen Handgelenken zu öffnen und abzustreifen. Als schmerzten die Stellen, an denen er die Ringe so lange getragen hatte, massierte Jono die freigelegte Haut kurz, ehe er, seine Handflächen zurückgebogen, Seth die Unterarme entgegenhielt. Der Hohepriester atmete scharf ein. Auf der Innenseite beider Handgelenke prangten, auf ewig eingebrannt, verschiedene Muster und Symbole. Nachdem Seth sie eingehend studiert hatte, schob Jono zusätzlich den Stoff seiner Tunika hoch und entblößte auf der jeweiligen Außenseite seiner Fußgelenke zwei nahezu identische Muster. „Du warst einer von ihnen?“, hakte der Hohepriester sicherheitshalber noch einmal nach. Seth wusste, dass Zeichen wie diese, syrischen Kindern eingebrannt wurden, sobald diese sich selbst als Mann bewiesen. Es waren Hinweise auf den jeweiligen Stamm, dessen Rang und sein Name. Sollte er im Kampf getötet werden, konnte man einen Mann mit Hilfe dieser Symbole und Muster wiedererkennen und seine Angehörigen informieren. Jono schüttelte den Kopf, während er damit begann, die Ringe nacheinander wieder anzulegen. „Ich bin es noch, Seth. Ich habe nie aufgehört, einer von ihnen zu sein.“ Ein Keuchen entrang sich seiner Brust, während Seth wie gebannt auf die goldenen Ringe starrte, welche nun wieder die Zeichen des Verrats verbargen. „Aber wie bist du…“ „Dem Pharao ist bewusst, was ich bin, Seth“, ließ Jono ihn wissen. „Und nun weißt es auch du. Doch niemand sonst darf je davon erfahren.“ Der letzte Ring schloss sich wieder um das rechte Handgelenk. „Die Nordmänner waren damals wohl der Ansicht, ich sei einer der ihren und wäre von den Ägyptern gefangen genommen worden, um mich womöglich auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen. Das ich gefesselt war, war nur ein weiterer Beweis für diese Theorie. Sie nahmen mich mit nach Syrien. Vielleicht war einer der Männer mein wahrer Vater. Ich weiß es nicht. Das werde ich wohl nie erfahren. Ich wehrte mich auch nicht. Ich war am Leben, das war damals alles, was für mich zählte. Wenn man keine andere Wahl hat, dann interessiert es einen nicht, wer einem Essen und Trinken gibt. Es zählt nur das Überleben. Und als einer der ihren haben sie mich auch nicht schlecht behandelt. In Ägypten hatte sich außer meiner Mutter und dir nie jemand um mich gesorgt. Die meisten Ägypter, denen ich bis dahin begegnet war, wollten mich tot sehen. Vielleicht verstehst du also, warum es mir letztlich nichts ausmachte, von da an bei den Syriern zu leben, in deren Obhut mich die Söldner ließen. Auch dort gehörte ich nie dazu. Selbst unter Syriern sind Nordmänner Außenseiter. Doch Syrier erkennen Stärke an und ich, mit der harten Schule, durch die mich Adham geschickt hatte, gewann schnell an Respekt und Ansehen. Sowohl unter meinen Altersgenossen, als auch den Älteren. Schon bald wurde ich als einer der ihren gesehen und zwei Jahre später nahm ich bereits an den ersten Überfällen teil. Manch einer mag es als Ironie sehen, dass ich, der ich nun Ägypten und seine Bewohner schütze, eben jene Bewohner vormals tötete. Aber damals war es mir egal.“ Zögernd, als erwarte er noch immer auf Grund seiner Beichte von Seth zurückgewiesen zu werden, hielt Jono in seiner Schilderung inne. Doch der Hohepriester ließ nicht erkennen, was er von all dem hielt und gab ihm stattdessen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er fortfahren solle. „In den folgenden Jahren kämpfte ich an der Seite der Syrier und der Nordmänner in verschiedenen Schlachten. Nicht nur gegen Ägypten, auch gegen andere Länder. Ihre Sprache und die Sprache der Nordmänner hatte ich schnell gelernt doch ich hielt mich zurück und sagte nie auch nur ein Wort. Es gab nichts, was ich zu erzählen gehabt hätte. Es dauerte eine Zeit, aber da sie merkten, dass sie daran nichts ändern konnten, akzeptierten sie es." Ein Lächeln blitzte auf und war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war. "Manchmal ist es von Vorteil, wenn Leute glauben, man wäre des Sprechens nicht mächtig. Du wärst erstaunt, wie viele davon ausgehen, dass der Verlust der Sprache in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Fähigkeit des Hörens steht. In meiner Nähe sprachen viele über Dinge, die sie andernfalls wohl zurückgehalten hätten. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie nicht glaubten, ich könne das Gehörte jemandem erzählen. Wer weiß?" Jono schüttelte den Kopf über diesen Irrglauben. "Doch letztlich hatten sie ja auch nichts von mir zu befürchten. Ihre Geschichten scherten mich nicht. Letztlich wäre wohl auch alles so weitergegangen, wenn nicht der Herrscher Syriens einen Krieg mit Ägypten begonnen hätte. Zuvor hatte es stets nur kleinere Gemetzel und Überfälle am Rande der Grenze gegeben. Doch mit einmal ging es um viel mehr. Als einer der besten Kämpfer wurde ich ausgewählt, mit einigen anderen einen Hinterhalt gegen den Pharao zu planen. Damals hielten sich ein paar syrische Spione im Palast auf, welche berichteten, dass Atemu mit einem Teil seiner Armee auf dem Weg zur syrischen Grenze sei, um einen Überraschungsangriff zu wagen und die Truppen zurück zu schlagen. Auch innerhalb der Armee gab es Spitzel, so dass die Syrier immer über die Truppenbewegungen informiert wurden. Schließlich fand man einen Ort, an deren Durchquerung es ein Leichtes sein würde, den Pharao zu überwältigen und zu töten.“ Bezeichnend sah Jono den Hohepriester an. „Pelusium.“ Eine kleine Stadt, nah am Mittelmeer gelegen. Kurz hinter ihr eröffnete sich die Weite der Wüste Sinai und das Gebiet der Syrier.   „Damals wurde ich ausgewählt, Atemu umzubringen.“ Seths Augen weiteten sich, doch er unterbrach den Kleineren nicht. „Ich schlich mich als Rekrut in die Armee ein. Inzwischen waren blonde Haar nicht mehr so auffällig wie früher. Einige Söldner hatten die Seiten gewechselt. Niemand schöpfte Verdacht. Die Zeichen an meinen Armen und Händen verband ich und konnte mich auf diese Weise unerkannt innerhalb der Armee bewegen. Neben mir gab es natürlich sicherheitshalber auch noch andere, die meine Aufgabe vollenden würden, sollte ich versagen. Mein Auftrag war es, Atemu genau im Auge zu behalten und eine Möglichkeit zu finden, mich ihm zu nähern und zu töten. Doch je länger ich ihn beobachtete, desto mehr stellte ich fest, was für eine Art Herrscher er war. Sein Ansinnen war anders als das des syrischen Herrschers. Er kämpfte nicht, um das Reich zu vergrößern oder um mehr Macht zu erlangen, sondern um die Menschen in seinem Land zu schützen. Irgendwann im Verlauf der zahlreichen Wochen musste das dazu geführt haben, dass sich mein Entschluss änderte – auch wenn ich selbst vermutlich der Letzte war, der es bemerkte.“ Noch immer hatte Jono die Nacht, in welcher es ihm gelang, sich in das Zelt von Atemu Zutritt zu verschaffen, klar vor Augen. Es war sehr dunkel gewesen, doch die zahlreichen Fackeln hatten für genügend Licht im Lager gesorgt. Der Standort auf einem kleinen Hügel war gut gewählt worden, da dieser einem einen guten Überblick über die umliegende Gegend bot. Sein Verdienst war es gewesen, dass der junge Mann, welcher Atemu sonst das Obst anreichte … nicht mehr auffindbar war. Mit Hilfe von Bestechung und mehreren kleinen Gefälligkeiten zur rechten Zeit, war er selbst an die Stelle des Dieners getreten. Auf diese Weise hatte er ohne größere Schwierigkeiten bis in das Zelt des Pharaos vordringen können. Voller Demut war er vor Atemu auf die Knie gegangen, hatte die Schale abgestellt und noch in der rückläufigen Handbewegung ein Wurfmesser aus den Falten seiner Kleidung gezogen. Ohne das Entsetzen in den Augen der Umstehenden zu beachten, hatte er das Messer geworfen und dem ersten ohne zu zögern noch zwei weitere folgen lassen. Das Geschrei war groß gewesen. Doch nicht eines hatte sein Ziel getroffen. Es vergingen nur Sekunden, ehe man ihn von hinten packte und zu Boden rang. Ein Chepesch, welches über ihm niederzugehen drohte, hatte seinem Leben umgehend ein Ende setzen sollen. Damals drang nichts, was ihm in dem Moment geschah, in sein Innerstes vor. Er beobachtete all das wie aus weiter Ferne. Mehr Zuschauer, statt Beteiligter, hatte er den Luftzug wahrgenommen, als das Chepesch nach unten, in Richtung seines Genicks, geschwungen wurde. Gerade im letzten möglichen Moment, hatte die Stimme des Pharaos die lauten, durcheinander schreienden Ausrufe der Umstehenden übertönt und seinen Tod verhindert. Harsche Worte waren gesprochen worden, um die Männer davon abzuhalten, den Kopf von seinen Schultern zu trennen. Atemu erstaunte die Anwesenden, indem er alle nach draußen schickte. Niemand zeigte sich darüber überraschter als Jono. Er, der Mann der Atemu kurz zuvor noch umbringen wollte, befand sich auf einmal allein mit ihm im Zelt. Dem Blonden leuchtete zu diesem Zeitpunkt nicht ein, warum Atemu sich selbst einer solchen Gefahr  aussetzte – musste er doch fürchten, dass Jono nur auf eine zweite Chance wartete, um seine Tat zu vollenden. Gleichwohl man den offenen Widerspruch und das Entsetzen ob dieses Befehls in den Augen der Soldaten und der Bediensteten hatte sehen können, waren seine Worte Gesetz und tatsächlich hatte einer nach dem anderen das Zelt verlassen. Auf Bitte des Pharaos wob einer der Feldpriester einen Schutzzauber gegen ungebetene Zuhörer, ehe auch dieser wieder hinausgeschickt wurde. Erst dann, als Jono und er sich allein im Zelt aufhielten, hatte er sich direkt an ihn gewandt.   Folgerichtig musste er feststellen, dass Jono ihn längst hätte töten können, wenn er es denn wirklich wollte. Bezeichnend hielt er ihm die drei Wurfmesser hin und bis zum heutigen Tag konnte Jono nur den Kopf schütteln, auf Grund dieser offensichtlichen Nachlässigkeit des jungen Pharaos. Doch seine vorschnelle Einschätzung entsprang einer aufmerksamen Beobachtung. Letztlich verunstaltete nicht ein einziger Kratzer das Antlitz des Pharaos – was jedoch keineswegs an seiner mangelnden Treffsicherheit lag. Seine Hand hatte sich wie von selbst geweigert einen Mann umzubringen, dem er nach nur wenigen Wochen mehr Respekt entgegen brachte, als er dem syrischen Herrscher gegenüber je empfunden hatte. Dies vermittelte er auch Atemu, als dieser ihn danach fragte, warum er nicht besser gezielt habe. Anschließend unterhielten sie sich über alles Mögliche – auch über den Plan, Atemu umzubringen, den Hinterhalt in Asyut und die Spione innerhalb der Armee. Er wusste bis heute nicht, woran genau es gelegen haben mochte, dass er Atemu binnen dieser kurzen Sekunden zwischen dem Werfen der Messer und dem Verhindern seines eigenen Todes, mit einmal so viel Vertrauen entgegenbrachte, wie kaum einem Anderen zuvor. Und umgekehrt ebenso. Er wusste es nicht genau, da er in der Magie nicht bewandert war, doch vielleicht hatten die Milleniumsgegenstände des Pharaos ihren Teil zu dieser merkwürdigen Situation beigetragen. Vielleicht sah Atemu schon damals etwas in ihm, was er selbst zu dem Zeitpunkt noch nicht hatte erkennen können. Zumindest versuchte er sich dies noch viele Jahre einzureden, um nicht an dem Gedanken zu verzweifeln, dass es womöglich tatsächlich Menschen gab, die es fertig brachten, dem eigenen Mörder vorbehaltlos und grundlos zu vergeben und zu vertrauen. Noch in der Nacht beschlossen sie gemeinsam, dass Jono offiziell und für alle sichtbar gefangen genommen und zum Tode verurteilt wurde. Wie vermutet befreiten ihn einige Syrier später, da er in den voran gegangenen Wochen wichtige Informationen über die Vorgänge innerhalb der Armee sammeln konnte. In der folgenden Zeit ließ er Atemu immer wieder Hinweise zukommen, welche am Ende dazu beitrugen, den Pharao seinerseits ausgezeichnet über die Truppenbewegungen der Syrier zu informieren. Auch die Spione in der eigenen Armee erhielten auf diese Weise nach und nach einen Namen und ein Gesicht für den jungen Pharao. „Wir entschieden uns dazu, die Männer weiter arbeiten zu lassen und sie stattdessen nur noch mit gezielten Informationen zu versorgen, die uns einen Vorteil verschaffen würden.  Nachdem die Grenzen damals erfolgreich verteidigt werden konnten, zog Atemu sich wieder zurück in die Hauptstadt. Ich selbst folgte ihm ein paar Monate später. Aus Sicht der Syrier schlich ich mich abermals in die Armee ein und arbeitete fortan als Spion für sie. Allein Atemu weiß, woher ich meine Informationen beziehe.“ „So hast du von dem geplanten Attentat auf Atemu vor ein paar Wochen erfahren.“ Der Blonde nickte bestätigend. „Im Verlauf der nächsten Jahre habe ich Atemu und diverse Hohepriester“, angelegentlich sah er in die Richtung von Seth, „vor Angriffen dieser und andere Art bewahrt. Meine Erfahrungen als Söldner in der syrischen Armee führte zudem zu einem besseren Verständnis von deren Taktiken. Nicht zu sprechen von den Kampftechniken, die ich mir nicht nur von den Syriern, sondern auch den Nordmännern und Ägyptern aneignete. Jetzt, nach all diesen Jahren, gibt es nur noch wenige, die in einem Kampf auf Leben und Tod ohne Magie gegen mich bestehen könnten.“ „Darum bist du also so sehr darauf bedacht, dass nicht einmal deine eigenen Soldaten wissen, wer sich hinter dem ‚Roten Schakal‘ verbirgt“, fasste Seth zusammen. Ein Senken des Kopfes bezeugte, dass der Hohepriester die richtigen Schlüsse gezogen hatte. „Mit jedem Menschen, der weiß, wer sich hinter Anoubis verbirgt, vergrößert sich die Gefahr, dass man auch mir falsche Informationen zukommen lässt und mich benutzt, um Atemu zu schaden.“ „Nicht zu sprechen von der Gefahr für dein eigenes Leben.“ Ein unwilliges Schnauben machte deutlich, wie hoch Jono sein eigenes Leben schätzte. Seth ahnte, dass kaum etwas in der Lage wäre, den Jüngeren von seiner vorgefassten Meinung abzubringen. Für Außenstehende war es leicht ersichtlich, dass es viele Menschen gab, welchen an einem Weiterleben Jonos sehr gelegen war. Pharao Atemu, seine Mutter, die ihr Leben für ihn gegeben hatte, sowie viele seiner Soldaten – allen voran Ilai – waren nur einige  der vielen. Ganz zu schweigen von ihm selbst. Eine Zeit lang kehrte Stille in das Allerheiligste ein. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst, als sich der Gesang der Priester auf leisen Sohlen in die Gemächer des Anubis schlich, wurden sie wieder der Zeit gewahr, welche seit ihrem Eintreten verstrichen war. Die Gebete waren beendet. Mit einem letzten Blick auf die heilige Statue des Anubis wandten sich beide im stillen Einvernehmen ab und strebten dem Ausgang entgegen. Dort angekommen hob Seth kurz die rechte Hand und vollführte eine schlingernde Handbewegung, als würde eine Schlange sich durch die Dünen der Wüste gleiten lassen. In Begleitung eines kurzen magischen Befehls folgte der Sand zu ihren Füßen, welcher den ganzen Boden des Allerheiligsten bedeckte, der Bewegung. Kaum sichtbar für das Auge, wirbelten die feinen Körnchen auf und ordneten sich neu. Alle Fußspuren verschwanden und damit auch jeder Beweis, dass Jono oder er diesen Ort betreten hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)