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Time to remember

von

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Friedliche Schulzeit

Der Frühling kam. Krokusse. Sie waren ein paar der ersten Boten, die sich zaghaft in einigen Ecken und Nischen der Stadt bemerkbar machten, um mit ihren kleinen bunten Knospen die neue Jahreszeit zu verkünden. Sogar die Vögel pfiffen es fröhlich von den Dächern … ohne sich um den noch stellenweise vorhandenen Schnee zu kümmern.  
 

„Guten Morgen meine Damen und Herren.“

Forsch schritt Frau Kurami in das Klassenzimmer, wobei sie arg damit zu kämpfen hatte, einigen der anwesenden Schülern auszuweichen. Nicht jeder schien bis jetzt das Schulklingeln für voll genommen zu haben und vor allem Joey Wheeler und Tristan wurden daraufhin mit einem strengen Blick der Lehrerin zur Ordnung gerufen. Leicht schuldbewusst stellten auch die zwei letzten Nachzügler sich hinter ihre Stühle und erwiderten murmelnd den morgendlichen Gruß.  
 

„Kommen wir gleich zur Sache: Ihre Arbeiten sind korrigiert und ich muss sagen, dass ich dieses Mal im Großen und Ganzen einigermaßen zufrieden bin. Selbst die etwas Lernfauleren unter Ihnen, scheinen sich endlich damit abgefunden zu haben, dass schon in Kürze ihr nächstes und letztes Schulhalbjahr anbrechen wird und sie somit in der Lage sein sollten, einen vernünftigen Abschluss vorzuweisen.“
 

Leicht gelangweilt sah Joey aus dem Fenster. Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie von Frau Kurami als auch von etlichen anderen Lehrern auf das baldige Ende ihrer Schulkarriere hingewiesen wurden. Mittlerweile konnte er viele der Sprüche auswendig und wenn er sich einmal in der Klasse umsah … Tea kontrollierte ihren frischen Nagellack, Kiris schien unter der Bank eifrig in einem spannenden Buch zu blättern, Tristan sah höchst interessiert aus dem Fenster und selbst Yugi kritzelte gelangweilt auf einem seiner Blätter herum … erging es nicht nur ihm so.  Müde ließ er seinen Blick auch kurz zu Kaiba schweifen, welcher eine Bankreihe links hinter ihm am Fenster saß, und stumm nach vorne sah. War ja klar. Grinsend schüttelte Joey den Kopf. Herr Direktor kam selbstverständlich auf Grund seines guten Rufes nicht drum herum, wenigstens ein wenig Aufmerksamkeit zu heucheln – auch wenn Joey hätte wetten können, dass dessen Augen zuweilen doch recht abwesend wirkten. Wahrscheinlich war er in Gedanken schon wieder bei irgendwelchen Zahlenkolonnen und Firmenübernahmen … oder, dachte er grinsend … bei einer seiner neuesten technischen Entwicklungen.  
 

Gerade wollte Joey seinen Kopf wieder abwenden, als Kaiba ihn offensichtlich aus dem Augenwinkel heraus bemerkte. Die Augenbrauen leicht zusammengezogen, sah er zu ihm hinüber. Ohne, dass ein Laut über seine Lippen kam, meinte er: „Was willst du, Köter?“

Mit einem kurzen versichernden Blick zur Lehrerin, welche noch immer bei der Besprechung der Klausurergebnisse zu sein schien, widmete er sich wieder seinem Lieblingsfirmenchef. Ebenso lautlos, jedoch mit einem frechen Grinsen im Gesicht, meinte er: „Du hast da was…“
 

Mit einem Glitzern in den Augen, deutete er mit seinem linken Zeigefinger auf seine eigene Nase. Ein wenig irritiert, jedoch zu stolz um dies nach außen hin zu zeigen, glätteten sich die Falten auf Kaibas Stirn wieder, ehe er reflexartig zu seiner Nase griff und dezent darüber rieb. Joeys Grinsen wurde noch ein wenig breiter. Sobald Kaiba, inzwischen wieder ohne Hand an seiner Nase, zu ihm hinüberblickte, schnipste Joey ihm ein in der Zeit angefertigtes Zettelchen zu. Schmunzelnd konnte der blonde Junge beobachten, wie der andere es – unbemerkt von der Lehrerin – entfaltete. Es brauchte einen Moment, ehe die entsprechende Reaktion seitens des Älteren eintrat. Mit leicht gereiztem Blick, sah Kaiba zu seinem Kontrahenten, ehe er sich wieder dem Schnipsel zuwandte und etwas Kurzes dazu kritzelte.
 

Kaum, dass die ‚stille Post’ ihren Weg wieder zu ihrem eigentlichen Urheber gefunden hatte, begann dieser interessiert zu lesen. Sich Innerlich zu seinem Einfall beglückwünschend las er noch einmal kurz das zuvor Verfasste durch. „Ach, sorry Großkotz – war doch nur deine Eitelkeit, die sich da auf deiner Nase festgesetzt hatte.“ Knapp darunter, in der eleganten Handschrift Kaibas: „Lieber ein wenig Eitelkeit im Leben, als wie ein verwahrloster Köter in dreckigen Mülltonnen herumzuschnüffeln.“ Er hatte gerade diesen empörenden Satz gelesen, als mit einmal Frau Kurami vor ihm auftauchte, um ihm einerseits mit Schwung seine Klausur auf den Tisch zu knallen und andererseits den kleinen Zettel zu entreißen und in der rechten Hand zu zerknüllen.
 

„Herr Wheeler. Auf Grund dessen, dass sie anscheinend in der Lage sind, sich auf das Schreiben kleiner Zettel zu konzentrieren, nicht aber auf das Korrigieren Ihrer Klausur, nehme ich an, dass sie mittlerweile dazugelernt haben.“ Mit dem Fuß auf dem hellen Boden tippend und verschränkten Armen, bat sie ihn nach vorne, um eine der nächsten Aufgaben in korrekter Weise anzuschreiben. Genervt und müde drehte Joey seine Klausur kurz auf den Rücken, um somit nicht allen sein Ergebnis bekannt zu geben – vor allem nicht Kaiba – und machte sich auf den Weg an die Tafel. Dort schaffte er es mit viel Kraft und Überwindung ein paar der Aufgaben absolut falsch zu lösen, ehe er von der Lehrerin entlassen wurde. Resigniert ließ sich der junge Mann daraufhin wieder auf seinen Stuhl sinken und kam mit dem Kopf gähnend auf seinem Pult zum Liegen. Die Arme verschränkt, war er mittlerweile nicht einmal  gewillt, Kaiba noch auf seinen dummen Spruch zu antworten sondern entglitt langsam ins Traumland – Ägypten rief nach ihm, wie schon in vielen Nächten.  
 

Kaiba indes kam nicht umhin, sich über die in letzter Zeit häufig zur Schau getragene Müdigkeit des Kleineren zu wundern. Sicher. Joey verschlief häufig. Er kam oft zu spät. Auch früher war er schon hin und wieder eingeschlafen, allerdings hielt sich das noch in Grenzen. Mittlerweile geschah es beinahe täglich! Er hatte noch nicht einmal auf seinen kleinen ‚Brief’ geantwortet. Seltsam. Aber gut. Seit wann interessierte es ihn eigentlich, was der Köter nachts trieb? Er hatte genug eigene Sorgen.  
 

Eine seiner neuesten Entwicklungen trat gerade in die Endphase ein und bekanntlich ging am Ende gern auch das Meiste schief. Obwohl er sich momentan eigentlich nicht beschweren konnte. Im Gegenteil. Seit einigen Monaten lieferte seine Designfirma erstaunlich gute Ergebnisse und auch seine Grafikabteilung schien endlich aus dem Winterschlaf erwacht zu sein. Seit Neuestem hatte er sogar mal wieder Zeit für seinen kleinen Bruder gefunden. Es gab immer weniger, was er an den neuen Programmcodes noch einmal durchzusehen hatte. Auch der digitale Entwurf neuer Duel Monsters lief überraschend gut. Wenn er da an das Chaos im letzten Jahr zurück dachte…  
 

Seufzend schüttelte er innerlich den Kopf. Wie gesagt: Das war letztes Jahr gewesen. Und dieses Mal würde alles glatt laufen. Das spürte er in den Knochen. Es musste einfach. Immerhin wollte er mit Hilfe dieses neuen Projektes auch den einen oder anderen Vertrag abschließen.  
 

Zudem war sein kleiner Bruder auch nicht ohne. Mokuba hatte, keiner weiß wie, irgendwie Wind davon bekommen. Seitdem hatte er ihn beinahe täglich damit bedrängt, ihm etwas von seiner neuerdings übrig gebliebenen freien Zeit zu schenken. Verständlich, wenn man bedachte, dass er vor dem Fortschritt im letzten Jahr wirklich nur noch in Ausnahmefällen – z.B. Geburtstag - etwas mit seinem Kleinen unternommen hatte. Sich äußerlich nichts anmerken lassend dachte er mit Freude an den einen Tag zurück, an welchem er es seit langem sogar einmal wieder geschafft hatte, sich seinen eigenen Vergnügungspark aus der Nähe anzusehen. Dennoch … irgendetwas störte ihn.  
 

Zum einen waren da diese seltsamen Träume über ein verstaubtes – gut, wenn man ehrlich sein wollte, ein eher sandiges – Land und zum anderen …  Verflixt! Zum anderen war da dieser kleine Junge, der in diesen Träumen bis jetzt mehr als nur einmal aufgetaucht war. Er konnte es nicht richtig beschreiben aber immer, wenn er an diese wirren Träume zurückdachte, war es, als hielte er ein Seil aus Seifenblasen in der Hand, welches ihn mit diesem Land und vor allem diesem Jungen verband. Ein Seil, das beim Aufwachen in kleine Wassertröpfchen zersprang und nichts als verschwommene und undurchsichtige Erinnerungen zurückließ. War er wach, konnte er sich nur schemenhaft an den Kleinen erinnern. Von den vagen Umrissen des Körpers ausgehend, müsste er 6 oder 7 Jahre alt sein. Vielleicht auch ein wenig älter.
 

Normalerweise hätte er sich keine Gedanken über diverse merkwürdige Träume gemacht – sie

einfach ignoriert. Nicht, dass er das nicht schon probiert hätte. Je öfter er es zu verdrängen versuchte, desto mehr bekam er das erdrückende Gefühl, dass er etwas Wichtiges – Lebenswichtiges – vergessen hatte, an das er sich besser erinnern sollte. Diese so schwerwiegende Ahnung ließ ihn nicht los und drohte zuweilen beinahe, ihm die Luft abzuschnüren.  
 

Leicht seufzend sah Kaiba wieder zu Joey. Schule war mittlerweile neben seiner Arbeit und Mokuba das Einzige geworden, das ihn von diesem Gespinst aus Verwirrungen und Illusionen ablenken konnte. Aber nicht etwa, weil der Unterricht so überaus spannend gewesen wäre. Nein. Im Gegenteil. Meist wusste er schon beim Beginn eines neuen Themas, dass er den geforderten Lernstoff längst beherrschte. Es waren die Kleinigkeiten in dieser Schule, die ihn auf andere Gedanken brachten. Und diese Kleinigkeiten hießen Joseph Jay Wheeler. Sein Mundwerk, sein Verhalten, seine Ignoranz und … neuerdings sogar seine stetig zunehmende Übermüdung. Denn die machte nicht nur dem Jüngeren zu schaffen – sondern auch ihm. Seit er so oft im Unterricht einschlief waren sie kaum zu einem vernünftigen Streit gekommen.  

Armselig, wer sich darüber aufregte, dass er sich mal nicht mit diesem Köter gestritten hatte. Aber in diesem Fall: Ja. Er war armselig. Immerhin brauchte er jemanden, um sich abzureagieren. Irgendwie musste er ja dieses unterdrückte Chaos in seinem Inneren ablassen und bis jetzt war Wheeler – der wohl am leichtesten zu reizende Junge in seiner Klasse – immer geradezu prädestiniert dafür gewesen. Und er sah nicht ein, warum er sich jetzt, nur auf Grund seiner schlaflosen Nächte, einen neuen Partner zum Streiten suchen sollte. Das kam überhaupt nicht in Frage!  
 

Die Schulglocke ertönte und aufseufzend besah sich die Lehrerin noch einmal ihre unruhige und hibbelige Schülerschaft, ehe sie selbige entließ. Kopfschüttelnd registrierte sie auch einen ihrer größten Sorgenfälle: Joseph Wheeler.
 

Ohne sich weiter um den Köter zu kümmern, schnappte Kaiba sich beim ersten Klingelton seinen Laptop und kontrollierte rasch, ob er die benötigten Speicherkarten eingesteckt hatte, auf denen seine momentane Arbeit – Quellcodes des neuen Programms – gespeichert waren. Mit einem höhnischen Grinsen sah er auf Joey hinunter. Sein Weg zum Ausgang des Raumes führte ihn geradewegs an dessen Platz vorbei. Sich versichernd, das gerade keiner hinsah – was nicht schwer war, da alle sich auf den Weg nach draußen begaben – schnappte er sich die Klausur des blonden Köters.  
 

Mit einem siegessicheren Lächeln drehte er die Blätter um, um einen Blick auf die voraussichtlich miserable Note zu werfen. Gerade wollte er nebenbei schon einen gemurmelten Kommentar in Richtung des ‚Versagers’ abgegeben, als ihm die rote 1,0 ins Auge fiel. Himmel noch mal! Wie hatte der Kleine denn das hingebogen? Entweder, er hatte geschummelt und gespickt was das Zeug hielt … oder …  

Höhnisch sah der Chef der Kaiba Corp. auf den noch immer dösenden Köter hinunter, ehe er diesem mit der Klausur auf den Kopf tippte. Leicht gähnend sah Joey zu ihm auf und registrierte erst kurze Zeit später, WAS Kaiba da in der Hand hielt.  
 

„Gib her, du Arsch“, kam es einigermaßen mies gelaunt von ihm. Den dummen Kommentar, den Kaiba gleich ablassen würde, konnte er sich bereits lebhaft vorstellen. „Na, Köter?! Hast du deine verrosteten Gehirnwindungen doch noch in Schuss gebracht?“ Er hatte es gewusst. Was anderes hatte er von DEM auch nicht erwartet. Dennoch sah er wütend nach oben und schnappte sich, in Erwartung eines weiteren Kommentares,  seine Klausur. Dieser ließ selbstredend nicht lange auf sich warten.
 

„Aber weißt du was, Hundchen? Ich denke, wenn du das Lernen in Zukunft auf vormittägliche Lerneinheiten schieben würdest, anstatt dich nachts mit dem Stoff von vor drei Jahren zu beschäftigen, könntest du sogar noch deinen verfehlten Abschluss aus der sechsten Klasse nachholen.“

Damit warf er dem Kleineren noch einen gehässigen Blick zu, ehe er sich gelassen umdrehte, nur um gleich darauf noch einmal im Schritt zu stocken.

„Erstens Kaiba, kann nicht jeder so ein unverdientes Genie sein und alles einschließlich Wissen, Macht und Kohle mit Löffeln in sich hinein gestopft bekommen und zweitens … woher willst du wissen ob ich mich nachts nicht lieber mit anderen, erfreulicheren Dingen beschäftige, statt einen Stoff zu pauken, den ich bereits mit 10 konnte?“

Triumphierend stand Joey vor Kaiba und hatte - zumindest momentan - endlich  seinen alten Kampfgeist zurück. Herausfordernd blickte er zu seinem ‚Feind’. Dieser schien kurz an akuter Sprachlosigkeit zu leiden, ehe er sich wieder fing und überlegen entgegnete: „Den Stoff, den du mit 10 hattest schaffen wollen, wirst du auch in 10 weiteren Jahren noch nicht gefressen haben. Also kannst du auch abends meinetwegen Gassi gehen, wenn du unbedingt frische Luft brauchst. Denn du hast recht: Du wirst nie auch nur annähernd an mich heranreichen können, Straßenköter. Und nun entschuldige mich. Im Gegensatz zu dir, bin ich wach genug, um am Tage mein Imperium weiter ausbauen zu können.“
 

Gerade wollte Joey etwas Passendes erwidern, als er von seiner Lehrerin unterbrochen wurde.

„Joseph Wheeler! Ich möchte mich einmal mit Ihnen unterhalten.“

Protestierend wandte sich Joey an die mit einem roten Blazer und schwarzem Rock gekleidete Frau, wurde jedoch sofort von Kaiba abgelenkt, welcher sich flüsternd zu ihm gelehnt hatte. „Nun denn, Köter. Lass dir von der netten Dame deine Zukunft prophezeien, auf dass wir uns irgendwann mit deinem IQ eines Streuners an einem Sushistand treffen, an dem du mir mein Essen servieren darfst.“  

Mit diesen Worten und ohne Joseph noch die Möglichkeit zu geben, etwas zu entgegnen, schlenderte Kaiba mit einem leichten Nicken in Richtung besagter Dame vorbei und aus der Tür hinaus. Grummelnd blickte Joey ihm hinterher, ehe er seine Aufmerksamkeit seufzend der jungen Frau zu wandte. Diese sah dem braunhaarigen Mann noch einige schweigende Sekunden nach, ehe sie sich vollends auf Joseph Jay Wheeler konzentrierte.
 

„Gut. Was ich mit Ihnen besprechen wollte…“, stockend hielt sie inne.

Joey schwieg. Er war heute einfach nicht gewillt ihr weiterzuhelfen, indem er vielleicht durch ein verständiges und fragendes "Ja?" sein geheucheltes Interesse ausdrückte. Nachdem Frau Kurami das eingesehen hatte, überlegte sie scheinbar noch kurz, ehe sie entschlossen fort fuhr.

 

„Ich nehme an, du hast deine Klausurnote gesehen?“
 

Ein Nicken. Zögernd tastete Frau Kurami sich weiter vor und benutzte dabei bewusst das persönliche ‚du’, damit dem jungen Mann eventuell klar wurde, dass sie es gut mit ihm meinte.

„Ich kenne dich nun schon, seit du auf diese Schule gekommen bist, Joseph. Ich bin Lehrerin. Seit du hier bist, kann ich sehen, wie wenig dich mein Unterricht – und nach Aussagen meiner Kollegen – auch der Unterricht anderer, zu interessieren scheint. Du kommst regelmäßig zu spät, schläfst im Unterricht ein oder legst dich mit anderen Schülern an. All die Jahre über hatte ich genügend Zeit, meine Schlüsse aus deinem Verhalten zu ziehen und sie in einer gänzlich überraschenden Verbindung zu deinen Noten zu bringen.“

Ohne ein Wort zu sagen sah Joseph sie an, ehe er zum Fenster ging und hinunter auf den Schulhof blickte. Yugi und die anderen hatten sich in der Nähe des Sportplatzes niedergelassen. Die Hände aufgestützt auf das Fensterbrett, sah er durch die geschlossene Scheibe hinunter, hörte der Frau aber weiter zu.

„Korrigiere mich, wenn ich falsch liegen sollte, Joseph. Aber… du bist nicht dumm. Du bist es nie gewesen, nicht wahr? Und ich meine nicht dumm im alltäglichen Sinne. Ich denke, du weißt das.“
 

Ein leichter Seufzer entrann seinen Lippen und Frau Kurami sah, dass ihm diese Unterredung nicht sonderlich behagte. Langsam stellte sie sich neben ihn und blickte ebenfalls hinaus. Die Tür hatte Kaiba vorhin hinter sich zugemacht, von dieser Seite aus war also bis zum Ende der Pause keine Störungen zu erwarten.  
 

Grübelnd sah sie zu ihrem Schüler. Sie mochte Joseph. Er war ein guter Junge, war sogar, seit er mit Muto und einigen anderen in der Klasse Freundschaft geschlossen hatte, erheblich ruhiger geworden. Doch auch wenn sie ahnte, dass die Freundschaft dieser kleinen Gruppe um den jungen Mann sehr tief ging, so glaubte sie doch zu wissen, dass keiner dieser Freunde wusste, wie schlau ihr ‚Kumpel’ wirklich war. Einige stumme Minuten später wandte Joey sich endlich von dem lustigen Anblick seiner Freunde ab – Yugi war mal wieder auf Grund seiner Größe nicht in der Lage, den Ball in den Basketballkorb zu befördern – und fragte: „ICH weiß das. Aber seit wann wissen SIE es?“
 

Froh darüber, dass endlich ein vernünftiges Gespräch zustande zu kommen schien, nahm Frau Kurami den Faden wieder auf. „Oh… schon länger, nehme ich an. Zumindest hatte ich verschiedene Ahnungen. Sicher, du hast nie so gute Noten geschrieben wie z.B. dein guter Bekannter Kaiba. Im Gegenteil. Deine Noten waren miserabel.“

Leicht schmunzelnd sah sie ihn von der Seite an.

„Trotz allem war es beinahe erstaunlich zu bemerken, wie gut du werden konntest, wenn es um deine Versetzung ging. Du hast dir wahrlich Mühe gegeben, das muss ich dir lassen, um es zu vertuschen. Aber jede Prüfung, bei der es drauf ankam, hast du mit einem ‚sehr gut’ bestanden. Und erzähl mir nicht, du hättest vorher jedes Mal gelernt.“

Leicht bedauernd schüttelte Joey mit einem beinahe wehmütigen Lächeln den Kopf.  

„Nein. Ich musste so gut wie nie lernen.“

Interessiert fragte sie: „Weißt du auch warum?“

„Photographisches Gedächtnis. Was ich einmal gelesen oder gehört und gesehen habe, merke ich mir einfach. Nicht steuerbar sozusagen. Funktioniert zwar nicht in allen Lebenslagen, aber so gut wie.“  
 

Leicht verlegen und mit den Schultern zuckend sah er sie an. Und irgendwie konnte sie seine Haltung in diesem Augenblick verstehen. Vermutlich hatte wirklich keiner außer ihr je wirklich etwas mitbekommen und dementsprechend schien es ihm nun beinahe peinlich zu sein, sich so lange verstellt zu haben. Was sie zu der Frage brachte, warum er das überhaupt getan hatte.
 

„Damit habe ich schon angefangen als ich noch klein war. Wissen Sie… ich wollte nicht alleine sein … Ich wollte Freunde, mit denen ich spielen konnte. Aber sie haben mich gemieden. Damals, in der Grundschule. Sie nannten mich einen Besserwisser oder Streber. Und das waren noch die netteren Bezeichnungen. Das war die Zeit, als ich anfing, mich zu prügeln.“

Grübelnd massierte er sich den Nacken, ehe er resigniert weitererzählte.

„War schon komisch, das Alles. Nur um zu zeigen, dass ich nachmittags nicht irgendwo sitze, um zu lernen, begann ich mich immer mal wieder mit jemandem zu prügeln oder zu spät zu kommen. Sie sollten merken, dass ich auch nicht anders bin. Genauso wie alle. Jemand der Unsinn machen kann, der eigentlich nicht gerne lernt… alles so was halt. Aber wissen Sie was?“  

Er drehte sich zu ihr und lehnte sich viel zu fröhlich und schwungvoll ans Fenster.

„Es hat nichts gebracht. Als sie endlich einsahen, dass ich nicht lernte, sondern fast jeden Tag draußen war oder mich sogar öfter vom Unterricht fern hielt… da sahen sie auch ein, dass ich alles aus dem Stehgreif wusste. Dass ich eigentlich gar nicht lernen musste, so wie alle anderen. Sie kamen damit nicht klar… meine Mitschüler… und irgendwie stand ich auf einmal alleine da.“
 

Ruhig und auch ein wenig mitleidig lauschte die schwarzhaarige zierliche Frau dem Bericht. Nicht, ohne zu merken, dass sich hinter dem aufgesetzten Lächeln und der Fröhlichkeit, jemand verbarg, der sich anscheinend schon als Kind dazu gezwungen sah, sein Licht unter den Scheffel zu stellen.
 

„Als meine Eltern sich dann trennten, zog ich mit meinem Vater hier in die Nähe und kam in eine neue Schule. Da lernte ich Tristan kennen. Und mit Beginn dieses neuen Abschnitts entschloss ich mich, von jetzt an mit meinem Wissen ein wenig kürzer zu treten. Daher weiß eigentlich auch niemand davon. Außer vielleicht ein paar meiner alten Schulkameraden, die sich allerdings mit Sicherheit nicht mehr daran erinnern können.…“

Joseph hielt inne. Seine Geschichte war erzählt und er hatte nicht vor, dem noch groß etwas hinzuzufügen.  

„Aber mittlerweile hast du hier an der Schule doch, wie ich denke, gute Freunde gefunden… Warum…?“
 

Er unterbrach sie. „Warum ich es Ihnen nicht gesagt habe? Ich weiß nicht. Vielleicht ist das Alles hier schon zu tief verwurzelt … vielleicht habe ich aber auch nur überlegt, wie das denn aussehen würde, wenn ich eines Tages zu ihnen gehe und ihnen mal die Relativitätstheorie auseinander nehme. Nein. Ich bin froh, dass sie mich so akzeptieren, wie ich jetzt bin. Und so … sollte es auch bleiben.“
 

Irgendwie konnte sie ihn mit einmal besser verstehen. Kein Wunder, dass er in ihrem Unterricht einschlief. Er hatte sich wohl schlicht gelangweilt. Ein leichtes Lächeln zierte nun ihr Gesicht, als sie das Gespräch auf den Punkt brachte.
 

„Ich gehe also davon aus, dass die 1,0 heute keinem Zufall entspringt oder diverser Schummelei? Und dass es zudem einen guten Grund gibt, weswegen du in meinem Unterricht regelmäßig ein Nickerchen hältst?“
 

Nun doch mehr als verlegen und leicht rot im Gesicht konnte Joey nichts weiter als Nicken. Schwungvoll stieß sich seine Lehrerin daraufhin vom Fenster ab. In wenigen Minuten würde sich der Rest der Klasse wieder die Ehre geben und bis dahin wollte sie das geklärt haben.

„Also, Mister Wheeler. Ich schlage Ihnen einen … nun, einen Deal vor. Ich schweige wie ein Grab und Sie nutzen die Ihnen angeborene Fähigkeit und gehen am Ende dieses letzten Jahres mit einem ‚Sehr gut’ aus dieser Schule. Was halten Sie davon?“

Freundlich grinsend wandte sie sich zu ihm um. Kurz überdachte Joey den Vorschlag, ehe er zustimmte.

„Abgemacht. Aber nur wenn Sie keine weitergehende Mündlichkeit im Unterricht von mir erwarten und mich auch in Zukunft zusammenstauchen.“

Zwinkernd sah sie ihn an.  

„Keine Sorge, Mister Wheeler. DAS mache ich mit Vergnügen, immerhin nehme ich nicht an, dass Sie vorhaben Ihre wie auch immer gearteten nächtlichen Tätigkeiten einzuschränken. Schlafende Schüler werde ich wohl nie wirklich tolerieren können. Trotzdem verraten Sie mir noch eins: Wieso auf einmal diese gute Note? Das war keine Abschlussprüfung…“

Leise schmunzelnd ließ sich Joey vorsichtshalber schon mal wieder an seinem Tisch nieder.

„Naja, das war weniger Absicht als Zufall. Ich war schlichtweg zu müde an dem Tag, um richtig von falsch zu unterscheiden und anscheinend wollte meine Hand unbedingt das ‚Richtige’ schreiben. Wie sagt man doch gleich? Mein Geist war willig aber mein Körper war zu müde… oder so ähnlich.“

Für eine Lehrerin ungewöhnlich, sah sie feixend zu ihm hinüber. „Soso…“

Und kurz bevor die ersten Schüler wieder hineingestürmt kamen: „Ich halte mich an unsere Abmachung und werde vorerst keinem Ihrer Mitschüler Ihre endgültigen Noten mitteilen. Ihnen ist aber dennoch hoffentlich bewusst, dass am Ende des letzten Schuljahres alle Ergebnisse einsehbar sind und Sie spätestens dann, wenn Sie sich an unsere Abmachung halten, mit Ihren Freunden reden müssen?“

Plötzlich ernst geworden, sah Joseph zu ihr hinüber. „Dessen bin ich mir bewusst. Und keine Sorge: Ich WERDE mich an die Abmachung halten. Das hatte ich sowieso vor und da Sie nun sogar Bescheid wissen, fällt es mir umso leichter. Ich brauche einen guten Abschluss…“
 

Die Klinke wurde niedergedrückt und ohne den Grund für seinen plötzlichen Wunsch nach einem guten Abschluss näher erläutern zu können, blieb Joey nur ein entschlossener Blick, ehe er sich vollkommen unbeteiligt irgendeinem Buch zu wandte. Mit diesem letzten Satz bekam das Klassenzimmer auch seine alltäglichen Besucher zurück, welche sich schwatzend auf den verschiedenen Plätzen niederließen. Allein eine kleine Gruppe, nahm davon Kenntnis, dass Joey den Raum in der Pause offenbar nicht verlassen hatte, und befragte ihn auch sogleich nach seinem Verbleib.
 

„Ich hatte da noch so ein Gespräch mit Frau Kurami…“, meinte dieser murmelnd… ehe er übertrieben fröhlich anfügte: „’Ging um meine Noten.“
 

Ganz nebenbei ließ er seine Klausur in seiner Tasche verschwinden, wobei die anderen ihn mitleidig ansahen. Immerhin tat er dies mit einem so übertrieben fröhlichen Lachen, dass seine Freunde zwangsläufig der Ansicht waren, es wäre mal wieder eine 6 geworden.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Prinzessin-Zelda
2016-12-19T15:51:50+00:00 19.12.2016 16:51
Hallo seththos, das Kapitel ist sehr gut geschrieben, ich mag das gerne, wenn man es so flüssig lesen kann, es macht einen echt neugierig wegen der Träume und man kann nicht mehr aufhören. Wie du Joey und Kaiba in Szene setzt ist dir gelungen, auch die Story ist interessant und für jeden Joey und Kaiba Fan.

Mach weiter so!

lg Zelda
Von:  Jien
2014-07-20T22:05:18+00:00 21.07.2014 00:05
Hi!
Die Thematik der FF interessiert mich eigentlich Nüsse (bin alles, aber kein Puppyshipper), habe aber YGO abonniert, sodass sie auf meiner Startseite auftauchte.

Gut geschrieben bisher, und mir gefällt die Idee, dass Jounouchi eben nicht so dumm ist, wie es manchmal den Anschein hat. Als angehende Lehrerin bekomme ich immer wieder gesagt, dass man auch auf Signale von scheninbar lernschwachen Schülern achten und sie interpretieren können muss, daher finde ich es spitze, dass einer Lehrkraft hier eine solche Aufgabe zuteil wird, statt (wie in vielen anderen FFs) nur sinnlos zu tadeln oder dem armen gepeinigten Helden das Leben zusätzlich schwer zu machen.

Ansonsten (habe nur das ein oder andere Kapitel angerissen) scheint es wieder eine Variation der üblichen Puppyshipping-Thematik zu sein (in diesem Falle halt Romantik im früheren Leben, die bei Wiedergeburt wieder aufblüht), und die Charakterisierung der Beziehung zwischen den Beiden nimmt sich auch nichts mit vorherigen Werken (Seto dominant, Katsuya submissiv - ich würde das einfach ganz gerne mal umgekehrt lesen).
Ein Pluspunkt dieser FF ist, dass sie gut geschrieben ist - keine Rechtschreibschnitzer, kein nerviger RPG-Stil, gescheite Haupt- und Nebensätze, und die Charaktere verhalten sich (noch) nicht allzu unlogisch.
Das reicht für mich als Nicht-Shipper zwar nicht, um am Ball zu bleiben, trotzdem wünsche ich dir weiterhin viel Erfolg mit der Geschichte.
:-)
Von:  Onlyknow3
2013-06-09T16:15:48+00:00 09.06.2013 18:15
Also wir wissen ja alle,das Lügen irgendwann auffliegen,das weiß auch Joey doch kann er da noch nicht wirklich aus sich heraus.Super Kapitel,und wie ich versprochen habe bekommst du nun auch hier deine Kommis.

LG
Onlyknow3
Von:  Miracel
2013-06-04T17:51:17+00:00 04.06.2013 19:51
Hallo,
ein wirklich interessanter Anfang, der zum Weiterlesen einlädt.
Nun bin ich mal gespannt, wie es weiter geht. Immerhin lernt man mal einen Joey der ganz anders zu sein scheint kennen. Aber auch, was die Träume von ihm und Seto angehen, verspricht allerhand, wie schon in deiner Beschreibung angedeutet^^
Sehr schön, ich bleibe am Ball-
Liebe grüße Miracel
Von:  jyorie
2013-05-09T15:01:11+00:00 09.05.2013 17:01
Hey ^_^

Die Geschichte gefällt mir. Vorallem auch weil du dir mal einen ganz anderen Joey ausgedacht hast, als er sonst üblich ist.

CuCu Jyorie

Von:  Lunata79
2012-11-21T17:26:58+00:00 21.11.2012 18:26
Oh, genial! LOL
Das kann ja noch wirklich sehr interessant werden.
Schreib schnell weiter.

Lg
Lunata79


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