DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 20: Zwei Brüder ----------------------- Als hätte Marcello endlich aufgehört, den zu Rettenden zu spielen, verschlechterte sich sein Zustand nach der Rückkehr zur Klause des Sehers stetig. Es war vergeudete Zeit, ihm Heilmittel oder das Wasser der Quelle verabreichen zu wollen – Rhapthorne musste inzwischen mächtig genug sein, um alles, was nicht ihm, aber seinem Wirt wohltun würde, abzustoßen. Ratlos musste Angelo seinen Halbbruder von Folterungen, entzündeten Wunden, sein Fleisch verzehrenden Ratten und vom endlosen Fallen halluzinieren lassen. Kein beruhigendes Wort kam gegen seine Schreie an. Keine Berührung gestattete der Besessene. Jessica verarztete den Finger ihres Geliebten. „Lass das bitte, Angelo. Du bringst dich nur selbst in Gefahr.“ „Ich muss bei ihm sein. Es ist das Einzige, was ich tun kann.“ „Du brauchst auch einmal Abstand. Weil du die ganze Zeit sein Elend vor Augen hast, hast du bestimmt vergessen, was für ein angenehmes Wetter wir draußen haben.“ „Du hast Recht: Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Sonne draußen leuchtet, während hier drinnen jemand derart um sein Leben ringt…“ Die Flügelschläge des Drakos drangen in ihre Zweisamkeit. „O-o-oh. Er kämpft-o!“ „Wie geht es ihm?“ „Er quält sich immer noch“, antwortete der Seher, der gerade die Treppe hinabstieg, „aber ich denke, er wird bald in den Schlummer der Erschöpfung sinken.“ „Wie lange wird das noch so weitergehen?“ „Solange, bis er aufgibt.“ „"Aufgibt"? Was meint Ihr damit?“ „Nun… Er erleidet diese Schmerzen, weil er kämpft; weil er alles daran setzt, das Böse, das nun ausbrechen mag, in seinem Inneren gefangen zu halten.“ „Soll das heißen“, vergewisserte Jessica sich, „seine Qualen würden ein Ende haben, wenn er Rhapthorne einfach nachgeben würde?“ „Das ist es, was ich vermute. Womöglich würde er seine Krankheit überstehen und wieder gesund werden. Jedoch lässt er es nicht geschehen. Er hält diesen zur Geburt bereiten Fetus in sich fest.“ „Das hat doch schon die Göttinnenstatue nicht geschafft! Wie soll es dann seinem entkräfteten Körper gelingen?!“ „Angelo!“ „Nein! Das ist die letzte Möglichkeit, ihn zu retten! Er muss Rhapthorne freilassen!“ „Haben dich alle guten Geister verlassen, Angelo?! Weißt du überhaupt, was du gerade beschwörst?!“ Sie hastete ihm nach, die Stufen hinauf, wo er sich an das Lager seines Halbbruders warf, der bewusstlos war. „Hör auf damit! Spiel hier nicht den Helden und lass ihn frei, Marcello! Niemand hat dir erlaubt, diese Verantwortung zu übernehmen! Wieso bildest du dir ein, das wäre allein deine Bürde?! Von mir aus kämpfe ich noch zehntausend Mal gegen Rhapthorne, aber bitte – steh dann an meiner Seite, du Idiot!“ Keinerlei Regung. „Es ist seine Entscheidung“, beschwichtigte der Eremit ihn, „die er für seinen Bruder und für uns alle getroffen hat. Wenn der Tod naht, Angelo, dann ist es Zeit, die Fehden niederzulegen.“ Berührt hing Jessicas Augenmerk am alabasterweißen Schopf über dem Mann mit dem graphitschwarzen Haar. „Rhapthorne kommt nicht heraus, weil er kämpft, sagt Ihr… Wenn er aber nicht mehr in der Lage ist zu kämpfen – also falls er… stirbt – würde das nicht bedeuten, dass Rhapthorne dann ausbrechen kann?“ Der Alte wusste ihre Sorge zu mindern: „Ich glaube, dass der Fürst der Finsternis mit dem Organismus, aus welchem er noch schöpft, vergehen wird, so wie sich ein Kind auch nicht aus seiner verstorbenen Mutter schält. Wir dürfen hoffen, dass er dann auch niemals wieder zurückkehrt. Er wird für alle Zeit verschwunden sein.“ „Marcello strebt also nach dem Tod“, sinnierte Angelo, ehe erneut Widerwillen durch ihn fuhr. „Aber das werde ich nicht zulassen! Ich werde nicht herumsitzen und warten, bis er einfach tot ist! Es ist uns bereits einmal gelungen, dafür zu sorgen, dass Rhapthorne aus ihm hervorkriecht – weshalb sollte es das kein zweites Mal?!“ Jessica lief rot an. „Denk doch nicht andauernd an dich! Denk doch auch mal an ihn! Ist dir denn nicht klar, was er verursachen würde, wenn er Rhapthorne nachgibt? Der blutrote Himmel! Rhapthorne selbst über uns allen wie eine schwarze Sonne! Und Marcello allein daran schuld! Kein Mensch kann diese Bürde tragen, Angelo – kein Mensch! Dein Bruder ist gerade dabei, einen anderen Weg zu erschließen als den, den er vorher verfolgte, und jetzt forderst du von ihm, auf den des Usurpators zurückzukehren? Lass ihn sich für die Menschen einsetzen! Er hat diese Entscheidung getroffen, und auch wenn ich mich davor hüte zu behaupten, seine Gedankengänge nachvollziehen zu können, so bin ich trotzdem überzeugt, dass er deinen Beistand braucht – den Beistand seines Bruders!“ Der Seher pflichtete ihr bei. „Dieser Kampf, den ihr nicht seht, ist vielleicht einer der meistbedeutenden der Menschheit. Der Frieden unserer Zukunft und der Zukunft der auf uns folgenden Generationen – er lastet auf den Schultern dieses schlafenden Mannes.“ Der Zeit ist kein Einhalt zu gebieten. Nach jedem Atemzug haben wir Sekunden für immer verloren. Nichts versetzt uns mehr in die Lage, eine vergangene Stunde noch einmal zu erfahren. Tage verbleichen in der Ferne, mischen sich wie warmes Wasser mit kaltem. Und wer in einem Moment, der hinter uns liegt, gestorben ist, wird nie wieder mit uns sprechen. Und was in einem Moment, der hinter uns liegt, zerstört wurde, werden wir nie mehr erleben. Die sinkende Sonne befahl den Tag auf das Blutgerüst. Jessica Albert stieg die Stufen hinauf. Der Mann in dem zu kurzen Bett hatte die Lider geschlossen; zwischen langen Abständen war ein Schnaufen zu vernehmen. Auf dem Nachtschrank neben den Schüsseln blinkte ein goldener Ring mit einem runden, blauen Edelstein im späten Licht – ebenso wie das am Fenster lehnende Merkurflorett in seiner Scheide. Marcellos Haar war seit jeher matt und dünn gewesen und seine Haut bleich. Eigentlich schien er im Erbschaftsstreit um die Schönheit nahezu alles an sein Geschwist verloren zu haben, und so vermochte der Anblick der Krankheit nicht – wie er es womöglich bei Angelo getan hätte – die Besucherin zu entsetzen. Die Adern waren klar zu sehen, er war mager und nass vor Fieber, doch der Fleck auf seinem Hemd rührte nicht daher. „Angelo hat wieder geweint, nicht wahr?“, seufzte Jessica wie eine Mutter über ihren Sohn und zog sich den Hocker zum Bett. Marcellos Hand war kalt, als sie sie in ihre beiden nahm, und es war eine Kälte, die drohte – statt sich vertreiben zu lassen – auf die ihren überzugreifen. „Versteht mich nicht falsch: Ich halte Euch nicht für einen guten Menschen; Eure Taten werde zumindest ich Euch niemals vergeben können. Aber wir sollten nicht in diesem dämlichen Hass auseinandergehen. Das, was zwischen uns vorgefallen ist… Ich will es nicht verleugnen, allerdings auch nicht bis ans Ende meines Lebens voller Schuldgefühle daran zurückdenken müssen. Deswegen mein Vorschlag: Es war eine Expedition. Keine Liebe. Eine Expedition an unsere Grenzen. Ich habe durch sie etwas verstanden und hoffe, Ihr ebenfalls. Einverstanden?“ Schmetterlinge… „Was ich verstanden habe? Dass Euer Bruder mir nicht alles geben kann, was ich verlange, und dass das so vollkommen in Ordnung für mich ist.“ Sich öffnende Blumen… „Wisst Ihr? Ich hatte auch einen Bruder… Ein hübscher junger Mann, begabt im Umgang mit dem Schwert und der Magie, aufrichtig und mutig…“ Geigenstriche wie sich im Kreis drehende Kinder… „Er hatte sich Dhoulmagus in den Weg gestellt und bezahlte dies mit seinem Leben… Das war mein Anlass. Mein Anlass, mich den anderen anzuschließen. Es war, als wäre Alistair stets dagewesen… als wäre er unseren Weg immer nur schon ein Stück vorausgegangen. Kindisch, ich weiß… Aber ich traute mich nicht und wollte es nicht in Frage stellen! Es nicht zu tun, hat mir Kraft gegeben. Genug Kraft, um Dhoulmagus und auch Rhapthorne zu besiegen. Ich habe Alistair dadurch nicht gerächt – doch darum ging es mir nicht mehr! Ich konnte seinem Tod den Unsinn nehmen und seine Erwartungen in mich erfüllen… Findet Ihr das zu fantastisch? Haltet Ihr mich für albern? Marcello… Wenn nach dem Leben noch etwas kommt; wenn ich mich damals nicht getäuscht habe, Alistair an meiner Seite zu spüren – dann bitte: Lasst es uns irgendwie wissen. Und: Danke dafür, dass Ihr für uns gegen Rhapthorne kämpft.“ Sie hob seine Hand von ihrem Schoß und bettete sie wieder auf die Decke. Dann stand sie auf – gerade so, dass sie sich zu ihm zu neigen vermochte – schob die Strähnen von seiner Stirn und drückte einen Kuss darauf. „Die Stelle, auf der Eure Hände lagen… ich spüre sie noch immer. Irre ich mich? Nein… ich glaube nicht.“ An der Treppe drehte sie sich ein letztes Mal um. „Ich sagte vorhin, ich könne Euch nicht vergeben. Aber vielleicht werde ich es doch noch mal versuchen. …Gebt uns Euren Segen, Marcello.“ Angelo überreichte ihm die Tasse. Obzwar er sie mit beiden Händen umfasste, wagte er es nicht, sie loszulassen, während sie stockend die Lippen des Hoffnungslosen berührte. „So ist es gut: Viel trinken.“ „Jede Wohltat kommt allein Rhapthorne zugute. Ich würde aufhören zu trinken, doch mein Körper lässt mich nicht.“ „Zieh dein Hemd aus. Die Salbe wird dich heute hoffentlich besser atmen lassen.“ „Nicht du. Jessica soll das machen.“ Der Jüngere schnaubte, aber nicht aus Verärgerung. „Für einen Sterbenden bist du ganz schön wählerisch.“ „Eben Sterbende dürfen wählerisch sein.“ Der Templerhauptmann streifte sich die Handschuhe ab. Mit fahrigen Bewegungen verteilte er die palliative Paste auf dem unebenen Herrschaftsgebiet des dunkelgrauen Schwurs, welcher sich etwas wogte über den hervorstehenden Rippen. „Meinst du, du hältst noch zehntausend Jahre durch?“ „Kannst du dich denn solange gedulden?“ „Warum nicht? Im Augenblick habe ich ohnehin nichts Wichtigeres zu tun.“ „Ich vernehme Sarkasmus.“ „Dann solltest du dir den Gehörgang putzen. Hier spricht bloß der göttingesandte Angelo.“ „Du würdest warten?“ „Nein. Wenn es mir zu öde wird, haue ich unverzüglich ab. Ich renne zurück zur Maella-Abtei, verbarrikadiere mich in deinem Amtszimmer und schwelge mich mittels Lilius’ "Weißem Gold" in eine Dimension, die dermaßen abgehoben ist, dass selbst du sie nicht erreichen kannst.“ Über Marcellos Miene warf sich ein düsterer Schatten. „Ich wusste es!“ „Ach, Marcello! Natürlich würde ich warten! Gib dich doch nicht immer so überrumpelt, wenn ich dir dergleichen verspreche! Ich komme mir ja vor wie der Unmensch, wo du es doch bist, der mich ab der zweiten Sekunde verstoßen hat!“ Er knöpfte sich das Hemd zu. „Wieder die alten Kamellen…“ „Was heißt "alt"? Du tust es ja immer noch!“ „Es besteht eine verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit, dass sich dies im Laufe der uns bevorstehenden zehntausend Jahre ändern könnte. Sie ist jedoch wahrlich verschwindend gering, und selbst dann könnte es lediglich passieren.“ „Wer Ohren hat zu hören, der höre! Das war soeben der erbaulichste Satz, den ich seit "Alles wird gut, hör doch auf zu weinen" aus deinem Mund vernommen habe.“ „Meinen Glückwunsch zu dieser Entdeckung, Angelo.“ „Rhapthorne scheint aktuell ziemlich reserviert zu sein und ich das beinahe schon zu bedauern.“ „Er sammelt nur Konzentration“, ahnte der Kranke mutlos. Angelo musterte ihn genau. „Wir sollten das zu schätzen wissen.“ „Wie meinst du das?“ „Jessica meinte, ich würde bereits vergessen haben, wie die Sonne draußen strahlt, und ich wette meinen Göttinnenschild darauf, dass du es auch nicht mehr weißt! Gehen wir doch hinaus!“ Marcello blinzelte. „Ist das dein Ernst?“ „Klar! Komm schon!“ „A-aber…!“ Er zog seinen ehemaligen Vorgesetzten schier aus dem Bett in den Stand und ließ ihn hinter sich herlaufen. „Vertrau mir!“ Marcello, dem das Empfinden, auf seinen Beinen zu stehen und sie zu benutzen, fremd geworden war, musste, gezwungen durch die Hand seines Halbbruders, selbigem hinunter und durch die Tür folgen. Das spendable Licht einer weißen Sonne brachte ihn erst dazu, die Augen zuzukneifen, doch da er sie wieder öffnete, bot sich ihm ein lebensfrohes Schauspiel der Natur: Schmetterlinge flatterten in den Schattenmandalas der Bäume. Die zahllosen Grashalme, unter seinen Füßen noch einzeln stehend, schienen sich in der Ferne zu einem weichen, grünen Teppich zusammenzuschmiegen. Der Himmel trug ein pastellblaues Kleid und Wolken wie aus Watte. Ein Hadeskondor flog durch die illusionären Gemmen des Sonnenlichtes, weit über ihnen. Angelo lächelte ihn an. „Du siehst aus, als sei dir ein Engel erschienen.“ Er führte ihn über den kernigen Kies des Pfades, welcher an der Klause des Sehers weilte, und über die spitzen Spiere der Wiese. Schließlich lagen sie gemeinsam unter einer Blätterlaube. Marcellos Lider waren gesunken, und er fiel wohl jeden Augenblick in den Schlaf – ansonsten hätte er gewiss ihre Finger gelöst, die weiterhin ineinander verschränkt waren. „Siehst du?“, flüsterte Angelo. „Ich habe es nicht bereut.“ Als er erwachte, schlief Marcello mit einem gänzlich entspannten Gesicht. Es ließ ihn verletzlich aussehen, und in der Brust des Templers schwoll der Stolz eines Beschützers. Aber irgendetwas war seltsam. Es war ruhig. Zu ruhig. Marcello atmete nicht mehr. Panik erfasste Angelo. Er schlug ihn, schüttelte das Leben zurück in seine Hülle und brachte ihn anschließend in die Hütte. Jessica, deren Blick Bände sprach, begegnete er mit der inadäquat scharfen Frage nach dem Seher. Sie stürzte hinaus, um ihn zu suchen. Er schaffte es nicht mehr zum Bett. Wenige Schritte nach den bewältigten Stufen knickten die Beine des erfolglosen Obersten Hohepriesters ein gleich vertrockneten Ästen. Der Jüngere blinzelte vehement; Verräter seiner Verzweiflung waren dafür verantwortlich und demonstrierten, wie sehr es ihn traf, seinen hilflosen Halbbruder auf das Lager heben zu müssen. Es war der Moment, ab welchem er ihn nicht mehr losließ. Er schob sich neben das Kissen, den Rumpf seines Anverwandten an sich drückend. Gedankenlos verwischte er die blutigen Rinnsale auf seinem Kinn in vergeblicher Mühe, ihnen Einhalt zu gebieten, bis ein Schluchzen nicht länger zu verhindern war. „Warum, Marcello?! Warum jetzt?! Halte durch – bitte! Du wolltest doch…! Ich wollte…! Wir wollten doch noch einmal ganz von…! Lass mich dich wenigstens noch zur Abtei bringen! Ich flehe dich an! Du sollst nicht sterben – nicht hier und nicht so! Oh, Marcello!“ Er rieb seine Stirn gegen jene des Sterbenden. Sein Atem war kaum zu spüren – ein leidliches Pusten nur, das nach Kupfer stank. Unter flimmernden schwarzen Wimpern suchte er nach den jadegrünen Iriden, in welche er starrte, als wären sie seine letzte Verbindung zu der schwindenden Seele. „Atme! Atme! ATME! Oh Göttin, ich flehe dich an! Geh nicht! Ich habe doch sonst keinen mehr! Oh Göttin, bitte! Marcello! BITTE!“ Hemmungslos heulend warf er sich über ihn. Kämen Jessica und der Seher jetzt her, er würde sie nicht zur Kenntnis nehmen. Aber er registrierte, dass der Griff an seinem Arm fester wurde – offensichtlich um seine Aufmerksamkeit zu erringen. „Du weinst“, stellte Marcello fest. „Es tut mir Leid! Ich habe versagt! Ich weiß nicht, was ich noch machen soll!“ „Angelo.“ „Es ist so entsetzlich! Oh meine Göttin, was kann ich bloß tun?!“ „Hauptmann Angelo!“ „Was?“ Jessicas "Hiebe der Liebe" hätten ihn nicht eher erstarren lassen können. „Du vergisst dich… und raubst mir obendrein ein wenig den Atem… den zu schöpfen du mich geheißen hast. Falls du zur Abwechslung etwas Hilfreiches tun willst… lass mich bitte etwas sauberes Wasser spüren. Und dann geh und hole frisches… von der Quelle.“ „Zu… zu Befehl“, rutschte es aus dem Templer, der schnupfte. Blind fasste seine Hand nach dem Lappen in der Wasserschüssel, welchen sie darüber ausdrückte und anschließend benutzte, um den Kranken vom dunklen Blut zu befreien, dessen Schweiß und jenes Tränen, als hätten Maßnahmen wie diese noch irgendeinen Nutzen. „Warum verrätst du mir nicht deinen Namen?“, lauschte der Ritter Ramias einer sanften Melodie, während ihm bewusst wurde, was er verloren hatte. „…Angelo.“ Was er noch verlieren würde. „…Angelo!“ „…Angelo!“ Er schrak in das Hier und Jetzt und blickte in Marcellos ihn visierende, klare Augen. „Du bist… immer noch… hier.“ „Es tut mir Leid, dass ich dir im Moment deines Todes nur den zur Seite stellen kann, den du so sehr hasst.“ „Wer sollte sonst hier sein? Außer dir gibt es keinen Menschen, der mich mit dieser Welt verbindet. Ich kenne niemanden sonst… und niemand sonst kennt mich.“ Unvermittelt verkrampfte er sich unter einer erneuten Attacke Rhapthornes. Schleunig schlang Angelo eine Hand des Überraschten um die seine mit dem verbundenen Finger. „Brich mir auch noch die anderen, wenn du es nötig hast! Dafür war ich doch immer da: Damit du deinen ganzen Frust und Schmerz an irgendjemandem auslassen konntest! Es freut mich, dir zumindest in dieser Hinsicht nützlich gewesen zu sein…“ Marcellos Mundwinkel zuckte müde. „Du hältst tatsächlich noch daran fest, dass ich über…“ Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst; sein Leib zog sich zusammen und machte Gebrauch von Angelos Offerte. „Oh Göttin!“, stieß er aus. „Diese Schmerzen…! Ich will… ich will doch nur, d-dass sie endlich ein Ende haben…!“ Unter Krämpfen, Atemnot und – was am schlimmsten war – Angelos beständigem Zureden rang er um sein Bewusstsein. „Geh… jetzt…!“ „Du leidest“, hauchte der Blauäugige fassungslos. „Niemand hat es verdient, unter solchen Umständen allein gelassen zu werden. Selbst du nicht.“ „Manchmal… ist Einsamkeit… keine Strafe.“ „Sag das nicht… Sag das bitte nicht…!“ Wie intensiv jenes Blau der Augen Angelos doch wurde, wenn er weinte… Wie ein strahlender Himmel. Flüssige Kristalle rollten über die roten Wangen und tropften fortwährend auf ihn hernieder. „Du kannst das nur sagen, weil du… schon zu lange einsam gewesen bist! Oh, Marcello! Wäre doch alles anders verlaufen! Marcello…“ „Angelo… Hör mir zu.“ „NEIN!“, brach es da aus ihm. „…Nein! Nein!“ Als hätte er just vergessen, was er sagen wollte. „Hör du mir zu! Ich werde nicht gehen, hörst du?! Niemals! Ich bin schon oft genug gegangen, nicht wahr?! Verdammt, Marcello – ich dachte, du…!“ „Angelo…“ Er schüttelte die helle Haarpracht. „Lass mich! Weißt du?! Das alles wäre gar nicht so schrecklich, wenn es mir nichts bedeuten würde! Aber, Marcello, es tut mir hier“ – dabei packte er eine Hand des Scheidenden und presste sie sich auf die Brust – „weh! Kaum zu fassen, was?! Da dachte ich immer, du wärst mir im tiefsten Inneren meiner Seele egal geworden, und nun das! Ich weiß ja nicht einmal mehr, ob ich meinem Herzen nachgeben soll oder dich noch mehr hassen für diesen verdammten Dreck, den du mir antust! Selbst im Sterben liegend hörst du nicht auf, mich zu foltern! Ich hasse dich, Marcello! Ich hasse dich so sehr!“ Wieder dieses hässliche Wort. „An…gel…“ „Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!“ Ein still pulsierender Funken war von seinem einst flammenden Lebenslicht übrig geblieben, gleich einem einzelnen Stern an der schwarzen Feste des Himmels. Er rang im schneidenden Sturm der Klagen Angelos, welcher somit dorthin zurückgewirbelt war, wo er entstanden. Er wehrte sich nicht. „…Was tut weh? Dein Knie? Oh, Marcello! Was hast du denn gemacht? Bist du gefallen?“ „Ja, Mama, doch das meine ich nicht. Es… es tut weh, dich weinen zu sehen!“ „Ich… ich habe nicht geweint!“ „Ich weiß, dass es schwer ist, Mama. Doch ich bin jetzt bei dir. Nichts wird uns jemals wieder trennen. Auch der Fürst nicht. Ich bin fortan dein Mann. Wir… bleiben zusammen.“ „Ach, Angelo… Du weinst ja!“ „N-nein!“ „Ich sehe es doch!“ Er zog die Nase hoch. „Es… es ist nur das Knie!“ Und dann erlosch er. * Jessica erschrak, als das Knarren der Tür Angelo ankündigte, bevor selbiger über die Schwelle trat. Sein Konterfei war wie aus Marmor, seine Wangen tränenbenetzt und die Hände beschmiert mit dunkelrotem Blut. Schleim, Drako sowie die Morastmarionette verbargen ihre Trauer nicht; der Seher senkte würdigend sein weiß behängtes Haupt, nachdem er sich sicher war, dass jener im vollständigen, königsblauen Habit des Templer-Ordens gekleidete Körper, welchen der junge Prior auf seinen Armen trug, jeglicher Gebete zum Trotz lediglich der Leichnam eines ehemals stolzen, schönen Mannes war. „Ich würde ihn gerne reinigen“, wandte sich Angelo, ausgestattet mit einer nicht unbekannten Gravität, an den Eremiten, „um ihn würdevoll beisetzen zu können. Ich verspreche: Es wird das Letzte sein, was ich Eurer Gastfreundschaft abverlange.“ Zweifellos war sie einem anderen zueigen gewesen, und doch wusste er sie zu führen, als hätte er sich seit jeher darauf vorbereitet, sie in Empfang zu nehmen. „Das Wasser der Quelle wird ihn von allem Schmutz des Leibes und der Seele befreien.“ „Habt Dank.“ „Angelo! Willst du denn einfach so gehen?“ „Ich muss. Bitte, Jessica: Brich nach Alexandria auf. Ich werde so bald wie möglich nachkommen, aber… lass mich diese Sache erst noch zu einem erträglichen Ende bringen.“ „Bleibt mir denn eine Wahl?“ Ihre Schultern sanken. Niedergeschlagen, dann mit mehr und mehr Faszination verfolgte sie den Weg ihres Verlobten, des Templers Angelo Kukule, Richtung Waldschlund, wo die Dunstschleier ihn bald verhüllten, einen Augenblick lang eindrucksvolle Schwingen an seinen Rücken zeichneten, dass er der Magierin erschien wie ein Erzengel, der den gefallenen Lichtbringer auf gnädigen Armen gen Eden trägt, derweil über ihnen ein neuer Tag anbrach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)