Jareth und René von mikifou (Los Angelos Summerdrive) ================================================================================ Kapitel 14: Im Krankenhaus -------------------------- Vor zehn Jahren Ich wachte auf und starrte an eine weiße Decke. Das Zimmer war klein, sehr reinlich und viel zu hell. Wenngleich ich mich einen Moment wunderte, war mir schnell klar, dass ich mich in einem Krankenhauszimmer befinden musste. Dieses sterile Aussehen und dieser unverkennbare Geruch, der einem in der Nase stach. Das Bettzeug war weiß und streif, hielt mich aber warm. Mühsam setzte ich mich auf und fragte mich wie ich hierhergekommen war. Eben war ich doch noch … eben … wo war ich gerade noch mal? Für Sekunden rührte ich mich nicht und versuchte einzig herauszufinden, was ich eben noch gemacht hatte! Panik machte sich in mir breit, als ich absolut nichts fand. Mein Hirn war leer. Meine Erinnerungen … ich fand keine! Die weißen Gardinen bewegten sich und ich sah auf. Das Geräusch des Windes machte mich neugierig und das offene Fenster hatte ich bis eben noch nicht bemerkt. Ich sah hinaus und starrte eine Weile auf den grünen Rasen, die Bank und die kleine Baumreihe dahinter. Die Sonne schien. Es war ein herrlicher, warmer Tag und der Wind strich belustigt durch die Äste. Ich starrte weiter vor mich hin und spürte eine Unruhe aufkommen. Das war nicht richtig. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte irgendwo anders sein. Auf einem Baum oder in einem Park? Grün… ich war umgeben vom frischen Grün und vor mir befand sich ein grauer Schatten. Nein, kein Schatten, etwas Wertvolleres. Dieses Grau war wie zwei wertvolle Edelsteine, die ich besitzen wollte. Grau … was war nur so grau gewesen? Die Wolken, der Himmel? Ich atmete schneller und bemerkte nicht wie mein Puls zu rasen oder wie die Geräte, an welche ich angeschlossen war, zu piepen begannen. Ich griff mir an den Kopf und ignorierte den Kopfschmerz. Dieses Grau, da war es doch! Ich sah es fast, was… wer?! „Doktor! Er ist aufgewacht!“, rief eine frauliche Stimme hinaus in den Flur. „Bleib ruhig. Junge, beruhige dich. Hier, sie mich an“, forderte eine andere, sehr ruhige Stimme. Hände griffen nach meinen und ich wurde gezwungen aufzusehen. Vor mir war das Gesicht einer jungen Krankenschwester. Ihr Blick ruhig und ihre Augen ein kleines Mosaik aus Grün, Braun und Grau. Nein, fiel es mir ein. Das waren sie nicht. Diese Augen wollte ich nicht sehen! Meine gerade mühsam erkämpften Gedanken flohen vor mir. Sie rutschten mir durch die Finger wie Wasser durch ein Sieb. Als der Doktor mich untersuchte, herrschte wieder gähnende Leere in meinem Kopf. Das drängende Gefühl wich einer Taubheit, die von den fehlenden Erinnerungen genährt wurde. Später am Tag kamen noch mehr Leute in mein Zimmer. Zwei Erwachsene und drei Kinder. Zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen lief auf mich zu und fiel mir um den Hals. Sie weinte und auch die beiden Jungs sahen mich mitleidig an. Der Größere von beiden trat schließlich näher heran und griff sehr zaghaft nach meiner Hand. „Jay, wie geht es dir?“ Die Stimme des Jungen war rau, seine Augenränder gerötet. „Egal! Ich bin so froh, dass er wieder wach ist“, jammerte das Mädchen an meinem Hals. Ich betrachtete jeden genau. Der Doc meinte vorhin, meine Familie würde vorbeikommen. Das waren also Menschen, die mir nahe waren? Wirklich? „Ich fühle mich ganz gut“, sagte ich. Das schien die Kinder zu freuen. Das Mädchen ließ mich los und lächelte mich mit laufender Rotznase an. „Ein Glück!“, sagte sie erleichtert. Der große Junge nickte und lächelte. Er schien auch erleichtert und zugebenen, dieser Anblick hatte etwas. Ich fühlte mich beinahe erleichtert, dass er sich freute? Das machte keinen Sinn. Während die Kinder auf mich zugelaufen gekommen waren, hatte der Doc die beiden Erwachsenen zu sich hinaus gewunken. Nun traten alle drei Erwachsenen an mein Bett. Jeder hatte eine ernste Miene aufgesetzt, doch versuchte die Frau zumindest zu lächeln. Ich besah mir die beiden neuen Fremden. Den Doktor kannte ich ja schon. „Und wer seid ihr alle?“ Schweigen breitete sich aus. „Wie ich Ihnen bereits draußen erklärt habe, leidet ihr Sohn an Gedächtnisverlust. Es ist nichts Schlimmes. Die Erinnerungen sollten in den nächsten Tagen zurückkehren. Die Untersuchungen haben keine weiteren Schädigungen gezeigt. Wir würden ihn nur wegen der Rippenbrüche noch etwas hierbehalten. In spätestens vier Tagen kann er mit ihnen nach Hause. Er muss sich dann trotzdem weitere vier Wochen schonen.“ Die Frau setzte sich zu mir auf das Bett. Das war meine Mutter? „Jareth, wie geht es dir, mein Schatz? Ich kann mir vorstellen, dass du viele Fragen hast, aber bitte gehe alles langsam an.“ Ich neigte nur fragend den Kopf. Langsam angehen? Weil der Doc gesagt hat, meine Erinnerungen würde nicht lange wegbleiben? Wenn dem so war, warum fühlte ich mich dann gerade so unwohl? Wie lange war, nicht lange? Mein Kopf war so leer wie ein weißes Blatt Papier. Konnten meine gesamten Erinnerungen wirklich in nur wenigen Tagen zurückkehren? Allesamt? Aber … warum war ich dann so nervös? Als müsste ich mich jetzt an etwas erinnern. Etwas so Wichtiges, dass die Unruhe in meinem Magen mir Übelkeit bereitete. Da diese Frau, äh, meine Mutter sich bereits Sorgen machte, wollte ich sie nicht beunruhigen. Ich sah auf meine Finger, dann zum Fenster. „Mhm, ok.“ Als ich wieder zu ihr sah, lächelte sie und umarmte mich vorsichtig. „Mama und Papa gehen mit dem Arzt nochmal nach draußen. Wenn du etwas brauchst, ruf uns.“ „Ahhh Mama! Wir sind doch hier und können Jay alles bringen“, fiel das Mädchen ihr ins Wort. Dann war sie meine Schwester? „Du hast Recht“, sagte meine Mutter bestätigend und folgte meinem Vater und dem Arzt hinaus. Das Mädchen war Josi, meine Schwester und sie redete ununterbrochen. Sie dachte wohl, je mehr sie redete, desto schneller würde ich mich erinnern. Innerhalb von einer Stunde hatte ich mein gesamtes Leben gehört und die scheinbar wichtigsten Geschichten zu uns vier Kindern. Der größere Junge von beiden war René. Er war etwa so alt wie Josi. Der Jünger war C.G. mein bester Freund. René und C.G. waren Cousins. „Und? Erinnerst du dich?!“, fragte Josi nach jeder Geschichte. Ich lächelte nur schmal und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Aber mir tut von alldem nur der Kopf weh.“ „Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen“, schlug C.G. vor. „Josi, hetz ihn nicht. Er ist heute erst aufgewacht. Sicherlich wird er sich bald erinnern“, gab René motiviert von sich. Verwirrt musterte ich ihn. Er klang aufmunternd, aber seine Augen wirkten verloren und die Ränder waren immer noch rot, so als wollte er weinen oder … hätte geweint. „Naaa gut. Dann gehen wir für heute“, lenkte Josi ein und ich war dankbar bald meine Ruhe haben zu können. C.G. und René gingen voraus, ich winkte hinterher. Josi sprang von meinem Bett, wo sie die gesamte Zeit über gesessen hatte. Nach zwei Schritten hielt sie inne und drehte sich nochmal zu mir um. „Jay… Ich …“, sie sah unschlüssig nach unten, als suchte sie ihren Mut. „Bitte erinnere dich schnell, ja? Ich warte nicht ewig und … er sicher auch nicht.“ Verwirrt sah ich ihr hinterher. Scheinbar gab es wirklich etwas, woran ich mich unbedingt erinnern musste. Vielleicht könnte mir Josi sogar sagen was dieses Etwas war? Jedoch hatte ich diesen Abend keine Möglichkeit nachzufragen. Mein Besuch war fort und ich schlief kurz nach meinem Abendbrot ein. Mein Kopf schmerzte und im Traum wirbelten alle möglichen Bilder wild durcheinander. Der nächste Tag begann entspannt. Der Vormittag war ruhig. Neben ein paar wenigen Kontrollvisiten und weiteren Fragen zu meiner Erinnerungsfähigkeit langweilte ich mich beinahe zu Tode. Langeweile war so dermaßen langweilig. Unerwarteterweise war es diese Langeweile, die mir Half mich zu erinnern. Es lässt sich schlecht beschreiben. Ich ging durch die Flure, sah den Schwestern zu, war am Kiosk und der Cafeteria, danach draußen und drehte eine Runde in der Sonne. Manchmal war es nur ein Wort, dass ich aufschnappte und mir viel etwas Vergessenes ein. Mal war es der Wind, der eine Frisbischeibe zu weit trug. Dann war es das Geräusch des knirschenden Sandes unter meinen Schuhen. Mit jedem solcher kleinen Trigger fühlte ich etwas zurückkehren. Ich fühlte mich voller. Wie wieder hergestellt. Ich dachte an die Videospiele, welche C.G., René und ich so oft gespielt hatten, wie eifrig wie Potions gesammelt haben, um uns heilen zu können. Ha! Wieder etwas, dass mir eingefallen war. Ich war schon stolz auf mich. Zwar war noch lange nicht alles zurück, aber vieles. Ob ich die anderen damit überraschen könnte? Verschmitzt schmunzelte ich und wollte es darauf ankommen lassen. Schatten und Rauschen holte mich aus meinen Gedanken und ich sah auf. Neben mir stand ein großer Lindenbaum. Das Rauschen der Blätter war schön und bekannt. Es beruhigte mich. Das raue Holz des Stammes fühlte ich praktisch unter meinen Fingern. War ich mal geklettert? Ich sah hinauf in das Geäst und spürte ein Ziehen in der Brust. Unangenehm. Was sollte das jetzt? Mein dritter wacher Tag im Krankenhaus begann mit einer Reihe an Visiten, Kontrollen, Befragungen und Gestarre von angehenden Ärzten und Ärztinnen. Es war ungemein Unangenehm, aber was konnte ich in dieser Situation schon groß dran ändern? Zum Mittagessen war der Spuck vorbei und ein paar Stunden später bekam ich erneut Besuch. Josi, C.G., René und meine Oma betraten das Zimmer. Obwohl es bei Josi mehr den Anschein hatte, als würde sie mit der Tür hereinpurzeln wollen. „Jay, Jay, Jay!!!! Wie geht es dir heute?!“, rief sie und warf sich auf mein Bett. Zum Glück saß ich an mein Kopfende gelehnt, sonst wäre sie volle Kanne auf mir gelandet. Wenngleich es mir deutlich besser ging, spürte ich meine Rippen immer noch und wollte sicher nicht, dass mich jemand ansprang. Ihr so strahlendes Gesicht zu sehen, freute mich total. Also grinste ich zurück. „Gut, danke der Nachfrage.“ „Scheint so, als hätte der Doktor nicht übertrieben als er uns sagte, dass du gute Fortschritte machst“, bemerkte meine Oma, während die Kinder ein überraschtes Gesicht zogen, als hätte ich verkündet, ich wollte Präsident werden. „Ja. Sie haben mich heute Morgen von vorne bis hinten untersucht und körperlich scheint es mir gut zu gehen. Bis auf die Rippen. Es fehlt wohl noch irgendwas aus dem Labor oder so, meinte der Doc.“ „Heißt das, dass du bald mit nach Hause kannst?“, fragte C.G. Meine Oma und ich nickten synchron. Wieder jubelte Josi. Diesmal lauter als zuvor. Ihre Freude steckte wirklich an. Dann machte sie Platz und alle Kinder zogen ihre Schuhe aus, nur um sich auf meinem Bett zu versammeln. Josi rechts, C.G. links und René mir gegenüber. Obwohl wir über alles Mögliche redeten und ich mir die neusten Geschichten von zu Hause und aus der Schule anhörte, wanderte mein Blick immer wieder zu René. Unbewusst lunschte ich zu seinen grauen Augen, nahm sein Lächeln wahr oder wie er mit C.G. über einen Klassenkameraden herzog. Ich war so fasziniert, dass ich nicht bemerkte, wie ich doof grinsend zuhörte. Oder dass nicht nur Josi mich beobachtete. Nach gut einer Stunde teilte sich unsere kleine Gruppe. C.G. und Josi begleiteten Oma in die Kantine, um ein paar Leckereien für uns zu holen. René blieb derweil einfach sitzen. Direkt vor mir. Als die Tür hinter den anderen zugemacht worden war, kehrte eine Stille ein, die irgendwie unangenehm war. Ich wusste nicht recht was ich sagen sollte, aber dass es etwas gab, was ich sagen musste. Zumindest laut Josi war ich jemanden noch eine Antwort schuldig und ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sich dabei um René handelte. Leider wusste ich immer noch nicht genau, was. René schien es ähnlich zu gehen. Er biss ungeschickt auf seiner Unterlippe herum und seine Hände verkrampften sich im Bettlaken. Dieser Anblick rief Schuldgefühle in mir hoch. Da ich aber immer noch nicht wusste weswegen, übernahmen Frust und Genervtheit schnell die Führung. „Ich weiß, wir dürfen dich zu nichts drängen“, begann René zögerlich, „aber du erinnerst dich nicht zufällig an den Unfall?“ Ich sah ihn prüfend an und schüttelte meinen Kopf. Wenn ich mich an den Unfall versuchte zu erinnern, sah ich nur etwas Buntes vor mir, ehe alle Farbe verschwammen und schwarz wurden. „Auch nicht daran, wie wir auf dem Baum gesessen haben?“ Ich neigte meinen Kopf, musste aber trotzdem verneinen. Indes fühlte ich mich bestätigt, dass ich wirklich gern zu klettern schien UND dass ich René eine Antwort schuldete. René seufzte schwer. „Das du runtergefallen bist tut mir leid. Ich hätte dich auffangen müssen oder festhalten. Es war meine Schuld.“ „Warum war der Unfall deine Schuld?“, fragte ich verwirrt nach. „Na weil … du bist doch zu mir gekommen und wolltest nur meine Frage beantworten. Hätte ich nicht gefragt, hättest du dich nicht bewegt und wärst sicher nicht runtergefallen.“ Die Schuld stand René deutlich ins Gesicht geschrieben. Verwirrt neigte ich meinen Kopf auf die andere Seite. „Warum hast du Schuld, wenn ich falle?“ René sah verständnislos auf. „Ich meine. Selbst wenn ich mich nur bewegt habe, um dir zu antworten oder warum auch immer, kannst du doch nichts dafür, dass ich nicht hingucke, wo ich meine Hände aufsetze. Ich finde, dass du so überhaupt keine Schuld an all dem hast.“ Für einen Moment blieb René stumm. Er blinzelte nur und ich sah wie sich seine Augen röteten. Dennoch unterdrückte er, was auch immer an Gefühlen in ihm hochkommen wollten. „Jay, ich … ich habe dich fallen gesehen und dann wie du unten gelegen hast. Ich war so geschockt, dass ich viel zu langsam runter geklettert bin. Du hast dich nicht bewegt und als ich dich nur ein bisschen bewegt habe … Die Rinde war ganz rot…“ Ich schluckte, sagte aber nichts. Ich wäre genauso geschockt, hätte ich sowas gesehen. Da ich nichts sagte, aber René weiter beobachtete, holte er tief Luft und erzählte weiter: „Ich rief nach deinen Eltern. Ich schrie sogar noch als sie da waren, ich … wusste nicht was ich tun oder sagen sollte. Dein Vater rief den Krankenwagen und deine Mutter strich über deinen Arm. Ich wollte dich aufsetzen, aber sie sagte nur, dass wir dich lieber nicht bewegen sollten.“ René sagte es nicht, aber so verwässert wie seine Augen mittlerweile waren, war ich mir sicher, dass er an diesem Punkt der Geschichte geweint haben musste. Der Gedanke daran, dass jemand der nichts für meinen Sturz konnte, trotzdem so aufgebracht war und mir Tränen nachgeweint hatte, freute mich. Das war so surreal, dass ich mich fragte, was mit mir nicht stimmte. Gut, ich fragte mich das später. In jenem Moment dachte ich nur, wie lieb das von ihm war und lächelte René aufmunternd zu. René schniefte lautstark und wischte mit dem Handrücken unter seiner Nase lang. „Worüber haben wir geredet?“, fragte ich. „Hä?“ „Oben auf dem Baum. Vor dem Sturz. Worüber haben wir geredet?“ „…“ René sah verlegen zur Seite und auch ich musste kurz wegsehen. Was war das nur? „Ich … erinnere mich ja schon an einiges, aber daran leider noch nicht. Aber ich habe schon die ganze Zeit das Gefühl, als müsste ich etwas sagen. Josi meinte vorgestern zu mir, dass ich jemandem eine Antwort schulde. Und ich glaube irgendwie, dieser jemand bist du. Also erzählst du mir, worüber wir uns unterhalten haben? Bitte.“ René sah von unten her auf. Seine grauen Augen noch leicht glasig, aber trotzdem so intensiv und fest wie ein Schneegestöber. Wahrscheinlich waren seine Gefühle ebenso aufgewühlt und hektisch. Die Pause, welche sich ausbreitete, ehe er begann, war nicht unangenehm. Ich saß gerade, abwartend und zugebenen neugierig. „Wir kamen vom Fasching. Wir hatten Kleider deiner Schwester an und sie welche von dir. Als wir spielen durften, sind wir beide wie immer auf den Baum geklettert. C.G. wollte sich umziehen gehen. Ihm war der Aufzug zu peinlich. Auf dem Baum dann… du hast mich gefragt, wie ich das Kleid finde und ich sagte, normal. Dann wie es dir steht und ich hab‘ gesagt gut. Dann wolltest du wissen, ob ich es hübscher an dir oder an Josi finde. Mir war das egal, aber wenn, dann siehst du besser in deinen eigenen Klamotten aus. „Ich hab‘ dich gefragt, warum du das fragst und du hast gesagt, weil du wissen wolltest auf was ich stehe. Dann hab‘ ich gesagt, dass man das so gar nicht sagen kann. Immerhin mochte ich Josi in ihren Kleidern lieber als dich in ihren Kleidern, aber trotzdem hab‘ ich dich mehr lieb als sie. Dann bist du still geworden und hast gefragt, wie sehr ich dich lieb hab‘.“ René brach kurz ab. Ich sah wie er rot wurde und ich selbst fühlte wie ich nervös wurde. Das Kribbeln in meinen Fingern und meinem Bauch wurde so stark, dass ich mich in die Bettdecke krallte. „I-Ich hab‘ gesagt, dass ich dich eben sehr mag. Eben viel mehr als alle anderen zusammen. Du hast gefragt, so wie die Erwachsenen? Und ich … hab nicht geantwortet. Dann bist du näher gekrabbelt und hast angefangen etwas zu sagen, aber ich sah nur deine Hände. Wie sie nacheinander den Ast umklammert haben und wie du danebengegriffen hast.“ René biss sich erneut auf die Lippen. Aber ich fragte nicht weiter nach. Egal was er eben noch hatte sagen wollen, er schob den Gedanken zur Seite und sah mich klar und direkt an. „Jay, ich … ich mag dich sehr. Im Vergleich bestimmt so sehr wie die Erwachsenen einander mögen. Aber … du weißt deine Antwort bestimmt nicht mehr, oder?“ Sein mutiger, selbstbewusster Blick wich einer deutlichen Unsicherheit. Es war verständlich, denn ich sah weg. Das war gerade ziemlich viel Input und ich wusste weder was ich damals antworten wollte, noch was ich jetzt sagen sollte. Ich war verwirrt und fühlte einen leicht pochenden Schmerz an der Schläfe. Zudem wollte ich nicht irgendwas sagen. DAS war es, was mich so quälte, da war ich mir sicher. Aber wenn ich nicht wusste was ich antworten wollte oder schlimmer noch, nicht alle Erinnerungen beisammenhatte, um sagen zu können, ob ich ihn ebenso mochte oder nicht, wie könnte ich René jetzt eine aufrichtige Antwort geben? Betrübt sah ich auf meine Finger. Ich spürte noch immer mein Herz rasen und hörte es deutlich in meinen Ohren pochen. Etwas war da. Aber immer, wenn ich glaubte, jetzt konnte ich es greifen, verlor sich das Gefühl und der Gedanke glitt wie Wasser durch meine Hände. „René …“, begann ich und er schluckte schwer. „Ich habe mich noch nicht an alles erinnert. Ich weiß nicht, was ich dir antworten wollte, aber ich will dir antworten.“ Ich kratzte das bissen Mut zusammen, was ich finden konnte und war mir sicher, dass mein Gesicht ebenso hochrot war wie seines. „Ich will dir antworten, also … wartest du noch etwas? Bis ich mich erinnere. Bitte.“ Stocksteif nickte René. Ich glaube wir wussten beide nicht, was in dem Moment peinlicher gewesen war. Dass wir Jungs über so was wie Gefühle redeten oder dass ich ihn bat zu warten und er wartete. Zumindest war ich mir sicher, dass sein Herz genauso schnell schlagen musste wie meines. Vor Scham, vor Aufregung und ein bisschen auch aus Vorfreude. Ich hatte da so ein Gefühl, auch wenn ich es nicht in Worte fassen konnte. Nach ein paar Minuten war die angespannte Stimmung verflogen. Irgendwie hatten wir das Thema mit dem Klassenkameraden von vorhin wieder aufgenommen und erzählten nun locker und vollkommen entspannt miteinander. Als Josi und C.G. zurückkamen, staunten sie nicht schlecht. Sofort stiegen sie mit ein und abermals hocken vier Kinder auf einem Bett. Er wurde unterhaltsam, lustig und laut. Als eine Schwester reinkam und uns ermahnte leiser zu sein, nahm meine Oma das als Zeichen den Besuch abzubrechen. „Schade. Dann bis morgen“, sagte ich zu den Dreien mit einem breiten Grinsen. Ich freute mich wirklich. Noch bevor ich Pläne schmieden konnte, nicht zu viel zu denken, damit ich mich möglichst schnell an den ganzen Rest und vor allem an meine Antwort für René erinnern konnte, bemerkte ich, dass noch eine Person im Zimmer stand. Ihre Augen funkelten und wirkten trotz der ganzen Falten scharf wie Krallen. Die drei Kinder hatte sie vorgeschickt und die Tür geschlossen. Ruhigen Schrittes kam meine Oma auf mich zu. Ich weiß nicht, ob das noch jemandem so geht, aber wenn ein Erwachsener auf mich zukommt, dabei guckt, als hätte ich eine ganze Packung Kekse über der Couch zerkrümelt, wurde mir gleich ganz anders zu mute. Das fluffige Gefühl in meinem Magen verschwand gänzlich und eine nervöse Unruhe machte sich breit, durch die meine Finger kalt wurden. „Oma“, meinte ich freundlich zu ihr und Lächelte. Sie nickte nur distanziert und besah mich von oben bis unten. Ich hatte nur normale Jogger und ein Shirt an. Nicht mal das Krankenhausnachthemd von vor ein paar Tagen. Es dürfte nichts geben, was an mir schlecht aussah und trotzdem, sah ich an mir herunter und versuchte zu verstehen, was ihr Blick bedeutete. „Jareth, weißt du noch wie du mit deinem Opa, Gott habe ihn seelig, das Einschlagen von Nägeln geübt hast?“ Ich brauchte einen Moment. Das Thema war zu abrupt und irgendwie kam ich nicht hinterher. Dennoch meinte ich verschwommen eine solche Erinnerung greifen zu können. „Nicht wirklich. Etwas verschwommen.“ Meine Oma seufzte. Scheinbar viel ihr ein, dass mein Gedächtnis im Moment nicht das Beste war. „Sicherlich, entschuldige. Aber du verstehst mich trotzdem. Dein Opa hat immer auf korrekte Arbeit bestanden. Ihm waren nicht nur Disziplin und Ausdauer wichtig, sondern auch die ordentliche Ausführung. Das hat er dir beigebracht, als du fünf warst und ihr zusammen ein Vogelhaus gebaut habt.“ Wo sie es erwähnt. Dunkel erinnerte ich mich an etwas. Ein Vogelhaus … Groß hatte es sein sollen und es stand immer noch im Garten meiner Großeltern. „Einen Nagel schlägt man gerade ein, sonst hält er nicht.“ „Stimmt und Löcher mussten auch akkurat gebohrt werden. Aber dass der Akkuschrauber damals noch zu schwer für mich war, hat er nicht mitbedacht“, ergänzte ich, etwas von mir selbst überrascht. Meine Oma indes nickte nur zufrieden. Keine Ahnung was das sollte, aber ich fühlte mich erleichtert, dass ich mich richtig erinnert hatte. Als sie mich wieder ansah, verflüchtigte sich meine Erleichterung wie Rauch im Wind. Ihre eben so freundlichen Augen wirkten wie schwarzer Obsidian und die Falten um ihre Augen herum, ergänzten den furchterregenden Blick. „Dann ist dir bewusst, dass das, was du und dieser Junge eben beredet habt, das Gegenteil von dem ist, was dein Opa dich gelehrt hat.“ Sprachlos sah ich sie an. Mein Gespräch mit René eben? Es ging um die Schule und… „A-Aber Oma… das war doch nur-“ „Versuche nicht dich herauszureden“, sagte sie streng. Obwohl sie normal laut sprach, glaubte ich sie hätte mich angeschrien. Meine eh schon wackelige Widerrede verstummte und jedes weitere Wort blieb mir im Halse stecken. „Viel zu lange gucke ich mir das mit an. Schlimm genug, dass der Vater deines Freundes solch ein Thema zu uns nach Hause bringt. Und das beim Tee! So unglaublich taktlos kann nur jemand ohne Prinzipien sein. Diesen Jungen scheint das ebenso angesteckt zu haben. Jungs in Mädchenkleidern. Selbst zu Fasching habe ich solche unnütze Verkleidung noch nie gesehen! Habt ihr euch nicht geschämt?“ Sie sah mich an, ihr Blick so streng, dass ich nichts zu erwidern wusste. Flüchtig dachte ich, dass es mir schon peinlich gewesen war. Trotzdem hatten alle Spaß gehabt und es war nur eine Verkleidung gewesen, nicht mehr. „Jareth, du wirst einmal in deines Vater Firma arbeiten, sowie deine Kinder nach dir. Glaubst du mit einer Verwirrung wie dieser Bengel versucht dir einzureden, kommst du weit im Leben?“ „Oma … was?“ „Jungs und Jungs sind Freunde, loyal wie Brüder. Alles was darüber hinaus geht, solltest du als Verrat an eurer Freundschaft ansehen. Im Moment scheint es nicht wichtig für dich zu sein. Doch du wirst dein Interesse an Freuen noch entdecken und zwar nur an Frauen. Mein Enkel, ich meine es nur gut mit dir. Wenn du deinen Freund das nächste Mal siehst, wirst du ihm sagen, dass du dich an nichts erinnerst und ihr nur ganz normale Freunde seid. Das ist für dich und auch ihn das Beste. Gefühle anderer Art existieren nicht und werden nie existieren. Nicht in meiner Familie!“ Es war spät in der Nacht und ich saß noch immer wach im Bett. Omas Worte brauchten lange um durchzusickern. Wenngleich ich bei ihrer Rede sofort Angst, Pein und Scham verspürte, wurde mir die Bedeutung all dessen erst Stunden später bewusst. Ich war ihre Worte immer und immer wieder durchgegangen. Dachte über René und mich nach, über Josi, die meinte, ich sollte mich entscheiden, sonst spricht sie zuerst mit René. In dem Wirrwarr meiner Gedanken spürte ich etwas wie einen roten Faden. Mit Worten griff ich ihn nicht. Doch mit jedem Gedanken an Josi, an René, an den Unfall, an Oma, an das Gefühl, welches sich brennend durch meine Brust fraß wie zähflüssige Lava, hangelte ich mich an diesem roten Faden entlang bis zur einzigen und überdeutlichen Wahrheit. Mit einem Mal verschwand der Nebel in meinem Kopf. Die Bilder und Erinnerungen wurden klar. Die Gefühle und Worte alle an ihrer Stelle. Ich freute mich so sehr, dass ich breit grinste. Dann spürte ich etwas wie abertausende Schmetterlinge in meinem Bauch. René! Sicher, wie konnte ich das nur vergessen! Ich wusste was ich sagen wollte, was ich fühlte. Seit langem fühlte. Nur hatte ich mich nie getraut etwas zu sagen. Angst saß mir im Nacken und endlich wusste ich um ihre Quelle. Immer wenn René und ich alleine spielten, bemerkte ich Oma unweit von uns. Wenn die eigene Oma in der Nähe war, dachte man sich nichts bei. Aber jetzt… Sie hatte nicht einfach so ihre Dinge erledigt, sondern uns aktiv beobachtet. Dieser kalte Schauer, den ich spürte, wenn ich René zu nah kam, wenn wir uns nur etwas zu lange umarmten oder zu sehr tollten, das war sie gewesen. Ihre Missbilligung dessen, was wir Kinder nicht sahen oder wusste, aber sie bereits erahnte?! Wie konnte sie nur, fragte ich mich und fühlte wie alles Fluffige und Leichte wie Steine niederfielen. Ihre Worte machten Sinn. Einen grausamen Sinn, der sich wie Ketten um mich legte. Ich wollte ihr gerne genügen, aber … aber! Als am nächsten Tag der Besuch kam, war ich noch immer zerknittert von der vergangenen Nacht. Ich war zu spät eingeschlafen und hatte dann auch noch einen sehr unruhigen Schlaf gehabt. Davon abgesehen hatte ich einen Entschluss gefasst. Selbst wenn ich eine Gänsehaut bekam, da ich sicherlich nicht einfach davonkommen würde. Aber ich war mir sicher. Lieber ging ich nach dem, was ich deutlich fühlte und für gut empfand, als nach dem, was man mir verbieten wollte. Selbst wenn mein Opa mir damals viel beigebracht hatte, hatte er nie meinen Sturkopf und Freigeist gebändigt bekommen. Darum war das Vogelhaus auch nicht wie jedes andere Vogelhaus geworden, sondern dreimal so groß mit zwei Etagen. Selbst als Opa über diese unsinnige Idee geschimpft hatte, hatte ihm die Fertigstellung Spaß gemacht. Darum konnte ich es kaum erwarten, René zu sagen, dass ich mich erinnerte! Er sollte es zuerst erfahren und dazu meine Antwort. Alle sollten er hören. Egal was danach für Ärger auf mich zukommen würde. Ich war so aufgeregt Renés Gesicht zu sehen, dass ich es kaum aushielt. Josi und C.G. kamen zum späten Nachmittag. Laut meiner Schwester war Oma auch da, doch wollte sie uns Kindern die Zeit alleine gönnen, weil der Besuch heute nur kurz sein würde. „Und kommt René nicht?“, fragte ich, versucht ruhig zu bleiben. „Er wollte nachkommen“, antwortete C.G. „Er kommt sicher gleich. Wie sieht es mit deinen Erinnerungen aus?“, fragte Josi indes. Da René der Erste sein sollte, log ich ihr etwas vor. Ich sagte, dass ich mich an mehr erinnern könne und die doofen Kopfschmerzen auch weg sein. Es gelang mir meine Show aufrecht zu erhalten, bis die beiden sich verabschiedeten. Ich zog meine Schuhe an und meinte, dass ich sie noch hinaus begleiteten würde. Im Foyer angekommen begrüßte ich meine Oma. Sie lächelte, doch spürte ich ihren beißenden Blick. Wie ein unsichtbarer Rohrstock, der auf meine Hände zielte. Zu meinem Bedauern war René nicht im Foyer. Er kam auch nicht nach oder rief an. Gut, ich habe keine Ahnung warum er hätte anrufen sollen, aber … ich war so fest davon ausgegangen, dass er heute kommen würde, dass mich sein Nichterscheinen schwerer traf als ich zugeben wollte. Am nächsten Tag rechnete ich mir neue Chancen aus, welche durch meine Entlassung zunichte gemacht wurden. Meine Eltern nahmen mich mit nach Hause und sagten, dass ich erstmal alles in Ruhe erkunden sollte, auch wegen meiner Rippen, welche nur noch etwas zwickten. Sie wussten nicht, dass ich mich erinnerte und ich hatte nicht vor es ihnen zu sagen. Zwei Tage schaffte ich es die Beine still zu halten. Am dritten Tag wollte ich wenigstens mit meinen Freunden Telefonieren dürfen. Mutter war sich unsicher. Aber mein Vater meinte, da ich mich ohne Probleme im Haus zurechtfinden würde, war mein Gedächtnis wohl nicht mehr doll beeinträchtigt. In anderen Worten, er glaubte, dass ich durch den Sturz nicht dumm geworden war. Ich rief C.G. an und wir erzählten eine halbe Stunde. Dann rief ich René zu Hause an, aber niemand nahm ab. Ich versuchte es später erneut und nochmal, aber niemand nahm ab. Wenigstens seine Eltern müssten doch rangehen, selbst wenn er Beleidigt oder böse mit mir sein sollte, oder? Erst am nächsten Tag nahm endlich jemand ab. Es war René Mutter, die sagte, dass sie gerade keine Zeit hätte und René wäre wohl in der Schule. Ich schlug mir in Gedanken auf die Stirn. Sicherlich. Josi war ja auch in der Schule. Ich bat darum, dass René mich zurückrufen sollte, wenn er wieder zu Hause wäre. Aber seine Mutter versprach nicht, dass sie die Zeit dafür haben würden. Ich meinte noch, dass es dringend sei, da legte sie bereits auf. Mit runtergezogenen Augenbrauen starrte ich auf das Telefon. Was bitte sollte das? Warum um alles in der Welt war es so schwer René zu erreichen?! Es half alles nichts. Als meine Mutter nach Hause kam, bat ich sie morgen in die Schule gehen zu dürfen. „Jay, mein Schatz. Du bist noch bis Ende der Woche Krankgeschrieben. Es reicht doch, wenn du Montag zur Schule gehst.“ „Nein, Mama … weißt du, mir geht es doch wieder ganz gut. Ich verpasse so viel und habe ja noch meine Sportbefreiung. Josi kann mir keine Mitschriften mitbringen und C.G. habe ich nicht in allen Fächern. Ich wollte René fragen, ob er für mich in den anderen Fächern mitschreibt, aber ich erreiche ihn nicht.“ „René?,“, widerholte meine Mutter und sah überrascht aus. „Schatz, rufe ihn doch einfach an.“ „Das habe ich. Gestern auch und heute ist nur seine Mutter rangegangen.“ „Hast du sie gefragt, ob sie deine Bitte weitergibt?“, fragte meine Mutter nach. „JA, aber sie schien irgendwie beschäftigt.“ „Schatz, wenn sie sagt, sie gibt es weiter, wird sie es auch tun. Und nun sei so lieb und hilft mir mit dem Einkaufstüten.“ Artig wie ich war, nahm ich ein paar der Tüten und trug sie in die Küche. „Aber Mama es ist so langweilig hier“, versuchte ich mein Glück erneut. „Hast du das neue Spiel schon durch, dass du für deine Konsole bekommen hast?“ „Fast, aber …“ Was ich auch versuchte, ich biss auf Granit. Gut, dachte ich und wartete bis mein Vater nach Hause kam. Wieder versuchte ich artig und überzeugend zu sein und wurde nur vertröstet. Mein Vater schaffte es sogar fast dieselben Antworten zu geben wie meine Mutter. Es war frustrierend. Josi hielt sich aus dem Gespräch raus und einen Rückruf bekam ich auch nicht. Am nächsten Tag rief ich noch vor der Schule bei René an, aber es ging keiner ran. Abends rief ich nochmal an, aber wieder nahm keiner ab. Ich war nicht mehr einfach nur frustriert. Je länger ich warten musste und nichts von René hörte, desto unruhiger wurde ich, bis ich meinen Fingern bei Zittern zusehen konnte. Ich hatte Angst er könnte sich wirklich nicht melden, mich einfach ignorieren. Weggehen. Loslassen. Dabei waren wir doch im Guten auseinander gegangen! Meine Angst wurde zu einem hektisch-panischem Stress, welcher mich selbst nachts wachhielt. Am Wochenende rief ich nochmals an, bis meine Mutter mir das Telefon verbat. Ich sollte doch keinen Telefonterror machen. Wenn sie nur wüsste! Verärgert knallte ich das Telefon auf den Tisch und ging in mein Zimmer. Später am Abend griff ich mir das blöde Ding erneut. „Jareth, ich hoffe, du willst nicht wieder-“, begann mein Vater mit strenger Stimme. „Ich rufe nur C.G. an“, unterbrach ich ihn wirsch. Entnervt ging ich auf mein Zimmer und telefonierte mit meinem Freund. „Hey, wie geht’s? Ah cool. Mir geht’s gut. Jaaa, es geht mir blendend. Hach… nein, ich bin nur etwas gestresst, glaub ich. …Natürlich ist das nicht förderlich, deswegen nervt es mich umso mehr. Aber sag mal C.G. weißt du zufällig was mit René ist? Ich bekomme ihn zu Hause nicht erreicht und meinte Eltern lassen mich ja nicht aus dem Haus. … Zur Schule kann ich erst übermorgen wieder... genau Montag bin ich wieder da!“, sagte ich grinsend und voller Vorfreude. C.G. jubelte mit mir und erzählte mir die neusten Storys aus den Klassen und vom Schulhof. Ich hörte zu, merkte aber, dass er mir auswich. Immer wenn ich ihn nach seinem Cousin fragte, lenkte er ab. Im Endeffekt legte er auf, ehe ich ihn darauf festpinnen konnte. Am Sonntag sprach ich Josi an. Sie wusste natürlich nicht, was in der Schule passierte, da sie dort mit ihren Mädels abhing. Aber ein bisschen hätte sie doch wissen müssen. „Jay, weißt du … als du noch im Krankenhaus warst, da … weißt du, René war wirklich traurig dem einen Tag.“ „Ja, das tut mir auch Leid, aber ich habe mich da an noch nichts erinnert. Darum muss ich ihn ja jetzt unbedingt sprechen.“ Mit großen Augen sah Josi zu mir. „Heißt das, du erinnerst dich?“ Ein Lächeln zuckte an meinem Mundwinkel. Ich war so überdreht, dass ich bereit war, mein Geheimnis mit Josi zu teilen. „Jareth, komm doch mal bitte und hilf mir in der Küche“, rief meine Mutter aus besagtem Raum. Ich stöhnte hörbar auf und trottete nicht erfreut zu ihr. „Muss das sein? Ich unterhalte mich gerade mit Josi.“ Überrascht von meinem Ton, sah meine Mutter auf. „Ja, das muss sein. Ihr könnt später reden.“ „Ach, Mum… bitte.“ „Was? Jay, was soll dieses nörgelnde Verhalten? Du weißt, dass du dich nicht aufregen sollst und doch machst du das Gegenteil von allem, was ich von dir verlange.“ „Mum vielleicht“, schaltete sich Josi ein, wurde aber von unserer Oma unterbrochen. „Kind misch dich da nicht ein.“ „Aber Oma! Er will doch nur mit seinen Freunden reden. Warum darf er das nicht?“, fragte Josi protestierend. „Wenn er wieder gesund ist, kann er alles machen, was er will“, schaltete sich mein Vater ein, der seine Zeitung am Küchentisch las und nicht mal aufsah. „Ha! Sicher … und so lange bleibe ich hier eingesperrt.“ „Morgen gehst du doch in die Schule“, meinte meine Mutter besänftigend. „Wenn Jay nicht raus darf, können die Anderen doch herkommen!“, schlug Josi vor. „Er braucht seine Ruhe Kind“, ermahnte Oma uns. „Ich bin sehr viel ruhiger, wenn ich meine Freunde um mich habe“, insistierte ich. „Du hast deine Freunde im Krankenhaus oft genug gesehen. Keiner von ihnen hat zu einer schnelleren Genesung beigetragen“, sagte Oma streng. Ich sah sie an und dachte nur an unser „Gespräch“. War sie immer noch sauer deswegen. Scheinbar. Aber ich wollte nicht aufgegeben. Nein, ich wollte René sagen, was ich fühlte und dann- „Hast du René deswegen verboten Jay zu besuchen?“, platze es aus Josi heraus. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, während ich meine Oma ungläubig anstarrte. „Das war nur zu seinem Besten. Außerdem hat der Junge es verstanden“, bestätigte Oma. „Du hast was?! Aber dazu hast du kein Recht!“, brüllte ich unvermittelt los. „Jay!“, riefen meine Eltern zeitgleich erbost und mich ermahnend, mich zu zügeln. Oma blieb indes ruhig und sah mich mit ihren undurchdringlich alten Augen an. „Ich habe alle Rechte, die es gibt in dieser Familie. Dein Freund hat es verstanden, du solltest es auch.“ „Jay, mein Schatz. Reg dich nicht auf. Es war sicherlich besser für René. Immerhin hat er viel zu tun“, ergänzte meine Mutter im ruhigen Ton. Mein Herz raste bereits, vor Aufregung und Zorn. Trotzdem fühlte ich einen neuen Schauer meinen Rücken runterrollen. „Wie meinst du das?“, fragte ich nach und wandte mich meiner Mutter zu. Sie seufzte schwer und legte das Messer zur Seite mit dem sie eben noch das Gemüse geschnitten hatte. „Ich habe Renés Mutter vor ein paar Tagen in der Stadt getroffen. Wir haben uns unterhalten und sind zu dem Schluss gekommen, dass es für euch beide besser ist, euch eine Zeitlang nicht zu sehen.“ „Wie ... .meinst du das?“, wiederholte ich meine Frage und spürte meinen Mund trocken werden. „So wie ich es sage. Weißt du, René hat sich wirklich schwere Vorwürfe gemacht, dass du vom Baum gefallen bist. Seine Mutter sorgt sich sehr um ihn. Nach jedem Besuch bei dir, sei er niedergeschlagener gewesen als zuvor. Und da der Umzug anstand-“ „Umzug?!“, riefen Josi und ich aus einem Mund. „Ihr Mann hat eine bessere Anstellung bekommen und sie ziehen näher an seinen Arbeitsplatz. Eigentlich sollte der Umzug erst Ende des Monats stattfinden, aber mit all den Umständen“, sie deutete auf nichts bestimmtes und doch verstand ich, dass sie mich damit meinte, „haben sie es vorgezogen.“ „Wann? Wann ziehen sie um?“ „Dieses Wochenende. Eigentlich sollten sie bereits in der neuen Wohnung angekommen sein.“ Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen ersten wirklich Blackout. Nicht, dass ich hyperventiliert hatte oder wütend irgendwas durch die Gegend warf. Ich war einfach out of order. Stumm und steif stand ich da, sodass selbst mein Vater die Zeitung weggelegt hatte. Josi rüttelte sanft an mir. Das half mir, soweit zu mir zukommen, um monoton zu antworten und dass niemand einen Notarzt rufen musste. Ich ging auf mein Zimmer und stand dort lange einfach nur rum. Als sich meine Gedanken endlich träge zu bewegen begannen, fiel ich auf meine Knie und blieb dort Sitzen, wo ich eben noch gestanden hatte. Nicht nur, dass meine Oma gegen mich und René war. Sie hatte obendrein verboten, dass wir uns sehen konnten. Josi hatte von dem Verbot gewusst und mir nichts gesagt und meine Mutter fand, dass uns Abstand guttun würde?! Aber egal wie sehr mich das Verhalten meiner Familie in jenem Moment verletzte, René … er zog um und ging nicht ans Telefon. Seine Mutter hatte gesagt, er wäre niedergeschlagen gewesen. Wegen Oma? Wegen dem Verbot oder weil ich ihm nicht antworten konnte? Dieses Gefühl, dass ich nach meinem Aufwachen gehabt hatte, war eindeutig wegen René gewesen, dass wusste ich jetzt. Hatte ich ihn zu sehr verletzt, als ich ihm keine Antwort geben konnte? Vielleicht, weil er wusste, dass er bald wegzog, wollte René umso mehr eine Antwort haben. Eine, die ich ihm nicht geben konnte. Darum bat ich ihn zu warten. Ich dachte mir nichts dabei! Wie auch? Woher sollte ich wissen, dass Oma René ein Besuchsverbot aussprechen würde? Dass mich alle in Watte packen und anlügen würden. Dass er wegzog und es nicht mit einem Wort erwähnt hatte. Selbst C.G. hatte nichts davon erzählt! Und René? Was war mit den Anrufen, er musste sie gehört haben, oder? Hatte seine Mutter ihm Bescheid gegeben? Ich hockte auf meinem Fußboden und hörte mich schluchzen, noch ehe ich meine Tränen fühlte. Was dachte ich da? War es nicht meine Schuld, dass alles so gekommen war? Warum passte ich auf diesem blöden Ast nicht auf und griff daneben? Warum musste ich so einen Unfall bauen, bevor ich René gesagt hatte, was ich fühlte?! Warum musste ich meine Erinnerungen verlieren und René hinhalten?! Es geschah mir recht, wenn René nach all dem nichts mehr von mir wissen wollte. Er ging, schwieg sich aus, sagte nichts. Hätte er gewollt, hätte er mich anrufen können oder seinem Cousin einen Zettel mitgeben können. Es hätte Möglichkeiten für ihn geben mich zu erreichen, wenn er gewollt hätte. Da er es nicht getan hatte und nun so lautlos verschwunden war, hieß das doch, dass ihn meine Antwort nicht mehr kümmerte, oder nicht? Ich kauerte mich mehr auf dem Boden zusammen. Bedacht leise zu sein. Ich wollte niemanden auf mich aufmerksam machen und erklären müssen, warum ich über den Umzug eines Freundes so weinte. Ich wollte nicht erklären, warum mir das Herz so weh tat, mir jede Faser in Schmerz aufschrie und der Kloß in meinem Hals nicht kleiner wurde. Es tat so weh! Ich erinnerte mich! Der erste den ich hatte sehen wollen, dem ich alles erzählen wollte, war René! Aber der war weg. Einfach weg. Warum ließ er mich hier alleine zurück!? Ich hatte von Anfang an nur zu René gewollt! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)