Aquila von Ryu_no_Sekai ================================================================================ Kapitel 6: Lethes Trunk ----------------------- Energisch riss Asriel die Tür auf und hielt einen Moment inne, als er die Person vor sich erkannte. „Was willst du?“, fragte er skeptisch. „Nur mit dir reden“, erwiderte Plague ruhig. „Darf ich eintreten?“ „Verschwinde.“ Er wollte die Tür gerade wieder schließen, als sie durch einen Fuß blockiert wurde. „Müssen wir das auf diese Art regeln?“ Asriel war das Kämpfen zwar leid, doch schaffte er es nur schwer aus seiner Haut. Er hielt die Tür eisern fest und starte in die schwarzen Löcher der Pestmaske, hinter denen sich Plagues Augen versteckten, deren warmes Leuchten schon lange erloschen war. Plague war genauso müde wie er selbst. „Also gut“, gab er nach und ließ Plague hinein. Dieser sah sich in dem kleinen Haus um. „Ziemlich herunter gekommen.“ „Hm …“ Kurz ließ auch Asriel selbst den Blick über die hellgetäfelten Wände gleiten, von welchen die Farbe abblätterte. Die alten Landschaftsbilder an der Wand waren verblichen. Doch das war egal, durch den Staub konnte man so oder so nicht viel erkennen. Der Spiegel, der auf einer Kommode stand, gab ihr Spiegelbild wie durch einen milchigen Schleier wieder und verpasste ihnen etwas Gespenstisches. Die weißen Spitzendeckchen, die Tische und Sofa im Wohnzimmer schmückten waren mittlerweile vergraut und starrten vor Dreck. Die Polster der tannengrünen Sofagarnitur waren verstaubt, so dass es unmöglich war, sich hier mit einem Gast hinzusetzen. Sie setzten ihren Weg durch das Wohnzimmer in die Küche fort. Auch hier blätterte die weiße Farbe von den Schränken ab, deren Türen träge in den Verankerungen hingen. Ein Haufen dreckigen Geschirrs sammelte sich in der Spüle und schien schon seit Jahren darauf zu warten abgewaschen zu werden. Plague hatte Recht, es war ziemlich heruntergekommen. Aber Asriel hatte keine Lust etwas daran zu ändern – wozu auch? „Setz dich“, wies er seinen aufgezwungenen Gast an und machte sich auf die Suche nach sauberen oder zumindest halbwegs sauberen Tassen. „Wie geht’s der alten Lady?“, erkundigte sich Plague, während Asriel die Tassen mit etwas Wasser ausspülte. „So wie immer.“ Er stellte Plague eine Tasse hin, und setzte sich ihm gegenüber an den wackligen Tisch. „Was willst du?“ „Erstmal wissen, wie es dir geht.“ „Mir geht es gut, danke, und selbst?“, entgegnete Asriel aus dem letzten Rest Höflichkeit heraus, den er noch besaß. „Sehr gut“, antwortete Plague, und ein breites Lächeln zierte seine unverdeckte Gesichtshälfte. Asriel konnte nicht erkennen, ob es auch seine Augen erreichte. Doch, als er sich den eingefallenen und zierlichen Körper besah, war er sich sicher, dass sein Gegenüber gelogen hatte. Er nahm ein Schluck Wasser. „Du hast ganz schön abgebaut.“ „Genau wie du ... Wir werden wohl langsam alt.“, erklärte Plague mit einem gequälten Lächeln, auf seiner jugendlichen Gesichtshälfte. Wie sehr das Äußere täuschen konnte. „Du bist wohl kaum hier, um über alte Zeiten zu plaudern.“, versuchte Asriel Plague auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu bringen. „Nein, allerdings nicht.“ Plague legte eine Pause ein, in welcher er seine Position veränderte, in dem er sich etwas zurücklehnte. „Hades hat einen Auftrag für dich.“ Asriels Blick verengte sich. Wenn Hades im Spiel war, hatte es nie etwas Gutes zu bedeuten. „Und was für einen Auftrag?“ „Ich wusste, du wärst interessiert. Also, gestern tauchte eine Dämonin auf der Erde auf. Sie wurde von den Engeln entdeckt«, begann Plague. »Und was haben wir mit einem toten Dämon zu tun? Es gibt doch immer wieder Verrückte, die versuchen, auf die Erde zu kommen«, entgegnete Asriel. Sonst interessierte es Hades reichlich wenig, was mit diesen Idioten geschah. »Sie ist nicht tot, ein Mensch hat sie gerettet«, fuhr Plague fort. Und Asriel lachte schnaubend. »Armer Teufel. Ich verstehe aber immer noch nicht, was du nun für einen Auftrag hast.« »Hades will, dass du sie rettest. Er schickt dich auf die Erde, dort wirst du sie suchen und sicher zurück begleiten.“ Asriels Muskeln verspannten sich. Zurück auf die Erde? Alleine? Und das wegen einer Rettungsaktion? Das war ein Himmelfahrtskommando. „Denkst du, du schaffst das?“ Asriel versuchte, seine angespannten Glieder zu entspannen und sich seine Nervosität nicht anmerken zulassen. „Das ist Selbstmord“, brachte er schließlich so abgeklärt wie möglich hervor. „Wahrscheinlich“, bestätigte Palague und fügte hinzu: „Vielleicht findest du dann endlich deine Ruhe.“ „Ich habe hier genug Ruhe.“ Plagues Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Dann seh es eben als ein letztes Abenteuer.“ Asriel ging nicht weiter darauf ein. Drehte einfach seinen Becher in seiner Hand. Nur Wasser. Er würde sicher etwas Stärkeres brauchen, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden.Er stellte seinen Becher weg und begann die Schränke zu durchwühlen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Einige große Flaschen, gefüllt mit einer goldbraunen Flüssigkeit. Er nahm eine aus dem Schrank und zeigte sie Plague. „Willst du auch?“, fragte er ihn, doch Plague lehnte kopfschüttelnd ab, als er die verstaubte Flasche sah. Asriel wischte den Staub grob ab, und fragte sich, woher er kam. So lange konnte der Whiskey noch nicht im Regal stehen. Immerhin trank er gerne und oft um seine Vergangenheit zu verdrängen. Er wollte vergessen, und Alkohol erschien ihm eine gute Möglichkeit zu sein. Einen Moment überlegte er sich, ein Glas zu nehmen. Dann entschied er sich anders, setzte sich auf seinen Stuhl und trank direkt aus der Flasche. Der Alkohol brannte in seinem Rachen und er musste unwillkürlich Husten; es fühlte sich fast so an, als hätte er schon für lange Zeit nichts mehr getrunken. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Plague. Asriel wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ja, super“, gab er krächzend zurück und nahm gleich noch einen großen Schluck, um sich wieder daran zu gewöhnen. Er wollte nicht an den bevorstehenden Kampf denken, denn das erinnerte ihn an die vergangenen Kriege. „Denkst du wirklich, das ist der richtige Weg?“, fragte Plague. „Es ist der einzige.“, entgegnete Asriel und drehte die Flasche in seiner Hand. „Wie kommst du mit den Erinnerungen klar?“ Plague zuckte mit den Schultern. „So wie mit allen anderen auch.“ „Gibt es nichts, was du bereust?“, fragte er, während er aus dem Fenster hinaus zum Fluss sah. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Plague setzte sich gerade hin, und rutschte dabei auf seinem Stuhl umher. „Es gibt nichts, was ich bereue“, erklärte er kühl. „Es gibt Dinge, die ich nicht tun wollte – aber ich hatte keine andere Wahl, ich musste sie tun ... es ist nicht an mir deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben.“ Eine Weile schwieg Asriel und dachte über die Worte des anderen nach. „Weißt du ...“, sagte er schließlich. „Ich kenne kaum jemanden, der so schrecklich ist wie du.“ Plagues Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, während Asriel fortfuhr. „Du hast dich durch die Reihen geschlagen wie durch einen Blätterwald. Nicht einen Kratzer hast du davon getragen und die anderen auf grausamste Weise niedergemetzelt. Du hast gewirkt wie der Tod persönlich – es war fast so, als hättest du Spaß am Töten.“ Er sah wieder die blutdurchtränkten Schlachtfelder vor sich, den schwarzen Schlamm, die roten Flüsse. Fühlte die Kälte auf seiner Haut und den Tod im Nacken, während die Dunkelheit alles gefangen nahm. Licht. Rotgolden schimmernd wie der Morgen. Wärmend, schützend, heilend, mit dem schönsten Lächeln, das er je gesehen hatte. Der Alkohol brannte in den Schnitten. Blut tropfte auf den Boden. Langsam öffnete Asriel seine Faust, und einige Scherben fielen klirrend zu Boden. Er bis die Zähne zusammen, war froh über den Schmerz, denn er bewahrte ihn vor mehr Erinnerungen. Schlimmen Erinnerungen, schmerzhafte Erlebnisse, deren Gedanken er nicht ertrug. Er schaute zu Plague auf, und spürte auch dessen Blick ernst auf sich liegen. „Ich hatte genauso wenig Spaß am Töten wie du“, sagte er. Und Asriel war sich sicher, dass es das Ehrlichste war, was er je von dem anderen gehört hatte. Langsam wischte er die Scherben und das Blut ab. Mit einem kurzen Räuspern fragte er: »Wieso will Hades diesen Idioten retten?« Plague überlegte einen Moment, bevor er antwortete: »Das hat er nicht gesagt - er hat eigentlich noch nicht mal gesagt, dass du sie zurückholen sollst. Aber ... du kennst ihn ja.« Asriels Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wer ist sie?« »Grace.« Sein gesamter Körper verspannte sich. Kalter Schweiß trat auf seiner Stirn aus. »Meine Grace?«, fragte er. »Ja«, antwortete Plague nickend. Für Asriel klang es wie ein Todesurteil. »Das kann nicht sein.« Bilder eines brennenden Hauses bildeten sich vor seinem inneren Auge. Eine Frau lag auf dem Boden, der Körper bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Unzählige Engel beugten sich über sie. Finsternis. »Wie konnte das passieren?«, fragte er schwach. Er schmeckte das Blut auf seinen Lippen. Sah, wie die rote Flüssigkeit sein Schwert entlang lief. Mit schweren Schritten stieg er über die Leichen der Engel hinweg die Treppe hinauf zum Kinderzimmer. Seine Hände zitterten, als er die Türen des hellen Schrankes aufzog. Aber da saß sie. Ein kleines Mädchen, mit schneeweißen Haaren und Augen, deren Farbe eine undefinierbare Mischung aus Bronze und Silber war. Genau wie die ihres Vaters. »Sie war in Sicherheit. Wie konnte das passieren?«, schrie er Plague an. Dieser hob beschwichtigend die Hände. »Beruhig dich erst einmal.« »Hat er damit zu tun?«, knurrte Asriel bedrohlich. »Hades? Nein! Er weiß selbst nicht, wie das passiert ist - vielleicht hat Mammon-« »Meine Nichte würde niemals einem solchen infantilen Drecksack folgen!« Asriel zitterte am ganzen Körper. Sein größter Alptraum war wahr geworden. »Ich hätte sie nie bei jemand anderen unterbringen sollen - schon gar nicht bei jemandem, der Mammon folgt. Ich -«, ihm fehlten die Worte. Hätte er sie damals nicht zu Mala gebracht, sondern selbst großgezogen, wäre das alles nicht passiert. Aber er hatte es nicht gekonnt. Er hatte es nicht einmal fertiggebracht, sie zu besuchen. »Ist ja gut! Wir finden schon raus, wer daran schuld ist«, entgegnete Plague. »Ich werde dem nachgehen, den Verantwortlichen finden und-« »Aber ich bezweifle, dass du ihm in deiner momentanen Verfassung die Haut abziehen kannst.« Asriel funkelte ihn an: »Was soll das bedeuten: in meiner momentanen Verfassung?« »Du bist ein Säufer, Asriel!«, erklärte Plague. »Du hast dieses Haus schon seit Jahren nicht mehr verlassen, und mindestens so lange keine Waffe mehr in der Hand gehalten. Zudem hast du ein Gedächtnis, wie ein Sieb. Du würdest es zurzeit nicht mal schaffen, einem Baby den Schnuller zu klauen!« Die beiden Männer funkelten sich böse an. »Das hält mich nicht auf. Mala hätte sie beschützen sollen - wenn auch nur die Möglichkeit besteht, dass sie Grace in Mammons krumme Geschäfte gezogen hat ...« Asriel ließ den Satz offen im Raum stehen. Er wusste selbst noch nicht, was er dann tun würde, nur dass es schrecklich blutig würde. Plague betrachtete ihn eingehend. Von der zerschlissenen Kleidung, welche sackartig um den dürren Körper hing; die schwarzen Haare, welche in langen, dreckig verfilzten Strähnen über die mageren Schultern hingen; über das eingefallene bleiche Gesicht bis hin zu den grünen, vor Entschlossenheit glühenden Augen. Er würde sich nicht aufhalten lassen, egal was Plague sagen würde. »Also gut, ich geb dir drei Tage. Danach beginnt dein Training. Wenn ich dich nicht in Form bringe, killt Hades mich persönlich.« »Ego, sicut deus est, custos flammarum,vektor rumpiarum, incanto te: Bellatricem flammae, ex memoriae. Servire mihi, enim ego tuus sanctus dominus sum!« Die Flammen schlugen höher. Erhellten den dunklen Raum mit ihrem warmen Glanz, spiegelten sich aufgeregt in seinen Augen. Diesmal würde es klappen. »Nasce ex reliquia!«, befahl Michael und die Flammen explodierten. Die Wucht schleuderte ihn gegen die Decke, er überschlug sich und kam auf seinem riesigen Schreibtisch zum Liegen. Eine Tür wurde aufgerissen und aufgeregte Schritte kamen auf ihn zu. »Herr! Geht es auch gut?«, fragte die besorgte Stimme seiner Sekretärin. Stöhnend vor schmerz hob er langsam eine Hand. »Mir geht’s super, Eloa. Kein Grund zur Sorge«, beruhigte er sie und unterdrückte ein Husten. Er überlegte sich aufzurichten, entschied sich auf Grund der Schmerzen jedoch noch eine Weile liegen zu bleiben. Die schweren Vorhänge wurden zur Seite gezogen. Sofort durchflutete Licht den Raum und offenbarte das Chaos, das die Explosion angerichtet hatte. Die weißen Wände waren rußgeschwärzt, der Saum der Vorhänge war angesenkt und einige Ordner in den Regalen zu Staub zerfallen. Im Zentrum der Zerstörung lag ein qualmender Stein, welcher geformt war, wie ein menschliches Herz. Viele Risse zogen sich durch seine dunkelrote Oberfläche und es schien, als würde nur das feine Netz aus Silberdraht, dass sich über ihn zog, verhindern, dass er auseinanderbrach. Michael beobachtete, wie der Rauch durcheinanderwirbelte und immer neue Formen bildete. Vielleicht hatte es doch geklappt. Ein Mädchen schob sich in sein Blickfeld. Ihre Finger nestelten nervös an ihrer Kette. Der Blick ihrer blassblauen Augen huschte unruhig über seinen Körper. »Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Eloa und schob sich ein paar verirrte Strähnen ihres himmelblauen Haars zurück. Er schüttelte den Kopf. »Mir geht es wirklich gut.« Sie biss sich auf die Lippe und sah ihn besorgt an. Offensichtlich glaubte sie ihm nicht. »Wirklich«, versicherte er ihr erneut und schenkte ihr ein Lächeln. Doch sie wirkte noch nicht recht überzeugt. »Würdest du mir einen Gefallen tun?« »Natürlich Herr«, antwortete sie pflichtbewusst. »Ich hätte gerne ein Glas Wasser.« »Kommt sofort!«, antwortete sie. Und schien sichtlich erleichtert zu sein, eine Aufgabe zu haben. Sie eilte aus seinem Büro, um seiner Bitte nach zu kommen. Michael schaute zu dem Stein hinüber. Der Qualm hatte sich verzogen. Es hatte wieder nicht funktioniert. »Wieso willst du mir nicht dienen?«, fragte er frustriert. Doch der Stein gab keine Antwort. Erschöpft schloss er die Augen und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Er hörte, wie Eloa mit dem Wasser kam. »Danke«, murmelte er, ehe ihn das kalte Nass ins Gesicht traf. Prustend fuhr er auf und schaute in die zornfunkelnden Bernsteinaugen seiner Schwester. Ihre feinen Züge waren zu einer Maske aus Wut verzerrt. Die rotblonden Haare hingen ihr wild um den Kopf. »Hey Ella, schön dich zu sehen. Was bringt dich her?«, fragte er, während er sich das restliche Wasser aus dem Gesicht wischte. Zur Antwort hielt ihm Gabriella nur eine Kette vor die Nase. Er schnappte sich die Kette, richtete sich auf und besah sich den lavendelfarbenen Stein. Ein tiefer riss zog sich durch ihn hindurch, damit war die Monilis Metamorphosis für nichts mehr zu gebrauchen. »Die ist kaputt ...« »Ist das alles?«, wollte sie mit durchdringendem Blick wissen. Kurz fuhr er sich durch die rötlichen Haare. »Es tut mir leid, was deinem Sohn passiert ist. Aber du solltest froh sein, dass er sie hatte -« »Er ist halb tot!«, fuhr sie ihm über den Mund. »Und ohne die Kette wäre er es ganz.« Einen Moment starrten sie sich wütend an. Dann fuhr er fort: »Hör zu, du hast ihn in einen Kampf geschickt, ohne etwas über die Gegner zu wissen. Und-« »Hätte ich einen Dämon frei rumlaufen lassen sollen? Er ist gefährlich, das Mädchen hat Kontakt zu Hic et Illic und der Jung hat Alexander Steward verletzt. Je mehr Zeit sie gehabt hätten, umso eher hätten sie sich Waffen besorgen können - Es war nicht vorhersehbar, dass sie einen solchen Zauber wirken können. Ich meine, wie ist es möglich, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist?« »Genau das hättest du vorher herausfinden müssen. Jetzt bringt dir das nicht mehr viel.« »Was soll das bedeuten?« Michael sah seine Schwester grimmig an. »Es wird einen Prozess geben.« »Aber ... Ich habe nur das getan, was getan werden musste!« »Ihr habt ein Erdbeben verursacht, bei dem unschuldige verletzt wurden. Ihr habt für ein riesen Aufsehen in den Medien gesorgt - auch wenn die sterblichen es nur eine Naturkatastrophe halten. Isabelle und Alexander wurden schwer verletzt, dein eigener Sohn ist noch nicht aufgewacht. Denkst du wirklich, dass all das nötig war?« Gabriellas Augen leuchteten vor Zorn. »Es ist nicht meine Schuld«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Du-«, sie zögerte kurz. »Es war nie meine Aufgabe unser Heer zu führen, das ist deine. Gott hat dich zum Herrn des Feuers, zum Führer unserer Scharen und zu ihrem Stellvertreter ernannt. Nicht mich. Und trotzdem mach ich das alles. Alles, Mika! Und du- was machst du hier eigentlich?« Ihr Blick wanderte über die Brandflecken und das Chaos aus Unterlagen. »Für unsere Zukunft sorgen«, antwortete Michael wie selbstverständlich und fügte auf den fragenden Blick seiner Schwester hin hinzu: »Für den Kampf gegen Luzifer.« »Luzifer ist tot« Michael zog eine Braue hoch und schenkte ihr einen das-glaubst-du-doch-nicht-wirklich-Blick. »Er wurde nur versiegelt.« »Und die Schlüssel sind verloren.« »Das bedeutet nicht, dass sie nicht gefunden werden können. Bis dahin muss ich seine Kräfte beherrschen«, erklärte Michael. »Seine Kräfte?«, fragte Gabriella alarmiert. »Mika, was treibst du hier?« Michael zögerte kurz. Dann ging er zu der Schüssel, hob den roten Stein auf und zeigte ihn ihr. Gabriella zog scharf die Luft ein. »Das Phönixherz.« Fassungslos schüttelte sie den Kopf, dass ihre ihre langen Haare über ihre Schulter fielen. »Mika, es ist schon seit Jahrhunderten kaputt. Schau es dir doch nur mal an! Es wird nur noch durch den Silberdraht zusammengehalten - Hast du den dadrum gewickelt?« Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort. »Du kannst den Phönix nicht beschwören - er ist tot. So wie die anderen Thiada.« »Er ist nicht tot!«, rief Michael wütend aus. »Ella, ich bin kurz davor, ihn zu beschwören. Und wir werden ihn brauchen. Das letzte Mal brauchte es alle Thiada um Luzifer zu besiegen ... Jetzt ist dies die Letzte, die wir haben. Ich hoffe, dass der Phönix mir zeigen kann, wie ich die anderen finden oder selbst solche Waffen schaffen kann.« »Das ist verrückt! Nur Luzifer weiß, wie man sie kontrolliert.« »Ich werde es lernen«, beharrte Michael. »Ich werde Luzifer in nichts nachstehen.« »Ist es das, worum es hier geht? Deine kindische Rivalität mit Luzifer ...« »Nein. Es geht um die Sicherheit des Paradieses.« »Unsere einzige Bedrohung ist unser verrückter Oberster Engel«, betonte Gabriella wütend. Michael schüttelte den Kopf. »Überleg doch mal: In letzter Zeit kamen immer mehr Dämonen auf die Erde. Dieser Kampf heute, dass der Dämon ausgerechnet - Irgendwas geht da vor. Und ich muss -« »Mit diesem Kinderkram aufhören und meine Aufgaben erfüllen?«, schlug Gabriella vor. »Ich erfülle meine Aufgaben vollkommen«, betonte Michael. »Und wieso bist du dann bei keiner Versammlung mehr anwesend? Wieso leitest du nicht den Bailays-Fall?« »Das tue ich. Ich war nur noch mit einem anderen Angriff beschäftigt. Ein Dämon in L.A. Aber ein Geführchteter in Witchblade, das ist deutlich wichtiger«, verkündete Michael. »Sie ist kein Geführchteter« »Dann sollten wir sie zu einem erklären. So käme es auch zu keinen unüberlegten Handlungen mehr«, schlug er vor und lächelte seine Schwester spöttisch an. Sie warf ihm einen letzten wütenden Blick zu. »Da das dann geklärt ist, kann ich ja wieder gehen.« »Bis bald, Schwesterherz«, meinte Michael noch zu ihr, bevor sie aus seinem Büro verschwand. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte er sich auf seinen Schreibtisch. Das Phönixherz lag schwer in seinem Schoß. Hatte seine Schwester recht? War all sein Bemühen umsonst, da der Phönix schon lange tot war. Schlugen seine Beschwörungen deswegen immer fehl, weil es gar nichts mehr zu beschwören gab? Vorsichtig fuhr er mit dem Finger über den warmen Stein. Nein. Es war nicht vergebens. Der Phönix lebte. Er war zwar angeschlagen und kaputt, aber er lebte noch. Michael bemerkte einen leichten Luftzug. »Ich habe mich schon gefragt, wann du kommst«, meinte er, während er den Stein zur Seite legte. »Wirst du sie töten?«, wurde er gefragt. Michael konnte die Sorge deutlich aus der Stimme heraus hören. »Was glaubst du denn?«, fragte er belustigt und drehte sich zu dem blassen Arzt um. Nachdem Plague gegangen war, raffte sich Asriel schließlich auf. Er würde der Alten klarmachen müssen, dass sie die nächsten Tage alleine klarkommen musste. Er hoffte nur, dass sie es verstand. Er schritt durch die klapprige Haustür auf die hintere Veranda, welche genauso heruntergekommen war, wie der Rest des Hauses. An sich war es ein Wunder, dass sie noch nicht durch das morsche Holz gebrochen waren. Vielleicht sollte er das Haus doch mal reparieren, schoss es Asriel durch den Kopf. Doch der Gedanke war schneller weg, als er gekommen war, als sein Blick über den nahegelegenen Fluss schweifte, welcher im fahlen Licht unschuldig glitzerte. Dahinter erstreckte sich das Elysium mit seinen Bergen und Tälern. Den majestätischen Wäldern und weiten Wiesen. Es war ein zusammengewürfeltes Sammelsurium an Landschaften; Fragmente einer untergegangenen Welt. »Du bist dran«, begrüßte ihn die zittrige Stimme der alten Frau, welche in einem Schaukelstuhl saß. Ihre feinen, blasslila Haare hingen in ausgedünnten Strähnen an ihr herunter. Ihr eingefallener Körper war in diverse Wolldecken gehüllt. Zusammengerollt zu ihren Füßen lag ein Höllenhund und schlief. In ihren schmalen Fingern hielt sie einige Spielkarten und auf dem Tisch vor ihr lagen weitere. Asriel nahm sich einige und setzte sich der Alten gegenüber. »Was spielen wir denn, Lethe?«, fragte er. »Keine Ahnung. Ich habe es vergessen«, antwortete sie monoton und blickte auf. Ihre moosgrünen Augen wirkten fahl und tot. Sie war alt und tattrig. Doch, obwohl ihr Gesicht eingefallen und knochig war, besaß es noch immer jugendlich angehauchte Züge. Als sei ihr Alter etwas rein Mentales und nichts Körperliches. »Dann brauchen wir auch nicht mehr zu spielen«, entschied Asriel und warf die Karten zurück auf den Tisch. Lethe senkte enttäuscht die Karten und sah Asriel weiterhin mit diesem leeren Blick an. »Hör zu«, begann er. »Es ... es ist etwas Schlimmes passiert, und ich muss für ein paar Tage weg.« Lethe legte den Kopf schief, der Wolf stellte seine Ohren auf. »Aber du gehst sonst nie weg«, bemerkte sie. »Das hier ist ein Notfall«, erklärte Asriel. »Ich bin mir sicher, du kommst so lange alleine klar.« »Kommt mein Drache wieder?« Asriel sank unmerklich in sich zusammen. Er hatte es geahnt. Sie verstand nicht, was er wollte. »Er ging fort ... ich glaube, das ist lange her. Aber ich erinner mich nicht mehr«, erklärte Lethe. »Aber du kommst wieder?« »Ja, ich komme wieder«, versicherte ihr Asriel. »Und während ich weg bin, ist Okia ein braver Schoßhund und passt auf dich auf.« Lethe nickte bedächtig. »Ich bin in Ordnung.« Ihre Augen durchbohrten ihn. »Völlig zerbrochen ...« »Was ist zerbrochen?«, hakte Asriel nach. »Mein Drache«, antwortete Lethe ernst. »Dann kleben wir ihn wieder zusammen, sobald ich zurück bin«, bot er ihr freundlich an. »Du sorgst so lange für dich selbst? Plague wird dir was zu essen bringen.« »Nein!«, entgegnete sie scharf. »Nein?«, fragte er verwirrt nach. Normalerweise stimmte sie allem zu. Wahrscheinlich, weil ihr alles egal war. »Wir können ihn nicht zusammenkleben. Irreparabel«, antwortete sie. Asriel seufzte. Sie war noch immer bei der Drachenfigur - oder was auch immer sie meinte. »Vielleicht kann ich ihn ja reparieren.« Lethe kicherte. »Selbst irreparabel.« Sie schüttelte den Kopf. »Du zerfällst auch, wenn du gehst«, warnte sie ihn. »Ich zerfalle doch nicht so einfach«, protestierte Asriel. An Tagen wie diesen war sein Job wirklich anstrengend. Lethe nickte. »Du wirst noch gebraucht«, bestätigte sie. »Genau, du brauchst mich noch. Da kann ich doch nicht zerfallen«, stimmte er ihr lächelnd zu. Sie erwiderte daraufhin nur ein schmatzendes »Pah! ... Ich nicht. Ich brauch niemanden. Ich nicht ...« Asriel erhob sich mit einem Seufzen. »Gut. Dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen«, murmelte er und begab sich in den oberen Stock des Hauses. Die Treppe ächzte unheilvoll. Doch sie hielt. Er ging an Lehtes Zimmer sowie dem Bad vorbei zu seinem Zimmer. Durch das dreckige Fenster drangen nur vereinzelt Lichtstrahlen, sodass die meisten Ecken im Dunkeln lagen. Das war ganz gut, denn so blieb das Grauen des Chaos größtenteils unentdeckt. Trotzdem ließ sich sein Ausmaß erahnen. Ein Lichtstrahl fiel durch die staubige Luft wie ein Scheinwerfer auf das ungemachte Bett. Der Boden war unter den Bergen von Kleidern, Büchern und Krimskrams nicht mehr zu erkennen. Der alte Schreibtisch war unter einem Berg aus Müll begraben, die Türen des Schrankes standen ein Stück weit offen, sie waren weder zu schließen, noch weiter zu öffnen. Neben dem Schrank befand sich eine Kommode, Asriels Ziel. Stolpernd kam er an und stützte sich mit den Händen auf dem spröden Holz ab. Seine Finger stießen gegen einige umgekippte Bilder. Asriels Blick fiel auf die Rückseite der Rahmen, die sich durch ihre helle Farbe deutlich vom dunklen Holz abhoben. Zögernd griff er nach einem und drehte ihn bedächtig um. Das vergilbte Bild darin zeigte ein junges Paar. Der Mann hatte den Arm um seine Freundin gelegt und zog sie an sich. Er schien ihr etwas ins Ohr zu flüstern, während sie in die Kamera strahlte. »Du bist verrückt«, hatte sie zu ihm gesagt und gelacht. In ihren Augen hatte ein warmes Leuchten gelegen, dass die Worte: »Und deshalb Liebe ich dich«, überflüssig gemacht hatte. Asriel warf das Bild weg, als verätze es seine Haut. Es rutschte über die Kommode und fiel am anderen Ende hinunter. Er hörte das Glas in der Dunkelheit zerbrechen und atmete tief durch. Er hätte es schon vor langer Zeit vernichten sollen. Er fuhr sich durch die strubbeligen Haare, atmete für einen Moment tief durch. Er musste es endlich vergessen und sich auf das hier und jetzt konzentrieren. Er brauchte Waffen, wenn er in die Goldene Stadt wollte. Asriel zog die mittlere Schublade auf. Das Geräusch von aneinanderstoßendem Metall war zu hören, als die verkleinerten Waffen zusammenprallten. Die Schublade war voller Ringe, Amulette und Anhänger in den verschiedensten Farben und Formen. Alle jedoch mit magischen Eigenschaften. Ein Ring stach grell leuchtend aus dem schwarzen Wirrwarr von Metall und Edelsteinen hervor. Vorsichtig zog Asriel ihn hervor. Er bestand aus hellem Silber, durch welches hier und dort milchiger Kristall in feinen Linien hervorbrach. Wie ein Stern leuchtete der Ring auf Asriels Hand. Vorsichtig fuhr er mit seinem Finger über die ebenmäßige Oberfläche. Er war nicht in der Lage, das verborgene Schwert zu beschören. Das Sternenschwert Libitina; eine Waffe, die nicht jedem diente. Aber seinem Bruder war es gelungen, sie zu bändigen. Im Krieg kämpften Azrael und Asriel Seite an Seite, wie Licht und Schatten. Während Azrael Libitina auf ihre Gegner niederregnen ließ wie einen Meteor, sicherte Asriel seinen Rücken mit Neania. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Sein Bruder war tot und Neania seit langem verloren. Traurig betrachtete Asriel Libitina. Dem einen fehlte die Waffe, dem anderen der Herr. Sie waren jeder eine Hälfte einer Einheit, die nie wieder vollständig sein würde. Ein trauriges Schicksal. Er legte den hellen Ring zurück in die Kommode. Es würde nichts bringen ihn mit zu nehmen. Stattdessen kramte er einige andere, schlichtere Waffen hervor. Ein einfaches Schwert sowie einige Messer (welche keine vereinfachte Form besaßen). Da Asriel sich nicht mehr erinnern konnte, wann er das letzte Mal gezaubert hatte, packte er auch einige Talismane ein. Nur für den Fall. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)