Aquila von Ryu_no_Sekai ================================================================================ Kapitel 1: Hals über Kopf ------------------------- Der zweite Gong ertönte und verkündete den Beginn des Unterrichts. Luca fragte sich, ob er überhaupt noch erklären musste, wieso er wieder einmal zu spät kam. Es war doch jedes mal das selbe. Ein Seufzen entfuhr ihm und er stützte sich mit den Ellbogen erschöpft auf seinen Knien ab. Jeden Moment würde er sich die übliche Standpauke ihres Direktors anhören müssen, dabei hatte er überhaupt nichts falsch gemacht. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und sah zu seinem Freund auf. Michael sah ihn aus seinen braunen Hundeaugen entschuldigend an. Er setzte an etwas zu sagen, doch Luca unterbrach ihn. „Ist schon gut, du kannst nichts dafür. Wenn, dann sollte es ihm leid tun.“ Er deutete nickend auf einen älteren Schüler, der ihnen gegenüber saß. Lesley Dearing war ein großer, trainierter Junge und ein waschechter Tyrann. Nun saß er da, umgeben von seinen Freunden, den Kopf in den Nacken gelegt, so dass seine haselnussbraunen Haare ihm strähnig auf die Schultern fielen. Sein schmales Gesicht wurde von einem Tuch verdeckt, dass er sich gegen die blutige Nase drückte. Das blutbeflecktes Hemd spannte sich leicht über den Muskeln seiner Brust. Seine Kumpel funkelten Luca böse an. Es war klar, dass die Sache noch nicht ausgestanden war. Man verpasste jemandem wie Lesley keine blutige Nase und kam ungeschoren davon. Doch Luca ließ sich nicht so einfach einschüchtern, um ihnen das zu zeigen, lächelte er sie überlegen an. „Trotzdem,...“ begann Michael, und fuhr sich fahrig durch die kurzen Haare. „Wenn ich mich selbst verteidigen könnte, hättest du weniger Ärger am Hals.“ Luca zuckte mit den Schultern. „Ich denke nicht. Steward würde sich nur neue Dinge ausdenken, für die er mich dran kriegen kann. Also mach-“ Die Tür zum Büro ging auf, und ein weiteres Mitglied der Schlägerbande kam heraus. Mit einem dreckigen Grinsen sah er Luca an, und dieser wusste schon genau, was jetzt kommen würde. „Mr. Bailay!“ Die Stimme zerschnitt die Stille im Wartezimmer wie eine Schwertklinge, solch eine Stimme hatte nur der Direktor. Luca erhob und drehte sich nochmal zu Michael. „Du solltest in die Klasse gehen.“ riet er seinem Freund, welcher sich ebenfalls erhoben hatte. Er war ein Stück kleiner als Luca und recht hager. Seine schwarzen Haare hingen ihm fransig in die gebräunte Stirn, als er den Kopf schüttelte. „Nein, ich warte auf dich.“ „Ich komm schon zurecht, außerdem, kommst du wegen mir schon spät genug zum Sport.“ meinte Luca grinsend und machte sich auf den Weg in das Büro des Direktors, wo er schon erwartet wurde. Mit seinen schulterlangen goldbraunen Locken, seinem smarten Lächeln und den Bernsteinaugen war Alexander Steward der absolute Schwarm aller Mädchen und Mütter der Schule. Selbst Lucas Mutter hatte eine kleine Schwäche für den jungen Direktor, wie Luca leidlich zugeben musste. Er selbst kannte Steward nur als strengen und zumeist ungerechten Richter. „Setzten sie sich Mr. Bailay.“ wies er Luca kalt an und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, welcher akribisch aufgeräumt war. Die Zahlreichen Papiere und Dokumente lagen perfekt sortiert vor Steward, in einer schlichten Silberdose standen eine Reihe angespitzter Bleistifte, so wie einige rote und grüne Feinleiner. Verschieden farbige Post-it Blöcke lagen fein säuberlich neben den Stiften und hinter Steward befand sich ein gut sortierter Akten Schrank, über dem ein Portrait des momentanen Schuldirektors, welches mit einem Schal in orange – weiß, den Schulfarben der Witchblade High geschmückt war. Seine Vorgänger waren an die anderen Wände verbannt worden und sahen vorwurfsvoll auf Luca hinab, während er sich hinsetzte. „Sie haben Mr. Dearing übel zugerichtet.“ begann der Direktor. „Er hat nur eine blutige Nase, nichts ernstes. Außerdem, hat er es verdient, er wollte Michael zusammen mit -“ begann Luca. „Das gibt ihnen noch lange nicht das Recht jemand anderen zusammen zu schlagen.“ unterbrach Alexander ihn. „Es war nur ein Schlag!“ protestierte der Beschuldigte. „Es ist nicht das erste mal.“ Der Direkter zog eine dicke Akte von einem Stapel auf der rechten Seite des Schreibtisches. „So oft, wie du mich hier besuchst, brauche ich sie nicht einmal mehr wegzupacken. Sie voll von Regelverstößen aller Art. Prügeleien, Vandalismus, Betrügereien und unzählige andere Vergehen. Ich vermute mit dem was mit Mr. Lennings Reifen passiert ist hast du auch zu tun.“ Mr. Lenning war ihr Erdkunde und Mathe Lehrer, er versuchte streng zu sein, machte sich jedoch nur selbst zur Witzfigur. So kam es dass er mit Strafarbeiten nur so um sich warf, weil er nicht wusste, wie er die Klasse sonst zur Ordnung bringen konnte. Deswegen konnten ihn viele nicht leiden – eigentlich mochte ihn niemand. Mr. Lenning hatte sich viele Feinde unter den Schülern gemacht und wurde oft Opfer von Streichen. Manchmal auch von ziemlich schlimmen, wie zum Beispiel dem Aufschlitzen seiner Autoreifen. „Aber all das weißt du ja am besten, immerhin halte ich es dir fast täglich vor.“ erzählte er, während er eine dicke Akte von einem Stapel auf der rechten Schreibtischseite nahm. Er schlug sie auf, fügte ihr ein weiteres Dokument hinzu, schlug sie zu und legte sie wieder zurück. „Wie lange soll das noch so gehen, Bailay?“ Er faltete die Hände auf dem Tisch und sah Luca aus seinen kalten Augen an. Der Junge wich seinem Blick aus. Er kannte diese Predigt mittlerweile in und auswendig. Obwohl sie für gewöhnlich länger ausfiel, doch wahrscheinlich wurde auch Steward diese ganze Farce leid. „Kann ich dann gehen, Direktor?“ fragte der Junge. „Ich werde deine Mutter informieren müssen.“ Er machte eine Pause. „Ich werde dich später darüber informieren, was für eine Buße du abzulegen hast. Ich glaube kaum, dass die üblichen Bestrafungen bei dir noch etwas bringen.... Jetzt kannst du gehen.“ „Wie sie meinen.“ entgegnete Luca nur und verließ das Büro. Er fragte sich, was sich Steward dieses mal für ihn ausdachte, aber er würde es ertragen, egal wie ungerecht es war. Er hatte nichts weiter getan, als einem Freund zu helfen – Er tat nie etwas anderes. Trotzdem bestrafte Steward ihn. Ließ ihn dem Hausmeister helfen, Nachsitzen, Aufsätze über Recht verfassen und Abbitte leisten. Er schnappte sich seine Sachen und machte sich durch die Gänge auf den Weg zur Sporthalle. Das Gebäude war wie ausgestorben, kein Schüler befand sich mehr auf den Gängen. Nur ein paar Lehrer patrouillierten durch die Gänge um mögliche Schwänzer zurück in die Klasse zu schicken. Auf Luca achteten sie jedoch nicht weiter, sie wussten, dass er gerade vom Direktor kam, und schon auf dem Weg in den Unterricht war. Einige begrüßten ihn und fragten, was er diesmal wieder angestellt habe. Er grüßte lachend zurück, schwieg jedoch über das was passiert war. Er verließ das Schulgebäude und überquerte den Hof zur Halle. Durch die großen Fenster konnte er seine Klassenkameraden schon beim Fußball spielen sehen. Still standen sie über das ganze Feld verteilt da. So als seien sie nicht einfach aus dem Nichts aufgetaucht. Das graue Gras wiegte sich im Wind, obwohl nicht der geringste Lufthauch zu spüren war. Nicht das leiseste Flüstern war von ihnen zu vernehmen, nur die markerschütternden Schreie der Toten im Tartarus waren zu hören. Und doch lockten sie sie mit verheißungsvollen Versprechungen. Grace kam schon seit einigen Tagen immer wieder hier her. Jedes Mal wenn sie kam, standen mehr von ihnen da und warteten. Worauf vermochte die junge Dämonin nicht zu sagen, doch manchmal kam es ihr so vor, als warteten sie nur auf sie. Darauf, dass sie eine von ihnen wählte. Gerne wäre sie näher zu ihnen gegangen, hätte die glänzenden schwarzen Bögen berührt, die vielfältigen Verzierungen mit dem Finger nach gefahren und das schwere, moderige Holz berührt, in das große silberne Klinken eingelassen waren. Doch sie konnte sich für keine entscheiden. Es waren riesige Türen, wie man sie wohl nur noch in alten Tempeln fand. Sie standen kreuz und quer übers Feld verteilt, ohne eine Wand, die sie stützte. Ohne etwas, durch das sie hindurch führen konnten. Sie erschienen vollkommen sinnlos, und doch wusste Grace, dass sie sehr wichtig waren. Auf den ersten Blick wirkten sie alle gleich, und doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie so verschieden waren wie Tag und Nacht. Jede Tür führte woanders hin. Nur wo, das war die Frage. Und diese machte es Grace so schwer eine auszuwählen. Sie biss sich mit ihren Zähnen auf die Lippe. Ob sie es überhaupt wagen sollte? Ihre Mutter hatte sie immer gewarnt: "Geh nicht durch Türen, die du nicht kennst. Du weißt nie, wo sie dich hinführen!" Aber gerade das war doch das Spannende daran: Ins vollkommen Ungewisse zu gehen, sich ganz seinem Schicksal zu ergeben. Neue Orte, vielleicht sogar neue Welten zu entdecken. Endlich einmal ein Abenteuer erleben und einen Schnitt in dem öden Alltag machen. Der Langeweile ein Ende bereiten. Endlich von hier fliehen. Auf der anderen Seite standen die Türen so unschuldig glänzend da, dass sie Grace wahrscheinlich nirgendwo hin führten. Sie waren nichts weiter als Leere Bögen, durch die man hindurch treten konnte, und doch nur am selben Ort landete an dem man gestartet war. Auf diesem tristen Feld. Allerdings hatten sie etwas Faszinierendes, das Grace nicht mehr los ließ. Tag und Nacht dachte sie an die Türen aus dem Nichts und grübelte über ihr Geheimnis nach. Wer hatte sie erschaffen und wieso? Waren sie ein Ausweg, oder führten sie sie ins Verderben? Wohin würden sie sie führen? Hinaus aus dem Tartarus und hinein ins Licht? Grace wusste, das es mehr gab, als die Hölle in der sie lebte. Schöne, warme Welten, in denen nicht jeder ein Feind war. Aber es war verboten dort hin zu reisen; jeder der dies missachtete wurde mit dem Tod bestraft. Alle Wege zur Erde wurden strengstens überwacht oder waren zerstört worden. Und doch standen nun diese Türen vor ihr, die irgendwohin führen mussten. Ein dumpfer Aufschlag war zu hören, so leise dass er kaum wahrnehmbar war. Der Boden erzitterte leicht, und als Grace zur Seite sah, stand dort auf einmal eine neue Tür. Sie stand so selbstverständlich da, dass man fast meinen konnte, sie sei immer dagewesen. Sie sah genauso aus wie all die anderen, aber irgendetwas an ihr war vollkommen anders. Ganz langsam, wie in Trance, erhob Grace sich und ging auf die Tür zu. Es waren nur wenige Schritte, bis sie vor ihr stand, und doch kam es ihr wie eine Ewigkeit vor. Bedächtig wanderte ihr Blick über die gesamte Tür, damit ihr ja keine Kleinigkeit entging. Winzige Abweichungen in der sonst ebenmäßigen Maserung des dunklen Holzes, Veränderungen des Musters, das den schwarzen Steinbogen und die eisernen Beschläge zierte. Das Spiel der glänzenden Lichtreflexe auf der polierten Silberklinke. Es kribbelte und prickelte in Graces Nacken. Ihre Hand zuckte vor Aufregung. Das hier war die Tür, durch die sie gehen würde. Sie musste nicht mehr überlegen. Die Zeit des Abwägens war vorbei. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Was auch immer sie erwartete, wenn sie durch diese Tür ging, würde ihr Leben verändern. Endlich konnte sie diese ihr verhasste Welt verlassen. Es war etwas verbotenes, es war etwas gefährliches, es war etwas genau nach ihrem Geschmack. Mit über der Klinke schwebender Hand sah Grace sich um. Es war niemand da, der sie hätte aufhalten können. Jetzt oder nie! Fest schloss sich ihre Hand um den kalten Knauf. Im selben Moment flammte über ihr ein Teil der Verzierung auf: Porta Cosmicae – Orbis Terrarum. Und ohne weitere Vorwarnung wurde sie durch die Tür gezogen in einen Strudel von bunten Farben. Mit einem Aufschrei verschwand Grace aus der Hölle. Allmählich vermischte sich der Schrei mit dem restlichen Wehklagen der toten Seelen, sodass ihn niemand bemerkte. Mit einem Leisen „Plopp“ verschwand eine Tür nach der anderen, und es war so, als hätten sie nie existiert. Luca saß allein weit hinten in der Bibliothek, mit dem Rücken an ein Regal gelehnt und las. Er hätte sich das Buch auch ausleihen können, doch er war froh über jede ruhige Sekunde die er bekam. Bei ihm zuhause ging es meist drunter und drüber: Seine Schwester, die ihn mit immer neuen Geschichten über Geister, Dämonen, Engel, Monster, Dimensionsportale, Flüche, Hexen, Feen und allem anderen Übernatürlichem zu textete. Aber das war nicht das schlimmste daran. Das schrecklichste für Luca war, dass sie auch noch an all das glaubte. Er konnte sie nicht verstehen, es war als würde sie in einer vollkommen anderen Welt leben, als er und der gesamte Rest der normalen Menschheit. Kurz hielt er inne um zu lauschen, bald würde die Bibliothekarin Mrs. Dunkworth ihre Runde drehen. Und er wollte sich lieber nicht hier unten lesend erwischen lassen. Eigentlich war es nichts verbotenes, jedoch meinte Mrs. Dunkworth in ihrer Bibliothek ein strenges Regiment führen zu müssen. Was bedeutete, gelesen werden durfte nur in dem dafür vorgesehenen Bereich. Nämlich genau in dem, den sie immer im Blick hatte, was wiederum zur Folge hatte, dass man dort nicht in Ruhe lesen konnte oder, wenn man großes Pech hatte, sogar einen Verweis kassierte, und einen weiteren konnte Luca sich nicht leisten. Deswegen musste er besonders vorsichtig sein, denn Mrs. Dunkworth fand immer etwas über das sie sich beschweren konnte, selbst wenn man nur zu laut umblätterte oder ein Husten nicht unterdrücken konnte. Da alles still war, entspannte Luca sich wieder und las weiter. Versuchte es zumindest, denn seine Gedanken wanderten immer wieder zu seiner Schwester, die neuerdings sogar selbst versuchte zu zaubern. Und zwar nach den Anweisungen ihrer Katze Gabbi. Luca wusste wirklich nicht mehr, was er mit seiner kleinen Schwester machen sollte. Auch seine Mutter schien immer mehr zu verzweifeln, aber seine Schwester merkte es nicht einmal. Wenn sie zumindest etwas mehr in der Realität leben würde, wäre vieles einfacher. Gedämpfte Schritte nährten sich langsam den Regal Reihen, zwischen denen er saß. Mrs. Dunkworth drehte nun also ihre Runde. Schnell sprang Luca aus seiner sitzenden Position auf und tat so, als lese er sich den Klappentext durch. Da schaute die Alte auch schon um die Ecke. Ihre dunkelgrauen Haare waren zu einem wirren Knoten im Nacken gebunden. Die runzlige Haut um ihre giftgrünen Augen zog sich zusammen, als sie ihn durch ihre dicken, runden Brillengläser, streng musterte. „Gelesen wird nur in dem dafür vorgesehenen Bereich. Halten sie sich dran, Mr. Bailay.“ Erinnerte sie ihn mit einem gedämpften Krächzen. Luca schaute zu ihr auf, legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, nickte kurz und schenkte ihr ein Lächeln. Dann stellte er das Buch weg und zog sich das nächste raus, um auch dessen Klappentext zu lesen. Mrs. Dunkworth ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Er tat so lange so, als würde er noch nach einem Buch suchen, bis sie endlich weiter ging. Als er sicher war, dass sie weg war zog er „Illuminati“ wieder hervor, setzte sich mit dem Rücken an das Regal gelehnt hin, suchte die Stelle raus, an der er zuvor gewesen war, und las weiter. Er machte es sich so bequem wie möglich und versuchte sich nun ausschließlich auf sein Buch zu konzentrieren. Doch irgendwas war seltsam. Er sah sich um, aber da war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Trotzdem wurde er das seltsame Gefühl nicht los als würde irgendwas direkt auf ihn zu kommen. Es war als sei die Luft elektrisch aufgeladen. Er bildete sich sogar ein, sie würde flimmern. Direkt vor ihm, vielleicht einen Meter über dem Boden. Er schüttelte den Kopf, nun begann er selbst schon Gespenster zu sehen. Er wandte sich wieder seinem Buch zu und – BAM! Ohne weitere Vorwarnung knallte Luca schmerzhaft mit dem Rücken gegen das Bücherregal. Woraufhin viele Bücher herunter fielen und nur wenige seinen Kopf verfehlten. Er rieb sich die schmerzende Stelle, das würde bestimmt noch eine dicke Beule und einige weitere blaue Flecke geben. Doch das war unwichtig, im Angesicht dessen, was sich direkt vor ihm befand: „Was zum...?“ Direkt vor ihm in der Luft schwebte auf einmal eine Tür doch in der nächsten Sekunde war sie verschwunden. Luca konnte seinen Augen nicht trauen. Und doch war er sicher, dass sie ihm keinen Streich gespielt hatten. Aber Türen tauchten nicht einfach aus dem Nichts auf, verletzten unschuldige Menschen, schwebten einen Moment vor deren Nase und verschwanden dann einfach wieder. So etwas taten Türen einfach nicht! Das war realistisch gesehen einfach unmöglich! Noch immer starrte er ungläubig auf die Stelle, an der die Tür soeben verschwunden war, bis er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahrnahm. Direkt vor ihm, unter einem Haufen von Büchern, lag auf einmal ein Mädchen, und es passte so gar nicht hier her. Ihre helle Haut schien in dem grellen Licht der Neonröhren zu leuchten. Die Silberperlen, die in ihr langes, schneeweißes Haar eingeflochten waren, glitzerten in allen Farben. Ihr Körper wirkte schmal und zerbrechlich, doch etwas sagte Luca, dass dieser Eindruck gewaltig täuschte. Langsam richtete sie sich unter den Büchern auf, und sah sich verwirrt um, bis ihr Blick Luca traf. Dieser war wie gefangen, noch nie hatte er solche Augen gesehen. Sie waren groß und oval, lange dunkle Wimpern umrahmten sie und brachten ihre ungewöhnliche Farbe noch besser zum Ausdruck. Es war wie eine Mischung aus flüssigem Silber und Bronze, Luca hatte noch nie eine vergleichbare Farbe gesehen. Ein lauter Schrei vom anderen Ende des Regals riss ihn aus seinen Gedanken. Mrs. Dunkworth kam mit einer, für ihr Alter, unglaublichen Geschwindigkeit auf sie beide zu. Ihr Gesicht war eine einzige Zorn verzerrte Fratze. „Lauf!“ Ohne lange nach zu denken sprang Luca auf, packte das seltsame Mädchen am Arm, zog sie auf die Beine und rannte mit ihr davon. Raus aus der Krimiabteilung in einen weiteren Gang: die Fantasieabteilung. Sie jagten vorbei an Bänden wie Harry Potter, Eragon und Herr der Ringe. Noch immer konnte er die alte Hexe hinter ihnen kreischen hören. „Luca Bailay wenn ich dich erwische kannst du was erleben!“ Weiter ging es durch die Geschichts- und dann durch die Wissenschaftsabteilung bis zum Ende der Bibliothek. Direkt auf einen kleinen Notausgang zu. Nun, das hier war vielleicht nicht so etwas verheerendes wie ein Feuer aber es war definitiv ein Notfall. Ein leichter Oktoberregen schlug ihnen eiskalt entgegen als sie durch die leicht rostige Metalltür auf den Schulhof brachen. Automatisch lief Luca nach rechts, direkt auf einen der Eingänge zu. Sie liefen durch die in schlichtem weiß gehaltenen Flure, links, vorbei an diversen Sitzgelegenheiten, rechts und wieder rechts, vorbei an den Spinten der Schüler und schließlich eine Treppe rauf, die zu den Fachräumen führte. Vor einem der Chemielabore blieb er schließlich stehen. Hier würde Mrs. Dunkworth bestimmt nicht vorbei kommen. Und ansonsten war die Schule vollkommen ausgestorben, sogar die Lehrer waren schon weg. Nur Bibliothek hatte noch auf gehabt. Luca atmete schwer, sein Puls raste und er schwitzte leicht. Das weißhaarige Mädchen jedoch schien, als hätte sie nur einen ruhigen Sparziergang um den Block gemacht. „Ich denke, du kannst mich jetzt los lassen, Mensch.“ Ihre Stimme hörte sich wie ein Glockenspiel im Winter an - wundervoll melodisch, glasklar und eiskalt. Die Tür hatte tatsächlich an einen anderen Ort geführt. Und zwar an einen Ort, der so ganz anders war, als ihr zu Hause. Heller, bunter und die Luft war um einiges reiner. Es war einfach herrlich. Aber wie es schien barg auch diese Welt viele Gefahren. Da war zum Beispiel die alte Frau von gerade. Grace hatte kein Ahnung, über was für Fähigkeiten sie verfügte, doch so wie der Junge vor ihr geflohen war musste es etwas schreckliches sein. Dieser Flur, zu dem er sie geführt hatte, war allerdings nicht besonders sicher. Auf beiden Seite war er von Türen gesäumt und auch die Enden waren von Türen verschlossen und damit uneinsichtig. Hier konnte sich jeder Zeit jemand an sie an schleichen, ohne bemerkt zu werden. Doch daran schien der Junge nicht zu denken. Er stand vor ihr, atmete so schwer, als hätte er einen Marathon hinter sich, hielt noch immer ihren Arm fest und starrte sie an. Grace betrachtete ihn ebenfalls genauer: Er hatte den Körperbau eines gewöhnlichen Menschen: Die runden Ohren - an dem linken trug er breite, silberne Ohrringe - die mandelförmigen, blauen Augen strahlten hell. Das markante Gesicht des Jungen wurde von seidigem, schwarzen Haar umrahmt, welches ihm in wilden Strähnen um den Kopf fiel. Seine Schultern waren relativ schmal, doch dafür zeichneten sich feine Muskeln unter seiner Kleidung ab. Er schien recht trainiert, jedoch nicht übermäßig stark zu sein. Doch so, wie er mit ihr geflüchtet war, machte er einen sehr wendigen und geschickten Eindruck. Es würde Grace nicht wundern, wenn er schon einige Kämpfe hinter sich hatte. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass er ein einfacher Mensch war. Und das bedeutete, dass sie sich auf der Erde befand. Ihr Herz setzte bei der Erkenntnis einen Schlag aus. Vor Freude, vor Angst? Sie konnte es nicht recht sagen. Aber sie war auf der Erde, den Ort den sie schon immer mal hatte besuchen wollen. Sie Zwang sich ihre Aufregung zu verbergen, noch wusste sie nicht, ob der andere ein Freund oder Feind war. Und nach ihren Erfahrungen war es besser zunähst immer von letzterem auszugehen. „Ich denke, du kannst mich jetzt los lassen, Mensch“ Die blauen Augen des Menschen wanderten von ihrem Gesicht zu seiner Hand – er zog sie schlagartig zurück und fuhr sich verlegen durch sein rabenschwarzes Haar. Er lächelte sie an und offenbarte dabei eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Sorry, hab ich nicht drauf geachtet.“ Sie erwiderte sein Lächeln leicht gedrungen. „Schon in Ordnung, Mensch.“ Er sah sie leicht fragend an. „Wieso nennst du mich „Mensch“?“ Ihm schien es nicht zu gefallen so genannt zu werden. Aber da er nun mal einer war. „Du bist doch ein Mensch.“ „Ja“ Gab er verwirrt zu. „Aber was hat das damit zu tun? Du bist auch einer, und ich nenne dich nicht so.“ „Nein, ich bin...“ Sie hielt inne. Ein eklig süßer Geruch erfüllte auf einmal den Flur. Es stank gerade zu nach – aber nein, das war nicht möglich. Wie hatten sie sie so schnell finden können? Luca sah das Mädchen skeptisch an. Hatte sie eben allen ernstes angedeutet, dass sie kein Mensch war? Er gab zu, dass sie wirklich etwas seltsam wirkte, aber deswegen war sie noch lange nicht nicht menschlich. Besonders da sie einfach nichts anderes sein konnte. So langsam bekam Luca das Gefühl das Mädchen war genauso verrückt wie seine Schwester. Er verschränkte die Arme, starrte sie herablassend an und wartete darauf, dass ihm verriet, was sie denn nun sein wollte. „Was bist du denn nun?“ fragte er leicht genervt nach, als sie nicht weiter sprach, sondern nur wie gebannt auf die Tür hinter ihm am Ende des Flurs starrte. „Ah, Luca Bailay, noch so spät in der Schule und noch dazu mit einer so hinreißenden Begleitung.“ Das war nicht die Antwort die Luca erwartet hatte – zudem kam sie von der vollkommen falschen Person. Er erkannte die Stimme sofort, auch wenn sie diesmal einer warmen Melodie, statt einer kalten Klinge glich gehörte sie unverkennbar zu Direktor Steward. Normalerweise waren ihm alle Frauen verfallen, auf die Fremde jedoch schien er keinerlei solcher Wirkung zu haben, sie sah eher etwas angewidert aus, wie Luca erleichtert feststellte. Er drehte sich zu dem jungen Mann um, der, mit einem Lächeln, das wohl alle Frauenherzen zum schmelzen brachte, auf ihn zukam. „Direktor Steward, heute keine Verabredung?“ „Nein, Luca. Außer du zählst die aufgebrachte Mrs. Dunkworth mit.“ Er lachte kurz, doch in seinen Augen lag ein stahlharter Ausdruck. „Ihr habt für einen ganz schönen Trubel in der Bibliothek gesorgt.“ Dabei sah er nur das Mädchen an. Auch wenn er mit Luca redete, beachtete er ihn nicht weiter. „Ja, das in der Bibliothek tut mir sehr Leid, Sir. Aber ich konnte wirklich nichts dafür.“ „Das weiß ich Luca. Mach dir keine Gedanken ich habe nicht vor dich zu bestrafen.“ „Haben sie nicht?“ Sonst schreckte Steward nie vor Strafarbeiten zurück, immerhin „formten sie den Charakter“ – Irgendetwas stimmte hier nicht; schon, dass er ihn beim Vornamen nannte war seltsam, beinahe gruselig. Aber Steward lächelte nur weiterhin und wischte seine Frage mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite. „Wieso sollte ich?“ stelle er als rhetorische Gegenfrage und ließ Luca nicht mal die Zeit darüber nachzudenken. „Also, du kannst jetzt gehen wenn du willst Luca. Mit der kleinen Lady hier möchte ich allerdings noch ein Wörtchen reden.“ Luca sah seinen Direktor ungläubig an. Heute morgen erst war er in eine Prügelei verwickelt gewesen, nun war er Mitschuld an dem Krawall in der Bibliothek, vom Schulleiter erwischt worden und bekam trotzdem, zum ersten Mal in seinem Leben, die Chance ohne Strafe davon zukommen – dieses Angebot lehnte man nicht ab und Luca kam zu dem Schluss, dass er sein Glück besser nicht überstrapazieren sollte. „Gut, dann auf wiedersehen, Mr. Steward.“ Er drehte sich auf dem Absatz um, dabei erhaschte er einen Blick auf das Mädchen. Sie starrte den Direktor mit einer Mischung aus Abscheu und Angst an. Ein kalter Schauer lief Luca den Rücken hinunter. Alles wirkte so unwirklich: Das seltsame Mädchen, das ungewöhnliche Verhalten seinen Rektors. Es bereitete Luca Unbehagen als er sich zum gehen wandte. Er warf noch einen letzten Blick über die Schulter: Steward winkte ihm zum Abschied, mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zu. Doch in seinen Augen lag ein seltsam hungriger Ausdruck, wie bei einem wilden Tier, das sich gerade bereit machte seine Beute zu erlegen. Luca musste unwillkürlich schlucken, das war echt gruselig. Schnell richtete er den Blick wieder nach vorne und beschleunigte seine Schritte. Das alles ging ihn nichts an. Er kannte das Mädchen nicht einmal. Was auch immer der Direktor mit ihr zu besprechen hatte, es konnte nichts schlimmes sein, oder? Luca kam sein gieriger Blick in den Sinn, noch nie hatte er den Direktor so gesehen. Dazu das seltsame Verhalten Stewards. Eigentlich hätte Luca einfach nach Hause gehen und nie wieder daran denken sollen, doch das konnte er nicht. Er war niemand, der andere im Stich ließ. Deswegen landete er auch immer wieder in Schwierigkeiten. So wie heute Morgen, so wie auch jetzt. Er blieb stehen und drehte sich um um das Wort an seinen Rektor zurichten:„Mr. Steward, es gäbe da noch etwas, worüber ich gerne mit ihnen sprechen würde.“ Der Direx machte ein Gesicht, als hätte Luca ihm gerade sein Lieblings Spielzeug weggenommen. „Was gibt es denn noch, Luca?“ Nun war sein Tonfall wieder der selbe wie immer – Er klang wie eine kalte Klinge. „Da wäre die Geschichte mit den Reifen von Mr. Lenning.“ plapperte Luca drauf los, und gesellte sich wieder zu den beiden. Er warf dem Mädchen einen Blick zu, sie schien erleichtert zu sein, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. „Ich bin mir sicher, das hat noch bis Morgen Zeit.“ brummte Steward sichtlich genervt, er wollte ihn offensichtlich so schnell wie möglich loswerden. Nur warum? „Nein, das ist wirklich dringend!“ Luca versuchte verzweifelt und bittend zu klingen. Er durfte sich nicht abwimmeln lassen. Mr. Stewartd warf ihm einen wütenden Blick zu. „Und was soll mit Mr. Lennings Reifen sein?“ blaffte er Luca an. Es war seltsam, sonst war der Direktor immer sehr beherrscht. Luca hatte keinen Zweifel mehr, es war richtig gewesen zu bleiben, wer wusste was er sonst mit dem Mädchen machte? Jetzt musste er sie nur noch heile hier heraus kriegen. Er atmete einmal tief durch, und konzentrierte sich auf die Geschichte, die er Mr. Steward auftischen wollte: „Ich war der Derjenige, der die Reifen aufgeschlitzt hat.“ Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit. Lucas Freund Henry hatte es getan, als Folge von Jahren der Schikane, die er durch ihren Lehrer hatte erfahren müssen. Es stimmte, Henry war nicht besonders gut in Mathe, und auch in Erdkunde hatte er seine Schwächen, doch war es nach Lucas Meinung keinen Grund ihn vor der gesamten Klasse bloß zu stellen. Besonders, da Henry zu Hause schon genug Probleme aufgrund seiner schulischen Leistungen hatte. Deswegen hätte Luca die ganze Geschichte früher oder später sowieso auf sich genommen, seine Mutter war es gewöhnt, dass er Mist baute. Er selbst kam mit der Bestrafung zurecht, solange er seinen Freund beschützen konnte. Eine Weile sahen sich Steward und Luca an. Nach diesem Geständnis konnte ihn der Direktor nicht mehr gehen lassen, stattdessen würde er das Mädchen fortschicken müssen – oder zumindest zum warten auffordern, bis er mit Luca fertig war. Genug Zeit für sie also zu fliehen. Das war ihnen allen klar. „Das ist eine wirklich böse Geschichte.“ begann Alexander schließlich. Sein Blick wanderte sehnsüchtig zu dem Mädchen; sein Kiefer fuhr langsam mahlend hin und her. Er schien nach zudenken. „Eigentlich müsste ich dich sofort bestrafen, allerdings habe ich gerade wichtigeres zu tun, als mich um dumme Jungenstreiche zu kümmern.“ begann er kühl. Luca machte entrüstet den Mund auf um zu protestieren, doch Steward ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Ich erwarte dich morgen früh in meinem Büro, noch vor dem Unterricht. Dann reden wir über dein Strafe. Aber jetzt solltest du wirklich nach Hause gehen, deine Mutter wartet bestimmt schon auf dich, Luca.“ Der Junge sah seinen Rektor völlig perplex an. Normalerweise hätte er ihn direkt in sein Büro gezehrt, seine Mutter hergerufen und ihn von der Schule verwiesen. Er sah zu der Fremden hinüber. Wer war sie? Und wieso war sie ihm so wichtig? Luca hatte noch nie ein so schlechtes Gefühl bei einer Sache gehabt wie jetzt. Immer wieder fragte er sich, was hier vorging. Er verstand es nicht, aber auf die Aufforderung des Direktors gab es für ihn nur eine Antwort: „Nein.“ „Wie bitte?“ fragte Steward ungehalten nach. „Ich kann noch nicht gehen. Sie ist mein Gast, da kann ich sie nicht alleine lassen. Das verstehen Sie sicher.“ erklärte Luca, und versuchte seine Höflichkeit zu wahren. „Ja, ich verstehe sehr gut – sogar mehr als du.“ Entgegnete Steward sichtlich gereizt. „Du kannst ruhig gehen, ich komme schon alleine klar.“ Mischte sich nun zum ersten Mal die Fremde mit ein. Luca warf ihr einen leicht verärgerten Blick zu. Er versuchte ihr zu helfen und sie fiel ihm so in den Rücken. „Ich will aber nicht gehen. Was auch immer sie mit ihr zu besprechen haben, können sie auch vor mir tun. Also?“ „Du wusstest noch nie, wann es Zeit ist aufzuhören, Bailay. Seit Jahren setzt du dich für deine Freunde ein, widersprichst den Lehrern, nimmst andere in Schutz, ja nimmst sogar ihre Vergehen auf dich. Ich habe versucht dir das auszutreiben, die deinen Platz in dieser Welt zu zeigen, aber egal, welche Strafe ich dir gab, du ertrugst es. Du hast nicht einmal darüber nachgedacht, ob du etwas falsch gemacht hast.“ Steward grinste ihn an. „Aber vielleicht ist das hiernach endlich vorbei.“ Es war kein schönes Lächeln, dass Alexanders Gesicht zierte sondern ein wirklich böses. „Du willst also wissen, was hier los ist? Das kann ich dir verraten, Bailay: Dieses Mädchen hat einen Jahrhunderte alten Pakt gebrochen, in dem sie hierher gekommen ist. Und ich werde sie nun dafür bestrafen, genauso wie dich. Menschen haben hier nichts zu suchen, es ist eine Angelegenheit allein zwischen Engeln und Dämonen.“ Ein wahnsinniger Ausdruck erschien auf dem Gesicht des jungen Mannes, als er mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung seines Armes ein Schwert aus dem Nichts beschwor. Luca blieb nicht mal genug Zeit zum Staunen, oder zum klarstellen, dass so etwas gar nicht möglich war, den schon wurde er zu Boden gerissen. „Dämlicher Idiot, du hättest verschwinden sollen!“ Die Fremde hatte ihn gerade noch rechtzeitig zur Seite gestoßen, denn sein Rektor hatte offensichtlich keine Lust mehr zu diskutieren, sondern griff sie lieber an. „Was zum Henker ist hier los?“ fragte Luca vollkommen überfordert von der ganzen Situation. Doch keiner der beiden schien ihn weiter zu beachten, zu beschäftigt waren sie damit zu kämpfen. Steward führte einen Angriff nach dem anderen gegen das Mädchen, dass ihm mit solcher Geschicklichkeit auswich, dass es beinahe wirkte als würden die beiden einen tödlichen Tanz aufführen. Luca hingegen saß einfach wie erstarrt an der Wand und beobachtete das Schauspiel. Noch immer konnte er nicht genau erfassen was hier los war. Alle Erklärungen, die sein Hirn ihm lieferten waren vollkommener Unsinn: Es gab nichts übernatürliches. Jedoch gab es auch keine andere Erklärung, für Türen, Schwerter und seltsame Mädchen die aus dem Nichts auftauchten. Was würde wohl als nächstes passieren? Ein dumpfer Knall ertönte, Stewards Schwert hatte sich in einer Tür verkeilt. Das Mädchen griff ihn an, so schnell, dass der Rektor nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Sie würde einige heftige Treffer in seinem Genick landen. Im letzten Moment jedoch brachen riesige, strahlend weiße Flügel aus dem Rücken des Mannes hervor und schleuderten die Angreiferin durch eine gegenüberliegende Tür, direkt in das Chemielabor in dem Luca nur wenige Stunden zuvor Unterricht gehabt hatte. Nun kämpften in ihm lautstark ein Mädchen und ein – Vogelmensch gegeneinander. An das Wort „Engel“ wollte Luca nicht einmal denken. Eine gefühlte Ewigkeit saß er da und starrte einfach nur auf die zerbrochene Tür, von der nur noch Trümmer übrig waren. Was sollte er tun? Er könnte einfach weg rennen, immerhin hatte er mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Wie Steward gesagt hatte, er war ein Mensch und das war eine Sachen zwischen – anderen Wesen. Er würde seinen Platz anerkennen, und sie ihrem Schicksal überlassen. Das war doch alles, was der Direktor je von ihm gewollte hatte. Ein schrilles Klirren übertönte die Kampfgeräusche, etwas aus Glas war zerschellt. Das Geräusch wurde dicht gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Lucas Herz krampfte sich zusammen. Es war unverkennbar die Stimme des Mädchens gewesen. Durch und durch getränkt von Angst und Schmerz. Langsam richtete er sich auf. Er hatte nie einen Rückzieher gemacht und jetzt würde er nicht damit anfangen. Er selbst entschied, wo sein Platz war. Sein Herz raste, als er sich langsam zu der kaputten Tür vorarbeitete. Wovor hatte er eigentlich Angst? Dem Schwert oder den Flügeln? Vielleicht beidem? Im Grunde bestand dazu doch kein Grund, schlimmsten Falls wurde er aufgespießt, zerquetscht oder durch die Gegend geschleudert. Er konnte also nur sterben, und das würde er früher oder später eh. Es gab also nicht zu fürchten. Der Chemieraum bot einen furchtbaren Anblick: überall lagen Scherben und ein großer Teil der Tische und Stühle war zerstört. Steward flog einen halben Meter über dem Boden, den Rücken zur Tür gekehrt und schlug immer wieder auf das Mädchen ein, dieses parierte seine Schläge so gut es ging mit den Überresten eines Stuhles. Ihr gesamter Körper war mit Kratzern und Schürfwunden übersät, zudem hatte sie über dem linken arm eine große, klaffende Wunde. Es sah nicht gut für sie aus. Er musste sich beeilen.Nur was sollte er tun? Er sah sich nach irgendetwas um, dass er als Waffe verwenden konnte. Sein Blick fiel einen riesigen Splitter der Tür. Langsam hob er ihn auf. Sein Herz raste noch immer und seine Knie zitterten, er hatte das Gefühl, dass er nicht aufrecht stehen bleiben würde, wenn er den Türrahmen los ließ. Am liebsten hätte er sich einfach übergeben. Sich hingesetzt Augen und Ohren verschlossen und so getan, als würde das alles gar nicht geschehen. Nur würde es dadurch auch nicht besser werden. Es war verrückt und lebensmüde. Er ließ den Türrahmen los, setzte einen Fuß vor den anderen, immer darauf bedacht möglichst keinen Laut zu verursachen. Alles schien auf einmal quälend langsam abzulaufen, jeder seiner Schritte, die Schläge Stewards und die Paraden des Mädchens – alles schien nun eine Ewigkeit zu dauern. Vorsichtig nährte er sich dem Rektor von hinten, war nun ganz nahe, holte zum Schlag aus, hatte den Hinterkopf des Vogelmenschen genau im Visier. Ohne dass er es hätte kommen sehen flog Luca nach hinten. Auf einmal lief die Zeit wieder in normaler Geschwindigkeit, und kaum hatte Luca abgehoben, knallte er auch schon mit dem Rücken gegen einen der Schränke. Der Flügel war wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte ihn weggefegt wie eine lästige Fliege. Direktor Steward hatte sich nun ihm zugewandt. Das Mädchen lag vor ihm auf dem Boden, mitten in den Scherben. „Weißt du Bailay, ich hatte gehofft, dass du nicht gegangen bist. So ersparst du mir einen ganzen Haufen Arbeit, wenn ich mit ihr fertig bin.“ „Das kannst du vergessen!“ Er wandte sich wieder dem Mädchen zu, doch zu spät. Die paar Sekunden Unaufmerksamkeit hatten ihr gereicht. Mit einem Scherben bestückten Stuhlbein schlug sie ihm heftig ins Gesicht. Sein Kopf verdrehte sich leicht und er auf die Knie. Eine feine Blutspur zog sich über seine schöne Wange. Er fuhr sich ungläubig mit seiner freien Hand über Wange und starrte sein leuchtend rotes Blut an. Unbändiger Hass und Wut zeichneten sich in seinen Bernsteinaugen ab. Ihren zweiten Schlag parierte er ohne Mühe, ehe wieder erbarmungslos auf sie eindrosch. Luca sah hilflos zu, wie Steward das Mädchen immer weiter in die Enge drängte. Ihr Angriff hatte nichts gebracht, im Gegenteil, es hatte ihre Lage nur verschlimmert. Verdammt. Es musste doch irgendwas geben, was er tun konnte. Wieder einmal sah Luca sich hilfesuchend in dem Raum um. Die Tür des Schrankes war bei seinem Aufprall ein Stück aufgegangen. Es war einer der Chemikalienschränke. Zwar wurden in diesen weder Teure, noch sehr gefährliche Stoffe aufbewahrt, aber es befanden sich einige Lösungsmittel in ihm, mit denen oft im Unterricht gearbeitet wurde. Er riss die Tür auf, und begann die Stoffe zu durch suchen, bis er den einen Fand, den er brauchte: Ethanol. Er zog den großen Behälter heraus, er war nur noch zur Hälfte voll, das würde niemals reichen um Steward den gar aus zu machen. Er überlegte eine Weile, bis ihm ein Plan einfiel. Es war waghalsig und wahrscheinlich gingen sie alle dabei drauf, doch gab es diese winzig kleine Chance, dass sie doch überlebten, und das war mehr als sie jetzt hatten. Sie brauchten nur Glück, eine ganze Menge Glück. Er Kämpfte sich hoch und schlich sich so unbemerkt wie möglich zu den beiden Kämpfenden heran. Der Rektor war zur Zeit viel zu beschäftigt mit dem Mädchen, als dass er auch nur im entferntesten auf Luca achtete. Er öffnete die Ethanolflasche und begann den Inhalt, möglichst über die beiden Flügel zu verschütten, die wild durch die Gegend schlugen. Ein paar mal hätten sie ihn fast erwischt, doch diesmal war Luca darauf vorbereitet gewesen und hatte ausweichen können. Den letzten Rest Ethanol schüttete er einfach auf den Boden dann rannte so schnell er konnte zum, noch unversehrten Lehrerpult herüber.Er stolperte über die Überreste eines Stuhls, verknickte sich den Fuß und schlug hart gegen den Tisch. „Verdammt.“ fluchte er, als er über die schmerzende Stelle rieb. Das klappte ja schon mal super mit dem Glück. Er kramte sein Feuerzeug aus der Hosentasche und betete, dass es ausnahmsweise mal funktionierte. Er probierte es zu entzünden nichts. Er probierte es ein zweites mal, ein drittes mal. „Komm schon, du scheiß Ding.“ knurrte er, und endlich ging es an. „Na geht doch.“ Dachte Luca triumphierend. „Hey, Direktor Steward!“ Wenn man beim Namen gerufen wurde, war es wie ein natürlicher Zwang, sich zu dem umzudrehen, der einen gerufen hatte. Davor waren auch Vogelmenschen nicht sicher. Luca grinste seinen Rektor breit an und hielt sein Feuerzeug hoch. Der Blick des Mädchens wanderte von dem Feuer zu der klaren Flüssigkeit, die von den Stewards Flügeln tropfte – sie verstand sofort und machte sich zur Flucht bereit. „Was willst du Luca?“ „Ihnen etwas Feuer geben.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung schmiss Luca sein Feuerzeug auf Steward, und betete, dass er irgendwie den Alkohol traf. Er nahm sich nicht die Zeit darauf zu warten, kaum hatte das Feuerzeug seine Hand verlassen drückte er auch schon den Kopf für die Gaszufuhr und sprintete zur Tür. Fast alle Tische waren zerstört wurden, also war Luca sich sicher, dass durch einen der Hähne nun schon bald das hoch entzündliche Gas strömen würde. Er traf das Mädchen an der Tür, packte sie wieder am Arm und raste – sie hinter sich herziehend – den Gang hinunter durch die Tür und sprang nur so die Treppe hinunter. Schneller! Schneller! Sie mussten schneller machen, sonst würden sie in die Luft fliegen. Luca rannte so schnell er konnte, und versuchte sogar noch schneller zu werden, nur noch um diese eine Ecke, dann war der erste Ausgang in Sichtweite. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte hinter ihnen, der das gesamte Gebäude erschütterte. Luca geriet ins stolpern und sah den Boden schon gefährlich nahe kommen, als er spürte wie er weiter gezogen wurde. Die weißhaarige rannte weiter, als sei nichts gewesen und zog ihn mit sich mit. Um die Ecke, auf die Tür zu und hinaus ins Freie. Sie rannten noch ein ganzes Stück, bis sie genug Abstand zwischen sich und die Explosion gebracht hatten. Luca sah zurück, zu dem Gebäude, das sie gerade verlassen hatten. Der gesamte Chemietrakt stand in hell leuchtenden Flammen, die um sich griffen. Erst jetzt bemerkte er den schrillen Alarm. Bald würde es hier nur so vor Feuerwehrautos wimmeln. Er hatte das ungute Gefühl, dass sie sich hier besser nicht erwische ließen. „Mein Auto steht gleich da vorne.“ Er deutete Wage in Richtung Parkplatz. Das Mädchen schaute ihn ein paar Sekunden an, und nickte. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Auto, ohne ein weiteres Wort zu sagen. So viele Fragen schwirrten durch Lucas Kopf, dass er gar nicht wusste wo er anfangen sollte. Langsam rollte der Wagen von dem Schulgelände. Luca bog automatisch nach rechts in die mit Bäumen gesäumte Straße. Sein Herz raste noch immer, er musste Husten und die Hände, die sein Lenkrad umklammerten zitterten. Sie waren keine fünf Kilometer gefahren, als ihnen die Feuerwehr entgegen kam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)