Twilight State von Nekoryu ================================================================================ Kapitel 2: Zwischenfall ----------------------- Das furchtbare, Mark durchdringende Piepsen des Weckers riss sie aus ihrem traumlosen Schlaf. Wie aus dem Koma erwacht schlug sie auf das Gerät und die Stärke des Schlags vermittelte den Eindruck, als wäre dies der letzte Dienst des Weckers gewesen. Das dem nicht so war, zeigte ein erneutes Piepsen, 10 Minuten später. Sie murrte, verzog sich unter die Decke, um dem gnadenlosen Wachruf eines modernen Zeitmessgeräts mit Weckfunktion zu entgehen und mühte sich dann aus dem Bett, wie von den Toten aufgestanden. Und so fühlte sie sich auch: klinisch tot, doch mit Puls und Hirnfunktion, wie durch einen Eigenwillen der Natur. Ein lebender Zombie. Einen Moment lang saß sie in gebeugter Position auf ihrem Bett und starrte auf dem Fußboden, ihre Füße im Blickfeld. Schließlich erhob sie sich endgültig und schlurfte in Richtung Badezimmer,um die übliche Prozedur zu beginnen: Duschen, Haare waschen und das Gefühl von langsam eintretender Leichenstarre mit Make-up übertünchen. Da hasste sie am meisten. Ihr Frühstück bestand aus einem Stück Brot, einer Orange und einem hastig geschlürften Jogurt, halb beim Rausrennen aus ihrer Wohnungstür irgendwohin gestellt. Ihre schulterlangen, rotblonden Haare schienen der Wohnung wehmütig nachzuwinken, bevor die Tür zufiel und abgeschlossen wurde. Hastig rannte sie die Treppe hinunter, den Mantel auf ihrem linken Arm haltend, bevor sie die Eingangstür auf riss und von der morgendlichen Kühle empfangen wurde, die sie zwang, diesen dennoch anzuziehen. Sie verlangsamte ihren Schritt jedoch keineswegs, sondern hechtete zur Bushaltestelle und erreichte den Bus in allerletzter Sekunde. Ihr schien, er würde Morgen für Morgen extra auf sie warten und die Wartezeit an der Haltestelle extra für sie überziehen. Aber das war Unsinn! Sie schaffte es gerade so. Und nur gerade so! Der Bus fuhr an und das langsame Schaukeln versetzte sie nach und nach in eine tiefe Gedankenstarre, aus der sie sich mit Widerwillen erst an ihrem Ausstiegspunkt wieder gerissen wurde. Der Türvorsteher des Clubs lächelte und trat, verschlafen wirkend, zur Seite: „Ah, Guten Morgen Luna!“ „Guten Morgen! Gut geschlafen?“ rief sie lächelnd aus, als sie an ihm vorbeiging. „Naja, eher wie üblich!“ antwortete er ihr und Luna drehte sich auf halben Weg durch die Tür noch einmal um, einen tröstenden Blick in den Augen, bevor sie hinter der Tür verschwand und sich dem Gang zuwandte, wo die Umkleidekabinen waren. Die Sauerei des Abends war bereits von der Nachtschicht weitestgehend beseitigt wurden und so blieben nur einige Ladungen Gläser und Flaschen übrig, die in die Spülmaschine gehörten- beziehungsweise zur Pfandstelle gestellt wurden, um bei der nächsten Lieferung mitgenommen zu werden. Luna machte sich mit weitaus mehr Feuereifer an die Arbeit, als man vermuten konnte. Der Job war eigentlich das LETZTE, was man auf der Nahrungskette in einem Club ihrer Meinung nach sein konnte. Aber er brachte zwei bis drei Vorteile mit sich: sie bekam gutes Geld, unwesentlich besser als anderswo, zweitens wich das Gefühl einer langsamen Totenstarre einer Form von Leben und drittens kam sie nirgendwo günstiger in einen Club als hier. Weder vom Eintritt her noch von den Getränken. Das das Geld hinten und vorn nicht REICHTE, änderte im Moment nichts an ihrem Feuereifer. Die Tür ging auf und eine andere Frau betrat den Raum: „Oh, guten Morgen Luna!“ Die Angesprochene sah auf und lächelte: „Guten Morgen Susan! Wieder früher als ich da?“ „Ach was,“ antwortete Susan, „sicherlich mit dir zusammen reingekommen!“ Susan lächelte zurück und Luna nickte, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte. „Gut nach Hause gekommen?“ fragte Susan, während sie eine andere Ladung Geschirr wegstellte. „Hmm-mmh!“ war die zustimmende Antwort von Luna. „Und du?“ fragte Luna, um die Gesprächsbemühungen ihrer Kollegen nicht ins Leere verlaufen zu lassen. „Ich wohn´ doch gegenüber!“ lachte Susan und Luna lachte mit. Luna fand den Scherz nicht sonderlich lustig. Das Susan eine weitere Strecke als sie täglich zu überbrücken hatte und dennoch mit ihr zusammen eintraf, fand sie nicht lustig. Aber es war weitaus besser, sich mit den Kollegen gut zu verstehen- das hatte sie aus ihrem letzten Job eindeutig gelernt. Luna war fertig und richtete sich auf. „Ich werd´ oben für die Gäste vorbereiten gehen!“ sagte sie und Susan nickte ihr zu. Sie sah Luna nach, wie diese um die Ecke bog und die Treppe hochlief. *** Nachmittag, fast drei Stunden nach der ersten Hälfte dieses Tages. Nichts war schlimmer als die letzten zehn oder zwanzig Minuten vor Schluss. Nichts war schlimmer als das Wissen, nach diesem Feierabend noch einmal arbeiten gehen zu müssen, um nach Miete, Strom und Nebenkosten auch noch einen vollen Kühlschrank und andere wichtige Sachen finanzieren zu können. Immerhin war es bis zum nächsten Job nicht weit und sie war ALLEIN dort. Auch wenn ihr drei Stunden fehlen würden, um die tägliche Bedeutungslosigkeit anderer zu studieren- allein zu sein hatte etwas angenehmes, beruhigendes für sie. Es war besser, anderen nicht vormachen zu müssen, dass sie, Luna Suzuhara, sich auch nur für irgendwas aus deren banalen, seelischen Krisen interessierte... Fünf vor um machte sie sich mit demselben Eifer aus dem Staub, mit dem sie gekommen war. „Hey Luna!“ sie hielt inne und drehte sich um. Der Türvorsteher sah sie, wie eine Marionette, von Coffeintabletten und Kaffee am Leben erhalten, an. „Ja ?“ Sie lächelte, als der Mann lachte. „Luna, komm gut nach Hause!“ „Heute nicht. Ich muss noch arbeiten gehen! Aber Sie sollten ins Bett gehen. Und heute besser ein Taxi nehmen! Müdigkeit ist genauso schlimm wie Trunkenheit am Steuer!“ Luna winkte ihm nach und verschwand in der Masse der Passanten. **** Spätabends. Noch etwa vier Stunden, bis der alte Tag vorüber war und der neue begann. Luna fühlte sich erschöpft, nicht gewillt, den heutigen Abend dort zu verbringen, wo sie jeden Abend saß. Doch die Masse zog sie mit, Abend für Abend in die Richtung des Clubs, den sie tagsüber auf- und umräumte, vorbereitete und Gästen Essen, Getränke und jene süße Leckereien brachte, die sie bestellt hatten. Der Türvorsteher begrüßte sie, wie jeden Abend. Ein anderer als am Tag. Sein Auto stand noch auf dem Parkplatz. Immerhin stellte er so keine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar. Luna sah in den Himmel, als man ihren Ausweis begutachtete und das Guthaben auf die Karte lud. Die Sonne war fast verschwunden und ein fader Streifen eines Lichts, das gerade die Sterne verschwinden lassen konnte, überzog den Himmel wie ein Schleier ewigen Zwielichts. Luna überkam für einen Moment ein Gefühl von Sehnsucht, im diesen Licht, weder Licht noch dunkel, zu verschwinden und ein Teil dieses Schleiers zu werden, welches die faden Sterne verhüllte und den Blicken aller entzog. „Hallo, ihre Karte!“ Luna zuckte zusammen und sah einen Moment verwirrte zu der Frau, welche ihr eine Karte und den Ausweis hinhielt. „Oh, Verzeihung!“ „Das macht dann 15 Euro!“ Luna nickte nur. Es war gut zu wissen, dass der Betrieb der Nachtschicht nicht viel mit ihrer Schicht zu tun hatte. Es tat gut zu wissen, dass sie als keinen Kontakt zu den Menschen hatte, die sich um das ganze Brimbarium zu kümmern hatte. Obwohl sie guten Willen zeigte, hatte sie diesen Willen nicht- den Willen, sich mit all den Schmerzen und Krisen anderer auseinandersetzen zu müssen. Luna nahm die Karte entgegen, nachdem ihr Geld den Besitzer gewechselt hatte und ging mit einem „Danke!“ lächelnd in die Düsternis des Clubs, welche dessen neonstrahlende, grelle Beleuchtung nur oberflächlich vertreiben konnte. Angelockt von der Dunkelheit, die wie eine verheißungsvolle Nebelwand empor kroch, welche Abenteuer und Abwechslung verhieß. Sie empfing Luna wie eine sanft schreiende Nymphe, deren Stimme die Sinne betäubt und durch Mark und Bein dringt. Das wohlig- warme, dass dieser Ort versprach, blieb jedoch aus. Luna stieg die Treppe hinunter: dieselbe Treppe, die sie am Tag geputzt hatte. Eher desinteressiert bemerkte sie den Müll, der sich wieder angesammelt hatte: sie war eine arme, hungrige Seele, der nicht einmal die Hölle Erfüllung versprechen konnte. Denn eine Hölle- dass war dieser Keller, dieser Club für sie. Die Verdammten tanzten, zappelten und schrien sich ihre Seele Stück für Stück aus dem Leib. Warfen sie in kleinen Stücken dem Herrn der Unterwelt entgegen, der eine weitere Platte auflegte. Er und seine Dämonenschar sorgten unablässig dafür, dass die Verdammten für den Preis, den sie zahlten, ordentlich den alles erdrückenden Schmerz ihres Lebens vergaßen. Die Sirene, die Verführerin Odysseus, tobte wie eine wütende Banshee vor Verzückung: sie hatte Thor´s Trommelzeug gestohlen und schlug nun ordentlich darauf herum. In irgendeiner Ecke standen die Pärchen herum und saugten sich gegenseitig die Begierde aus. Sie setzte sich und stellte ihr Glas ab. Der Cocktail war gratis und schmeckte süß. Der Alkohol darin mutete ihr wie ein zärtlicher, aber flammender Kuss an. Es war ihr egal. Es änderte nichts. Die Masse verschwamm mehr als sonst. Die Bässe dröhnten ärger als sonst. Und bei jedem neugierigen, interessierten Blick vom Feld der „anderen“ kräuselte sie ihre Lippen verächtlicher als sonst. Das war alles, was er änderte. Sonst nichts... Es war nach Mitternacht, als sie hochschrak: hatte sie geschlafen? Nein, ihre Gedanken waren nur abgedriftet, weit weg. Ihr fehlten eineinhalb Stunden. Sie schob das Cocktailglas von sich: das war das letzte Mal, dass sie sich „gratis“ einen mitnahm. Der Preis war zu hoch... Plötzlich veränderte sich etwas: inmitten des immer gleichen Szenarios verschob sich etwas. Wurde anders. Besser. Sie wusste erst nicht, was es war, bis ihr Blick auf eine leuchtend weiße Gestalt fiel... Sie stand dort, abseits und scheu wie ein Reh unter Wölfen, und sah sich um. Ihr weißes Trägerkleid schloss unter der Brust mit einer Schleife ab und fiel schlicht nach unten, bis zu ihren Knien. Die Spitzenhandschuhe ohne Finger passten nicht recht zum Kleid, dennoch wirkten sie nicht aufgesetzt. Ihre helle, durch das Licht schon fast weiß erscheinende Haut, verstärkte den Eindruck ihrer Erscheinung noch. Doch entgegen der Erwartung, die man bei einer solchen Erscheinung hat, waren ihre Haare nicht blond, sondern tiefschwarz. Luna betrachtete sie fasziniert und bemerkte, dass es um diese Fremde herum heller war. Alles in diesem Raum schien das Licht zu schlucken; ein hungriges Biest, dessen gähnender Rachen niemals satt wurde. Aber sie war anders: es war, als ob das Biest geblendet von ihr zurückwich. Luna erhaschte einen raschen Blick auf die kirschroten Lippen: wie klischeehaft. Wie schön! Urplötzlich dehnte sich die Zeit wie eine Kaugummiblase, die man genüsslich auf den größtmöglichen Umfang aufbläst. Ein Universum, das aus dem Urknall entstanden war und sich nun dehnte und dehnte. Sterne und Galaxien erschuf. Gott wurde. Mit Luna und der Fremden im Zentrum. Luna wagte nicht zu atmen, nicht zu blinzeln, aus Furcht, der Moment könnte platzen. Und diese Fremde im Wahn ihrer Vorstellungskraft verschwinden. Ihr Herz zersprang fast vor kindlicher Begeisterung und Faszination. Begeisterung und Faszination! Es erschien ihr wie ein Kindheitstraum, aus dem sie erwacht war, der in der Erinnerung lebendig blieb, aber dennoch über die Jahre verblasste. Luna verspürte den Wunsch, das Universum wachsen zu lassen, als die dunkelroten, schon fast kitschig mädchenhaften Ballerinas des Mädchens in ihre Richtung drehten. Und ihre dunklen, vielleicht schokobraunen Augen sie mit derselben Faszination betrachteten. Sie fühlte, wie das Universum Galaxien und Planeten bildete, als ein sanftes, fast schon liebesvolles Lächeln die ebenso kitschig und wunderschönen Lippen berührte. Luna sah Leben in diesem Universum aufblühen, als dieselben, roten Lippen ein sanftes Flüstern versuchten- doch dieses jähe Aufblühen wurde urplötzlich vernichtet. Vollkommen verwirrt über diese Entwicklung blinzelte Luna- sie sah, wie das Mädchen im weißen Kleid scheu- nein, eher panisch- ihre Augen aufriss und in eine Richtung sah, aus der Luna nichts ausmachen konnte. Dann sah sie, wie das Mädchen weglief. Das genügte. Luna erhob sich ruckartig. Es war erst zwanzig nach Mitternacht- dennoch trieb es Luna nach draußen. Sie wusste nicht, was es war. Sie wusste nur, dass sie es tun musste. Luna jagte der Spur, dem Nebel feinen Lichts, nach. Sie warf ihr Glas, ihre Karte und ihr angerissenes Ticket sowie den üblichen Zettel auf die Bar. Sie beantwortete den Gruß des Türvorstehers eher flüchtig und desinteressiert. Dann rannte sie die Straße entlang. Sie brauchte das Licht. Sie brauchte das Mädchen. Es war eine vollkommen verworrene Geschichte in ihrem Kopf: ein Außenstehender, der sie beobachtet hätte, während sie die wabernde Masse beobachtete, würde denken, sie übernatürliche Macht der Liebe hätte sie getroffen. Und womöglich die Erkenntnis, eher auf Frauen zu stehen denn auf Männer. Einen kurzen Moment lang kam dies selbst Luna in den Sinn- doch erschien ihr das so abwegig, dass sie sich nur mit Macht vor einem zynischen Lachanfall bewahren konnte. Es war nicht schlimm, wenn es so wäre. Doch dem war nicht so. Vielmehr erschien es Luna, als müsste sie dieses Mädchen etwas fragen. Etwas wichtiges. Als hätte sie den Schlüssel zur Antwort all ihrer Fragen. Als wäre sie mit ihr verbunden. Verbunden? Das klang so albern, würde es nicht sie selbst betreffen, sie hätte sich schon LÄNGST darüber lustig gemacht. Und zwar ausgiebig... Der feine Nebel aus Licht verpuffte in einer Gegend, in der sie noch nie zuvor war. Ihr fröstelte. War sie einem Hirngespinst nachgejagt? Um sie herum war es dunkel und sie zog besorgt die Arme an. Langsam sah sie sich um. Sie würde nie wieder einen Cocktail trinken- egal, wie gratis er war. Und wenn man sie bezahlte, dass Teil zu nehmen! Sie musste hier weg. Und zwar sehr schnell. Dennoch konnte sie keinen Fuß vor den anderen setzen. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, als sie bemerkte, was sie davon abhielt: sie wusste kaum noch, aus welcher Richtung sie gekommen war, geschweige denn, wo lang sie musste, um zu ihrem Ausgangspunkt zu kommen. Sie atmete tief durch: es war vielleicht besser, erst einmal überhaupt in die Richtung zu laufen. Meistens führte sie ihre Intuition auf den richtigen Weg. Das klang allerdings so abgedroschen, dass sie darüber verächtlich lächeln musste. Woher kamen diese abgedrehten Gedanken? Es war, als hätte irgendwer ein altes Karussell entdeckt und in Betrieb genommen. Und es drehte sich und drehte sich schneller und schneller, bis einem selbst ganz schlecht dabei wurde. Luna drehte sich vorsichtig, nach einigem Zögern in die Richtung, aus der sie gekommen war. Instinktiv wünschte sie sich, unterwegs etwas mehr auf den Weg geachtet zu haben. Realistisch betrachtet war es egal: sie hatte nicht darauf geachtet. Darüber zu trauern änderte nichts. Es war somit eher eine Verschwendung von Energie, eine stetig wachsende Ladung an Emotionen, die ihre Sorgen nur noch weiter anfeuerten. Plötzlich stoppte sie abrupt: das Licht. Halluzinierte sie oder war es wieder da? Dieser zärtliche Nebel aus Licht. Licht? Es wirkte eher wie ein Parfum, das sich verflüchtigte und dem sie nachjagte. Wieder so ein abgedrehter Gedanke! Hörte das gar nicht mehr auf? Fast schon instinktiv schlug sie den Weg in eine der Seitengassen ein: es wurde noch dunkler. Es war fast schon unvorstellbar, dass so etwas ging! Nur der fade Schein des Stadthimmels schien ihr den Weg zu Leuchten: ein schwacher Schimmer am Himmel, der wie ein geltungssüchtiges Kind alles andere Licht verdrängte. Der stumpfe und schmutzige Schein, der die Menschen Nacht für Nacht in die Tanztempel trieb. Ein rötlicher Schatten, dem sie huldigten und der sich huldigen ließ, damit er ihnen das triste Dasein verschönerte. Dabei war er selbst so trist, so unglaublich trist.... Ihre Gedanken hatten sie weiter in die Seitengasse getrieben. Sie lief nicht mehr. Luna funktionierte noch wie eine Marionette am Faden. Dann erstarrte sie: Sie konnte sie sehen: das Mädchen im weißen Kleid. Die Lichtgestalt, vor der selbst die Finsternis zurückzuweichen schien. Doch hier war es anders: das Leuchten wurde zurückgedrängt, als würde sie von einem Rudel Wölfe bedroht werden. Sie musste blinzeln, um zu begreifen, dass dies in gewisser Hinsicht sogar passierte: Da waren vier, fünf, nein sechs Kerle. Sie erschienen ihr im Dunkeln alle gleich groß zu sein. Und die Tatsache, dass sie alle dieselben, dunklen Sachen trugen, erweckte in ihr nicht gerade ein Gefühl von Tapferkeit. Ihr Herz raste, ihre Füße taten einen Schritt- sie blinzelte und schrak zusammen. Ob nun vom Lärm des Müllsacks, dessen Leergutinhalt klirrend zu Boden fiel und zerschellte oder durch den Schmerz, der sich fühlbar von ihrem Fuß ihr Bein entlang seinen Weg zu ihrem Hirn bahnte konnte sie nicht sagen. Sie hörte noch ihre Stimme, der ein schmerzvolles „Fuck!“ entfleuchte, bevor sie erstarrte und aufsah: Die Typen hatten sich umgedreht. Es war so verdammt finster, dass sie nicht einmal die Gesichter sehen konnte. Aber sonderlich positiv konnte der Ausdruck nicht ausfallen- wenn sie es denn wirklich wissen wollte. Und daran zweifelte sie ernsthaft... Nun war es zu spät. Es war zu spät für einen Überraschungsmoment. Es war auch zu spät, um Hilfe zu suchen. Und erst recht war es zum Davonlaufen zu spät... Das war etwas, was zu tun sie im Moment zweifelte. Die Typen machten einen mechanischen Schritt auf sie zu. Sie konnte das Mädchen sehen, wie sie aufsah: einerseits erleichtert, dass Luna hier war, andererseits verzweifelt. War das Verzweiflung in ihren Augen? Oder war es Trauer? Bedauern? Trauerte sie bereits um sie, Luna? „Du siehst Gespenster!“ schoss es Luna durch den Kopf. Doch angesichts der Tatsache, dass sie einem weißgekleideten, geisterhaften Mädchen wahrscheinlich durch die halbe Stadt nachgejagt war, konnte sie das womöglich tatsächlich behaupten. Luna wich mit jedem Schritt, den diese Typen machten, weiter und weiter zurück. Innerlich hoffte sie, dass irgendein Licht auf diese Gestalten fiel. Sie musste sehen, wer es war. Ihr Fuß stieß gegen eine der zerschellten Flaschen. Mit einem Mal flog in Luna´s Kopf ein Schalter um. Sie würde die Flasche nehmen. Sie würde sie gegen den Ersten werfen. Dem Angriff ausweichen. Den Stock dieses Besens nehmen, der in der Ecke herumstand. Ihn auf den Kopf des Zweiten niedergehen lassen, sodass er zerbrach. Dem Dritten mit einer Scherbe, neben der sie landen würde, das Gesicht aufschlitzen und seinem Heulen ein Ende setzen, indem sie das nächstbeste, dass ihr in die Hand kam, über den Schädel zog. Von vier und fünf in die Zange genommen werden. Mit knapper Mühe und Not den Attacken entkommen, nur, um gegen einen Müllcontainer geschleudert zu werden. Der Schmerz würde sie kurzfristig lahmlegen. Und nur reines Glück würde dazu führen, dass ein Schwall einer klebrigen Flüssigkeit in ihr Gesicht landete. Der metallische Geschmack würde sie anekeln und Übelkeit hervorrufen. Sie würde sich hastig aufrappeln, während der letzte dachte, sie wäre jetzt leichte Beute. Und sie würde nicht schnell genug sein. Vielleicht, weil ihr Fußgelenk schmerzte, als hätte sich die brennende Hölle selbst darin eingefunden. Er würde sie würgen. Sie würde fühlen, wie ihr Blut in ihrem Kopf gegen ihre Stirn hämmerte. Wie ihre Luft knapp wurde. Wie ihre Fingernägel sich in seine Handgelenke sich in seine bohrten. Und wie sie, in einem Akt von Vernunft, hervorgerufen von panischen Überlebenswillen, ihre Füße auf den Brustkorb legte, um sich zu befreien. Sie würde im letzten Moment ein Krachen hören. Holz sehen, das zersplitterte. Zusammen mit diesem Typen zu Boden fallen. Und ihr eigenes Husten hören, während sie den Schmerz des Lebens anpreisen würde. Luna hörte sich husten und alles tat weh. In ihrem Gesicht trocknete eine Masse, die gut und gerne Blut sein konnte. Hoffentlich war es ihr eigenes, sie wollte sich nicht durch so einem Irren mit irgendetwas anstecken. Weiße, weiche Hände streckten sich nach ihr aus und sie fühlte, wie diese sie zu der dazugehörigen Person zog: „Bei allen Göttern, du bist in Ordnung.“ hörte Luna die Stimme zart flüstern. „Ich dachte schon, du stirbst. Ich hätte mir das nie verzeihen können...“ Luna fühlte, wie die geradezu zerbrechliche Gestalt zitterte. Und trotz der Zerbrechlichkeit dieses Wesens fühlte sie sich in der Umarmung förmlich erdrückt. Es war so surreal. War all das, was sie in ihrem Kopf gesehen hatte, wirklich passiert. Sie tastete unsicher nach ihrem Knöchel- er war heiß und protestierte sofort. Es war passiert. Was war passiert? Das konnte niemals sie gewesen sein. Luna Suzuhara war das nicht. Luna Suzuhara rettete keine Fremden. Rettete nicht einmal Bekannte. War dazu nicht einmal in der Lage. Aber hier lagen die Corpus Delicti. Lagen und rührten sich nicht. Sie hatte das nicht getan. Das war nicht sie gewesen. Das war eine andere Person gewesen, mit ihrem Gesicht. „Du bist in Ordnung...“ murmelte die Stimme des Mädchens erneut. „Ich bin in Ordnung.“ echote Luna mit krächzender Stimme. Sie versuchte, sich aufzurichten. „Warte, ich helfe dir!“ Luna fühlte, wie sie nach oben gezogen wurde. In ihrem Gesichtsfeld bewegte sich etwas. Zu spät bemerkte sie, dass einer von ihnen sich aufgerichtet hatte. Sie konnte das Gesicht sehen. Und plötzlich war sie sich sicher, dass sie es nie hatte sehen wollen. Dass es eine dumme Idee war, es überhaupt zu versuchen. Die allerdümmste Idee. Sie kam nicht einmal dazu, „Vorsicht!“ zu rufen, denn das Mädchen sackte bereits zusammen wie ein nasser Sack. Der Stoß, der sie traf, war so heftig, dass sie nicht einmal mehr den Schmerz wahrnahm. Verschwommen bemerkte sie, wie sich zum ersten paar Beine noch zwei weitere gesellten. Dann wurde es schwarz. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)