Keep my Secret von -melinda- (... and love me) ================================================================================ Kapitel 25: Erinnerungen ------------------------ "Ich denke, wir sollten eine Pause machen." Diese Worte hallen deutlich in seinem Kopf nach und ihm wird erst in diesem Augenblick bewusst, was er da eigentlich gesagt hat. Kikyo verzieht keine Miene, aber ihr leerer Blick macht ihm Sorgen. Er öffnet den Mund um etwas zu sagen, um ihr zu erklären, dass er es anders meint als sie vermutlich denkt. Plötzlich hebt sie die Hand und hält ihm ihre Autoschlüssel vor die Nase. "Ich will Heim", haucht sie. "Fährst du mich bitte nach Hause." Das ist keine Frage, sondern eine Aufforderung. Vorsichtig nimmt er den Schlüssel entgegen. Sie weicht seinem Blick aus und geht voran, verlässt mit zielgeradigen Schritten den Festplatz. Inuyasha folgt ihr betrübt. An der Straße vor dem Parkplatz, steht Sesshoumaru. Er hält sein Mobiltelefon in der Hand und schaut sich suchend um. "Was ist los?", fragt Inuyasha mürrisch, als er an ihm vorbeigeht. "Ich warte auf ein Taxi", antwortet er, ohne ihn anzusehen. "Die Feier langweilt mich und ich habe morgen früh ein wichtiges Meeting." "Heute Abend bekommst du niemals ein Taxi." Inuyasha schaut kurz hinüber zu Kikyos Wagen. Sie steigt gerade ein. Er seufzt. "Du kannst bei uns mitfahren." Sesshoumaru wirft ihm einen skeptischen Blick zu. "Du kannst auch zu Fuß gehen, mir egal!" Inuyasha geht wütend weiter. Seinem Bruder kann man es nie recht machen. Aber kurz nachdem Inuyasha sich vor das Lenkrad gesetzt hat, öffnet sich eine weitere Tür und Sesshoumaru nimmt auf dem Rücksitz hinter ihm Platz. Kikyo sagt nichts dazu. Mit verschränkten Armen schaut sie aus dem Fenster. Inuyasha blickt kurz in den Rückspiegel und lässt den Motor an. "Willst du dich nicht anschnallen?" Sein Bruder lacht leise auf und schüttelt den Kopf. Inuyasha verdreht die Augen und fährt los. Auf den Straßen herrscht wenig Verkehr. Während sie über die Landstraße fahren, ziehen sich die Minuten wie Kaugummi. Die Situation ist angespannt und falls Sesshoumaru die dicke Luft bemerkt hat, lässt er es sich nicht anmerken. "Kannst du noch ein bisschen langsamer fahren?", fragt er mit beiläufigem Sarkasmus. "Ich bin schon am Tempolimit." "Die Straße ist leer. Gib Gas, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit." "Damit ich in der Probezeit erwischt werde und mein Führerschein gleich wieder eingezogen wird? Lass mich kurz überlegen: Nein!" Inuyasha schaltet das Radio ein. Ein leicht verzerrter Popsong aus den Neunzigerjahren erklingt. Kikyo schaltet es schnell wieder aus. Daraufhin hebt Sesshoumaru eine Augenbraue. "Ärger im Paradies?" "Wir haben uns vorhin getrennt", antwortet Kikyo sachlich. "Wa-?" Inuyasha wirft ihr einen entgeisterten Blick zu. "Aus welchem der vielen Gründe hast du ihm den Laufpass gegeben?", fragt Sesshoumaru weiter. "Er hat mit mir Schluss gemacht." "Ja, er war schon immer ein dämlicher Schwachkopf." "Halt die Schnauze, Sesshoumaru!", ruft Inuyasha verärgert und wendet sich wieder an Kikyo. "Und ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ich Schluss mache! Es war lediglich die Rede von einer Pause." "Und warum?" "Das können wir später klären." "Das können wir auch jetzt", beharrt sie. "Ist das dein Ernst?" Inuyasha deutet auf seinen Bruder und sie nickt provokant. "Lasst euch von mir nicht stören." "Na schön", knurrt Inuyasha und schaut verbissen auf die Fahrbahn. "Ich brauche eine Pause weil du furchtbar anstrengend und kompliziert bist." "Wie bitte?" "Ständig hast du etwas, an dem was ich tue oder später erreichen will, auszusetzen und versuchst mich umzustimmen und zu ändern. Sorry, aber nicht jeder kann so perfekt sein wie du und ich habe mich schon für diesen Weg entschieden, bevor ich dich kennengelernt habe. Ich werde die Reise machen und nicht studieren, ob es dir nun passt oder nicht!" "Was unserem Vater überhaupt nicht gefallen wird", wirft Sesshoumaru spöttisch ein. Inuyasha sieht ihn wütend im Rückspiegel an. "Halt dich da raus, sonst kannst du mit deiner selbstgerechten Visage den restlichen Weg zu Fuß gehen! Du arroganter, aufgeblasener-" "Inuyasha, pass auf!", ruft Kikyo erschrocken. Es ist bereits zu spät. Er befindet sich schon auf der Kreuzung und er sieht die großen Scheinwerfer die von links unfassbar schnell auf ihn zukommen, begleitet von einem hässlichen Hupen. Reflexartig zieht er sich zusammen und schiebt seine Arme schützend vor sein Gesicht. Ein lauter, zerreißender Knall ertönt. Es scheppert und klirrt. Und im ersten Moment, denkt und fühlt Inuyasha gar nichts. Er sieht Kikyo fest in die Augen, während sie vom Lastwagen quer über die Kreuzung geschoben werden. Er erkennt die Angst in ihrem Blick und der dunkle Baum, der hinter ihr im Fenster erscheint, kommt unvermeidlich näher. Ein weiterer Aufprall, dieses Mal auf ihrer Seite. Dann endlich hören die Reifen auf zu quietschen und das Auto kommt zum Stillstand. Als er versucht den Kopf zu bewegen regnet es kleine Glasscherben, die mit einem leisen Klirren aufprallen. Inuyasha hört es kaum, das hohe Pfeifen in seinen Ohren ist noch zu laut. Schwerfällig öffnet er die Augen, aber er sieht nur eine verschwommene Dunkelheit. Frustriert blinzelt er mehrmals, bis das Bild endlich schärfer wird. Er sieht die zerbrochene Frontscheibe und das verbeulte Lenkrad vor ihm. Im linken Augenwinkel bemerkt er Scheinwerferlicht und einen Schatten der sich hastig bewegt. Ein scharfer, unerträglicher Schmerz schießt durch seinen Körper. Sein Kopf tut weh. Es fühlt sich an, als hätte jemand mit Begeisterung darauf eingehämmert. Ein Brennen durchzuckt ihn. Schmerzerfüllt zieht er die Luft durch die Zähne und bewegt den Kopf soweit nach links, bis er erkennen kann was es ist. Die stark nach innen verbogene Fahrertür ist gesplittert und ein spitzes, blutiges Stück Eisen steckt tief in seiner Seite. Inuyasha stöhnt gequält auf, versucht den Schmerz zu unterdrücken und seine panische Atmung zu regulieren. "Inuyasha", flüstert Sesshoumaru von der Rückbank. "Bist du schwer verletzt?" "Ich weiß nicht", antwortet er. Seine Stimme klingt heiser. Er vermeidet es, sich zu drehen und den Zustand seines Bruders zu überprüfen, weil jede Bewegung sich anfühlt, als würde ein Haufen Rasierklingen durch sein Inneres schneiden. In einer Scherbe des Rückspiegels kann er seine Augen sehen. "Was ist mit dir?", fragt er ihn. "Alles bestens", haucht er spottend und wirft Inuyasha einen selbstgefälligen Blick im Rückspiegel zu. "Mach dir lieber Sorgen um die Kleine neben dir." Mit schmerzverzerrtem Gesicht dreht Inuyasha den Kopf nach Rechts und blickt auf die zierliche Gestalt, die regungslos neben ihm sitzt. Ihre Tür ist ebenfalls nach innen verbogen. Der Wagen hat sich beim Aufprall offenbar um den Baum gewickelt. "Kikyo?", flüstert Inuyasha mit rauer Stimme und greift nach ihrer kalten Hand. Ihr Kopf hängt schlaff nach unten und wegen der langen Haare kann er ihr Gesicht nicht sehen. "Kikyo", sagt er noch einmal, dieses Mal deutlich lauter. "Fühl ihren Puls." Er legt seine Finger auf ihre Halsschlagader und zählt. "Und?" "Verdammt langsam", knirscht Inuyasha und sieht sich hilfesuchend um. "Beruhige dich", murmelt Sesshoumaru. Warum ist seine Stimme so kraftlos? "Der andere Fahrer hat schon den Notarzt gerufen. Sie werden jeden Moment hier sein. Es wird alles gut werden." Wie aufs Stichwort ertönt von Weitem eine Sirene, die in kurzen Abständen immer lauter wird. Die Unfallstelle wird von der Polizei abgesperrt und einige Sanitäter hantieren an den eingedrückten Fahrertüren, um die Verletzten schnellstmöglich aus dem Fahrzeug zu bekommen. Da Kikyo nicht bei Bewusstsein ist, wird sie als erstes vorsichtig aus der herausgehobenen Frontscheibe gezogen. Das beruhigt ihn etwas. Die Fahrertür bewegt sich ein minimales Stück und Inuyasha schreit laut auf und flucht. Die Rettungskräfte kommunizieren wild durcheinander und sie scheinen ratlos zu sein. Der Schmerz durchflutet seinen Körper, ihm ist heiß und kalt zur gleichen Zeit und er spürt wie auch er das Bewusstsein verliert. Er fragt sich kurz ob er sterben würde. Das letzte was er sieht, sind die Augen seines Bruders im Rückspiegel. "Inuyasha Taishou?" Eine freundliche Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell stand er auf. "Ja?", fragte er nervös. Die junge Krankenpflegerin lächelte. "Sie können jetzt reingehen. Folgen Sie mir bitte." Er nickte und sie führte ihn durch die endlosen, weißen Flure des Krankenhauses. Sie liefen an gefühlten hundert Türen vorbei, bevor sie ihr Ziel erreichten. Die Pflegerin öffnete eine Tür, die genau so aussah wie jede andere in dem Gebäude, und betrat den Raum. Inuyasha folgte ihr nicht sofort. Er ließ die Tür hinter ihr zufallen und atmete noch einmal tief durch. Er warf einen Blick über die Schulter und überlegte kurz, ob er den Weg zurück finden würde wenn er davon lief. Er schaffte es sich zu überwinden, drückte schließlich die Klinke hinunter und schlüpfte leise durch den Türspalt. Die Pflegerin überprüfte gerade ein paar Krankenblätter. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie wieder. Das stand vermutlich in ihrem Arbeitsvertrag. Jeder musste angelächelt werden, ob er das nun wollte oder nicht. "Kommen Sie ruhig näher", sagte sie und schob einen Stuhl an das Bett. "Setzen Sie sich zu ihr." Eine leichte Übelkeit überkam ihn. Kikyo sah noch genau so aus, wie in seiner Erinnerung. Ihre Haut war weiß und makellos, die Haare waren lang und gepflegt, ihr Körper war zierlich, aber nicht abgemagert und einen Augenblick lang, dachte er wirklich sie würde bloß ganz friedlich schlafen. Aber die leuchtenden und leise piependen Geräte um sie herum, zerstörten diesen Eindruck erbarmungslos. Die Pflegerin blickte ihn erwartungsvoll an und er folgte ihrer Aufforderung sich zu setzen. "Nicht so zaghaft, sie wird Sie schon nicht beißen", sagte sie und lachte, als ob das irgendwie witzig wäre. Als sie merkte, dass ihr Scherz nicht gut angekommen war, räusperte sie sich kurz. "Also, ich lasse Sie dann allein. Scheuen Sie sich nicht vor Körperkontakt oder davor mit ihr zu sprechen. Es ist möglich, dass sie aufnahmefähig ist." Die Tür fiel hinter der Krankenpflegerin ins Schloss und Inuyasha war nun allein im Raum. Mit ihr. Es war möglich, dass sie ihn hören konnte? Da fühlte er sich gleich noch unwohler. Wenn sie nun gar nicht wollte, dass er sie besuchte? Und sie konnte nicht einmal widersprechen oder ihre Missbilligung ausdrücken. Sie hatte im letzten Jahr sicher nichts Besseres zu tun gehabt, als ihn still vor sich hin zu hassen. Dafür, was er ihr angetan hatte. Die andere Möglichkeit war, dass sie bereits auf ihn gewartet hatte. Dass sie sich immer wieder gefragt hatte, wo er denn blieb. Das würde eher zu ihr passen. Kikyo war nie sehr nachtragend gewesen. "Okay", murmelte Inuyasha schließlich. "Ich soll mit dir reden, also rede ich einfach mit dir. Ähm, falls du dich um dein Aussehen sorgst, kann ich dich beruhigen, du siehst gut aus. Weißes Neonlicht schmeichelt dir." Piep, Piep, Piep. "Nein, das ist quatsch, es macht dich noch blasser. Aber abgesehen davon und den ganzen Schläuchen, siehst du wirklich gut aus." Piep, Piep, Piep. Inuyasha schluckte und rieb sich nervös die Hände. "Was zur Hölle mache ich hier?", seufzte er und schloss kurz die Augen. "Sorry, ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich wollte dich eigentlich erst besuchen, wenn du aufwachst, aber damit lässt du dir verdammt viel Zeit. Wenn du dich nicht etwas damit beeilst, bist du gewaltig am Arsch. Die wollen die Geräte ausschalten, Kikyo. Die Geräte, die dich noch am Leben erhalten. Jetzt aufzuwachen, wäre ein wirklich geeigneter Zeitpunkt." Piep, Piep, Piep. "Ja, das wäre ja auch zu schön gewesen. Vielleicht ist es auch besser so. Vielleicht hast du ja gar keine Lust aufzuwachen", überlegte Inuyasha leise und versank wieder in seiner Gedankenwelt. "Als ich damals nach dem Unfall aufgewacht bin, war das echt scheiße." "Er wacht auf." Ein schleifendes Geräusch, ein Stuhl wird über den Boden gezogen. Schritte die sich eilig entfernen. "Ich benachrichtige Ihren Mann. Bleiben Sie bei ihm." Während des kurzen Schweigens, das folgt, wird er sich langsam einer anderen Geräuschebene bewusst- Stimmen, ein vorbeifahrenes Auto, durch die Entfernung gedämpft. Er nimmt alles in sich auf, lässt es Gestalt annehmen, ordnet ein Geräusch nach dem anderen seiner Quelle zu. Plötzlich bemerkt er den Schmerz. Er arbeitet sich in kleinen Etappen hoch: Zunächst sein Oberkörper, ein scharfes Brennen zwischen den Rippen bis zum Brustbein. Dann sein Kopf, dumpf und unbarmherzig. Der Rest seines Körpers tut so weh, wie zu dem Zeitpunkt, als er... als er? "Er kommt sofort. Ich schließe die Vorhänge. Das Licht könnte zu grell für ihn sein." Sein Mund ist trocken. Er presst die Lippen aufeinander und schluckt unter Schmerzen. Er will um Wasser bitten, aber die Worte kommen einfach nicht. Er öffnet die Augen einen Spalt breit. Zwei undeutliche Schemen bewegen sich um ihn herum. Ein gräßlicher Piepton erfüllt den Raum. Er ist gleichmäßig. Stetig. Verdammt nervig. Piep. Piep. Piep. "Bist du wach? Du hast Besuch." Er nimmt einen flackernden Schatten über sich wahr. Er sieht, wie er sich bewegt, begleitet von dem schleifenden Geräusch. Er bietet seine ganze Willenskraft auf, um die Gestalt zu fixieren, doch es will ihm einfach nicht gelingen, und so lässt er die Augen wieder zufallen. "Sie können sich zu ihm setzen, wenn Sie wollen. Mit ihm sprechen. Er kann Sie hören." "Wie sehen seine... anderen Verletzungen aus?" "Es wird Narben geben, fürchte ich. Und er hat einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen, daher kann es eine Weile dauern, bis er wieder der Alte ist." Er hört wie sich die Schritte entfernen. "Sprechen sie mit ihm. Zeigen sie ihm, dass er nicht allein ist." "Inuyasha? Inuyasha, kannst du mich hören?" Die Worte sind so laut, seltsam aufdringlich. "Inuyasha, Schatz, ich bin's", spricht die laute Frauenstimme weiter und seufzt. Dieses Seufzen ist ihm sehr vertraut. "Sind Sie sicher, dass er mich hören kann?" "Ziemlich, aber mag sein, dass ihn die Kommunikation noch zu sehr erschöpft." "Aber sein Verstand ist nicht zu Schaden gekommen?", fragt eine Männerstimme plötzlich. "Bei dem Unfall? Sie wissen sicher, dass es keine bleibenden-" "Wie gesagt, sein Kopf hat einen ordentlichen Stoß abbekommen, aber medizinisch gesehen gibt es keinen Grund zur Sorge." Papier raschelt. "Kein Bruch. Keine Hirnschwellung. Man kann das nicht immer vorhersehen, und jeder Patient reagiert anders. Aber in Anbetracht der Schwere des Unfalls können wir wohl sagen, dass er einigermaßen glimpflich davongekommen ist." Schweigen. Er vernimmt Schritte, leise Stimmen, die sich in einem Nebenraum unterhalten. Der Schmerz in seinem Kopf ist zu einem pochenden Geräusch geworden und wird noch intensiver, bis er nur noch darauf warten kann, dass es aufhört oder er das Bewusstsein verliert. Unfall?, ist sein letzter Gedanke, bevor die Schwärze ihn umhüllt. Als er das nächste Mal aufwacht, kann er sich an das meiste wieder erinnern und er erkennt die Stimmen seiner Eltern. Etwas später kann er wieder klar sehen. Als man ihm sagt wie lange er schon im Krankenhaus liegt, kann er es kaum glauben. Die Zeit scheint ihm wie zerstückelt, unbeherrschbar, kommt und geht in chaotischen Klümpchen. Dienstag, Frühstückszeit. Jetzt war Mittwoch, Mittagessen. Offensichtlich hat er sechsundzwanzig Stunden geschlafen- das wird missbilligend festgestellt, als wäre es unhöflich, so lange abwesend zu sein. Dann ist wieder Freitag. Seine Mutter besucht ihn jeden Morgen und jeden Abend, drückt ihm jedes Mal einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und setzt sich für gewöhnlich ans Fußende seines Bettes. Sie bringt oft kleine Geschenke mit. Einen MP3-Player, gutes Shampoo, Zeitschriften. Fürsorglich spricht sie über Belanglosigkeiten, fragt wie ihm das Essen schmeckt oder ob sie ihm irgendetwas anderes bringen lassen soll. "Wir haben uns solche Sorgen gemacht, Inuyasha", sagt sie und legt ihm eine kühle Hand an den Kopf. Es fühlt sich gut an. Gelegentlich beginnt seine Mutter einen Satz und murmelt dann: "Ich darf dich nicht mit Fragen erschöpfen. Aber alles wird wieder gut. Die Ärzte sagen das." Manchmal, wenn er wach wird, stellt er fest, dass sie dort sitzt, die Zeitung auf dem Schoß, ihr Gesicht in den Händen vergraben, schluchzend. Sei nicht besorgt, will Inuyasha ihr dann sagen. In seiner kleinen Seifenblase ist es friedlich. Bitte lass sie noch nicht platzen. Der Arzt kommt täglich, überprüft seine Krankenblätter, fragt ob er ihm Tag, die Uhrzeit, seinen Namen nennen könne. Inzwischen kann er ihm die richtigen Antworten geben. Er ist ein zweites Mal operiert worden und seine Verletzung verheilt gut, sagen die Ärzte, obwohl die lange rote Narbe sehr empfindlich ist. Seine Augen hat man einem Test unterzogen, sein Gehör ist untersucht worden, seine Haut ist an den unzähligen, durch Glassplitter verursachten, Schnittwunden verheilt. Die Prellungen sind verblasst, und die gebrochene Rippe ist so gut zusammengewachsen, dass er im Liegen schmerzfrei die Position wechseln kann. Niemand hat darüber gesprochen, wie er hierhergekommen ist. Als er seine Mutter danach fragt, wie es Kikyo und Sesshoumaru geht und in welchen Zimmern sie liegen, wird sie kreidebleich. "Denk nicht darüber nach. Es war alles furchtbar aufregend." Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und da Inuyasha sie nicht aus der Fassung bringen will, lässt er das Thema fallen. Und schläft weitere zwanzig Stunden. "Es würde ihm sicher helfen, wenn du öfter zu Besuch kommen könntest", hört er seine Mutter leise flüstern. "Es fehlt mir die Zeit, ihm beim schlafen zuzuschauen. Er ist außer Lebensgefahr. Wir müssen die Beerdigung vorbereiten." Was? Wessen Beerdigung? Inuyasha öffnet die Augen. Seine Eltern stehen vor seinem Bett und wirken sehr gereizt. Izayoi schüttelt den Kopf und streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. "Ich bleibe bei ihm. Wir können von Glück reden, dass wir noch einen lebenden Sohn haben und ich weiche nicht von seiner Seite." "Es ist der falsche Sohn", haucht sein Vater nahezu lautlos und senkt beschämt seinen Blick, als würde er sich selbst für diesen Gedanken verachten. Inuyasha braucht einen Moment um diese Worte zu verstehen. Seine Mutter sieht ihren Mann schockiert an. "Wie kannst du so etwas sagen?" Inuyasha runzelt die Stirn und verzieht entsetzt das Gesicht, als es ihm plötzlich klar wird. Sesshoumaru ist tot. Er ist bei dem Unfall gestorben. Und sein Vater hasst ihn dafür. Was ist mit Kikyo? Das Piepen im Raum wird schneller und schneller. Panisch versucht er sich aufzurichten, dabei wird die Infusionsnadel aus seinem Arm gerissen. Seine Eltern schauen ihn überrascht an. Izayoi will auf ihn zugehen, aber die Zimmertür wird geöffnet und ein Arzt und zwei Pflegerinnen stürmen an ihr vorbei. "Sedieren", befiehlt der Arzt. "Die Fäden der Operationswunde dürfen nicht reißen." Etwas sticht ihm in den Arm und der Piepton verlangsamt sich wieder. Er wird wieder schläfrig und lässt sich zurück ins Kissen drücken. Er erinnert sich an die letzten Worte seines Bruders, bevor er in den Schlaf gleitet. Es wird alles gut werden. Lügner. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und Inuyasha zuckte zusammen. "Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken." Schon wieder diese Frau mit dem aufdringlichen Lächeln, dachte er. "Was ist?" "Die Besuchszeit ist in einer halben Stunde vorbei. Bitte verabschieden Sie sich langsam von ihr." "Was?" Inuyasha schaute auf die Uhr an der Wand. Er hatte eine ganze Stunde nur so da gesessen? Er sammelte sich kurz und nickte dann. "Ich bin gleich soweit." Nachdem die Krankenpflegerin den Raum wieder verlassen hatte, stand Inuyasha vom Stuhl auf und blickte auf Kikyo hinunter. Sie hatte sich kein Stück bewegt. Natürlich nicht. Zögernd legte er seine Hand auf ihre und streichelte eine Weile sanft über die kalte Haut. Piep, Piep, Piep. Tick, Tack, Tick, Tack. "Irgendwie hoffe ich, dass du nichts mitbekommst", sagte er schließlich. "Ich weiß, es würde dich wahnsinnig machen, die ganze Zeit dieses Ticken hören zu müssen." Tick, Tack, Tick, Tack. "Mich hat es auch genervt." Er schaute wieder auf die weiße Wanduhr an der weißen Wand. Kalt und steril. Tick, Tack, Tick. "Unglaublich wie langsam die Zeit vergeht, wenn man ständig auf die Uhr sieht, oder?" Inuyasha richtet seinen Blick wieder auf die Person ihm gegenüber und nickt. "Allerdings", antwortet er. "Du bist jetzt schon das vierte Mal hier. Wie denkst du über deine Besuche bei mir?" "Was glauben Sie, wie ich darüber denke?" Die Frau hinter dem wuchtigen Schreibtisch lächelt und kritzelt etwas auf den Notizblock, der vor ihr liegt. "Du wendest meine Taktik gegen mich an", sagt sie und wartet darauf, dass er ihr Lächeln erwidert. Inuyasha begegnet ihrem Blick mit finsterer Entschlossenheit. Dr. Evelyn Ruby, hartnäckige Psychotherapeutin. Dieses Mal trägt sie ihre schulterlangen, hellbraunen Haare offen. Vorher hat sie sie immer hochgesteckt. Ihm fällt auch auf, dass sie weder einen weißen Kittel trägt, noch Arztbekleidung. Sie trägt Jeans und eine violett gestreifte Bluse, dessen oberste Knöpfe in der Reihe locker offen stehen. Versucht sie ihm vorzumachen, sie sei nichts weiter als ein Kumpel, mit dem man offen sprechen kann? Inuyasha kommt zu dem Schluss, es wäre ihm doch lieber, wenn sie einen weißen Kittel tragen würde. "Worüber denkst du nach?", fragt sie. "Über meine Kindheit", lügt er. "Deine Kindheit?" Ihr Interesse ist geweckt. "Meine Mutter ist verrückt." "Möchtest du mir von ihr erzählen?" "Eigentlich nicht." "In welcher Beziehung ist sie verrückt?" Inuyasha zuckt die Achseln. Das macht Spaß. Und es ist so leicht. Kein Wunder, dass Geisteskranke es immer wieder schaffen, lange vor ihrer Heilung entlassen zu werden. "Erzähl mir von deiner Mutter. In welcher Beziehung ist sie verrückt?", wiederholt Dr. Ruby ihre Frage. "Es macht ihr Spaß, Mutter zu sein." "Und das findest du verrückt?" "Ja. Sie könnte was anderes machen. Sie könnte arbeiten, reisen oder sich einfach ein richtiges Hobby suchen. Stattdessen macht sie gar nichts. Und sie merkt es nicht einmal." "Von wem sprichst du in Wirklichkeit, Inuyasha?" Es ist also doch nicht so einfach, denkt er und gibt der Therapeutin ein paar Pluspunkte. Er wird es klüger anstellen müssen. Inuyasha zwingt sich, den Blick zu senken. Er schaut in seinen Schoß. "Wie alt sind Sie, Dr. Ruby?" "Siebenunddreißig." Sie hält inne. Beide warten darauf, das der andere weiterspricht. "Du müsstest jetzt eigentlich sagen: Wirklich? Sie sehen aber viel jünger aus", scherzt sie. "Was für ein Gefühl ist das für Sie, fast vierzig zu sein?", fragt Inuyasha stattdessen. Dr. Ruby hebt die Schultern. "Alter hat für mich nie viel bedeutet. Warum hast du dieses Thema angeschnitten?" "Nur um etwas zu sagen. Ich soll Ihnen doch was erzählen, oder nicht?" "Nur, wenn du das möchtest." "Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte überhaupt nicht hier sitzen." "Warum bist du dann hergekommen?" "Weil meine Mutter darauf besteht." "Du bist also ihr zuliebe hier?" "Nach dem, was passiert ist, hatte ich wohl kaum eine andere Wahl." "Was ist denn passiert?" "Ich habe das Büro meines Vaters mit einem Golfschläger zerlegt." Wieder macht sich Dr. Ruby einige Notizen und fragt dann: "Warum bist du so wütend auf deinen Vater?" "Er wünscht sich, dass ich gestorben wäre. Nicht mein Bruder." "Warum sollte er sich das wünschen?" "Weil er ihn von klein auf dazu erzogen hat, seine Firma zu erben und zu übernehmen. Er hat eine Menge Zeit und Geld in ihn investiert, während ich überflüssig war. Das war mir ganz recht, so konnte ich immerhin machen, was ich wollte. Bis jetzt." Sie schaut ihn fragend an und Inuyasha lehnt sich etwas vor. "Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Hause ging, wartete bereits mein neuer Hauslehrer auf mich. Wissen Sie, was die ersten Worte meines Vaters waren, als ich die Tür rein kam? Verschwende keine Zeit, du hast jede Menge aufzuholen." "Er möchte also, dass du die Lücke die dein Bruder hinterlassen hat, so schnell wie möglich füllst", schlussfolgert Dr. Ruby. Inuyasha nickt. "Aber das willst du nicht. Deshalb bist du wütend geworden und hast randaliert." "Ja." "Was sagt deine Mutter dazu?" "Dass ich psychiatrische Hilfe brauche." "Und das erklärt deinen Besuch bei mir." "Ich dachte, wenn ich einwillige und zu Ihnen komme, würde sie mich für eine Weile in Ruhe lassen." "Möchtest du denn in Ruhe gelassen werden?" "Ja." Sie schweigen beide. "Wenn du dich dagegen sträubst, kann ich dir nicht helfen", sagt Dr. Ruby, als sie merkt, dass er entschlossen ist, das Schweigen nicht zu brechen. "Ich will nicht, dass Sie mir helfen." "Warum nicht?" "Weil ich keine Hilfe verdiene. Weil ich es verdiene zu sterben, wie mein Bruder und meine Freundin. Sie beide werden niemals vierzig werden und das ist meine Schuld." Dr. Ruby wirft einen Blick in ihre Unterlagen. "Kikyo ist nicht tot. Sie liegt nur im Koma." "Dann glauben Sie, dass die Chance besteht, sie könnte aufwachen?" Sie erwidert darauf nichts und ihr Gesicht nimmt einen beklemmenden Ausdruck an. "Ja", meint Inuyasha hoffnungslos. "So haben ihre Ärzte auch geschaut, als ich ihnen die gleiche Frage gestellt habe." Er sieht den Schatten, der über ihr Gesicht huscht. Langsam beugt sie sich vor und stützt ihre Arme auf dem Tisch ab. "Ich habe zwei Töchter", sagt sie leise. "Manchmal habe ich Alpträume, in denen einem von meinen kleinen Mädchen etwas zustößt. Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen." Sie schluckt, und Inuyasha spürt, dass ihre Rührung echt ist und nicht gespielt. "Wir werden dazu erzogen, Verlust ertragen zu lernen. Freunde verlassen uns, Eltern sterben, Familien brechen auseinander. Ich kann das wahre Ausmaß deines Schmerzes nicht einmal erahnen. Ich will nicht versuchen dich zu täuschen. Ich kann mich zwar an deine Stelle versetzen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du den Tod wünschst. Ich denke, ich würde wahrscheinlich genauso empfinden." "Und wie wollen Sie mir dann helfen?", fragt er, dankbar für ihre Aufrichtigkeit. "Indem ich dir zuhöre", antwortet sie schlicht. Inuyasha forscht in ihren Augen. "Was erwarten Sie von mir? Ich habe alle vorgeschriebenen Phasen durchgemacht. Ich habe es geleugnet und so getan, als wäre es nie geschehen. War voller Hass, habe versucht mit dem Tod zu verhandeln und ich habe es, verdammt noch mal, akzeptiert. Ich möchte immer noch sterben. Ich habe Ihnen nichts zu sagen." Inuyasha sieht sich im Zimmer um. Er sucht nach Worten, die den Weg zum Ausgang ebnen. "Warum bist du noch immer am Leben?" Einen Moment lang ist er durch ihre Frage wie gelähmt. "Ich weiß es nicht", sagt er schließlich. "Wahrscheinlich fehlt mir einfach der Mut. Und die Knarre für den Kopfschuss." "Es gibt andere Möglichkeiten." Inuyasha begreift sehr wohl, dass sie nicht vorhat ihn über die verschiedenen Selbstmordpraktiken aufzuklären, sondern im Gegenteil versucht, ihm das Geständnis abzuringen, dass er sich trotz allem für das Leben entschieden hat. "Ich wollte nur sagen, dass-" "Lassen Sie, ich weiß schon", unterbricht er sie. "Sie versuchen mir einzureden, dass ein kleiner Teil von mir gar nicht sterben will. Denn sonst würde ich eine Überdosis Schlaftabletten nehmen oder mir die Pulsadern aufschneiden oder Abflussreiniger schlucken oder was Leute, die ernsthaft zu sterben versuchen, sonst noch alles anstellen. Vielleicht haben Sie sogar recht. Keine Ahnung." Er senkt den Blick. "Es ist mir auch egal." "Also, dein Vater will aus dir einen Lückenfüller machen. Deine Mutter will, dass du zu mir kommst. Ich will dir helfen. Was genau willst du?" "Ich will nicht mehr herkommen. Ich will nicht darüber sprechen, was passiert ist und wie ich mich dabei fühle. Ich will endlich weitermachen. Ich will meinen Alltag zurück. Meine Freunde gehen wieder zur Schule, während ich den ganzen Tag rumsitze und von meiner Mutter rund um die Uhr bevormundet werde. Wenn das noch lange so weiter geht, werde ich wirklich die Hilfe eines Psychiaters brauchen, weil mich das vollkommen wahnsinnig macht!" "Ich bin mir nicht sicher, ob du schon bereit bist, wieder zur Schule zu gehen, Inuyasha." "Sie müssen es ja wissen", erwidert er trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust. "Die schulischen Räumlichkeiten sind voller Erinnerungen. Es kann sein, dass du das nicht verkraftest und du neigst zu aggressivem Verhalten." "Die Räumlichkeiten bei mir Zuhause sind viel schlimmer", protestiert er. "Meine Eltern haben aus dem Schlafzimmer meines Bruders so eine Art Schrein gemacht. Niemand darf den Raum betreten, sie weigern sich etwas darin zu verändern. Wenn Sie mich fragen, sollten Sie besser mit ihnen sprechen. Nicht mit mir." "Ich spreche mit vielen Jugendlichen über das Thema Verlust. Manchmal hindern sie Schuldgefühle etwas loszulassen. Manchmal auch Angst oder Wut. Manchmal auch alles zusammen. Das ist ganz normal. Sesshoumaru existiert für dich immer noch. Und für deine Eltern ebenfalls. Du hattest kein gutes Verhältnis zu deinem Bruder und die Schuld an seinem Tod belastet dich sehr, auch wenn du das nicht zugeben willst. Aber du kannst diese Gefühle hinter dir lassen. Ich denke du solltest dich mal ausführlich mit ihm unterhalten." Inuyasha runzelt verwirrt die Stirn. "Nun, dafür ist es zu spät." "Vielleicht auch nicht", antwortet sie ruhig. "Stell dir vor, dein Bruder wäre hier bei uns. Er wäre hier mit uns in diesem Raum und sitzt direkt neben dir. Worüber würdest du mit ihm sprechen?" "Kommen die Leute nicht normalerweise zu Ihnen, weil sie aufhören wollen mit toten Menschen zu reden?" "Versuche es, Inuyasha. Was würdest du Sesshoumaru sagen wollen?" "Dass die Zeit um ist." Er steht auf. Für ihn ist die Sitzung beendet. Tick, Tack. Piep, Piep, Piep. "Ich werde weiter machen", sagte Inuyasha leise. Er prägte sich Kikyos Anblick noch einmal genau ein. Friedlich schlafend. So würde er sie in Erinnerung behalten. "Aber ich werde dich nie vergessen", versprach er ihr flüsternd. Er hob ihre Hand und drückte ihr einen liebevollen Kuss auf den Handrücken. Es schien, als gebe es nichts mehr zu sagen, und Inuyasha verließ schweigend das Zimmer. 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