Die Geliebte des Verdammten von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 2 -------------------- Eine Woche war vergangen, nach dem Jessicas Welt auf den Kopf gestellt wurde. Als sie nach dem Gespräch mit Talbot nach Hause gekommen war, war sie schon etwas klarer im Kopf gewesen. Kaum hatte sie ihr Arbeitszimmer betreten, als sie sich auch schon an ihren Schreibtisch gesetzt hatte und begann, einen Brief an ihre Tante zu verfassen. Gerade jetzt lag ein weiterer Brief vor ihr auf dem Schreibtisch – die Antwort von Maharet. Bevor sie sich allerdings wagte, das Schriftstück zu öffnen, ließ sie sich noch einmal den Inhalt ihres eigenen Briefes durch den Kopf gehen. „Liebe Tante Maharet, ich weiß, dass es dir nicht gefällt, dass ich für die Talamasca arbeite. Deshalb habe ich meine Arbeit auch nie in meinen Briefen an dich erwähnt. Doch jetzt muss ich diese Regel brechen. Denn durch meine Arbeit bin ich auf etwas gestoßen, worüber ich mit dir sprechen muss. Als ich in das Büro des Ordensältesten gerufen wurde, war mir noch nicht klar, wie sehr sich meine Welt durch das Treffen verändern würde. David Talbot gab mir den Auftrag, einen Vampir ausfindig zu machen. Vor diesem Tag hatte ich immer gedacht, Vampire seien nur Fabelwesen. Aber dann zeigte David mir eine Reihe von Gemälden aus verschiedenen Epochen, die immer den selben Mann zeigten. Einen hochgewachsenen Mann mit bleicher Haut, hellblonden Haaren und eisblauen Augen. Sein Name ist Marius, wie du dir vielleicht schon denken kannst. Der selbe Marius, den ich vor knapp 17 Jahren in jenem Sommer bei dir in Amerika kennengelernt habe. Der selbe Marius, der mir das Leben rettete, als ein anderer Vampir versuchte, mir in den Hals zu beißen. Der selbe Marius, der dann den ganzen Abend bei mir blieb, so lange bis ich eingeschlafen war. Der selbe Marius, der mir das wunderschöne Armband zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hat. Der selbe Marius, der ein guter Freund von dir und Mael ist. Sobald ich verstanden hatte, was vor sich ging, fielen mir natürlich noch einige andere Dinge auf. So zum Beispiel die Tatsache, das weder du noch Mael oder Marius jemals bei Tageslicht im Haus zu finden waren. Ihr habt auch nie Nahrung zu euch genommen. Und ihr saht euch alle auf seltsame Weise ähnlich – überirdisch schön, mit weißer Haut, funkelnden Augen und glänzendem Haar. Wenn ich es Recht betrachte, kommt mir der Aufenthalt in jenem Sommer inzwischen wie ein Traum vor. Schon damals war mir irgendwie bewusst, dass ihr keine gewöhnlichen Menschen seid. Und jetzt, ja jetzt weiß ich warum. Liebe Tante Maharet, du bist ein Vampir, nicht wahr? Und Mael und Marius sind ebenfalls Vampire, wenn ich richtig liege, oder? Warum hast du mir es nie erzählt? Ich weiß, dass du nicht böse bist, ich weiß, dass ich bei dir immer sicher war – vielleicht sicherer als je zuvor in meinem Leben. Hattest du Angst, ich würde dir nicht glauben? Hattest du Angst, ich würde mich vor dir fürchten? Ich kann dir vergewissern, dies ist nicht der Fall. Täglich sehne ich mich nach deiner Anwesenheit und nach der Gesellschaft von Mael und Marius. Ihr fehlt mir. Wenigstens habe ich jetzt eine Antwort darauf, warum ihr mich vor all den Jahren (die euch wahrscheinlich wie gestern erscheinen) verlassen habt. Hattet ihr Angst um mich? Dachtet ihr, einer eurer Vampirfreunde würde mir weh tun? Bitte, liebe Maharet, ich sehne mich nach einer Antwort, nach einer ehrlichen Antwort. Aber egal was auch kommt – sei dir meiner Liebe immer gewiss. Liebe Grüße, Jesse“ Sie hatte versucht, in ihrem Brief all ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Und das war ihr auch gelungen. Sie hoffte nur, dass Maharets Antwort nicht darin bestand, sie aus ihrem Leben auszuschließen – so fern man überhaupt sagen konnte, das Vampire lebten. Maharet hatte diesmal wesentlich länger gebraucht, um ihr zu antworten, als sonst. Natürlich hätte das auch einen rationalen Grund haben können – aber Jessica glaubte, dass Maharet vielleicht nicht so Recht wusste, was sie ihr antworten wollte. Würde sie ehrlich sein? 'Nun, nur ein Weg, um das heraus zu finden', dachte Jesse bevor sie den Umschlag vorsichtig mit einem silbernen Brieföffner aufschlitzte. Sie entnahm ihm ein dickes Stück Papier, auf dem sie sofort die Handschrift ihrer Tante erkennen konnte. Kurz kniff sie die Augen zurück, holte zwei Mal tief Luft und lehnte sich dann in ihrem dunklen Ledersessel zurück. Dann öffnete sie ihre Augen wieder und wandte sich dem Brief zu. „Meine geliebte Jessica, es stimmt, ich bin nicht begeistert von deiner Arbeit für die Talamasca. Es gibt wichtigere Dinge für eine junge Frau, als sich mit dem Übersinnlichen zu beschäftigen. Ich wünschte, du hättest weiter daran gearbeitet, Ärztin zu werden. Aber es ist dein Leben und es sind deine Entscheidungen, die zählen. Wisse, dass ich dich immer unterstützen und immer lieben werde, Jesse. Ich gebe zu – ein Grund, warum ich nicht wollte, dass du für die Talamasca arbeitest, ist die Tatsache, dass du dich auf diese Art und Weise mit Wesen wie den Vampiren auseinander setzen musst. Und generell sind Vampire gefährliche, oft bösartige Wesen, denen das Leben eines Sterblichen nichts wert ist. Für viele Vampire, das muss ich leider so sagen, sind Menschen nicht mehr als Nahrung. Deshalb ist es für Sterbliche immer klug, sich so weit wie möglich von ihnen fern zu halten. Die Idee der Talamasca, die Vampire studieren wollen, ist gefährlich und unnötig. Um es einmal simpel auszudrücken – für die meisten Menschen werden Vampire nie eine Rolle spielen. Sie werden niemals einem begegnen, da Vampire trotz allem relativ selten sind. Deshalb sollten Vampire keine besondere Aufmerksamkeit genießen. Die meisten von ihnen sind ein Anachronismus aus längst vergangenen Zeiten. Marius, ja Marius. Der gute, sanfte Marius. Du hast natürlich Recht mit deiner Auffassung, das Marius tatsächlich ein Vampir ist – genau so wie ich und Mael. Ich hoffe, dass ich dich mit dieser ehrlichen Antwort nicht verängstigt habe. Sei gewiss dass du nie in irgendeiner Art von Gefahr warst, wenn du in unserer Nähe warst. Wir lieben dich aus ganzem Herzen. Wenn es nicht Marius wäre, den du als Teil deines Auftrags ausfindig machen solltest, würde ich dir verbieten, den Auftrag anzunehmen. Ich weiß, als erwachsene Frau bist du selber in der Lage, deine Entscheidungen zu treffen, aber wenn es um Vampire geht musst du vorsichtig sein – so bald du einem begegnest, der deine Gedanken liest und weiß, dass du weißt was er ist, befindest du dich in großer Gefahr. Wenn ein Vampir sich entscheiden würde, dich anzugreifen, könntest du nichts dagegen tun – er wird immer schneller, stärker und gnadenloser sein als du. Bei Marius liegt die Sache anders. Er ist sehr alt, trinkt kaum noch Blut und liebt dich aus ganzem Herzen. Wenn dir der Auftrag so wichtig ist, kannst du ihn gerne aufsuchen – ich bin sicher, er wird dir viele Fragen beantworten können. Und, das ist das wichtigste, er ist so alt und mächtig, dass er andere Vampire davon abhalten kann, dir etwas anzutun. Wenn du möchtest kann ich den Kontakt zwischen euch herstellen – am Ende des Briefes werde ich dir seine E-Mail-Adresse hinterlassen, unter der du ihn erreichen kannst. So musst du ihn in Venedig nicht erst langwierig suchen, sondern kannst direkt einen Treffpunkt ausmachen. Ich bin mir sicher, er wird dich mit offenen Armen willkommen heißen. Ich kann verstehen, dass dir der Sommer, den du bei mir verbracht hast, unwirklich vorkommt – Menschen merken auf Dauer oft instinktiv, dass etwas mit uns nicht stimmt, dass wir keine normalen menschlichen Wesen sind. Wäre der Vorfall mit Santino (der Vampir, der dich angegriffen hat) nicht gewesen – ich hätte dich gerne jeden Sommer wieder zu mir geholt. Ich habe deine Gesellschaft immer genossen und in meinem Herzen besitzt du immer noch einen speziellen Platz – das wird sich auch nie ändern. Dass ich ein Vampir bin, habe ich dir aus mehreren Gründen nicht erzählt. Ich wollte dich nicht ängstigen, du warst damals noch sehr jung. Auch heute fällt es dir, das entnehme ich deinem Brief, merklich schwer an die Existenz von Vampiren zu glauben. Weiterhin war es sicherer für dich, nichts von der Existenz der Vampire zu wissen. Wie gesagt – Blutsauger sind Gedankenleser, und wenn sie merken, dass du von ihnen weißt, kann es schnell sehr unschön für dich ausgehen. Dass ich nicht ganz ehrlich mit dir war, tut mir aufrichtig Leid, aber es war unvermeidlich. Ich hoffe, du kannst mich verstehen und findest es in dir, mir zu verzeihen. Auch ich sehne mich täglich nach dir. Wenn es nach mir geht, werden wir uns bald einmal wiedersehen, falls du dass nach deinen neuen Erkenntnissen noch möchtest. Im Moment kann ich die USA nicht verlassen, aber wenn du bei Marius bist, wird es sicher bald einmal eine Gelegenheit für ein Familientreffen geben – ich würde mich so freuen, dich endlich einmal wieder persönlich zu sehen – Fotos reichen einfach nicht. In der Tat war der Vorfall mit Santino der Grund, warum wir damals entschieden haben, es sei besser, du hättest keinen persönlichen Kontakt mit uns. Falls dies deine Gefühle verletzt hat kann ich mich nur noch einmal entschuldigen. Um eins muss ich dich aber bitten: Lass die Existenz des Übernatürlichen nicht dein Leben bestimmen. Für eine junge Frau wie dich gibt es auch im normalen Rahmen viel zu entdecken. Ich liebe dich, meine Nichte, und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen. Grüße Marius von mir! In tiefer Liebe, deine Tante Maharet marius.romanus@hotmail.com“ Als Jesse den Brief ihrer Tante zu Ende gelesen hatte, schlug ihr das Herz bis zum Hals – nicht vor Angst, sondern vor Aufregung. Sie wusste nun sicher, dass die ihre Tante Maharet, genau so wie Mael und Marius, ein Vampir war. Maharet war ehrlich mit ihr gewesen und hatte ihr die Gründe genau erklärt, warum sie damals entschieden hatte, den persönlichen Kontakt abzubrechen. Es war einfach zu gefährlich gewesen. Sie hatten sie nicht verlassen, weil sie sie nicht liebten – eher im Gegenteil. Trotzdem hatte der Brief mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet hatte. Sie wusste immer noch so gut wie gar nichts über Vampire. Mehr denn je wollte sie nun Marius aufsuchen. Er, so wusste sie, würde ihr alle Fragen beantworten. Der Auftrag war ihr nicht mehr wichtig, weil die Talamasca davon profitierten, sondern weil sie selbst so Antworten erhalten könnte. Sie wusste, sie würde Marius kontaktieren und ihn um ein Treffen bitten. 'Warum eigentlich nicht jetzt gleich?', fragte sie sich in Gedanken. Sie schaltete ihren Computer an, gab ihr Passwort ein und loggte sich in ihren E-Mail-Account ein. Was sie ihm wohl schreiben sollte? Nachdem sie ein Paar Minuten überlegt hatte, begann sie ihre E-Mail. „Hallo Marius, hier ist Jessica Reeves, Maharets Nichte. Vielleicht erinnerst du dich noch an mich – als wir uns kennengelernt haben war ich zehn Jahre alt. Du hast mich damals vor Santino beschützt, als er mich beißen wollte. Dafür danke ich dir noch einmal. Auch wenn ich damals nicht begriffen habe, was du da für mich getan hast, weiß ich es jetzt. Tante Maharet hat mir deine E-Mail-Adresse gegeben, damit ich dich kontaktieren kann. Ich hoffe, dir geht es gut. Ich schreibe dir allerdings nicht nur, um mich nach deinem Wohlbefinden zu erkundigen. Seit einigen Jahren arbeite ich für die Talamasca, die dir sicher ein Begriff sind. Mein neuester Auftrag ist es, einen Vampir in Venedig ausfindig zu machen – einen großen, blonden, blauäugigen Vampir, der Marius heißt. Ist das nicht ein Zufall? Ich habe deine Gemälde im Ordenshaus der Talamasca gesehen – sie sind wunderschön. So detaillierte Bilder können einfach nur von einem übersinnlichen Wesen gemalt worden sein. Von einem Vampir. Maharet hat mir alles erzählt. Ich weiß jetzt, dass ihr Vampire seid, dass ihr mich damals beschützt habt, als ihr aus meinem Leben verschwunden seid. Ich danke euch dennoch für einen unvergesslichen Sommer – noch nie habe ich mich so beschützt, so geliebt gefühlt. Nun zu meinem Anliegen: Da mein Auftrag lautet, dich in Venedig aufzuspüren, wollte ich dich fragen, ob es nicht möglich ist, ein gemeinsames Treffen zu verabreden. Dann würde ich mir die Arbeit sparen, dich zu suchen. Auch wenn ich mir sicher bin, dass du nicht gefunden werden kannst wenn du nicht gefunden werden willst. Aber auch wenn ich den Auftrag nicht hätte, würde ich dich sehr gerne wiedersehen – ich habe dich nie vergessen und dir immer einen Platz in meinem Herzen eingeräumt. Es würde mich freuen, von dir zu hören! In Liebe, Jesse P.S.: Bevor ich es vergesse – danke für das Armband, dass du mir zu meinem 18. Geburtstag geschenkt hast. Noch heute trage ich es täglich.“ Ohne groß zu überlegen schickte sie die E-Mail ab – sie schien ihr perfekt zu sein. Nun konnte sie nur noch hoffen, dass Marius sie zu sich einladen würde – aber Maharet hatte in der Hinsicht ja sehr optimistisch geklungen. Jesse warf einen Blick auf ihre schlichte, silberne Armbanduhr und sah, dass es erst fünf Uhr nachmittags war. Draußen war es noch hell. Es würde also noch einige Stunden dauern, bevor Marius ihr antworten würde – falls er seinen E-Mail-Account überhaupt täglich öffnete. Zwei Stunden später saß sie mit einem Glas Rotwein auf ihrer gemütlichen Couch, als ihr Telefon klingelte. Sie setzte das Glas auf dem Couchtisch ab und griff nach dem Telefon. Am anderen Ende der Leitung war David Talbot. „Hallo Jessica, hier spricht Talbot. Wie geht es dir?“ „Mir geht es gut“, antwortete Jesse, während sie das Glas Rotwein an ihre Lippen führte und einen kleinen Schluck trank. „Ich habe heute einen Brief von meiner Tante Maharet bekommen.“ David hielt kurz inne. „Und? Hat sie deine Vermutungen bestätigt?“ Jessica nickte, obwohl ihr Gesprächspartner das nicht sehen konnte. „Ja, das hat sie. Sie ist ein Vampir, genau wie Mael und Marius. Sie hat mir sogar eine Kontaktadresse für Marius gegeben und ich habe ihm schon eine E-Mail geschrieben und ihn um ein Treffen gebeten. Sie war nicht gerade begeistert, dass ich mich mit Vampiren beschäftige, weil diese zu gefährlich seien. Aber gegen einen Besuch bei Marius hat sie nichts einzuwenden.“ Der Ordensoberste schwieg einen Moment bevor er antwortete. „Das sind interessante Neuigkeiten. Ich kann kaum glaube, dass du quasi mit Vampiren aufgewachsen bist. Das klingt einfach zu unglaublich. Aber es wird deinen Auftrag natürlich umso leichter machen.“ „Ja, das wird es“, erwiderte Jesse. „Aber mir geht es nicht mehr nur um den Auftrag. Ich suche auch antworten auf persönliche Fragen – und Marius kann sie mir geben. Auch meine Tante will mich bald wiedersehen.“ „Das kann ich verstehen. Wann fliegst du nach Venedig?“, fragte Talbot. Jessica überlegte kurz. „Das weiß ich noch nicht so genau. Das hängt davon ab, was Marius antwortet.“ Wenige Minuten später beendeten die beiden ihr Telefongespräch. Jessica füllte ihr Weinglas wieder auf und ließ sich mit einem Buch auf ihrer schwarzen Couch nieder. Doch so richtig konzentrieren konnte sie sich nicht auf die Lektüre. Zu viele Gedanken, zu viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum. Und nur ein Vampir könnte ihr die Antworten auf ihre Fragen geben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)