Blast from the Past von SainzDeRouse (Das Phantom der Oper) ================================================================================ Kapitel 1: ERSTER TEIL ---------------------- Blast from the Past ERSTER TEIL Kind aus der Dunkelheit, treibend durch Raum und Zeit. Dein Weg ist einsam. Lern im Dunkeln ihn zu finden. Wer schweigt und spricht mit dir? Wer teilt sein Licht mit dir? Dein Weg ist einsam. Lernan dich allein zu glauben. Von der Hand, die deine berührt, darfst du niemals träumen. Dein Herz bleibt dein. Es schlägt für sich allein. Drum tanz mit der Einsamkeit. Kind aus der Dunkelheit. Dein Weg ist einsam. Lerne dabei, gerne allein zu sein. Dein Weg ist einsam. Lieb diesen Weg. Leb diesen Weg... allein! Erstes Kapitel - Opera Populaire Es war im Jahre 1871. Die Nacht brach herein und ich pilgerte noch immer durch die Straßen von Paris. Schon vor Stunden war ich von der Rue de Rivoli in die Av. de l’Opéra abgebogen, doch diese Straßen schienen kein Ende zu haben. Die Straße erstreckte sich über eine beachtliche Länge und die unzähligen Häuser standen am Rand, links und rechts, wie Zuschauer bei einer Tragödie. Ich lief und lief, immer weiter geradeaus, nicht wissend ob ich für die Nacht eine Bleibe finden würde oder wo ich eigentlich hinlief. Noch vor kürzester Zeit lebte ich in der Notre Dame de Paris, genau genommen noch in der letzten Nacht, doch da ich kein Opfer der Gendarmen war, durfte ich nur für wenige Tage dort verweilen. Mir war sehr kalt und ich zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub das vom Wind gewalttätig umweht wurde. Mein Umhang aus den verschiedensten Brauntönen von Hasenfellen, der mir Wärme spenden sollte, zerlegte sich in ein Dutzend Teile als ich ihn hastig aus meiner Kuhhauttasche zog, weil mich der Regen überrascht hatte. Denn das Garn, mit denen ich sie - nicht sehr ordentlich, weil es sonst nicht ausreichte - verbunden hatte, war sehr alt und so war ich gezwungen die einzelnen Felle wieder in die Tasche zu stopfen und mich dem Angriff des Wetters auszusetzen. Das brachte mich so in Wut das ich, statt mich irgendwo unterzustellen, auf der Stelle mit meinen Füßen - die wohl die Durchlöchertesten und schmutzigsten Schuhe in ganz Frankreich trugen - auf das Pflaster der Straße stampfte. Dann begann ich in voller Erregung an der leuchtenden Laterne, die im Umkreis von sechs Metern meine einzige Lichtquelle war, meiner Wut freien Lauf zu lassen und aus meinen Mund kamen die wohl schlimmsten Flüche und Verwünschungen die ein Mensch nur aussprechen konnte. Das passte zu diesem fürchterlichen Tag. Erst wurde ich von einem Offizier fortgejagt, weil ich öffentliches Ärgernis erregte, indem ich auf der Straße tanzte um ein paar Münzen zu verdienen. Dann musste ich mir einen anderen Platz zum Tanzen suchen, bei dem es auch nicht besser verlief. Und letzt endlich musste ich mein Essen stehlen, wobei ich beinahe erwischt worden war. Und als ich dachte der Tag könne nicht schlimmer werden, fing es jetzt auch noch zu regnen an, und statt das mich mein Fellumhang davor schützte, musste er genau in diesem Moment auseinander reißen. Während ich weiterhin gegen die blöde Laterne trat, lösten sich die Nähte meines rechten Schuhs und die Stofffetzen rutschten von meinen Füßen. Plötzlich stieß ich ungewollt einen spitzen Schrei aus, den ich nicht zu unterdrücken vermochte. Ich wollte, doch ich konnte nicht, denn ich musste meine Frustration endlich einmal hinausschreien. Und obwohl ich wusste, dass ich damit einige Menschen aus ihren Betten jagen würde, die gleich mit harten Gegenständen nach mir werfen und mir zu schreien, ich solle mit dem Katzengejammer aufhören, versteckte ich mich nicht. Doch meine Erwartung wurde nicht bestätigt. Verwundert sah ich mich um. Ich bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Denn die Fenster blieben stumm und schwarz. Keine Menschenseele war auf der Straße, als ob eine todbringende Pest in Windeseile alle dahingerafft hätte und ich die einzige Überlebende in diesem tragischen Stück war. Es war mir unheimlich, obgleich ich wusste, dass keine Pest diese Stadt heimsuchte und alles in Ordnung war. Ich sah mich nochmals um. Alle Gassen erschienen mir durch ihre düstere Ruhe Angst einflößend. Plötzlich leckte mir eine kalte Zunge meine rechte Hand ab, und ehe ich vor Schreck aufschreien konnte, sah ich die Ursache dafür neben mir. Mein treuer Gefährte auf vier Pfoten sah mich an und begann zu jaulen. Ich sah ihm in die Augen, die von dem kalten Licht der Laternen angestrahlt wurden und mich glauben lassen wollten sie wären leuchtendgrün. Er erwiderte den Blick nicht lang. Meine Hand legte sich geistesabwesend auf seinen feuchten, zerzausten, schwarzen Kopf und begann seine Ohren zu kraulen. „Ach Rowen. Was ist nur mit mir los? Ich bin doch sonst auch nicht so ängstlich.“ Auf meiner Frage folgte ein weiteres Jaulen. „Du hast Recht, das ist jetzt unwichtig. Wir sollten uns schnell ein trockenes Fleckchen suchen.“ Und als ob Gott der Allmächtige diese Aussage bestätigen wolle, vernahm ich ein lautes Grollen auf welches ein Blitz folgte und die Stadt für einen Bruchteil einer Sekunde in Taghelles Licht tauchte. Ich erschrak abermals und rannte weiter geradeaus, an meiner Seite mein langjähriger Freund, in der Hoffnung, dass wir bald einen Unterschlupf finden würden. Mein Kleid war durchtränkt von den vielen Tropfen die sich zu Regen vereint hatten und unaufhörlich auf mich niederprasselten. Ich rannte und rannte als ginge es um mein Leben. Ich sehnte mich danach endlich Schutz vor diesem furchtbaren Unwetter zu finden. Es ängstigte mich nichts außer Gewitter. Das laute Donnergrollen jagte mir Schweißtriefende Angst über dem Rücken. Als ich an der Seitenstraße Rue St - Augustinvorbei rennen wollte, bemerkte ich aus meinem Augenwinkel, dass etwas Großes, Dunkles auf mich zukam. Ich stand wie ein zu Tode geängstigtes Reh da und bewegte mich nicht von der Stelle. Ehe mich die Hufe dieser mir riesig erscheinenden Pferde unter sich begraben konnten, wurde ich von einem Paar spitzer Zähne an meiner Hüfte gepackt und schmerzlich wieder auf den Gehweg gezogen. Der packende Biss tat sehr weh und würde möglicherweise Narben hinterlassen, da mein Kleid nicht sehr dick war. Eigentlich war es nur für den Sommer geeignet. Doch was kümmerten mich Narben wenn ich beinahe mein Leben gelassen hätte. „Pass doch auf du dreckiges Balg!“, rief die schwarze, eingehüllte Gestalt auf dem Sitz des Kutschers, spuckte mir vor die Füße und verschwand in der kalten Dunkelheit der Nacht. Ich verfluchte ihn kurz in meiner Muttersprache, doch verschwendete ich meine Aufmerksamkeit nicht an diesen Unhold, sondern schenkte sie meinem Liebling von Hund. „Danke Rowen!“, ich kniete mich vor ihm hin, nahm sein Kopf in meine schmutzigen, mit Schrammen übersäten Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Schnauze. „Was wäre ich nur ohne dich.“ Als ich mich wieder aufrichten wollte, durchzuckte mich der Schmerz seines rettenden Bisses. Rowen begann zu winseln und zog seinen Schwanz ein um mir seine Entschuldigung zu signalisieren. „Schon gut. Lieber ein Schmerz an der Hüfte, als nicht mehr am Leben zu sein.“ Plötzlich begann es wieder zu Donnern. Es hatte wohl kurzzeitig aufgehört, oder ich war zu abgelenkt um es zu bemerken. Doch jetzt stieg wieder die altbekannte Angst nach oben und wir rannten weiter durch die Nacht. Es wehrte nicht lange und ich konnte ein monströses Gebäude in der Ferne aufragen sehen. Je näher wir kamen desto größer, und vor allem höher wurde es. Wir rannten in Windeseile über den Place de l’Opera, an den Cafe de l’Opera vorbei und spurteten die Stufen des riesigen Gebäudes hinauf. Über den vier Säulen, die vor der Tür standen, stand in goldenen Lettern Opera Populaire. Die drei Türen waren glücklicherweise, mit Hilfe der Säulen überdacht und dementsprechend auch trocken. Unter normalen Umständen würde ich klopfen und um Asyl bitten, doch da es kein normales Gebäude war, traute ich mich nicht. So ein schmutziges Ding wie mich, würden sie nie in so ein erhabenes Haus lassen. Sie würden mich mit größter Verachtung fortjagen, und bevor ich mich wieder dem Regen aussetzte blieb ich lieber hier. Doch als es noch stärker zu Donnern begann, was meiner Ansicht nach gar nicht mehr möglich war - doch der Donner bewies mir das Gegenteil - bekam ich panische Angst und änderte meine Meinung schlagartig. Ich sprang auf und mit einem Hechtsprung war ich auch schon vor der näheren rechten roten Tür und versuchte - in der Hoffnung nicht abgewiesen zu werden - hinein zu kommen. Meine Faust schlug hart gegen die große Eingangstür. „Zuflucht. Um Gottes Willen gewährt uns Einlass.“ Wieder kam ein ohrenbetäubender Donner und meine Angst stieg weiter an. Nun hämmerte ich mit all meiner Kraft, meine Handfläche begann ein wenig warm zu werden und plötzlich sah ich die Tropfen meines eigenen Lebenssaftes auf den Stein des Einganges klatschen. „ASYL! ASYL! BITTE GEBT UNS ASYL!“ Meine Angst stieg ins Unermessliche. Ich wollte nicht auf den Stufen der Oper sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Und auch nicht in den nächsten Jahren. Ich sah zu Rowen. Er sah mich kurz an und begann mit seinen Krallen an der Tür zu kratzen und zu bellen. Er hatte Recht. Ich sollte noch nicht aufgeben. Einmal wollte ich es noch versuchen. Nun nahm ich beide Fäuste und schlug sie mir an dieser Tür, die mir doch hoffentlich bald Einlass gewähren würde, wund und blutig. Als ich wieder schreien wollte brach meine Stimme vollkommen ab. Ich brachte keinen Ton mehr aus meinem Mund. Meine Stimme versagte unter dieser Anstrengung. Doch wollte ich nicht ungehört bleiben, denn wenn ich es bliebe müsste ich hier draußen in der Kälte sterben, das wusste ich. Statt noch einmal den Versuch zu starten zu schreien, begannen salzige Tränen an meinen Wangen herunter zu laufen. Tränen der Verzweiflung und des Hasses. Hass auf mein beklagenswertes Leben. Hass auf mein Volk das mich wegen einer Lüge verstoßen hatte. Hass auf Gott und dieser Oper die mich ebenfalls zu verstoßen schienen. Mit dem Hämmern hatte ich schon lange aufgehört. Es brachte mir nichts, nur blutige Hände. Ich rutschte an der Tür hinunter und weinte weiter. So endete also mein Leben. Ich würde auf den Stufen dieses Liedertheaters sterben, weil sie ein hässliches, schmutziges Etwas nicht einlassen wollten. Stören würde es doch sowieso niemanden, war ich doch nur ein Fettfleck unter diesen ehrwürdigen Leuten. Ich setzte mich mit dem Rücken gegen die Tür, meine Beine angewinkelt, meine Arme um die Knie geschlungen, verbarg mein Gesicht zwischen ihnen und weinte bittere Tränen. Rowen setzte sich neben mich und leckte mir die Hände sauber. Ich sah auf und schaute ihm in Gedanken verloren dabei zu. Er war mein einziger Freund, meine Familie. Er hatte nur mich und ich nur ihn auf dieser grausamen Welt. Ich durfte nicht vor Kälte sterben und ihn alleine lassen. Das würde er mir nie verzeihen und ich mir schon gar nicht. Ich legte meine Arme um ihn und kuschelte mich dicht an ihn heran um uns warm zu halten. Es würde eine lange Nacht werden. Denn Schlafen durfte ich in dieser Nacht nicht. Sonst wäre es mein Ende werden. Und seines auch. Fortsetzung folgt … Kapitel 2: ----------- Zweites Kapitel Das Resultat dessen wenn man auf den Stufen der Oper schläft Schwarz. Überall war es schwarz. Schwarz und Dunkel. Ich rannte. Rannte um mein Leben. Jemand war hinter mir her. Plötzlich sah ich weit vor mir Rowen. Er sah mich an und rannte fort. „Warum läufst du vor mir weg? Beschütz mich doch bitte. Wie du es immer getan hast wenn ich in Gefahr war. Warum hilfst du mir nicht?“ Ich blieb stehen. Rowen war plötzlich verschwunden. Auf einmal packte mich eine Hand von hinten am Arm. Doch ich drehte mich nicht um. Ich wollte mich nicht umsehen und IHM ins Gesicht schauen. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Ich war starr vor Angst. Grob drehte er mich zu sich um und zwang mich ihm anzusehen. Ich sah ihn entsetzt an. Er war ein riesenhafter Mann mit einem großen Bauch, der grotesk über seinen eng geschnallten Gürtel hing. Seine Augen, eingesunken in einem fetten Gesicht, das von Schweiß glänzte, waren schmal und grausam kalt als sie mich kritisch von oben bis unten musterten. Er zwang mich zu Boden, legte sich auf mich drauf und hielt meine Handgelenke in einem festen Griff, links und rechts von meinem Kopf, damit ich mich nicht wehren konnte. Ich spürte sein Gewicht auf meinem Körper. Es widerte mich an. Warum ließ er mich nicht in Ruhe? Was hatte ich denn getan das er so zu mir war? Am liebsten wäre ich hier und jetzt gestorben. Plötzlich versuchte er mich zu küssen. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, damit ich die eklige Angelegenheit vermeiden konnte, doch hielt er ihn nun fest. Nein! Bitte tu’s nicht. „Onkel, warum tust du das?“ Und ehe er seine schmutzigen, wulstigen Lippen auf meinen legen konnte ... ...ging die Tür der Oper Populaire auf, ich fiel nach hinten und blickte einer verwunderten Frau ins Gesicht während Rowen wieder von mir herunter ging. Er musste das Gewicht gewesen sein das ich im Traum gespürt hatte. „Um Himmelswillen Kind. Was tust du hier auf den kalten Stufen? Sie dich an, deine Hände und Lippen sind blau und du zitterst wie Espenlaub. Komm mit zu mir mein Kind, du kannst dich bei mir aufwärmen und etwas zu essen bekommen. Es ist nicht weit.“ Als die Frau von Essen gesprochen hatte, knurrte mein Magen wie zur Bestätigung. Ich wurde leicht rot, doch konnte man es in diesem Zustand meines Körpers nicht sehen. Ich versuchte aufzustehen, doch gelang es mir nicht. Mein Körper war unsagbar schwach, mein Hals war trocken und rau. Meine Nase war verstopft und mein Kopf schmerzte. Verdammt! Ich hatte mir über Nacht eine starke Erkältung zugezogen. Ich war noch einmal gewillt aufzustehen. Doch kaum das ich zitternd auf den wackligen Beinen stand, brummte mir der Schädel und alles verschwamm vor einen Augen. Ich musste Fieber haben. Ich fühlte mich der Ohnmacht nahe. Und sie trat auch nach drei Schritten ein. Alles wurde wieder schwarz. Doch ich begrüßte sie in diesem Moment, so musste ich keine weiteren Schmerzen erleiden. Es wackelte und schaukelte. Ich hörte Pferdehufe traben. Ich war zu schwach um meine Augen zu öffnen. Doch ich wollte es noch einmal versuchen. Mir gelang es, doch sah ich alles nur verschwommen. Vor mir sah ich einen großen, schwarzen Kopf mir spitzen Ohren, der mir die Wange leckte. Hinter Rowen war eine schwarze Person, aber ich konnte nicht erkennen ob Mann oder Frau. Ich lag auf der einen Sitzreihe und die Person saß auf der anderen. Als sie bemerkte das ich erwacht war fragte sie: “Mademoiselle wie geht es ihnen?“ Doch ehe ich ihr eine Antwort krächzen konnte, übernahm die Ohnmacht wieder die Oberhand. Schön warm und kuschelig war es hier. Wo war ich? Bin ich Tod? Hatte mich die Erkältung nun endgültig dahin scheiden lassen? Irgendwie war es mir egal. Doch was sollte aus Rowen werden? Plötzlich hörte ich wie ein großes Tier um mich herumschlich. Ich konnte nicht tot sein. Denn wenn ich tot wäre, könnte ich nicht hören und fühlen. Ich lag in einem Bett. Es war ein überwältigendes Gefühl wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Es musste schon Monate oder sogar ein Jahr her sein, als ich das letzte Mal in meinem eigenen Bett geschlafen hatte. Meine Augen öffneten sich. Ich war in einem kleinen, mit gelber Tapete versehenen Zimmer, in dem ein Bett in der rechten Ecke stand, ein Nachttisch daneben und auf der anderen Seite des Zimmers standen ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch. Zwischen diesem und dem Bett war ein großes Fenster. Die blauen Vorhänge waren zugezogen, aber ich sah durch einen Spalt dennoch dass es wieder Tag war und das grausame Gewitter vorbei. Mir war wahnsinnig heiß, auf meiner Stirn lief der Schweiß wie ein Wasserfall hinunter. Mein Hals und meine Nase fühlten sich auch nicht besser. „Rowen?“, krächzte ich leise in den Raum hinein. Schon diese kleine Bewegung einiger kleiner Muskeln bereiteten mir wahnsinnige Schmerzen. Kaum sprach ich den Namen aus, stellte sich Rowen zu meiner rechten Seite auf und stützte sich mit den Vorderpfoten aufs Bett. Ich lächelte ihn an. „Runter du Strolch.“ Ich erschrak heftig, ich hatte nicht bemerkt dass jemand ins Zimmer gekommen war. Die Stimme drang aus den Stimmbändern einer Frau im mittleren Alter. Sie trug einen schwarzen Überrock. Sie hatte wachsame blaue Augen, braune Haare und ein liebliches Lächeln auf den Lippen. „Wie geht es dir? Hat der Strolch dich geweckt? Eigentlich wollte ich dass er im Flur bleibt, doch er wich nicht von deiner Seite und knurrte mich an, als ich ihn raus scheuchen wollte.“ „Tut mir Leid, wenn er ihnen so viel Ärger bereitet hat. Aber wir waren seit seiner Geburt nie getrennt“, krächzte ich und musste zwischendurch Husten. „Wer sind sie?“ „Ach, wie unhöflich, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Antoinette Giry und wir sind in meiner Wohnung, in der Rue de Provence. Du solltest nicht weiter reden. Ruh dich aus. Hier hast du einen Tee gegen die Erkältung. Morgen werde ich dich untersuchen lassen. Schlaf gut.“ Nachdem sie sich verabschiedet hatte ging sie aus dem Zimmer. Ich nahm mir den heißen Becher und wärmte meine Finger. Lange hielt ich es nicht aus, schließlich hatte ich schon lange nichts mehr zu mir genommen. Ich nahm einen großen Schluck und hätte es am liebsten wieder ausgespuckt. Das war wohl der ekligste Tee den ich je getrunken hatte. Und noch dazu sehr heiß. Trotz dessen trank ich das Meiste aus. Ein wohliges Gefühl durchlief meinen Körper, von meinem Hals bis hinunter zum Magen. Obwohl es sehr eklig war wollte ich noch mehr, denn ich hatte in den Letzten Tagen nicht sehr viel zu mir genommen. Bedenke man noch dazu das Rowen auch etwas zum Leben brauchte. Einen Schluck nahm ich mir noch. Doch dann konnte ich kaum noch den Becher halten. Eine starke Müdigkeit übermannte mich. Ohne mein Zutun schlossen sich meine Augen und ich war wieder zurück im Land wo alle Träume wahr wurden. >Habe ich die Tasse eigentlich wieder zurückgestellt?=, war mein letzter Gedanke nachdem alles dunkel wurde. Was soll=s, ich wollte nur noch schlafen. Alles Andere war jetzt egal. Als sich auf meiner Brust etwas angenehm Heißes ausbreitete dachte ich es wäre im Traum. Doch als ich zwölfeinhalb Stunden später aufwachte bemerkte ich, dass dem nicht so war. Am Abend öffnete ich mühsam meine verklebten Augen. Mir ging es nicht unbedingt besser, aber mir war immerhin nicht mehr so kalt. Rowen begrüßte mich auch gleich mit seiner langen feuchten Zunge als ich mich ein wenig bewegte. Meine Glieder fühlten sich noch immer sehr schwach an. Nun betrachtete ich das Zimmer etwas genauer. An der Wand fielen mir die Bilder auf die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Doch leider konnte ich nicht erkennen was darauf zu sehen war, denn es war dunkel im Zimmer. Die Kerze auf meinen Nachttisch war bereits heruntergebrannt. Über dem Schreibtisch war ein kleines Regal mit Büchern darin. Ich versuchte zu lesen was auf den Buchrücken stand, doch es wollte nicht so recht klappen. So nahm ich mir vor es später wieder zu versuchen. Da fiel mir ein, dass ich gar nicht wusste wie lange die nette Madame Giry mich hier behalten wollte. Ich wollte ihr nicht zur Last fallen. Sie hatte bestimmt andere Sorgen. Und nach diesem Zimmer zu urteilen musste es das ihrer Tochter sein. Abgesehen von den Büchern und den Puppen in dem Regal am Fuße des Bettes, standen nicht viele persönliche Dinge herum, doch hatte dieser Raum dennoch eine gewisse weibliche Note. Ich versuchte mich aufzurichten. Mein Körper machte zwar Anstalten, doch es gelang mir doch noch, wenn auch sehr mühsam. Plötzlich merkte ich, dass die Decke durch etwas Flüssiges klebrig und feucht war, genauso wie meine Brust. Ich hob die Decke an und sah die Tasse aus der ich vor Stunden noch gierig getrunken hatte und schrie erschrocken auf. Verdammt! Wie konnte das passieren. Diese nette Dame nahm mich auf und zum Dank beschüttete ich das Bett mit eklig schmeckendem Tee. Ich sprang auf und stellte die Tasse in der schon lang kein Tee mehr war zurück zum Nachttisch und versuchte den feuchten Fleck mit dem weißen Nachhemd zu trocknen. „Was ist passiert? Geht es dir gut?“ Ich sprang vor Schreck ein Schritt zur Seite und sah sie beschämt an. Sie sah auf das Bett und fragte: „Wie hast du denn das geschafft?“ „Ich muss wohl mit der Tasse in der Hand eingeschlafen sein. Ich hatte nicht alles ausgetrunken“, nuschelte ich beschämend mit meiner krächzenden Stimmer und sah peinlich berührt zu Boden. Ich wartete schon auf den Wutausbruch und auf meinen Rausschmiss, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen lächelte sie, ging aus dem Zimmer und holte ein feuchtes Tuch und ein Handtuch. Während sie meine Sauerei wegmachte sprachen wir kein Wort miteinander. Als sie fertig war steckte sie mich wieder ins Bett und brachte mir anschließend einen neuen Tee. Über den Vorfall sagte sie nichts. Sie hatte wohl gemerkt dass es mir sehr peinlich war. „Danke. Zu gütig von ihnen Madame“, bedankte ich mich reuevoll. „Mach dir nichts daraus, das ist nicht so schlimm. Meine kleine Meg hatte sich, als sie noch ein Kind war schlimmere Sachen geleistet“, beruhigte sie mich mit einem verträumten Blick. Sie vermisste es wohl das Kinderlachen in dieser Wohnung. Diese Meg musste schon ausgezogen sein und deswegen waren wohl so wenig persönliche Dinge hier. „Du solltest versuchen zu schlafen meine Liebe.“ „Ich heiße Cliodne“, krächzte ich etwas beschämt. Schließlich hatte ich einen Tag in ihrer Wohnung gelegen und sie wusste noch nicht einmal meinen Namen. „Ein schöner Name. Doch du solltest noch nicht so viel reden. Wir reden weiter, wenn es dir besser geht. Ich wünsche dir eine erholsame Nacht.“ „Gute Nacht ihnen auch. Und vielen Dank noch mal.“ Sie ging hinaus und ich versuchte darüber nachzudenken wie unglaublich und wunderbar diese Frau doch war. Doch gelang es mir nicht so recht durch meinen schwachen Zustand. Also nahm ich mir vor es ein anderes Mal zu tun und begann an dem heißen Tee zu nippen. Es war wieder derselbe widerliche Geschmack. Doch dieses Mal trank ich ihn bis auf den letzten Tropfen aus und stellte die Tasse auch mit vollem Bewusstsein wieder auf den Nachttisch zurück. Rowen lag, wie schon die ganze Zeit auf dem Boden und schlummerte unbekümmert auf den Boden. Ich tat es ihm gleich, drehte mich herum und schlief ein. Fortsetzung folgt . . . Kapitel 3: ----------- Drittes Kapitel Madame Giry Flauschig. Warm. Hier fühlte ich mich behaglich und geborgen. Wach war ich noch nicht. Doch wandelte ich noch in dem wohligen Zustand, zwischen Wachen und Schlafen. Am liebsten würde ich die nächsten sieben Jahre hier liegen, in diesem Zustand. Ich wurde nicht von meinen Alpträumen gequält und war aber von der kalten, harten Realität noch zu weit weg. Leider hielt dieser Zustand nicht ewig an. Denn mein Verstand wurde immer munterer und ich konnte meine Sorgen nicht länger unterdrücken. Aus einem anderen Teil der Wohnung hörte ich Geschirr klappern. Und der leichte Geruch von gebackenen Croissants stieg mir in die Nase. Diese war, zu meinem Glück für einen Augenblick nicht so zugestopft. Der Tee und die Bettruhe scheinen gut zu helfen. Das Geschirr klapperte noch immer und es zauberte mir ein trauriges Lächeln auf die Lippen. Dieses Geräusch rief eine der wenigen glücklichen Erinnerungen meiner Kindheit herauf. Damals muss ich vier oder fünf gewesen sein. Zu jener Zeit wachte ich oft durch diesen Klang - das durch meine Mutter verursacht wurde - auf. Ich wünschte, sie wäre noch immer bei mir und sie wäre diejenige die gerade in der Küche stand um uns ein leckeres Frühstück zu zaubern. Doch ich wusste dass das nicht geht. Sie hatte mich vor vielen Jahren verlassen. Und ich war alt genug zu wissen das Träume nie in Erfüllung gehen. Ich öffnete meine, ein weiteres Mal, zugeklebten Augen und setzte mich auf. Die Tür war einen Spalt offen und Rowen war nirgends im Zimmer zu sehen. Beschwerlich richtete ich mich auf, ging aus dem Zimmer und fand mich in einem breiten Flur wieder. Die Wohnung schien nicht ganz so klein, wie ich vermutet hatte. Ich ging in die Richtung aus der die Geräusche kamen und ein großer, schwarzer wolfsähnlicher Hund kam mir entgegen. Rowen wedelte mit dem Schwanz beschnupperte mich und lief freudig um mich herum. Zusammen liefen wir den langen Flur entlang und gingen zur linken Tür. Bevor ich die Klinke auch nur berühren konnte, wurde sie ruckartig aufgezogen und eine verdutzte Frau stand vor mir, mit einem Tablett in der Hand, mit dem wohl leckersten Frühstück das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Hatte sie es wirklich extra für mich gemacht? Diese Frau war unglaublich. „Guten Mor…“, sagte ich, wurde aber von einer aufgebrachten Madame Giry begrüßt. Wenn man es denn so nennen kann. „Was suchst du hier Kind? Ab marsch ins Bett sonst holst du dir noch den Tod. Du bist noch viel zu schwach zum Aufstehen. Was ist wenn du wieder in Ohnmacht fällst? Auf dem kalten Boden würde sich dein Zustand verschlechtern und du würdest garantiert eine Lungenentzündung kriegen. Willst du das etwa?“ Ich stand kurz verdattert da. Als sie angefangen hatte zu meckern, dachte ich sie wirft mich raus, doch da hatte ich mich wohl offensichtlich geirrt. Ich wagte es nicht, ihr zu widersprechen und verkroch mich schnell wieder unter die Decke, Rowen dicht hinter mir her. Ich wusste nicht dass diese nette Frau so unheimlich wirken konnte, wenn sie aufgebracht war. Doch ich war ihr nicht böse. Sie hatte sich schließlich nur Sorgen um mich gemacht. Ich spürte wie sich ein zweites Lächeln an diesem Morgen sich auf meine Lippen stahl. Ein schönes Gefühl machte sich in mir breit. Ein Gefühl des akzeptiert seins, des Dazugehörens und des angenommen Werdens. Als ich das zuletzt fühlte lebte meine liebe Mutter noch. Das ist lange her. Madame Giry kam mir auch gleich mit dem Tablett hinterher ins Zimmer und stellte es auf den Nachttisch. Nun konnte ich mir das Essen erst einmal richtig betrachten und mir lief während dessen das Wasser im Mund zusammen. Ich musste mich beherrschen um nicht mit dem Sabbern anzufangen. Auf dem Teller lagen drei frische Croissants, daneben in einem großen Glas, frisch gepresster Orangensaft, ein bauchiges Glas voller Erdbeermarmelade und heißer Pfefferminztee. „Guten Morgen Kleines. Ich entschuldige mich für meinen Ausbruch, aber wenn jemand schwer krank ist, bin ich der Meinung dass dieser nicht das Bett verlassen sollte. Da bin ich sehr konsequent. Geht es dir besser?“ „Nun ja, ein wenig. Meine Nase ist im Moment nicht mehr so verstopft. Und das Fieber scheint auch runter gegangen zu sein.“ „Das freut mich zu hören. Könntest du mir nun erzählen wo du herkommst und warum du in dieser stürmischen Nacht vor der Tür der Oper lagst? Was ist mit deiner Familie?“ Mein Gesicht verfinsterte sich und es stiegen Tränen in meine Augen, die ich jedoch geschickt bekämpfte. „Ich stamme aus einem Zigeunervolk. Sie haben mich wegen einer Lüge verbannt. Meine Eltern sind schon lange tot. Außer ihnen habe ich keine Verwandten.“ Meinen Onkel und meine Tante die noch lebten verschwieg ich. Ich weiß nicht so recht warum, aber ich wollte nicht über sie reden. Ich wollte ein neues Leben anfangen. Ohne meine lieblose Vergangenheit. Ich sah kurz zu Rowen und erzählte weiter. „Rowen ist, wie schon erwähnt, seit seiner Geburt bei mir. Wir waren nie getrennt. Wir pilgern schon seit ein paar Monaten oder sogar schon fast ein Jahr, ich kann mich nicht erinnern, durch Frankreich. Vor ein paar Wochen sind wir in Paris angekommen. Es können aber auch schon einige Monate her sein. Wenn man nur darauf bedacht ist zu überleben, hat man keine Zeit darüber Buch zu führen, wann man wo gewesen ist. In der Nacht bevor ich auf den Stufen der Oper Unterschlupf gefunden hatte, lebte ich in der Notre Dame de Paris, doch da durfte ich nicht so lang bleiben. Ich hatte zwar gegen die Türen der Oper geklopft, nein, sogar gehämmert, aber niemand öffnete mir. Und so waren wir gezwungen dort zu bleiben, sonst hätten wir uns wieder dem Gewitter aussetzen müssen.“ Ich verstummte. Sollte sie noch mehr wissen wollen, würde ich ihr nicht mehr erzählen. Das ginge mir dann zu weit. Ich sah Madame Giry an. Sie hatte sich während meiner Erzählung auf den Stuhl des Schreibtisches gesetzt. Nun nickte sie, als ich mit meiner Rede endete, Gedankenverloren vor sich hin. Nach kurzer Zeit kam sie wieder aus ihren Gedankenschwarm zurück und blickte mich mitleidig an. Dann stand sie entschlossen auf und sagte: „Nun, für die nächste Zeit brauchst du dir keine Sorgen über eurer Überleben machen. Du wirst hier bleiben. Zumindest bis du dich wieder völlig erholt hast und dann sehen wir weiter. Ich werde jetzt erstmal einen Arzt holen und …“ „Nein! Bitte nicht. Ich werde auch so wieder gesund. Mir geht es doch schon besser. Bitte holen sie keinen Arzt.“ Ich wollte nicht, dass ein fremder Mann mich anfasste und meinen hässlichen Körper sah. Bei dem Gedanken daran, dass ein Mann mich anfasst, strömte ein Gefühl des Ekels durch meinen Körper und ich schlang die Arme um meine angewinkelten Beine. Madame Giry sah mich an und schien zu verstehen. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter und lächelte mich aufmunternd an. „Ist schon in Ordnung. Ich werde keinen Arzt holen, wenn du es nicht willst. Aber du musst mir versprechen das du immer im Bett bleibst, viel trinkst und nur aufstehst um ins Bad zu gehen um deine Toilette zu machen.“ Diese Frau war wirklich unbeschreiblich und genauso sah ich sie auch an. Meine tränennassen Augen blickten in die Ihren und sprühten vor Dankbarkeit. „Nun muss ich aber los. Ich bringe dir noch eine Kanne voll Tee, das Bad liegt gegenüber von deinem Zimmer und ich werde heute Abend um ca. 20 Uhr zurück sein. Die Wohnungstür werde ich absperren, in Ordnung?“ „Ja, danke.“ „Hör auf dich andauend zu bedanken. Ich mache das gerne. Und nun iss, sonst wird der Tee kalt.“ Sie ging kurz weg um dann mit einer vollen heißen Kanne Pfefferminztee wieder zu kommen. Ich wandte mich wieder dem leckeren Essen zu und schlang die Croissants regelrecht in mich hinein. Madame Giry staunte nicht schlecht. „Dein Hund aß genauso. Wann war denn eure letzte Mahlzeit?“ „Das ist schon zwei Tage her. An jenem Tag an dem Sie mich fanden hatten, hatten wir unsere letzte Mahlzeit. Aber es war nur ein Laib Brot, nicht sehr viel.“ „Dann wird es ja Zeit das du dich hier mal so richtig satt isst.“ In diesem Moment wollte ich mich wieder bedanken, doch verkniff ich es mir. „Ach du meine Güte, jetzt muss ich aber los. Tschüss ihr beiden, bis heute Abend.“ Ehe ich noch etwas fragen konnte, war sie auch schon aus dem Haus. Ich wollte sie fragen wo sie eigentlich arbeitete. Vielleicht ja sogar in der Oper, schließlich kam sie gerade aus dieser als sie mich fand. Allerdings konnte es sein, dass sie sich nur eine Vorstellung angesehen hatte und mich dann gefunden hatte. Ich wusste ja auch nicht wie spät es in dieser Nacht war. Es hätte früh um drei und auch kurz vor Mitternacht sein können. Während ich so darüber nachdachte nahm ich mir den Tee und nippte daran. Er war zwar besser als die letzten Beiden, aber dennoch nicht ganz mein Geschmack. Nachdem ich die Tasse geleert hatte, schenkte ich mir noch eine ein, und trank auch diese leer. Das war ein überwältigendes Gefühl. Ich lag in einem schönen, warmen Bett, in einer tollen Wohnung, mein Magen war gesättigt und ich brauchte mir im Moment um nichts Sorgen machen. Das hätte ich nie gedacht. Ich dachte immer Gott hätte mich verlassen. Doch er schien jetzt seine volle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet zu haben. Ich lag noch eine Weile so da, dachte daran, was ich doch für ein Glück habe, und streichle Rowen - der seinen Kopf auf die Bettkante gelegt hatte - geistesabwesend seinen Kopf. Irgendwann fühlte ich in meiner Lendengegend ein natürliches Bedürfnis, stand auf, diesmal nicht so mühsam wie sonst, und ging ins Badezimmer, das gegenüber Meines Zimmers lag. Starrend blieb ich in der Tür stehen. Das war wohl das schönste Badezimmer das ich je gesehen hatte. Der Boden und die Wände waren mit weißem Fließ verziert. Eine große, weiße Badewanne stand darin, ein ebenso weißes Waschbecken mit einem buchenholzfarbenen Schränkchen darunter und einem großen, ebenfalls in dieser Farbe gehaltenen, Schrank daneben. Über dem Becken hing noch ein schöner Spiegel, mit einem goldenen Rand. Neben der Badewanne stand das Ziel meines Bedürfnisses. Ich setzte mich darauf und lies dem Wasser seinem freien Lauf. Nachdem es geschehen war, stand ich auf und richtete meinen Blick zum Spiegel. Erstarrt blieb ich einen Moment stehen. Kapitel 4: ----------- Viertes Kapitel Allein zu Haus Ich stand vor dem Spiegel. Ungläubig sah ich hinein. In dem Spiegel sah ich eine abgezehrte, kleine, zierliche junge Frau mit lockigen, haselnussbraunen, langen Haaren und smaragdgrünen Augen. Meine goldbraunen Hände befühlten den weißen, weichen Stoff des Nachthemdes. Ich konnte es nicht glauben obwohl ich es doch sah. Hatte Madame Giry mich den nassen Sachen entledigt während ich bewusstlos war? Sie hatte ihn also gesehen. Meinen hässlichen, abstoßenden Körper. Meinen Grund für dieses verfluchte Leben. Der Grund dafür, dass ich von meinem Volk verstoßen wurde. Und diese gütige Frau wusste um ihn. Wusste von meiner abstoßenden, menschlichen Hülle. Sie kannte ihn und sah mir immer noch gütig und lächelnd ins Gesicht? Ich sah noch immer in den Spiegel. Dem Mädchen mir gegenüber stiegen Tränen in die Augen. Tränen des Unglaubens. Viele Tropfen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen. Warum hatte ich nicht bemerkt, dass ich fremde Sachen anhatte? Ich hatte es wohl in der Hitze des Gefechts, beim Volksmund auch Fieber genannt, nicht wahrgenommen. Diese Frau musste ein Engel sein. Anders konnte es nicht sein. Warum sonst sollte sie mir helfen wollen. Schnell wischte ich den Tränenfluss von meinen Wangen und aus meinen Augen. Ich wollte das schöne Nachthemd nicht mit ihnen benetzen. Ich ging wieder aus dem Bad, zum Flur hinaus. Ich konnte meinen Anblick nicht länger ertragen. Im Spiegel konnte ich sowieso nur bis auf meine Schultern sehen, denn es befand sich ein Stück weiter unten, was eh von dem Nachthemd bedeckt wurde. Doch zu wissen dass es da war genügte mir, es war angenehmer nicht in die Welt der Wahrheit, die der Spiegel immer zu zeigen vermag, hinein zu sehen. Im Flur wartete Rowen schon gespannt auf mich, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er nicht bei mir bleiben konnte. Er war mein einziger Freund in diesem trostlosen Stück. Bei diesem Gedanken fuhr ein seltsames Gefühl durch mich hindurch. Was war mit Madame Giry? War sie nicht wie eine Art Freundin? Ich schüttelte den Kopf um diese Gedanken abzuschütteln. Sie würde uns sicherlich in ein paar Tagen wieder hinauswerfen. Neugierig sah ich den Flur entlang. Abgesehen von der Badtür und die die in mein Zimmer führte, gab es noch drei weitere. Die eine, das wusste ich ganz sicher, war die Küche, auch wenn ich sie, durch eine Madame Giry, die mir den Weg versperrte hatte nicht sehen konnte. Das Gefühl der Neugier stieg noch mehr an. Ich wollte unbedingt die restliche Wohnung sehen. Danach würde ich auch wieder ins Bett gehen wie ich es der netten Madame Giry versprochen hatte. Und so durchquerte ich mit nackten Füßen den Flur und machte die Tür zur Küche auf. Der Geruch der gebackenen Croissants hing noch leicht in der Luft und mein Magen meldete sich umgehend wieder. Ich machte ein paar Schritte in den Raum hinein und erblickte eine blaue Emailküche. Und in einer Ecke ein Esstisch an dem vier Personen platz nehmen konnten. Neben dem Tisch befand sich noch eine Tür. Nach wenigen Schritten und Handbewegungen stellte sich heraus dass dies die Speisekammer war. Nun ging ich zurück in den Flur und betätigte die Klinke der Tür, die sich der Wohnungstür gegenüber befand. Diese entpuppte sich als Wohnraum, bei den erhabeneren Leuten auch Salon genannt. An der Wand an dem die großen Fenster einem einen Blick in die Außenwelt ermöglichten, stand eine Chaiselongue und eine monströse Wohnwand. Auf dieser standen viele Familienbilder und Porzellan. Madame Giry schien eine regelrechte Sammlerin von Porzellan zu sein. Auf dem dunklen Holzboden lag ein herrlicher Teppich mit beeindruckendem Muster und auf der einen Seite des Zimmers stand ein Klavier. Dieses fesselte meinen Blick. Ich ging langsam auf es zu, als wäre es ein wohlhabender Mann, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er meine Anwesenheit begrüßte oder mich gleich mit Beschimpfungen fortjagen würde. Ich setzte mich und lies meine Finger sanft über die Tasten gleiten. Ich wollte schon immer gerne Klavier spielen lernen, seit ich denken konnte. Hatte auch immer gerne zugehört, wenn ich die Möglichkeit dazu hatte. Doch hatte man als Zigeuner nicht die finanzielle und moralische Chance dazu. Sollte ich vielleicht versuchen ein wenig darauf zu spielen? Bei den anderen sah es nicht schwer aus. Ermutigt begann ich auf die Tasten zu hauen, und je länger ich das tat, desto mehr schwand mein Mut. Enttäuscht darüber das ich offensichtlich kein Talent dafür hatte, stand ich auf und lies das Klavier ein Klavier sein, und nicht, wie ich es gerade miterlebt hatte, eine Vergewaltigung der Musik. Plötzlich stockte mein Atem und mein schwacher Körper wurde von einem Hustenanfall durchgeschüttelt und begann zu frieren. Ich überlegte nicht lange und huschte schnell wieder ins warme Bett zurück. Ich hätte auf Madame Giry hören sollen, wenn ich jetzt wieder Fieber bekommen sollte, war es meine eigene Schuld. Nachdem ich im Bett lag und mich eine Zeit lang langweilte, drehte ich mich um und versuchte noch ein wenig zu schlafen, was mir nicht so recht gelang, und so musste ich mich damit begnügen nur zu dösen. Irgendwann war es mir zu dumm, ich brauchte eine Beschäftigung. Da fielen mir die Bücher wieder ein. Ich stand auf und schnappte mir das Erstbeste. Lesen hatte ich zwar gelernt, doch las ich nicht oft ein Buch. Genau genommen hatte ich es gelernt, konnte diese Fähigkeit jedoch nie anwenden. Mein Volk tat mit anderen, ordinäre Möglichkeiten des Zeitverstreichens. Ich schlug es auf und mir schlug es sofort entgegen worum es in diesem ginge. Ballett. Es ging auf jeden Fall um Ballett, denn die meisten Seiten waren mit gezeichneten Bildern beschmückt, unter denen Anweisungen zur jeweiligen Bewegung stand. Rowen schnüffelte interessiert an dem Buch, hatte dieser so was doch noch nie gesehen. „Soll ich dir vorlesen?“ Ich begann traurig zu lächeln. Es musste für andere Menschen komisch aussehen wenn ich mit meinem Hund sprach. Doch für mich war er mehr als ein Hund. Ich streichelte ihm kurz überm Kopf und fing das Lesen an, wenn man es denn so nennen konnte. Ich brach oft ab und las sehr langsam, verstand aber dennoch gut worum es ging. Man merkte sofort dass ich nicht viel in meinem Leben mit Büchern zu tun hatte. Das Buch begann immer interessanter zu werden. Sonst fand ich dieses Hüpfen in diesen albernen Kostümen lächerlich. Doch sah ich es jetzt, wo ich mich damit befasste geradezu graziös. Es erforderte viel Gewandtheit. Bei dem ordinären Tanz den ich immer vollzog war solch eine Gewandtheit nicht vorzufinden. Nun begann ich dieses anregende Buch ganz von vorne zu lesen. Ab und zu schenkte ich mir Tee in die Tasse und trank viel, wie ich es Madame Giry versprochen hatte. Es vergingen Stunden und ich hatte, aufgrund meines langsamen Lesens, nicht einmal ganz die Hälfte geschafft. Ich sah aus dem Fenster. Es musste bereits später Nachmittag sein. Rowen lag schon seit einer ganzen Zeit vor dem Bett und döste. Ich verspürte das Verlangen es ihm gleich zu tun, legte das Buch in die oberste Schublade des Nachttisches, drehte mich um und schlief bald ein. Es wunderte mich nicht dass ich dieses Mal von Ballerinen träumte. Aber das störte mich nicht. Das war besser als wenn ich die üblichen Alpträume von meinem Onkel oder anderen Leuten gehabt hätte. Ein paar Stunden später wachte ich wieder auf. Es dämmerte bereits. Wann kam Madame Giry wieder zurück? Ich hatte keine Uhr und wusste nicht wie spät es war. Ich hoffte nur dass sie bald kam, denn trotz des Lesens war es langweilig. Es machte mich langsam aber sicher wahnsinnig. Ich wälzte mich im Bett, wie vom Fieber geplagt. Es vergingen Minuten um Minuten, Stunde um Stunde und irgendwann hörte ich das ersehnte Geräusch von dem Schlüssel, der im Schloss der Tür herumgedreht wurde. Und dann trat die Person herein die ich mit so voller Sehnsucht erwartet hatte. Rowen sprang auf und horchte gespannt. Er war es nicht gewohnt. Ich allerdings wäre ihr am liebsten entgegen gekommen, doch lies ich es bleiben und dachte lächelnd dabei an dem heutigen Morgen. Erst ging sie in die Küche, sie hatte wohl eingekauft. Nach Minutenlangen warten kam Madame Giry in mein Zimmer. „Hallo Liebes, wie geht es dir?“ „Besser. Ich hab den ganzen Tag über viel getrunken, wie Sie es mir gesagt haben. Aber ich habe riesigen Hunger, die Croissants heut Morgen haben nicht gereicht“, sagte ich ein wenig beschämt das ich sie um Essen bat. „Du hast den ganzen Tag nichts gegessen? Ich habe wohl vergessen dir zu sagen das du dir ruhig aus der Küche was holen kannst. Ich werde sofort etwas kochen. Da fällt mir ein, ich hab dir etwas mitgebracht.“ „Aber das ist doch nicht nötig.“ Ich saß wie angewurzelt da. Bei dieser Frau blieb mir wohl keine Überraschung erspart. „Doch, doch. Ich kann mir vorstellen, das du das noch nie gegessen hast.“ Sie gab mir eine bunte Schachtel. „Pralinen? Danke! So was hab ich wirklich noch nie gegessen.“ Ich probierte eine. Der Geschmack war außergewöhnlich. Nicht zu süß und nicht so herb. Genau richtig. Ich schwebte im Himmel. „Ich weiß dass du riesigen Hunger hast, aber iss bitte nicht zu viel, sonst verdirbst du dir den Appetit.“ Ist gut!“ Sie verschwand in die Küche und ich ging ihr hinterher, denn ich hielt es nicht mehr in dem Zimmer aus. „Kann ich ihnen beim Kochen helfen?“ „Nein das brauchst du nicht. Setzt dich ruhig.“ Ich sah sie erstaunt an. Eigentlich hatte ich erwartet dass sie sofort wieder loswettern würde und mich ins Bett schickt. Sie ging kurz weg und kam mit Wollsocken zurück. „Hier, zieh die an, sonst kannst du nicht gesund werden.“ Ich nahm sie ihr dankend ab, zog sie an und sah ihr beim Kochen zu. Ab und zu lies sie mich Gemüse klein schneiden oder sogar etwas vom Kleingeschnittenen naschen. „Wo arbeiten sie? Ich wollte sie heut früh schon fragen, aber sie waren so schnell aufgebrochen.“ „Ich arbeite in der Opéra Populair, vor deren Tür ich dich gefunden habe. Ich bin die Leiterin der Tanztruppe und des Corps de Ballet. Als ich dich fand war ich auf den Heimweg. Du hast großes Glück gehabt, denn ich gehe nur am Samstag nach Hause. Die restlichen Tage lebe ich in der Oper, dort habe ich ein Zimmer.“ Ich staunte nicht schlecht. Kaum hatte ich heute Nachmittag mein Interesse am Ballett gefunden, schon stellte es sich auch noch heraus dass ich bei der Leiterin dieser gewandten Mädchen wohnte. „Sie sind wirklich Ballettmeisterin?“ Ich wollte sicher sein das ich richtig hingehört hatte, und es sich nicht später als peinliches Missverständnis herausstellt. „Ja bin ich. Überrascht dich das so sehr?“ „Natürlich, ich habe noch nie eine Person kennen gelernt, die einen so tollen Beruf, in einem so ehrwürdigen Haus hat.“ „Nun haben wir aber genug geredet. Iss dich satt. Wir können später reden.“ Ich willigte ein und schlang das Essen in mich hinein. Ich kann nicht sagen wie oft ich mir nachlud. Normalerweise wäre es mir peinlich gewesen, vor einem Menschen der von meiner Sicht aus, einem so hohen Stand hatte, so zu Essen als hätte ich keine Essmanieren aufzuweisen. Nun, eigentlich hatte ich wirklich keine, aber in diesem Moment war es mir egal. Nachdem ich mir meinen Magen so richtig voll gegessen hatte, wie lange nicht mehr in meinem Leben, vergaß ich die leckeren Pralinen auf meinem Bett, die ich eigentlich nach dem Abendessen naschen wollte. Den Abwasch erledigten wir zusammen und danach lies sie mir sogar ein Bad ein. Ich wurde rot als sie sagte sie ließe mir ein Bad ein. Zum Glück konnte ich mich nicht selber sehen. Prüfend roch ich kurz an mir und verzog daraufhin das Gesicht. „Ich habe dir ein Kleid meiner Meg hingelegt, probiere es dann mal an.“ „Vielen, vielen Dank Madame.“ Fortsetzung folgt . . . Kapitel 5: ZWEITER TEIL ----------------------- ZWEITER TEIL     Fünftes Kapitel Der Beginn eines neuen Lebens   Opéra Populair, Place de l'Opéra, Paris, 12. Juni 1871   Wir liefen hinunter ins Foyer, und nahmen sogleich die linke Abzweigung. Doch blieb mir keine Zeit alles von oben zu betrachten, denn Madame Giry führte mich gleich durch die große, rote Doppeltür die, wie ich nun sehen konnte, in den Zuschauerraum führte. Es war ein, mehr als monströs großer runder Raum. Die Sitzreihen waren mit rotem Samt ausgelegt. Die Wände und das Innere der Logen waren mit dem gleichen Blutrot verkleidet. Und wieder waren die goldenen nackten, keinesfalls ordinären Frauen wichtiger Bestandteil der Architektur. Nur stützten sie diesmal die Logen und verschönerten die Bühne, wie einen goldenen Rahmen.   Ungefähr in der Mitte der vielen Sitzreihen stand eine fleischige Frau mit roten Wangen und kam uns entgegen. Ihr Rock war schwarz, ebenso ihr Kopftuch das nur ein paar welligen graubraunen Strähnen am Ansatz es möglich machte sich zu zeigen. Sie trug eine graue ausgewaschene Schürze und ein altes kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. „Bonjour Mafalda, das ist Cliodne, das Mädchen von dem ich dir erzählt habe. Sie war noch nie in einer Oper, sie kennt sich mit so was nicht aus und es wäre nett wenn du ihr das Nötigste zeigen könntest.“ „Bonjour Madame Giry. Ich werde ihr gerne alles zeigen.“   Die Frau die mir als Mafalda vorgestellt wurde sah mich abschätzend an. Ich fühlte mich ein wenig unwohl, sagte aber nichts, da ich keinen schlechten Eindruck machen wollte.   „Ich glaube zu wissen, warum sie nichts weiß.“   Geschockt sah ich sie an. Konnte man es mir wirklich jetzt noch ansehen? Ich sah an mir herunter und viel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte zwar das Kleid gewechselt, aber nicht den Schmuck. Ich trug immer noch an Armen, Beinen und an meinem Ohr das Gold meiner Mutter. Es war überall bekannt das Zigeuner auffällige Kleider trugen und mit viel Gold beschmückt sind.   „Ich bitte dich Mafalda es niemanden zu sagen. Du weißt das sie es sonst sehr schwer hätte.“ „Selbstverständlich Madame, aber jeder wird es ihr dennoch ansehen.“ „Das klären wir heut Abend. Cliodne ich wünsche dir einen angenehmen Arbeitstag, warte auf mich am Abend im Foyer auf mich.“   Mit mulmigem Gefühl sah ich ihr hinterher. Ich hatte ein wenig Angst davor, allein in diesem riesigen Haus und mit den fremden Menschen. Erwartungsvoll sah ich Mafalda an und wartete auf meine erste Anweisung. Wieder sah sie mich bewertend an.   „Du wirst andere Sachen brauchen. Diese würdest du nur beschmutzen.“   Abermals sah ich mich an und erkannte dass das Kleid tatsächlich zu fein für solche Arbeit war. „Aber ich habe nichts anderes.“ „Das macht nichts, ich werde dir etwas holen. Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder da.“   Und schon ging sie fort. Einstweilen sah ich mir den Zuschauerraum genau an. Links und rechts neben der Bühne befanden sich zwei übereinander hängende kleine Balkone, die zweifelsohne die Logen sein mussten von denen Madame Giry ihr mit einen seltsamen Unterton erzählt hatte. Neben den Logen hingen die großen Balkone unter den sich die Seiteneingänge befanden und entgegengesetzt der Bühne, über den Eingang befand sich eine weitere prächtige Loge. Ich ging weiter nach vorne und blickte in den Orchestergraben mit den vielen Stühlen und Notenständern darin. Auch davon hatte mir Madame Giry bereitwillig erzählt. Ich ging wieder an den Platz zurück woher ich gekommen war um keinen Ärger von Mafalda zu bekommen, wenn sie wiederkam. Und wieder sah ich mir die Loge an die zwischen zwei dieser goldenen Frauen hing. Als ich so hinauf schaute, bemerkte ich dass sich über dieser Loge noch eine weiterer langer Balkon war. Und über diesem sah ich die schöne himmelblaue Decke an dem der Kronleuchter hing, der mir merkwürdigerweise erst jetzt auffiel, wohl aber nicht verwunderlich bei dieser Höhe. Er war sehr groß, rund und schien sehr schwer, hing aber dennoch federleicht an der Kuppel und wurde von dem Himmel der Decke umrandet, auf dem Engel schwebten. Meine ungeübten Augen konnten aber dennoch erkennen dass der Lüster einige Tonnen wiegen musste.   „Er ist wirklich sehr schön nicht war?“ Erschrocken sprang ich einen Schritt zur Seite und erblickte eine mollige Frau mit einer grauen Schürze, einem gestreiften Rock darunter und einer weißen alten Bluse, dessen Ärmel sie hinauf gekrempelt trug. Sie musste auch eine Putzfrau sein. „Was suchst du hier und wer bist du?“ „Ich bin Cliodne, die neue Putzfrau. Ich warte hier auf Mafalda. Sie wollte mir Sachen bringen, weil ich mein Kleid sonst schmutzig machen würde“, nuschelte ich etwas schüchtern und hoffte dass sie mir Glauben schenken würde und mich nicht rausschmeißt, ehe Mafalda wieder da war. Mein Herz sprang noch immer wie wild in meiner Brust, sie hatte mich wirklich sehr erschreckt. „Ach du bist also die Neue. Tut mir leid dass ich dich so angefahren habe, aber es darf niemand in den Zuschauerraum wenn keine Oper aufgeführt wird. Es sei denn du gehörst zu den Angestellten.“   Ich nickte um ihr zu zeigen dass ich verstanden hatte während mir ein Stein vom Herzen fiel. „Ich bin Claudin.“ Sie reichte mir die Hand und sah wieder zu dem Lüster hinauf. „Du solltest niemals unter dem Leuchter stehen bleiben, denn wenn er hinunterfällt war’s das mit dir.“   Ich sah sie verwirrt an und wollte schon fragen warum er denn runter fallen sollte, aber ehe es dazu kam, redete sie unverblümt weiter, als wenn ich nicht da wäre. Sie schien in Gedanken versunken zu sein, denn ihre Augen wurden glasig und schienen Furcht, nicht direkt vor den Lüster, aber von etwas was mit ihm zu tun hatte auszustrahlen.   „Er ist schon einmal erbarmungslos ins Parkett gestürzt und hätte fast die unschuldigen Zuschauer, die darunter saßen unter sich zermalmt, aber sie konnten glücklicherweise noch rechtzeitig davonrennen. Seit dem bleibt keiner von uns direkt darunter stehen.“   Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte und so nickte ich nur. Es war vielleicht unverschämt, aber ich fand die Geschichte sehr interessant, doch wollte ich sie nicht fragen was passiert war. Eine kurze Weile herrschte bedrückendes Schweigen in dem niemand was zu sagen wusste. Na ja, zumindest ich, denn Claudin starte noch immer furchtsam auf den Kronleuchter und schien ihn sich am liebsten wegzuwünschen.   „Ihr habt euch also schon bekannt gemacht, was Claudin?“   Ich blickte hinter die Angesprochene und erblickte Mafalda in der Tür stehend, mit einem zerknitterten Haufen aus Stoff bestehend, in dem Arm.   „Ja. Ich habe ihr gerade von dem Lüster erzählt.“   Innerhalb eines kurzen Augenblicks änderte sich ihr Blick schlagartig und bekam denselben gläsernen furchtsamen Ausdruck. Das Unglück musste sehr schlimm gewesen sein. Ich hätte gerne gewusst wann es passiert war, aber ich traute mich, jetzt wo sie der grausamen Erinnerung unterliegen, nicht zu fragen. Langsam wurde es unangenehm, da sie nun beide in Erinnerungen schwelgten und mich nicht mehr beachten. Doch glücklicherweise wachte Mafalda gleich wieder aus ihrem Tagtraum auf und richtete ihre Aufmerksamkeit ganz mir.   „Komm mit, ich zeige dir unseren Umkleideraum.“ „Die Putzfrauen haben einen eigenen Umkleideraum?“ „Natürlich, oder glaubst du etwa man zwingt uns in diesen alten Lumpen auf der Straße zu laufen.“   Das leuchtete mir ein und ich folgte ihr durch den Seitenausgang hinaus.   „Ich fang hier schon mal an“, nuschelte Claudin in Gedanken verloren, vor sich hin und machte sich daran die Sitze mit einer Handbürste zu säubern.   Ich folgte Mafalda durch den rechten Seitenausgang des Zuschauerraumes hinaus. Auf dem Gang bogen wir nach links ab, liefen ihn weiter entlang, bis er nach vielen Metern auf der linken Seite sein Ende fand. Ich hatte nicht mitgezählt wie oft wir nach links und rechts abgebogen waren, an wie vielen Türen wir vorbeigelaufen und wie viele Gaslampen wir auf unserem Weg angetroffen haben. Doch nach einiger Zeit fanden wir am Ende des Ganges eine Tür, von der ich dachte dass sie unser Ziel symbolisierte.   So weit wie wir gelaufen waren, mussten wir uns hinter der Bühne befinden. Und einer Türknaufdrehung später bestätigte sich meine Vermutung. Links von uns erstreckte sich ein Wald aus Balken die die Stockwerke stützten, die sich über uns befanden. Man konnte die Menschen die dort arbeiteten beobachten, denn diese Stockwerke hatten keine Wände. Sie bestanden nur aus Holz, den Geländern um nicht hinunterzufallen und den Balken, die das Ganze mit ausgestreckten, angenagelten, hölzernen Armen stützten, wie es die Frauenstatuen bei den Logen taten. Es waren zwei solcher breiter Gerüste, die fast die gesamte Breite des Hauses einnahmen. Ich sah durch den Gang und an dessen Ende sah ich die Bühne, die jetzt nicht mehr so riesig aussah und konnte schon ein paar Menschen dabei beobachten die begannen die Bühnenbilder zu platzieren. Es war ein ganz schön lautes Getöse hier, denn jeder der Arbeiter und Arbeiterinnen auf den Gerüsten und denen die hektisch an uns vorbeiliefen schnatterten wie wild durcheinander und erzählten sich wohl wie sie das Wochenende zugebracht haben. Mein Herz machte einen freudigen, aufgeregten Hüpfer und ich verspürte das Bedürfnis mir jeden einzelnen Quadratmeter dieses Haus ansehen zu müssen. Es war sehr aufregend zu sehen, wie viele Menschen doch hinter der Bühne arbeiteten.   „Was machen sie da oben?“, fragte ich Mafalda, mit dem rechten Zeigefinger auf die arbeitenden Männer gerichtet. „Das sind die Handwerker. Sie bauen die kleineren Bühnenbilder z.B. Büsche und ein Felsen, die vor dem großen stehen, damit das ganze eine bessere Atmosphäre gibt und ein wenig echter aussieht. Gegenüber sind die Keramiker. Sie produzieren Vasen, Büsten und noch mehr Accessoires - größtenteils aus Gips bestehend, damit es auf der Bühne zerbrochen werden konnte - für die Bühne. Ein Stück weiter vorne sind die Schneiderinnen. Sie entwerfen und nähen Kleider für die Darsteller. Flicken sie, falls sie mal aufgerissen werden und kümmern sich um alles was mit Stoffen zu tun hat. Manchmal müssen sie auch Vorhänge schneidern. Denen gegenüber befinden sich die Perückenmacher. Diese werden aber nicht immer gebraucht, weil bereits ausreichend Perücken vorhanden sind und nicht immer wieder neue gebraucht werden. Oft sind auch nur zwei oder drei da, die für die Pflege der Perücken zuständig sind. Neben den Perückenmachern sind die Maskenbildner. Diese fertigen Masken an und schminken die Darsteller. Ich denke das müsste eine ausreichende Antwort auf deine Frage sein. Komm, wir müssen weiter.“   Schnell ging es weiter und wir liefen an braun farbenen Türen mit handbemalten Blumenranken umrandet vorbei. Neugierig betrachtete ich sie, was Mafalda sofort zu merken schien.   „Das sind die Künstlergeraderoben. Die Geraderoben die der Bühne am nahesten sind, wie diese zum Beispiel gehören den Opernhauptdarstellern. Eine von ihnen ist unsere neue Diva Jeanne Chénier. Aber die Garderoben wirst du nicht putzen müssen, weil du erst neu bist. Das machen nur die Frauen, die schon länger hier sind. Claudin ist eine von ihnen.“ „Die neue Diva? Warum ist die alte nicht mehr da?“, fragte ich neugierig, obgleich ich wusste das es mir eigentlich egal sein könnte, da ich nie mit den Künstlern zu tun haben würde, geschweige denn sie mir anhören können. Ich kannte die andere Diva nicht einmal. Doch interessierte mich alles was mit diesem Gebäude zu tun hatte brennend, was mich ein wenig schmunzeln lies, da ich sonst nicht viel damit am Hut hatte. Doch hatte ich in den letzten Tagen erkannt - während ich mir die Ballettbücher angesehen hatte - das es nur so war, weil ich Neid auf die Menschen verspürte, die das Glück ereilte, hier arbeiten zu dürfen.   „Sie ist gegangen“, bekam ich die schlichte Antwort. „Weil … eh… das eben so ist. Stell nicht so viele Fragen“, herrschte sie mich plötzlich mürrisch an. Warum wollte sie mir nicht sagen weshalb die andere gegangen war und warum war sie jetzt so aufgebracht. Wir gingen weiter an den farbfröhlichen Türen entlang, zu einer neben dem rechten Gerüst stehenden unscheinbaren Tür, die wohl niemanden auffallen würde, wenn man nicht genau hinsah. Wir liefen geradewegs auf sie zu und Mafalda machte mich noch darauf aufmerksam das das der Umkleideraum für die Putzfrauen war.   Ich ging durch die Tür und erblickte einen relativ großen Raum. Links neben der Tür stand ein mittelgroßer Tisch, auf dem ein großes Tablett mit einer Wasserkanne und einige Tassen darauf - die wohl den einzelnen Putzfrauen gehören mussten, weil dort die Namen derer darauf geschrieben war – stand. Dem Tisch gegenüber waren alte Laken aufgehängt, die wohl als Umkleide fungieren sollten. Neben denen stand ein Regal in dem sämtliche Kleider, nicht unbedingt ordentlich, hineingestopft waren. Das mussten die Kleider der anderen Putzfrauen sein, demnach musste es sehr viele geben. In einer Ecke neben dem Kleiderregal standen alle Putzutensilien. Ausreichend Eimer, Besen, Schrubber, Mob, Handbürsten, von denen die einen sehr groß waren und die anderen so groß, das sie perfekt in der Hand lagen. Daneben war noch eine offen stehende Tür. Hinter dieser erkannte ich ein kleines Bad mit Toilette, einem Waschbecken, mit einem Spiegel darüber, das wohl lange nicht mehr geputzt wurde. Aber das war verständlich, denn wer wollte schon diesen Raum putzen, wenn man die ganze Oper geputzt hatte.   „Hinter dem Laken kannst du dich umziehen und dein Kleid in das Regal legen … oder wohl eher stopfen“, bemerkte Mafalda mit einem Lächeln und drückte mir die übergroßen Lumpenkleider in die Hand, „Die meisten sind zu faul es richtig hineinzulegen und stopfen es einfach nur hinein.“   Ich nickte, ging hinter den Vorhang und kleidete mich so schnell wie möglich um, damit sie nicht so lange warten musste. Während dessen bemerkte ich bereits dass die Sachen für mich übergroß waren. Und ein Blick an mir herunter bestätigte es. Ich sah aus wie ein lebendiger Kartoffelsack. Das Hemd war riesig, schlabberte und ich war gezwungen die Ärmel weit nach oben zu krempeln. Das Ärmelkorsett passte glücklicherweise, doch der Rock war zu lang und schleifte fast auf dem Boden. Ich trat aus der Umkleide hervor und zeigte mich Mafalda. Sie musterte mich von oben bis unten und begann nachdenklich an ihrer Lippe zu kauen. Dann holte sie aus der Putzutensilienecke ein Nähkästchen, öffnete es und ergriff eine Schere. Mit hoch erhobener Scherenhand, ging sie auf mir zu, ging vor mir in die Knie und Schnitt oberhalb meines Knöchels entlang. Es war wurde nicht gerade geschnitten, doch es erfüllte seinen Zweck.   „So ist es besser!“, sagte sie stolz, legte die Schere wieder in das Nähkästchen, stellte es wieder in die Ecke und brachte einen mit Wasser gefüllten Eimer, einen Lappen, einen Schrubber und eine Handbürste mit. „Nimm das, das wirst du brauchen.“ „Wo soll ich anfangen?“, fragte ich schon ganz hibbelig und aufgeregt nach meiner ersten Arbeit, nach der es mir strebte sie zu verrichten. „Du wirst im Foyer anfangen und wenn du dort fertig bist, kommst du zu mir in den Zuschauerraum und machst dort weiter.“   Wir liefen wieder hinaus an den Garderoben und den Gerüsten vorbei - die jetzt viel überfüllter schienen, es tänzelten sogar ein paar Ballerinen freudig an mir vorbei, gefolgt von einer streng aussehenden Madame Giry, die mir zunickte - durch die Tür in den Gang, zurück von wo wir gekommen waren. Doch dieses Mal gingen wir nicht wieder durch den Seiteneingang in den Zuschauerraum sondern weiter geradeaus und kamen in einem Korridor hinaus, das sich oberhalb um den Foyer herum befand. Wir liefen dort ein paar Meter nach links entlang und waren bei der großen Foyertreppe angelangt.   „Putze einfach den Fußboden, die Geländer und die Stufen. Das Abputzen der Statuen ist Auftrag eines anderen. Komm dann nach wenn du fertig bist.“   Und so ging sie durch die große Doppeltür die sich der Treppe direkt gegenüber befand hinein in den anderen Raum und lies mich hier alleine stehen. Etwas unbeholfen stand ich nun da und sah mir das Foyer noch einmal genau an. Auch von hier oben konnte man den Eingangsbereich gut erblicken. Das gesamte Foyer war mit Säulen umrandet, oben wie unten. Die Säulen trennten auch den Eingangsbereich vom Foyer. Diese ließen es einem erkennen das es zwei offene Räumlichkeiten waren. Die Wände des unteren Foyers waren mit Spiegeltüren beschmückt. Plötzlich schreckte ich hoch, denn schließlich war ich zum Putzen hier und nicht um faul herumzustehen. Und so machte ich mich an die Arbeit. Zuerst nahm ich mir den Eingangsbereich vor, denn ich wollte es systematisch angehen. Ich würde mich von dort aus durch das Foyer, bis zu Treppe, diese hinauf, dann den oberen Teil des Foyers und dann in den Zuschauerraum arbeiten. Ich stieg die Stufen hinunter, ging zu den roten Türen des Einganges und begann deren Fenster mit dem Lappen zu säubern. Danach schenkte ich dem Fußboden meine Aufmerksamkeit. Es dauerte Stunden, bis ich den Bereich vor und unter die Treppe herum geputzt hatte. Ich hätte nicht gedacht dass es so lange dauern würde, trotz dieser enormen Größe. Doch waren manche Flecken sehr hartnäckig, der Raum riesig und ich wollte alles sehr ordentlich machen, damit man kein Grund zur Klage hatte. Doch war es nicht sehr angenehm, da das Wasser in der Zwischenzeit sehr kalt geworden war und meine Hände der Kälte wegen schon ganz rot waren. Bevor ich mich dazu aufraffen konnte mich die Treppe hinaufzuarbeiten – ich hatte eine kurze Pause eingelegt um meinen schmerzenden Armen ein wenig Erholung zu gönnen – kam eine junge Frau hinein. In ihrem seidenen, berüschten Kleid sah sie sehr schön aus und vor allem sehr reich.   „Bonjour Mademoiselle!“, begrüßte ich sie freundlich, doch kam keine Erwiderung. Sie stolzierte hocherhobenen Hauptes an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken und ging die Treppe hinauf, den Korridor entlang und schon war sie weg. „Aufgeblasene Kuh“, flüsterte ich säuerlich und widmete mich wieder meiner Arbeit.   Zuerst putzte ich die Balustraden von unten nach oben, dann ging ich wieder die Stufen hinunter um nun auch mit ihnen zu beginnen. Doch bevor ich dies tat betrachtete ich die goldenen Frauenstatuen. Auf jedem Geländeranfang standen zwei. Die erste saß und hielt in ihren Händen zwei Kerzenleuchte, doch endeten diese nicht mit Kerzen, sondern mit Gaslampen. Die zweite Statue stand dahinter und hatte ebenfalls zwei Leuchter in der Hand. Ich fragte mich ob diese üppigen, hübschen Frauen eine echte Frau als Vorlage hatten. Als ich fast mit der Treppe fertig war und nun schon auf der vorletzten Stufe stand, kam die Frau wieder an mir vorbei und steuerte die roten Türen des Einganges an.   „Au Revoir Mademoiselle. Ich wünsch ihnen noch einen schönen Tag“, versuchte ich es noch ein Mal, in der Hoffnung das dieses Mal etwas zurück kommen würde.   Doch da hatte ich mich mal wieder geirrt. Wütend streckte ich ihrem Rücken meine Zunge entgegen, sie konnte es zu meinem Vorteil nicht sehen. Ohne mich weiter von ihr beirren zu lassen, machte ich mich wieder an die Arbeit. Nach einer Viertelstunde war ich bereits dabei das Korridor das sich am oberen Teil des Foyers befand zu putzen. Jeden der an mir vorüberging begrüßte ich. Doch die Meisten ignorierten mich nur. Sie dachten wohl, nur weil sie eine höhere Anstellung hatten, dass sie nicht mit mir reden mussten. Das führte dazu dass ich immer wütender wurde, mit jedem Mal wenn mich jemand ignoriert. Ich konnte es nicht begreifen. Wenn man als Zigeuner auf der Straße steht, bekommt man von wirklich jedem Aufmerksamkeit, auch wenn es oft nur kurze angewiderte Blicke sind. Doch wenn man als ehrliche Bürgerin in einem so prachtvollen, gut besuchten Gebäude arbeitet konnte man schon froh sein, wenn sie einem vor lauter Ignoranz nicht überrannten. Kurz nachdem ich mit dem Foyer endgültig fertig war und ich die Putzutensilien zusammensuchte – wenn ich etwas nicht mehr brauchte habe ich es da stehen gelassen wo ich grad stand - kam auch schon Mafalda um mich zu holen. „Komm, wir machen Pause.“ „Gott sei Dank. Meine Arme sind taub, ich hab das Gefühl sie fallen gleich ab.“ „Das ist normal. Irgendwann hast du dich daran gewöhnt und dann spürst du auch nichts mehr“, erklärte Mafalda und lachte.   Sie hatte ein herzhaftes, ehrliches Lachen. Ich mochte sie von Anfang an. Wir durchliefen denselben Gang zum dritten Mal an diesem Tag. Ich hatte Schwierigkeiten den Eimer zu tragen, auch wenn er nur noch halb so voll war wie vorher, was man auch an meiner Gangart gut sehen konnte. Bevor er mir jedoch aus der Hand fallen konnte und ich eine riesige Sauerei damit verursachen konnte, denn das Wasser hatte inzwischen eine eklige braune Färbung angenommen, nahm Mafalda mir den Eimer ab. In unseren privaten Raum angekommen ließ ich mich erschöpft auf einen nahe gelegenen Stuhl fallen während Mafalda den Eimer im Waschbecken leerte.   „Du hast bestimmt riesigen Durst.“ „JA!“, antwortete ich mit einem rauen, trockenen Hals.   Sie fing an zu lächeln und schenkte in eine Tasse, mit einer schwarzen Katze darauf, frisches kaltes Wasser ein und stellte es vor mir hin.   „Hier du kannst heute meine Tasse mitbenutzen, aber denk daran morgen eine eigene mitzubringen und deinen Namen drauf zuschreiben.“ Ich nickte, schnappte mir die Tasse in Windeseile und leerte es in wenigen Sekunden. Dann gab ich ihr mit einer Handbewegung zu verstehen das ich noch mehr haben wollte. Sie schenkte mir wieder ein und ich trank es wieder beachtlich schnell aus.   „Nicht so schnell sonst ver … “ Und schon war es passiert. Plötzlich verspürte ich einen Hustenreiz, schluckte das Wasser, das ich noch im Mund hatte hinunter, hustete und klopfte auf meiner Brust. Zu meinem Leidwesen hatte ich mich verschluckt. Ärgerlich fiel mir auf das ich es nicht schaffte irgendwo zu sein ohne mich zu blamieren und dachte an den Tee den ich im Bett bei Madame Giry verschüttet hatte.   „Siehst du, was habe ich dir gesagt.“ Sie nahm mir die Tasse ab und schenkte nun für sich selbst was ein. „Warum sind wir die einzigen hier im Raum? Wo sind Claudin und die anderen?“ „Wir haben keine festen Pausen und machen sie eben dann, wenn wir sie gerade brauchen. Nicht alle kommen dann extra hierher zurück. Die Oper ist schließlich sehr groß.“   Für eine Weile schwiegen wir uns an, bis Mafalda wieder ein Gespräch anfing. „Bist du wirklich eine echte Zigeunerin? Du siehst zwar wie eine aus, aber ich kann es mir dennoch nicht richtig vorstellen.“ „Ja! Aber ich will nicht über meine Vergangenheit als solche reden.“ „Ist schon gut. Aber du solltest es niemanden sagen. Da solltest du auch ganz auf Madame Giry hören. Die meisten mögen deinesgleichen nicht. Claudin zum Beispiel.“ „Was? Aber sie hat mich doch ganz nett behandelt.“   Ich war geschockt über das eben Gesagte. Sie kam mir sehr nett vor, auch wenn sie mir bei der Geschichte vom Kronleuchter ein wenig gruselig vorkam.   „Ihr wird es noch nicht richtig aufgefallen sein, aber ich rate dir, es nicht leichtfertig auf die Schulter zu nehmen. Es könnte sonst sehr unangenehm werden jeden Tag hier her zu kommen.“ Mafalda hatte Recht. Claudin war fast ausschließlich nur damit beschäftigt den Kronleuchter zu betrachten. „Am besten wäre es, wenn du dein Schmuck abnimmst, um wie eine normale Bürgerin auszusehen.“ „WAS? Ich bin zwar froh und dankbar hier arbeiten zu können, aber ich will mich nicht verleugnen“, schrie ich fast hysterisch.   Es stimmte was ich sagte. Ich war mir noch nicht im Klaren wie ich denken sollte. Einerseits war ich außerordentlich froh von ihnen weg zu sein, doch andererseits war es meine Familie. Ohne deine Familie bist du nichts, heißt es bei uns, wie leben wie ein Rudel Wölfe. Mafalda sah mich verwundert an, verstand meinen Standpunkt aber dennoch und nickte. „Das musst du entscheiden. Aber du solltest dir meinen Vorschlag dennoch zu Herzen nehmen und wenigstens darüber nachdenken.“ Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, fragte sie wie es mir beim Putzen bis jetzt ergangen ist. Als ich ihr, mit neu entfachter Wut in meinem Bauch, von der Frau erzählte und den anderen Angestellten die mich ignoriert hatten, begann sie zu lachen.   „Wie kommst du auch auf die Idee dass dich einer grüßen würde? Abgesehen von den anderen Putzfrauen, dem Stallmeister und Madame Giry brauchst du so was nicht erwarten.“ Nun fiel mir Rowen wieder ein und ich verspürte einen leichten Stich in meinem Herzen. Wie konnte ich nur meinen Weggefährten vergessen, den ich von dessen Geburt an hatte.   „Könnten sie mir sagen, wo ich die Ställe finde. Ich möchte meinen Hund besuchen.“ „Du hast einen Hund?“ „Ja, er ist so lange ich arbeite im Stall bei Monsieur Lachenal. Könntest du mich hinbringen? Ich weiß nicht wo er ist und ich würde Rowen gerne besuchen. Ich hab es ihm versprochen.“ Nachdem ich ihren verwirrten Blick sah, beschloss ich vor dem anderen nicht mehr so zu reden, als ob Rowen mein Bruder wäre. Auch wenn es jedes Mal einen Stich in meine Brust versetzen würde. Ich musste damit aufhören, wenigstens außerhalb des Stalles, denn sonst würden sie mich noch rausschmeißen, weil sie mich für verrückt halten.   Mafalda geleitete mich wieder hinaus und bog sofort nach links ab. Obgleich die Gerüste und die Bühne sehr lang waren gingen wir noch weiter nach hinten. Dieses Haus schien kein Ende zu haben. Auch hier waren einige Garderoben und zwischen ihnen ging sogar eine Treppe nach oben. Wir liefen wieder einige Meter, doch auch dieses Gebäude musste ein Ende haben, und so bogen wir bald wieder nach links ab und befanden uns in einem großen Raum mit allerlei Reitutensilien an den Wänden hängend, schon im Stallhof. Der Raum hatte eine riesiges hölzernes Tor und gab den Weg zu den Stallungen frei. An den Wänden hingen Sättel, Gerten, Geschirre und auch zwei schöne Kutschen standen in der Mitte.   Ich durchquerte den Raum und schlüpfte durch den Spalt im Tor, diese Türen waren schon sehr schwer, selbst ohne Schloss würde es wohl ein Problem darstellen hier einzubrechen. Kaum hatte ich das Hindernis überwunden kam mir mein schwarzer Strolch auch schon entgegen. Rowen wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, tänzelte um mich herum und drückte mir seine Nase in den Bauch.   „Da hat dich einer wohl sehr vermisst“, sagte eine mir unbekannte Stimme und ich zuckte zusammen, da ich von Rowen so abgelenkt war. Mir gegenüber, neben einem der schwarzen Rösser, stand ein hochgewachsener schmaler junger Mann, mit einem belustigten Grinsen im Gesicht. „Monseur Lachenal hat mir von dir erzählt. Du hast Glück das du eine Wohltäterin wie Madame Giry hast, sonst dürftest du ihn niemals mit hierher nehmen.“   Abschätzend blickte ihn an. Er hatte braunes welliges Haar bis unter die Ohren, das ihm immerzu über die Augen zu rutschen scheint, was ihn offenbar nervt, da er es immer wegstrich. Seine Augen waren blau wie das Meer, mit einem stürmischen grau. Die in der Sonne gebräunte Haut ließ sie noch mehr erstrahlen. Seine Nase war eine lange, schmale Hakennase und er sah insgesamt sehr süß aus. Verdutzt stand ich da und starrte ihn an, während Rowen geradezu nach Aufmerksamkeit schrie. Dieser hübsche Stallknecht begann weiterhin das schwarze Tier zu striegeln.   „Redest wohl nicht viel, was?“, sagte er und grinste noch mehr. Offensichtlich machte er sich über mich lustig, und ich hasste mich dafür ihn als süß bezeichnet zu haben und ihn angestarrt zu haben wie eine lastergeile Dirne. Die Schulter straffend und versuchend selbstbewusst zu wirken blickte ich ihm entgegen und lief auf ihn zu.   „Ich wüsste nicht was dich das angeht was ich treibe oder nicht. Wenn ich meinen Hund mitnehmen will, nehme ich ihn eben mit, damit hat Madame Giry nichts zu tun“, blaffte ich ihn an.   Verwirrt blickte er mich an und unterbrach seine Arbeit.   „Die Katze fährt schnell ihre Krallen aus. Bist du immer so unausstehlich?“ fragte er nun weniger gutgelaunt. „Du bist ziemlich kratzbürstig, dabei habe ich dir gar nichts getan. An deiner Stelle würde ich aufpassen, denn so wirst du dich schnell sehr unbeliebt machen“, keifte er und vertiefte sich wieder in seiner Arbeit.   Die aufgekeimte Anspannung war zum Greifen nahe und langsam begann mich ein nagendes, quälendes Gefühl zu überrumpeln. Ich wusste das ich ohne Grund hart zu ihm gewesen war, doch war ich es bisher nicht anders gewöhnt, meine Umgebung war bis vor kurzer Zeit nicht sehr vertrauenswürdig. Ungewöhnlich war nur, das ich mich nun schuldig fühlte. Aber das resultierte wohl daher das ich nun ein neues Leben begonnen habe, schöner als ich es mir je erträumt hatte, und es nicht wieder verlieren wollte.   So verlagerte ich mein Gewicht von einem Fuß auf dem anderen und war sehr unschlüssig, ja geradezu schüchtern ihm gegenüber. Doch wer konnte es mir übel nehmen bei dem Vorhaben das ich nun zu bewältigen hatte. Ich schuldete ihm eine Entschuldigung. Die erste meines Lebens. Geradezu unmöglich für mich, eine unüberwindbare Mauer, doch mir blieb nichts anderes übrig, es musste sein. Mit hängendem Kopf und auf dem Boden starrend, schob ich mich, anderes kann man es nicht nennen, einen Schritt nach dem anderen zu ihm hin, gedrängt von meinem schlechten Gewissen, mit welchem ich eben die Bekanntschaft gemacht hatte, und blieb neben ihm, aber mit Abstand stehen.   Wieder stand ich nun nichts tuend da und wusste nicht recht was ich tun sollte, oder wie ich es am besten anstellte. Um mich abzulenken und etwas zu beruhigen begann ich den schönen schwarzen Hengst zu streicheln, er hatte sehr gepflegtes, weiches Fell, was ich noch nie bei einem Pferd gesehen hatte. Es glänzte wie kostbare Seide unter meinen trockenen, rissigen Fingern und fühlte sich auch fast so an.   Von einer hastigen Bewegung aufgeschreckt, sprang ich regelrecht zur Seite, da ich diesem Stallknecht im Weg war und er keine Anstalten machte um mich herum zu laufen. Dabei stieß er mit seiner Schulter an meiner, und als ich schon wütend den Mund aufmachen wollte um ihn zu beschimpfen, fuhr ich schnell wieder herunter, denn es war verständlich das er so reagierte und ich war nicht ganz unschuldig daran. Er lief um das Pferd herum und striegelte nun die andere Seite. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen und stand nicht direkt neben ihm, durch dem Pferd zwischen uns waren wir sehr distanziert worden. Dies war meine Chance.   „Tschuldigung“, nuschelte ich. „Was?“, fragte er. Genervt rollte ich mit den Augen, was er aber nicht sah. „Na du weißt schon, tschuldigung“, wiederholte ich mich. „Wie bitte, ich habe nichts verstanden.“ „DU HAST SEHR WOHL VERSTANDEN!“, fauchte ich, wodurch das Pferd sich erschreckte und zur Seite schritt, weswegen es seinen Huf direkt auf meinen Fuß setzte. „AAAAUUUUU!!!!“, schrie ich und haute mit meinen Fäusten gegen die Flanke des Pferdes. Der Knecht, der eben noch so abweisend war, vergaß seinen Groll, kam zu mir und trug mich auf eine nahegelegene Tonne. „Tut mir leid, ich hatte auf dich nicht mehr geachtet und drückte Caesar etwas von mir weg, weswegen er einen Schritt zur Seite gegangen war. Tut es sehr weh?“   „Nein, es geht eigentlich, seit er von meinem Fuß runter ist. Gott sei Dank, es wäre nicht gerade von Vorteil gewesen am allerersten Tag wegen eines verletzten Fußes die Arbeit nicht verrichten zu können.“   Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht so recht was er nun tun sollte, also drehte er sich kommentarlos um und striegelte Caesar weiter. Rowen saß neben mir und beschnüffelte meinen Fuß, genauer gesagt meinen Schuh, und begann es abzuschlabbern. Liebevoll und mit großer Vorsicht fuhr seine Zunge über den dünnen Stoff und ich schlang lächelnd die Arme um ihn und drückte ihn an mich.   „Du bist der Beste mein Großer“, sagte ich ihm neben seinem Ohr. Erst als ich mich von Rowen löste bemerkte ich das wir beobachtet wurden. Schnell drehte der Stallknecht seinen Kopf herum und tat so als hätte er nichts mitbekommen. Vorsichtig stand ich auf und war froh als ich nur ein kleines Ziehen spürte und es nach ein paar Schritten sich wieder eingerenkt hatte. „Wie heißt du eigentlich“, fragte ich ihn. „Jean. Jean-Cloude, aber nenn mich einfach Jean, ich mag diesen Doppelnamen nicht wirklich. Und mit wem habe ich es zu tun?“ „Cliodne.“ „Ein ungewöhnlicher Name, woher kommst du?“ „Na ja …. Überall und nirgendwo …. .“ „Und was soll das heißen“, fragte Jean verständnislos. „Wir sind oft umgezogen weißt du, ich kann dir nicht wirklich einen Ort nennen.“ „Du bist eine Zigeunerin?“   Geschockt stand ich da und starrte auf dem Boden, mein Herz begann zu rasen. Ich wollte mich und meine Familie nicht verleugnen, doch war es unangenehm es zugeben zu müssen, ein Straßenratte zu sein, wie wir doch oft gerne beschimpft werden. In dieser Oper hier arbeiten zu können kommt mir vor wie ein Traum, den ich mir natürlich auf keinen Fall vermasseln will.   „Ja“, sagte ich kleinlaut. „Ich habe meine Gruppe aber verlassen und will mein Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen und ein normales Leben führen“, sprudelte es aus mir heraus und wurde zusehends nervöser. „Schon gut, beruhige dich, wovor hast du angst?“ „Das ich rausgeschmissen werde, wenn alle wissen was ich bin.“ „Wenn man wegen so was rausgeschmissen werden würde, dann gäbe es mehr als die Hälfte des Opernpersonals nicht“, lachte er.   Verwundert blickte ich Jean an.   „Tatsächlich?“, fragte ich skeptisch. „Natürlich. Viele von uns haben ihre Vergangenheit und ihre Geschichte, wie auch du sie hast. Aber vergiss sie einfach. Nun beginnt ein neues Leben und ich rate dir nichts zu tun was du später bereuen wirst, das hier ist deine einzige Chance, ein normales Leben führen zu können“, riet er mir.   Darauf erwiderte ich nichts mehr. Ich wusste es bereits und war ehrlich bemüht mich daran zu halten, auch wenn so manches Mal die alten Gewohnheiten ans Tageslicht treten wollten, wie ich schon hier und da bemerkt hatte. Es fiel mir schwer nicht meine Hand flink in die Tasche des feinen Herren zu stecken, der gerade an mir vorbei läuft und nicht beachtet, doch musste ich mich zügeln.   Nach wenigen Momenten mit Rowen, in denen ich mit ihm spielte und kuschelte, stand ich auf und sagte: „Ich muss wieder hinein. Mafalda wartet sicherlich auf mich.“   „Klar“, sagte Jean-Claude, „man sieht sich. Rowen ist sehr brav und klug. Ob wir ihn uns ab und zu ausleihen könnten?“   „Was meinst du damit?“, fragte ich verwirrt und blieb stehen.   „Na ja, wir bräuchten einen guten Wachhund. Er wäre zwar nur tagsüber hier, aber immerhin. Seit Caesar damals entführt wurde, ist Monsieur sehr besorgt um die Pferde und die Direktoren wollen keinen kaufen. 'Dafür das er nur den ganzen Tag rumliegt und gefüttert wird, brauchen wir keinen Hund', sagen sie.“   „Das musst du mit Rowen selbst klären“, grinste ich und ging hinein.   Ich wusste das Rowen brav war, doch würde er niemals auf einen anderen Menschen hören. Er war sehr lieb und tat niemanden etwas, doch Kommandos von anderen außer mir, wurden geflissentlich ignoriert. Da stellte er sich einfach taub.   Mit mulmigen Gefühl lief ich die langen Gänge zurück, in der Hoffnung mich nicht zu verlaufen. Es würde lange dauern ehe ich mich daran gewöhnen und mich hier auskennen würde. Schon bald erblickte ich den Wald aus Balken, mit den verschiedensten Stockwerken hinter den Kulissen der Bühne, auf dem die Requisiten für die Bühne und auch die Kostüme für die Darsteller hergestellt und gepflegt wurden.   Sogleich fand ich die Tür und bevor ich sie öffnen konnte, kam mir auch schon die rundliche Mafalda entgegen. „Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr“, sagte sie und drückte mir sogleich meinen Eimer in die Hand. „Wenn du mit den Foyer fertig bist, komm gleich in den Zuschauerraum. Claudin wurde in die Garderoben geschickt, also beeile dich. Sonst werden wir nicht mehr fertig.“   Nach einer Stunde im Foyer, noch immer von allen Menschen die ein und aus gingen ignoriert werdend, lief ich mit schmerzenden Handgelenken und meinem Putzeimer in den Zuschauerraum und begann in der hintersten reihe der linken Seite des Saales, wie Mafalda es mir angeordnet hatte.   Während ich mit der Bürste die Fusseln und Krümel von den Sitzen entfernte konnte ich nicht den Blick von der Bühne lassen. Madame Giry war mittlerweile mit ihren Ballettmädchen in ihren bezaubernden, weißen Tüffkleidchen und probten ein Stück aus einer Oper. Erschrocken hörte ich die strenge Stimme von dieser liebreizenden Frau, die so gut zu mir war, durch den Saal schimpfen. „Marie, konzentriere dich. Chantall du wirkst wie ein schwerfälliger Elefant, etwas mehr Contenance, ich weiß du bist erschöpft“, rief sie und schritt mit strengem Blick durch die Reihen.   Sie war streng, doch sah man auch das stolze Nicken, wenn eine Tänzerin etwas für sie Schwieriges gemeistert hatte. Es war ein merkwürdiges Gefühl Madame Giry so zu sehen und doch bewunderte ich diese Frau für das was sie geschafft hatte. Frauen hatten in dieser Männerdomäne von Welt nur selten die Gelegenheit eine gute Arbeit zu bekommen, ohne im Schatten eines Mannes zu stehen. Doch Madame Giry war die einzige Ballettmeisterin in diesem Haus und auch ohne Zweifel die Beste. Nie hatte ich ein Ballett gesehen und hatte davon so viel Ahnung wie eine Bettlerin von den neuesten Kleidern der großen Leute, doch wie ich sie so beobachtete, konnte es nicht anders sein.   „Hör auf zu glotzen“, rief Mafalda und peinlich berührt beugte ich mich wieder hinunter und ging meiner Arbeit nach. Aber nicht, ohne hin und wieder einen Blick zur Bühne zu riskieren. Kapitel 6: ----------- Sechstes Kapitel Ungewöhnlicher Alltag   Paris, Juni 1871   Seit nunmehr zwei Wochen war ich angestellte an der Oper. Wie versprochen hatte mir Madame Giry innerhalb von wenigen Tagen meine gefälschten Papiere besorgt. Sie hatte mir den Umschlag in die Hand gedrückt, meinen Freifahrtschein zu einem neuen Leben. Mit diesen Dokumenten würde ich ab jetzt überall und für alle Zeit als ehrbare Bürgerin leben können. Nervös hatte ich sie dem Personalleiter Monsieur Personnel vorgelegt, er hatte sie sich kurz angesehen und nichts weiter dazu gesagt. Ich war also damit durchgekommen.   Schade war nur das ich noch immer nichts von der Oper zu sehen bekommen hatte. Meistens kümmerte ich mich um das Foyer oder den Sitzreihen im Zuschauerraum. Auch habe ich einmal dabei geholfen den Fußboden der Bühne zu säubern und zu pflegen oder auch einfache Flure, doch niemals bekam ich eine Garderobe, geschweige denn die oberen Stockwerke zu sehen. Vielleicht glaubten sie das ich etwas stehlen könnte, mittlerweile hatten alle gemerkt wer und was ich bin. Den Direktoren kümmerte es nicht und auch Monsieur Personnel nahm keine Notiz davon, obwohl ich bereits befürchtet hatte, das mich jemand der anderen verrät, doch dem war nicht so. Auch Madame Girys Erklärung das es nicht von Belangen war, nahm mir den Wind aus den ängstlichen Segeln und es beruhigte mich. Doch hatte sie auch mit einer anderen Sache Recht behalten. Da ich offen zeigte was ich war, zeigten mir die meisten was sie von mir hielten. Auch Claudin war lange nicht mehr nett zu mir. Sie unterließ es mir Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, doch dadurch wurde ihr Ton mir gegenüber nicht netter. Auch machte sie mich oft für Dinge schuldig, die ich nie begannen hatte und behauptete ich würde meine Arbeit nicht ordentlich verrichten. Ich weiß noch wie ich einen langen Flur gesäubert hatte und als sie zu mir kam und ich den eben gesäuberten Gang zurück laufen wollte, prasselte ihre schrille Tirade direkt auf mich ein, was ich denn solchen Dreck verursachte... doch das hatte ich nicht getan. Und doch waren dort schmutzige Schuhabdrücke zu sehen, ganz deutlich. Ich tat es als schlechten Scherz ab, doch geschah Solcherlei immer wieder.   Rowen blieb wie abgemacht im Stall während ich meine Arbeit verrichtete und hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, das er tatsächlich begann wie ein Wachhund zu fungieren. Abgesehen von mir, den Stallburschen und den Kutschern bellte er misstrauisch wenn sich jemand dem Stall näherte. Ich vermisste ihn oft sehr. Da ich so vertieft in die Arbeit war und über und immer mehr mit Aufgaben überhäuft wurde, blieb mir kaum Zeit für eine Pause bei ihm. Wie Monsieur Personnel schon gesagt hatte, es waren zu wenige von uns da. Aber sie mussten an Personal sparen. Und das war der Grund weswegen so Wenige, die bereits vor dem Unglück hier gearbeitet hatten, übrig waren. Doch beklagen wollte ich mich nicht. Das Gehalt welches ich wöchentlich erhielt sparte ich mir brav zusammen, in eine Schatulle, die ich mir gekauft hatte, weil sie mir so gut gefiel. Fünf Franc verdiente ich in einer Woche und mindestens die Hälfte davon landete in meiner Schatulle. Ich hatte Madame Giry angeboten von meinem Geld zu leben und Miete zu zahlen, doch wollte sie nichts davon hören. Ich sollte es mir lieber sparen falls ich es einmal brauchte oder mir etwas Schönes kaufen, schließlich hätte ich es doch verdient.   21.Juni 1871   Ich war mit dem gesamten Foyer fertig schlurfte den weiten Weg entlang bis zum Umkleideraum der Putzfrauen, der auch als Pausenraum benutzt wurde, wenn sie nicht an einer Zigarette ziehend am Hinterausgang standen. Bevor ich meine Hand auf die Klinke legte hörte ich Claudin's schnarrende, schimpfende Stimme. Seit sie sich entschieden hatte sich so feindselig mir gegenüber zu zeigen, vermied ich es vehement mit ihr länger in einem Raum zu sein.   „Ich halte es nicht aus“, klagte sie. „Wir dachten er sei endgültig verschwunden. Sie SAGTEN er sei endgültig verschwunden, warum nur ist er wieder da?“   „Claudin, sei nicht albern. Sicherlich hast du dich verhört, weil du es so sehr erwartet hattest“, beschwichtigte Mafalda.   „Warum nur glaubst du mir nicht? Ich schwöre dir, ich habe ihn gehört. Er hat mich angeschrien“, weinte sie nun. „Ich kann das nicht Mafalda, ich kann das nicht. Ich werde nie wieder dort hinein gehen, vergiss es. Da können sie noch so toben. Im Moment wird der Gang doch gar nicht gebraucht, was sollen wir ihn nun putzen?“   „Du weißt das die Premiere von Faust mit Jeanne Bussie bevorsteht. Sie rechnen damit das wieder mehr eingestellt werden können, wenn erfolgreich anklang findet. Und sei froh darüber oder willst du deine Stelle verlieren oder gar weiterhin wie ein Esel schuften bis du eines Tages daran stirbst? Ich halte das nicht mehr lange aus und bin froh wenn wieder Normalität einkehrt“, gab Mafalda dazu. „Nein, aber es war so furchtbar. Können wir nicht jemand anderen hinschicken? Wie wäre es mit Cliodne? Dieses gottlose Weibsbild würde keiner vermissen“, zischte sie.   „Von wegen, wenn sie einer da hinten erwischt bist du dran, glaub nicht das ich dich dann in Schutz nehme. Das letzte Jahr war schwer genug, beinahe hätte ich meine zwei Ältesten von der Schule nehmen müssen, weil wir uns die Gebühren nicht mehr leisten konnten. Schulden habe ich machen müssen. Mir ist es gleich ob er wieder da ist oder nicht, bisher hatte er nie eine von uns belangt, also warum sollten wir uns fürchten? Außerdem würde dir Madame Giry Feuer unterm Hintern machen wenn sie erfährt wie du über Cliodne sprichst. Schick sie nicht dort hin. Hör auf zu jammern und tu deine Pflicht.“ Ehe ich darüber nachdenken konnte worüber sie sprachen, hörte ich Stuhlbeine über den Boden kratzen und verschwand eiligst von der Tür. Noch während die Tür aufschwang, konnte ich mich wenige Schritte weiter in einer Nische verstecken. Glücklicherweise gingen sie in die andere Richtung ich blieb unentdeckt. Wer nur war von dem sie sprachen? Und warum hatten sie solche Angst?   23. Juni 1871 Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, in wenigen Tagen war die Premiere von Chalumeau's Hannibal, Jeanne Bussie, die neue Sopranistin und Primadonna des Hauses in der Rolle der Imilke, die Frau des Hannibals. Es war die letzten Tage vor der Aufführung sehr hektisch und alle waren Panisch, denn die Einnahmen in diesen Tagen würde entscheiden ob die Opéra Populair weiterhin bestehen konnte und wieder ein harter Konkurrent gegenüber den anderen Theatern werden könnte, oder ob Monsieurs Lorence de Richelieu Investitionen umsonst gewesen waren. Vor einem Jahr, so wurde mir erzählt, war die Oper in einem lausigen Zustand. Durch den heruntergestürzten Lüster, durch den ein Brand ausgebrochen war, war der Zuschauerraum größtenteils abgebrannt, wie auch die Bühne und die Kulissen hinter der Bühne. Auch einige Nebengänge hatte es erwischt und man glaubte schon das die Oper nun für immer still gelegt worden war. Wodurch die Oper genau so zu Schaden gekommen war, darüber wollte niemand reden. Jedoch zweifelten viele Unwissende, die damals nicht dabei gewesen waren, an den Lüster, der doch schon so viele Jahre an der Decke gehalten hatte. Warum sollte dieser plötzlich herunterfallen?   Monsieur Lorence de Richelieu, der nach Paris gekommen war um ein neues Leben zu beginnen und etwas in seinem Leben vollbringen wollte, kaufte die Oper den damaligen Direktoren Monsieur Firmin und Monsieur André ab, welche es für einen lächerlichen Preis verscherbelten und sich wieder ihrem Altmetallgeschäft widmeten, oder auch Schrotthandel, wie manche belustigt sagten.   Monsieur Lorence de Richelieu steckte den Großteil seines Geldes in die Reparaturen und Restaurationen hinein, um die Oper wieder zu ihrem vollen Glanz herzustellen. Er warb einen Teil der alten Angestellte wieder an und suchte auch nach neuen. Allerdings waren wir noch immer sehr begrenzt, trotz dessen das für die bevorstehende Premiere alles vorbereitet werden musste. Monsieur Lorence de Richelieu legte viel Wert auf eine gute Qualität, weswegen die Masken, die Bühnenbilder, die Requisiten und Kostüme aus teuren Stoffen und Materialien bestand.   In den letzten Wochen wurde noch ein kleiner Teil neues Personal eingestellt um mit den Vorbereitungen fertig zu werden und ich hörte von manchen Maskenbildnern oder Bühnenarbeiter das wohl auch Madame Bussie ihr Vermögen hineingesteckt haben soll. Vor zwei Monaten hatte Monsieur Lorence de Richelieu auch einen Co-Direktor erworben, ein alter Freund, so heißt es. Monsieur Jean-Jacques Rousseau war ein vermögender Mann und liebte die Oper, weswegen er sich sehr gerne dafür bereit erklärte die Stelle als Direktor anzunehmen. Doch war er in Gegensatz zu Madame Bussie sehr vorsichtig und versuchte nicht allzu viel Geld zu investieren.   Als ich mit einem vollen Eimer mit schmutzigem Wasser an der Garderobe der Primadonna vorbeiging, kam plötzlich ihre Kammerzofe hinaus geeilt und rammte mich, so das mir ein großer Schwall Wasser hinaus spritzte. Eilig kniete ich mich hin um den Unrat aufzuwischen, doch plötzlich traf mich ein harter Tritt von hinten, der mich über den Wassereimer fallen ließ, wodurch ich ihn fast völlig umgeschüttet hätte. Fast auf dem Fuße war auch noch die Sängerin selbst aus der Garderobe gekommen.   „Mon Dieau.... oh pardon, ich habe sie nicht gesehen Mademoiselle“, sagte sie und lief eilig weiter.     Vor mich hin fluchend wischte ich mit meinem Lumpen von Lappen, der schon einige schwarze Stellen vor Schmutz aufwies, die Pfütze einigermaßen weg und wischte mit meiner Schürze darüber um es zu trocknen. Ich wollte nicht schuld daran sein wenn die Diva ausrutschte und sich meinetwegen verletzte.   „Maldita sea. Hoy quiero hacerlo todo el dia“, schimpfte ich und klagte über den Umstand das mir heute jeder den Tag vermiesen wollte.   Erst war es Mafalda, die mich wegen nichts und wieder nichts, die Hölle heiß machte, dann musste ich so manche Gänge mehrmals wischen, da jeder hektisch und geschäftig herumlief und niemals daran dachte die Schuhe an den - nur für diesen Zweck, an jedem Ausgang, außer dem offiziellen Eingang - Schuhabstreifer abreiben wollte.   „Pardon, noch einmal, ich hatte sie nicht gesehen Mademoiselle.“   Grummelnd wischte ich noch immer die nasse Fläche. Meine Schürze würde ich heute nicht mehr tragen können.   „Mademoiselle?“   Seufzend die schmutzige Schürze von mir reißend, stand ich auf, nahm den Eimer und wollte weiter gehen, als ich plötzlich fast in Jeanne Bussie hineingelaufen wäre. Diese hübsche Frau stand in einem rüschenreichen Bademantel vor mir, scheinbar hatten gerade eben noch Anproben in ihrer Garderobe stattgefunden. Zu meinem Unglück schwappte das Wasser noch einmal aus dem Eimer, wenn auch nicht so stark und wäre das schon nicht schlimm genug - fiel ein verräterischer Tropfen, obwohl die Diva nicht allzunahe bei ihr stand - auf ihren Pantoffel.   „OH PARDON, MADAME! PARDON! PARDON!“, rief ich verschreckt, warf mich auf die Knie und versuchte mit einer sauberen Ecke meiner Schürze den Wasserfleck wegzuwischen.   „Es ist schon gut, na komm, steh auf“, sagte Jeanne Bussi, griff mir sanft an die Schultern und zog mich hoch. „Mon Dieu, du bist ja noch ein Kind. Wie alt bist du?“   „Ich bin gerade siebzehn geworden“, antwortete ich brav und sah ihr schüchtern entgegen. Nie hätte ich gedacht das mich eine dieser feinen Damen mich jemals von gleich zu gleich ansprechen würde.   „Hast du denn keine Lehre machen können?... Ach nein, tut mir leid, ich hatte nicht gesehen das...“, sagte sie traurig, als sie das Gold meiner Mutter an meinem Körper betrachtete.   „äh...ja, Madame“, erwiderte ich nur, um überhaupt etwas zu sagen. Der traurige Blick der Diva verwirrte mich ein wenig, denn ich verstand nicht, was sie denn so traurig stimmte.   „Wie heißt du?“, brach Madame Bussie die unangenehme Stille.   „Cliodne.“   „Ein ungewöhnlicher Name. Würdest du mir einen Gefallen tun, Cliodne?“   „Natürlich Madame“, sagte ich und sah sie erstaunt an. Was konnte sie von mir wollen?   „Würdest du für mich eine Bestellung abholen? Meine Kammerzofe ist leider schon weg, ich konnte sie nicht mehr erwischen. Und die Aufführung ist schon in drei Tagen.“   Meinte sie tatsächlich mich? Ich sollte für sie eine Bestellung abholen?   „Kannst du lesen?“   „Ja Madame.“   „Oh Pardon, natürlich“, sagte Madame Bussie peinlich berührt. Sie wollte mich wohl nicht verletzen, doch das hatte sie nicht getan.   „Leider ist es nicht nur eine Sache die abgeholt werden muss, ich hoffe du verzeihst. Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten“, sagte sie und hatte eine Liste aus ihrer Tasche gezogen.   „Das macht nichts, Madame“, sagte ich aufgeregt, ohne daran zu denken was Mafalda oder Claudin sagen würden. Doch es kümmerte mich nicht. Es freute mich sehr ihr einen Gefallen tun zu können, wo sie doch so nett zu mir war.   „Hol mir alles was hier auf der Liste steht, ich schreibe dir noch schnell eine Vollmacht, damit man nicht glaubt das du lügst. Du kannst meine Droschke benutzen. Warte einen Moment“, sagte sie, lief in ihre Garderobe hinein, wobei sie die Tür offen stehen ließ. Neugierig lief ich auf die Tür zu und steckte den Kopf hinein. Ganz hineinzulaufen traute ich mich dann doch nicht. Es war ein herrliches, prunkvolles Zimmer. Diese musterreiche Tapete, die Gemälde mit den goldenen Rahmen, die teuren Teppiche, der hübsche Frisiertisch und die schöne Chaiselongue.   Mlle Bussi lief zu ihren Schreibtisch, der in einer Ecke stand, nahm sich ein Blatt Papier, nahm den Füllfederhalter zur Hand und tunkte ihn in das Tintenfässchen und begann schnell etwas darauf zu schreiben.   „Hiermit wird dich niemand behelligen. Hast du etwas zum Umkleiden?“   „Ja, Madame. Gleich dort trüben in unserem Pausenraum.“   „So zieh dich schnell um und komm dann wieder her“, sagte Jeanne Bussie und sogleich lief ich eilig los.   Glücklicherweise war gerade niemand in unserem Pausenraum, so entging ich den unangenehmen Fragen und konnte mich unbemerkt umkleiden und mich wieder hinaus schleichen. Mit meinem Alltagskleid fühlte ich mich wie eine Verbrecherin als ich wieder zur Garderobe zur Diva lief. Ich klopfte an die Tür der Madame. Sie trat ebenfalls in ihrem Alltagskleid heraus, welches so wunderschön war das ich darauf bedacht war nicht zu sehr zu starren. Doch scheinbar war mir das nicht gut gelungen, denn sie lächelte mich verständnisvoll an und führte mich zu den Ställen.   Kaum waren wir durch die große Tür gegangen, rannte auch schon Rowen auf mich zu, stellte sich auf, legte seine Pfoten auf meine Schultern um mein Gesicht abschlecken zu können und wedelte mit seinem Schwanz.   „Ist das deiner?“, fragte Madame Bussie überrascht.   „Ja“, sagte ich und deutete Rowen an ruhig zu sein. Ängstlich blickte ich zur Bussie und hoffte das sie uns nicht für ungehobelt hielt und den Auftrag gar noch jemand anderem übergab. Doch diese lächelte nur, streichelte Rowen nur kurz über den Kopf, was dieser sich brav gefallen ließ und geradewegs zu Jean-Claude.   „Jean, bereite mir bitte meine Droschke vor, Mademoiselle Cliodne braucht es“, bat sie ihn höflich.   Verwirrt blickte er sie an und dann mich, was mir etwas unangenehm war, doch schwieg er und tat was ihm aufgetragen wurde. Das waren die längsten Minuten meines Lebens. Immer wieder streiften mich seine fragenden Blicke, hielt jedoch zu meinem Glück seinen Mund. Ich wollte über nichts herum plappern, was niemanden anging. Nach kurzer Zeit war der schöne Schimmel war angespannt und auf ein Nicken hin von der Bussie, setzte ich mich hinein. Dummerweise war das Dach hinunter geklappt, denn es wäre mir sehr peinlich wenn mich alle Menschen ansehen würden, wenn ich an ihnen vorbeifuhr. Denn die würden nicht wie erwartet die feine Dame erblicken.   Jean-Claude schien meine Gedanken zu lesen, klappte das Dach nach oben und sogleich kam auch der Kutscher zu uns. Jeann Bussie beauftragte ihn mich überall hinzufahren wo ich wollte und Acht auf mich zu geben. Es wäre eilig, so solle er so schnell wie möglich fahren.   „Au Revior, Cliodne. Beeil dich und komme gleich wieder zu mir in die Garderobe“, rief unsere Diva, als die Kutsche losfuhr und den Stall verließ.   „Wo soll es hingehen junge Mademoiselle?“, fragte der Kutscher, bevor er die Straße erreichte und sich einreihen wollte.   Eilig sah ich auf meinen Zettel.     „Tuch“ vom Schneider „Coupeur Aiguille“ auf dem Place Vendôme.   „Collier“ vom Juwelier „Le Bijoutier“ in der Rue Joubert.   „Schuhe“ vom Schuster „Chaussures“ in der Rue St-Augustin.     Die Straßen waren belebt und viele Kutschen und Droschken waren unterwegs. Auch die Fahrradfahrer – manche auch mit dem neuen Rad mit dem Pedalantrieb - fuhren gefährlich nahe an sie vorbei und auch so einige Fußgänger, die es wohl sehr eilig hatten, waren hier und da um ein Haar erfasst worden. Aber dennoch gab der Kutscher den Pferden die Zügel, als wären die alle anderen nicht da, oder als würden sie so oder so zur Seite springen. Glücklicherweise sah ich nicht viel davon, denn die kleine Droschke war wirklich sehr klein. Mehr als zwei Leute konnten hier keinen Platz finden und durch das aufgestellte Dach, sah ich fast nur noch den Kutscher auf seinen Kutschbock. Doch was ich nicht sah, sah mich auch nicht, was mich etwas beruhigte und so die Fahrt genießen konnte. Meine erste Fahrt in einer richtigen, auch so schönen Droschke.   Bald waren wir bei dem Schneider angekommen. Bevor ich von der Droschke hinunterstieg, schob ich meine Armreifen, so gut es ging in die engen Ärmeln und schob meinen dicken Zopf und meine herausfallen Strähnen vor meinem Ohrring. So lief ich in das Geschäft hinein und dort stand auch schon eine dickliche Frau, im mittleren Alter.   „Bonjour Mademoiselle, was kann ich für sie tun?“   Ich zeigte ihr die Vollmacht vor um bat um das bestellte Tuch. Ohne Zögern lief sie in einen angrenzenden Raum und kam mit einem Päckchen zurück. Auf diesem stand der Name Madame Jeanne Bussie und reichte ihn mir. Lächelnd nahm ich ihn an und ging. Mit klopfenden Herzen ging ich hinaus. Es hatte funktioniert. Keine beleidigenden Blicke, keine Beschimpfungen, ich wurde angenommen wie jede andere normale Bürgerin. Auch der nächste Auftrag sollte ohne Begebenheiten von statten gehen.   Doch der nächste sollte sich nicht so einfach gestalten. Es war der Juwelier, der sein Misstrauen an mir auslebte.   „Sie wünschen?“, sagte er mit einer schnarrenden Stimme und beäugte mich misstrauisch von oben bis unten. „Ich würde gern das Collier abholen, für Madame Jeanne Bussie“, sagte ich und trat an den Tresen. „Bitte was?“, lachte er boshaft, „ein Drecksstück wie du? Nur weil du dich wie eine Bürgerin verkleidet hast, glaubst du du kannst dir alles erlauben? Diebespack wie du gehört ins Gefängnis. Woher hast du überhaupt das Kleid?“   „Was?... Monsieur, ich...“   „Oh warte nur, ich ruf die Police. Glaub ja nicht das du damit davon kommst“, sagte er und griff schon nach einem Hörer, der mir vom Tresen verborgen blieb.   Panisch und mit wild klopfenden Herzen lief ich zur Tür und öffnete sie.   „HEY, STEHEN BLEIBEN... POLICE!“   Weiter als zwei Schritte konnte ich nicht machen, denn der Kutscher der Diva versperrte mir den Weg. Mit einem aufmunternden Lächeln, schob er mich wieder hinein und legte eine Hand auf meine Schulter.   „Monsieur, ich bitte sie, rufen sie nicht die Police.“   „Wer sind sie?“   „Ich bin der Kutscher der Madame Jeanne Bussie und habe diese junge Dame hier, hierher gefahren, in Auftrag meiner Madame. Zu meinem Unmut habe ich beobachtet wie sie der jungen Dame bedrängt haben. Seien sie so nett und lassen sie sie ihren Auftrag ausführen. Sonst sehe ich mich gezwungen Madame Jeanne Bussie selbst davon zu unterrichten und sie wird nicht erfreut sein“, drohte der Kutscher sanft.   Man sah förmlich wie den vor Wut gefärbten roten Wangen des Juweliers, sich immer blasser färbten.   „Oh natürlich. Verzeiht Mademoiselle, mir war nicht klar, das...“, sagte der Juwelier, aber dennoch war seine Abneigung mir gegenüber nicht zu übersehen und so winkte er nur ab und ließ sich mürrisch von mir die Vollmacht geben, die er sehr gewissenhaft inspizierte. Dann sah er mich an, den Kutscher, und dann wieder auf die Vollmacht. Leise vor sich hin schimpfend lief er nach hinten und kam wie die anderen Zweien zuvor mit einem Päckchen zurück. Widerwillig übergab er mir das Päckchen.   „Bist du ihre Dienerin?“, fragte er und lächelte bei dem Gedanken das es so sein könnte.   „Nein!“, sagte ich bestimmt, riss ihm das Päckchen aus der Hand und lief hoch erhobenen Hauptes hinaus und setzte mich in die Droschke.   In der Droschke sitzend verkniff ich mir eine Träne. Ich war es ja mein lebenlang gewöhnt von Bürgern beschimpft zu werden und als Abschaum angesehen zu werden. Doch dieses Mal traf es mich wirklich hart. An dem Tag erkannte ich das ein Stück Papier nicht alles ändern konnte.   Madame Bussi war sehr zufrieden mit mir und steckte mir dankend zwei Franc in die Hand. Dann entließ sie mich, da sie noch einiges vor hatte und so lief ich wieder in unseren Pausenraum. Dort saßen Mafalda und Claudin, die etwas aufgelöst wirkte.   „Wo warst du die ganze Zeit?“, rief sie sogleich wütend. Sich ihre feuchten Augen trocken blinzelnd. „Du hast niemandem bescheid gesagt“, erklärte Mafalda ebenso wenig freudig.   „Ich musste für Madame Bussie Besorgungen erledigen“, sagte ich entschuldigend und zog mich hastig um, da ich noch einiges zu tun hatte.   „Und das sollen wir dir glauben?“, fragte Claudin bissig. „Wenn das noch einmal vorkommt, gehen wir zu Monsieur Personnel, mal sehen wie lange man dein Verhalten noch dulden wird“, giftete Claudin, stand auf und ging.   „Wollte sie wirklich etwas von dir?“, fragte mich Mafalda, offensichtlich war sie sich nicht sicher wem sie glauben sollte.   „Du kannst sie ruhig fragen“, sagte ich und band eine neue Schürze um meine Taille.   „Schon gut“, sagte Mafalda nur und ging ebenfalls hinaus.   An diesem Tag war ich noch lange beschäftigt, denn was ich heute nicht schaffte, würde ich morgen erledigen müssen und ich durfte mir so kurz vor der Premiere keine Fehler erlauben, alles sollte perfekt sein. Ich wollte nicht riskieren Rüge zu bekommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)