Der letzte Titel von Arle ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Beginn: 15.03.2012 Ende: 15.03.2012 Der letzte Titel Es regnete. Der Himmel war grau und der Wind trieb die Wolken vor sich her. Er musste von Norden kommen, so kalt war er. Und die Musik spielte. Wie lange noch? Er sah auf den kleinen Balken, der die Energiereserven des Geräts anzeigte. Ein schmaler Streifen Dunkelrot am linken Rand. Warnendes Blinken. Wie lange würde es noch reichen? Einen Song? Zwei Songs? Nur noch eine paar Minuten und das Gerät war am Ende. Genau wie er. Die Musik war so schön. Doch diesmal würde es kein Zurück geben. Solange die Musik noch spielte, das war die Abmachung gewesen. Der Regen schlug sacht gegen die Fenster. Das Geräusch der Stimme und der Instrumente verklang und ein neues Lied begann. Wieder hatte er einen Song überlebt. Wieder hatte sich sein Leben um ein paar Minuten verlängert. Am Himmel zogen graue Wolken vorbei und er meinte durch die Musik hindurch das Rauschen des Meeres zu hören. Biepbiep, machte das Gerät. „Biepbiep“, machte er und dann war alles still. Die Musik war verstummt und ließ ihn in einer Welt aus Leere und Dunkelheit zurück. Es war soweit. Er sah zum anderen Ende des Raumes, durch das Fenster hindurch auf den Balkon und darüber hinaus. Hier gab es kein Meer. Vor ihm ragte nur der nächste, große Häuserblock auf. Grau und trist. Wie der Himmel, wie dieses Zimmer, wie sein Leben. Aufladen, dachte er. Nur noch einmal aufladen! Noch mal die Energie zurückholen, der Anzeige beim wachsen zusehen und noch einmal von vorne anfangen. Bis zum letzten Titel. Er sehnte sich danach, wünschte es sich so sehr, aber es war zu spät. Die Batterien waren leer und er hatte nichts mehr, um den Akku aufzuladen. Es war nichts mehr übrig. Er zog die winzigen Kopfhörer aus den Ohren, löste das Gerät aus seiner Halterung und legte es mit einem leisen – Klack – auf dem Tisch ab. Langsam durchquerte er den Raum, stieß an eine Flasche die dort herumlag und trat auf Papiere, die wahllos im Zimmer verstreut lagen. Nur noch einmal aufladen, dachte er und öffnete die Balkontür. Er trat hinaus und fühlte den feuchten Boden unter seinen nackten Füßen. Kalter Wind schlug ihm entgegen und jagte durch die Häuserschluchten. Sechs Stockwerke ging es hier hinab, auf einen schmalen Streifen Grün. Er wandte das Gesicht seiner Wohnung zu und setzte sich, den Abgrund im Rücken, auf die Balustrade. Bei diesem Wetter würde niemand nach draußen gehen. Niemand würde es sehen. Nur noch einmal aufladen... Was, wenn jetzt jemand kam? Ein Nachbar, der Postbote, irgendjemand. Wäre das ein Zeichen? Würde er noch einmal von seinem Vorhaben abrücken oder würde er sich mit einem Lächeln in die Tiefe stürzen? Der Wind zog und zerrte an seiner Kleidung und die Welt um ihn herum schien zu schwanken. Und wieder meinte er das vertraute Rauschen des Meeres zu hören. Sie rufen nach dir, dachte er und eine tiefe Sehnsucht erfüllte ihn. Das Meer... Langsam verlagerte er seinen Schwerpunkt, lehnte sich über den Abgrund. Ein neues Geräusch zerriss die Stille und reflexartig setzte er sich wieder auf. Seine Finger umkrampften den Rand des steinernen Geländers. Nichts. Als wäre es nie da gewesen. Doch dann hörte er es wieder. Es war die Türklingel. Wer kam um diese Uhrzeit hierher? Ein verzweifelter Postbote, der ihn bitten würde ein Paket für irgendjemanden anzunehmen? Seine Familie kam nie hierher. Und die anderen... Was, wenn es Leo war? Ein Nachbar, ein ruhiger, stiller Typ, mit dem er sich angefreundet hatte. Die Leute mieden Leo, weil er diese Ahnungen hatte. Als könnte er den Menschen direkt ins Herz sehen. Deshalb hatte Leo Bekannte, aber keine Freunde. Leo machte sich nicht viel aus großen Worten, aber er beobachtete und hörte zu. Sie kannten sich noch nicht lange, aber sie begegneten sich manchmal auf dem Korridor und gelegentlich sahen sie sich zusammen einen Film an. Manchmal kam Leo einfach vorbei und sie setzten sich an den Küchentisch und tranken Kaffee. Er fühlte sich wohl in der Gegenwart dieses Mannes. Mit anderen Menschen musste man sprechen, mit Leo konnte man schweigen. Einfach dasitzen und schweigen. Er mochte Leo. Umso erstaunlicher war es, dass er noch nicht mit ihm geschlafen hatte. Mit wie vielen hatte er das getan? Wie oft war er zurückgewiesen oder einfach fallengelassen worden? Wie viele Beziehungen, wie viele Ehen hatte er zerstört, wie viele Menschen ins Unglück gestürzt auf der Suche nach der wahren Liebe? Nach den großen Gefühlen. Nach einem Menschen, der die alles verzehrende Sehnsucht in seinem Herzen stillen konnte. Wie viele waren ihm gefolgt, hatten sich von ihm mitreißen lassen, nur um ihn am Ende, als alles herauskam, wieder zu verstoßen? Er war es so leid, der Täter zu sein. Er war es so leid, das Opfer zu sein. Er war das alles so entsetzlich leid. Er würde diese Person niemals finden. Er war offenbar niemand, den man lieben konnte. Es klingelte erneut. Ach, wie schön wäre es, wenn es Leo wäre, dachte er und trat zurück ins Zimmer. Seine Füße hinterließen feuchte Spuren auf dem Teppich. Wie schön, wenn das letzte, das er in seinem Leben sehen sollte, das Gesicht dieses Mannes wäre. Es klingelte. Er sah zurück zum Fenster. Die Balkontür stand noch halb offen und der Wind ließ die Blätter wie Herbstlaub tanzen. Und in der Ferne erklang das Rauschen der Wellen. Er musste nicht öffnen. Es war alles bereit. Er musste es nur noch tun. Zurückgehen, sich auf das steinerne Geländer setzen und dem Wind folgen. Und all die Schmerzen, die Leere, die Sinnlosigkeit seines Daseins – all das würde verschwinden. Ein kurzer Moment der Schwerelosigkeit, der Freiheit und alles wäre vorüber. Es klingelte und er öffnete die Tür. Er musste den Kopf heben, um in das blasse, ausdruckslose Gesicht des jungen Mannes sehen zu können. Das kurzgeschnittene braune Haar war vom Wind zerzaust, die dunklen Augen suchten seinen Blick. „Hallo“, Leos Stimme klang so monoton wie immer. Leo. „Hey“, erwiderte er nach einigem Zögern und mit der Verlegenheit eines kleinen Schulmädchens. Schweigen breitete sich über sie wie ein weiches Tuch. „Kann ich reinkommen?“ Er wich dem Blick des Anderen aus. Seine Entschlossenheit geriet ins Wanken. Er hatte Leo gesehen, sogar seine Stimme gehört! Das musste genügen. „Tut mir leid, ich... es ist nicht aufgeräumt und ich habe noch etwas zu erledigen. Etwas Wichtiges.“ Er dachte an das Chaos in seinem Zimmer. An die Flaschen und die Papiere, die überall herumlagen. Leo sollte das nicht sehen. Vielleicht wusste es der Andere aus seinen Erzählungen, ihren Gesprächen, aber er hoffte, dass Leo bisher nur die geordnete Seite seines Lebens kennengelernt hatte. Und so sollte es auch bleiben. Schweigen. „Hast du was getrunken?“ Er lachte leise und freudlos. „Nur Wasser, ehrlich.“ Er sah Leo an und der Andere musterte ihn aufmerksam. „Tja dann. Wenn es nichts Wichtiges gibt, dann... Danke, dass du mal vorbeigeschaut hast.“ Leb wohl, Leo. Er war schon im Begriff die Tür zu schließen, als der Andere ihm einen kleinen Beutel hinhielt. Er erkannte den Aufdruck eines Elektronikfachgeschäfts, nicht weit von hier entfernt. Zögernd nahm er ihn entgegen. „Was ist das?“, fragte er und warf einen Blick hinein. Das... „Ein Ladegerät“, sagte Leo. Damit die Musik niemals aufhört, sagten seine Augen. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen und wischte sie hastig fort. Doch es hatte keinen Zweck. Sie wollten einfach nicht aufhören zu fließen. „Darf ich reinkommen?“, fragte Leo noch einmal und er unterdrückte ein Schluchzen. Er nickte und fuhr sich erneut mit der Hand über die Augen. „Ja.“ Leos Bild verschwamm vor seinen Augen, als die Tränen ihm die Sicht verschleierten. „Tut mir leid, ich...ich bin nur etwas überarbeitet. Bitte komm doch rein.“ Er spürte Leos Hand auf seiner Schulter, als dieser an ihm vorbei durch die geöffnete Tür trat. Der Andere verzog keine Miene als er in das Zimmer sah und er sagte kein Wort. Dann ging Leo durch den Raum, ohne auch nur im geringsten auf das Chaos um ihn herum zu achten, und schloss mit einer entschiedenen Geste die Balkontür. Dann kehrte der Andere zum Tisch zurück, hob das kleine Gerät auf und hielt es ihm hin. Zögernd streckte er die Hand danach aus. Er suchte nach Zorn oder Tadel in seinem Blick, aber er sah nichts dergleichen. Der Ausdruck in Leos Augen war so ruhig und unerschütterlich wie eh und je. Vorsichtig nahm er ihm den Player ab und sah sich suchend nach einer freien Steckdose um. „Passt es?“ „Hmhm“, erwiderte er, erleichtert und glücklich, als sich das kleine Gerät mühelos anstecken ließ. Musik erfüllte den Raum. Musik, die, solange nur der Strom durch die alten Kabel floss, nie mehr verklingen würde. Leo sagte nichts mehr und half ihm stattdessen, die verstreuten Papiere wieder einzusammeln. Nur ein einziges Mal hielt er inne, sah lange auf die kaum bedruckte Seite, die die Überschrift Testament trug, dann zerriss er sie langsam. „Du wirst ein neues schreiben müssen“, sagte der Andere und er spürte, wie wohlige Wärme sich in seiner Brust ausbreitete. Er würde es neu schreiben müssen. Und das bedeutete, er konnte jetzt noch nicht sterben. Der Andere hatte es einfach zerrissen, obwohl ein Teil seines bescheidenen Besitzes an ihn gegangen wäre. „Du brauchst mich nicht zu erwähnen. Ich will nichts von dir. Nicht, wenn du nicht mehr da bist.“ Leos Stimme klang leise, bewegt, so als kämpfe er mit heftigen Gefühlen, die er nur mühsam beherrschen konnte. Und er konnte nicht anders als zu weinen. Still und glücklich zu weinen. An diesem Tag blieb Leo bei ihm und als es an der Zeit war zu schlafen, machte es sich der Andere auf dem Sofa bequem und verschwand erst in den frühen Morgenstunden. Der nächste Tag war der 14. Februar. Die Wohnung war verlassen, doch vor seiner Tür fand er eine einzelne rote Rose in einer zarten Kristallvase. Der Himmel war aufgeklart, doch für den Abend hatte der Wetterbericht heftige Unwetter vorhergesagt. Der grüne Balken der Energieanzeige leuchtete ihm entgegen und die Musik spielte ohne Unterlass. Bis zum letzten Titel. Er betrachtete die Rose auf seinem Schreibtisch. Ob das Unwetter wohl Schaden anrichten würde? Würden es diesmal die Naturgewalten sein, die die Musik verstummen ließen? Würde es diesmal endgültig sein? Am Abend kam Leo vorbei. Er brachte Wein mit – und ein Notstromaggregat. ENDE Anmerkung: Die Inspiration für diese Geschichte war der Film „Der Liebeswunsch“. Ich habe leider nur die zweite Hälfte gesehen, aber die Szene in der die Hauptperson in einem Haus am Meer Musik hört hat mich aus irgendeinem Grund so beeindruckt, dass ich sie in einer eigenen Geschichte verwenden wollte. Im Film ist die Hauptperson kein Mann, sondern eine junge Frau und auch die Figur Leos ist frei erfunden. Vielen Dank für euer Interesse! *verbeug* Arle Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)