Limerance von Alyeskah (The initial thrill of falling in love) ================================================================================ Kapitel 1: Podlec ----------------- - A bad person who inspires hatred and contempt - 22. Februar 19:13 Er hat einen schönen Penis. Der Gedanke daran lässt mich nicht mehr los, seit ich aus Versehen ins Bad gegangen bin, als er unter der Dusche stand. Ich wurde ein bisschen rot, habe mich entschuldigt und bin raus und er fand es wahrscheinlich gar nicht so schlimm – beim Abendessen hat er sich ganz normal mir gegenüber verhalten. Aber Tatsache ist, dass ich in Chris verliebt bin, seit er und sein Vater Robert hier eingezogen sind… Weil Robert und meine Mutter eine gemeinsame Zukunft möchten. Meine Mutter! Seit meinem Vater, mit dem sie es erstaunlicherweise acht Jahre ausgehalten hat, hatte sie einen Freund nach dem anderen! Und alle sahen sie meinem Vater, diesem intoleranten Mistkerl, ähnlich. Er hat wortlos seine Sachen gepackt und ist gegangen, als ich mich geoutet habe und mittlerweile hören wir gar nichts mehr von ihm. Meinetwegen kann er wegbleiben, ich brauche ihn nicht. Aber Robert… Robert sieht so ganz anders aus. Er hat den Ansatz eines Bierbauchs, eine Halbglatze und strohige, braune Haare. Das einzig Schöne an ihm sind seine Augen. Rehbraun. Passend zu einem Nachnamen Rehberg. Er hat diese Augen an Chris vererbt, bei dem sie noch weitaus schöner aussehen… Genauso wie seine hellen Haare, bei denen ich mir immer noch nicht sicher bin, ob sie eher braun oder blond sind. Bevor ich jetzt zu schwärmen anfange, mache ich lieber meine Hausaufgaben. 20:47 Verdammt, es geht nicht. Er hat sich in meinem Kopf eingenistet und die hässlichen nackten Männer in meinem Biobuch machen es auch nicht gerade besser. Wenn ich sie sehe, muss ich an Chris‘ durchtrainierten Oberkörper denken… seine muskulöse Brust… und andere Stellen… Es ist schon lange her, dass ich um halb neun abends eine kalte Dusche gebraucht habe. Als ich in mein Zimmer zurückkomme, mit nichts als einem Handtuch bekleidet, sitzt er auf meinem Bett und grinst mich an. „Hey“, sagt er, „kann ich mir dein Biobuch ausleihen? Wenn ich morgen schon wieder ohne Hausaufgaben ankomme, verlangt Henning einen Kuchen von mir.“ Er verdreht die Augen angesichts seiner jungen Lehrerin. Aber ich mag sie. Sie wäre mir lieber als dieser Depp von Lehrer, den wir haben. Ich klemme das Handtuch fester unter meinem Arm fest, nehme das Buch und gebe es ihm. Schweigend. Ich glaube, wenn ich jetzt den Mund aufmachen würde, würde ich anfangen zu sabbern, so, wie er da auf meinem Bett sitzt. „Danke.“ Ich nicke und gähne, damit mir die Antwort erspart bleibt. Als er das Zimmer um 20:49 verlassen hat, dauert es eine Weile, bis ich mich anziehen kann. Seit zweieinhalb Wochen wohnt er hier, seit sechs Jahren gehen wir zusammen auf die Schule, er ist in meiner Parallelklasse. Seit einem Jahr interessiere ich mich für ihn. Und vor drei Wochen hat er mit seiner Freundin Schluss gemacht. 23:45 Ich kann nicht schlafen. Ständig muss ich an ihn denken… Er, auf meinem Bett… Wahrscheinlich würde ich von ihm träumen. Besser, ich bleibe wach und zeichne. 23. Februar 6:15 Mein Wecker hat geklingelt und ich fahre erschrocken zusammen. Offensichtlich bin ich doch eingeschlafen, in dieser unbequemen Position… Der Zeichenblock liegt noch auf meinem Schoß und das Blut schießt mir in die Wangen, als ich die Skizze erkenne. Natürlich ist es Chris. Mist. Mist, Mist, Mist, verdammter! Ich reiße das Blatt raus und will es eigentlich wegwerfen, aber ich entschließe mich dazu, es zu behalten. In meiner Schreibtischschublade. Der untersten, das ist nämlich die einzige, die ich abschließen kann. Ich bin gerade fertig, als es klopft und meine Mutter den Kopf zur Tür reinsteckt. „Frühstück ist fertig“, verkündet sie, „Wenn du noch Ei willst, solltest du dich beeilen.“ „Nein, danke. Ich habe irgendwie keinen Hunger“, antworte ich und beim Gedanken an ganz andere Eier fährt mein Magen wirklich Achterbahn. „Na gut.“ Sie zuckt mit den Schultern und geht wieder. Um 6:34 bin ich im Bad fertig und habe alle meine Schulsachen gerichtet. Rekordzeit. Um nicht zu den anderen zu müssen, mache ich noch schnell die Hausaufgaben. Oder versuche es zumindest. Na ja, wenigstens habe ich etwas. 7:10 Chris und ich laufen wie jeden Morgen zusammen zur Bushaltestelle. Und wie ebenfalls jeden Morgen sind wir spät dran – ich will nicht länger als nötig warten. Die Leute hier in der Stadt sind nicht sonderlich tolerant und ich muss mir des Öfteren bescheuertes Zeug nachrufen lassen. Aber heute haben sie es übertrieben. Ich merke, wie Chris sich anspannt, traue mich, in sein Gesicht zu sehen und folge seinem finsteren Blick. Auf der Wand hinter dem Wartehäuschen steht JULIUS MAIFELD = SCHWUCHTEL MISSGEBURT HURENSOHN ARSCHFICKER und noch einiges anderes, was ich nicht mehr lesen kann, in großen, blauen Buchstaben. Verdammte scheiße. Ich verkrampfe mich, zittere vor Wut. Da stehen sie, ich weiß, dass sie mich beobachten, sich köstlich über mich amüsieren. Diese verdammten Arschlöcher! Ich spüre, wie Chris an meinem Arm zieht. „Komm, wir gehen wieder. Mach dir nichts draus“, murmelt er. Wie eine Marionette bewege ich mich wieder in die Richtung, aus der wir kamen. Ich bemerke sie erst, als wir stehen bleiben und sie anfängt zu sprechen. „Mit sowas gibst du dich momentan ab, Chris?“, fragt sie angeekelt, „Ich erkenne dich ja gar nicht wieder!“ „Halt die Klappe, Lucy, du hast mich sowieso nie gekannt“, gibt er zurück und will weiterlaufen, aber sie verstellt uns den Weg. „Ich weiß alles über dich, mein Schatz, alles. Ich weiß, wie du es am liebsten hast und dass der da“ sie zeigt mit dem Kopf auf mich, „dir nie geben kann, was du willst. Was du brauchst.“ Sie wirft ihren blonden Lockenkopf zurück und lächelt ihn verschwörerisch an. „Es ist ganz natürlich, dass du ein bisschen… durch den Wind bist, jetzt, wo dein Vater mit der Mutter von diesem… diesem Typen zusammengezogen ist. Das ist nicht das richtige Umfeld für dich. Du solltest zu mir ziehen.“ Sie klimpert mit den Wimpern und ich will ihr die Fresse polieren. „Lass mich in Ruhe, Lucy“, faucht er, „Ich verstehe nicht, wie ich es so lange mit dir ausgehalten habe und bin, ehrlich gesagt, froh darüber, dass es vorbei ist. Also verzieh dich!“ Sie reißt erschrocken die Augen auf, fängt sich aber gleich wieder. „Mach keinen Fehler… Darling“, haucht sie, fährt beim Vorbeilaufen mit den Fingern über seine Jeans und gesellt sich zu den Idioten an der Haltestelle. Der Bus kommt, wir laufen weg. 7:30 „Was ist los?“, fragt Robert überrascht, als wir wieder zu Hause sind. „Ihm geht’s nicht gut“, antwortet Chris, „und ich dachte mir, bevor ihm was passiert, begleite ich ihn lieber.“ „Stimmt, dir war ja heute Morgen schon schlecht“, erinnert sich Robert, dass ich beim Frühstück nicht dabei war. „Ja… ich gehe am besten wieder ins Bett“, murmele ich, ohne einen der beiden anzusehen. Um 7:36 kommt Chris in mein Zimmer. Vorsichtig setzte er sich auf mein Bett, zögert, dann fragt er langsam: „Bist du wach?“ Ich grunze nur. „Weinst du?“ Ich antworte nicht. „Julius…“ Er seufzt. Ich drehe mich um, sodass er mein Gesicht sehen kann. Nein, ich heule nicht. „Was?“ „Sie haben übertrieben!“ „Ach was.“ Ich verdrehe die Augen und versuche, zu ignorieren, dass ich seine Wärme spüren kann. „Im Ernst, so kann das doch nicht weiter gehen!“ Langsam setze ich mich auf und funkele ihn an. „Seit dreieinhalb Jahren läuft das schon so. Man gewöhnt sich dran, okay?!“ „Weiß deine Mutter davon?“ Fast hätte ich aufgelacht. „Natürlich nicht!“ Aber spätestens, wenn sie an der Bushaltestelle vorbeifährt, wird sie es sehen. Auf dieses Gespräch, was garantiert folgen würde, kann ich liebend gern verzichten. „Du solltest mit jemandem reden“, sagt Chris ernst. „Mach ich gerade.“ Er stöhnt, steht auf und blickt auf mich herab. Ich verfluche mich dafür, dass ich seinem Blick nicht standhalten kann. „Dir ist wirklich nicht zu helfen. Ich gehe jetzt zur Schule. Bis nachher!“ Ich warte, bis er an der Tür ist, dann frage ich: „Warum willst du mir helfen?“ Aber er geht einfach und ich ziehe mir das Kissen über den Kopf. Jetzt, um 7:38 kommen die Tränen doch. Kapitel 2: Oneirophobia ----------------------- - A fear of dreams - 22. Februar 13:34 Chris kommt nach Hause und strotzt vor Wut. Er pfeffert seine Schultasche in eine Ecke und ich höre ihn durch die dünne Wand, die unsre Zimmer teilt, fluchen. Ein schlechtes Gewissen befällt mich. Was, wenn es Probleme in der Schule gab, weil er heute Morgen zu mir gehalten hat? Warum hat er das überhaupt getan? Die Folgen hätten ihm klar sein müssen, diesem Idioten! Er dreht Musik auf und irgendeine Metalband singt sich die Seele aus dem Leib. Robert reißt um 13:37 meine Zimmertür auf. „Es gibt Essen“, ruft er, um die Musik zu übertönen. Eigentlich habe ich keinen Hunger, aber ich will wissen, was mit Chris los ist. Ich bin vielleicht bald sein Bruder. Es ist also vollkommen normal, dass ich mir Sorgen um ihn mache. „Ich komme“, sage ich deshalb. Daraus, dass die Musik verstummt, schließe ich, dass er auch Chris zum Essen gerufen hat. Schnell stehe ich auf und gehe in die Küche. 13:53 Wir haben Kartoffeln und Schnitzel gegessen und Chris und ich machen den Abwasch. Robert ist weggefahren, er hat irgendein Vorstellungsgespräch. Hoffentlich bekommt er den Job, ich mag es nicht, dass er den ganzen Vormittag allein im Haus ist. Aber jetzt gibt es andere Probleme. „Was ist passiert?“, will ich wissen und mustere Chris. Ein Fehler. Schnell tauche ich meine Hände in das heiße Wasser. „Nichts“, antwortet er und schafft es sogar, einigermaßen normal zu klingen. Aber ich höre den angespannten Unterton aus seiner Stimme heraus. „Chris, verarsch‘ mich nicht.“ Ich verdrehe die Augen. Er seufzt und schweigt bis 13:55 und sagt dann: „Lucy. Sie ist passiert. Das Schrecklichste, was mir je passiert ist.“ Ich weiß nicht viel über dieses blonde Monster, nur, dass Chris und sie eine Zeit lang ein Paar waren, aber der Auftritt von heute Morgen hat mir schon gereicht. „Was war denn?“, frage ich darum vorsichtig. „Sie hat weiß irgendwoher die Kombination für meinen Spind und hat einen Haufen rosa Liebesbriefe reingestopft, die mir, als ich das Ding geöffnet hat, entgegengefallen sind“, erzählt er ärgerlich. „Oh.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch. So ein Miststück! „Das Schlimmste war noch, dass Svea daneben stand. Sie dachte natürlich gleich, dass zwischen Lucy und mir noch irgendetwas läuft und war ziemlich angepisst.“ Er schnaubt. … Svea? „Svea?“ Wer um alles in der Welt ist das schon wieder? Als ich sein verlegenes Grinsen sehe, ahne ich Schlimmes. Bitte, bitte nicht. Bitte nicht seine neue Freundin! „Ein Mädchen aus meiner Klasse. Sie ist erst seit diesem Jahr auf der Schule und ganz nett…“ Er zuckt mit den Schultern. „Und du bist in sie verliebt?“ Ich muss das Wort beinahe herauswürgen. Er gibt keine Antwort, aber ich kann sie mir denken. So ein Mist. Ich meine, ich weiß, dass er nicht schwul ist, dass wir verdammt noch mal vielleicht Geschwister werden – wenn auch nicht biologisch –, aber trotzdem… So ein Mist! „Sie hat sich gleich wieder beruhigt, aber die Aktion an sich war schon scheiße. Warum kann Lucy mich nicht einfach in Ruhe lassen?“ „Ich kann nicht verstehen, warum du jemals etwas mit ihr zu tun haben wolltest.“ Ich schüttele den Kopf über so diese Dummheit und bin richtig froh, dass ich mit Mädchen auf diese Art nichts anfangen kann. Er stöhnt auf. „Ich doch auch nicht. Ich habe keine Ahnung, was mich damals geritten hat. Vor allem, wenn ich sie mit Svea vergleiche!“ Ich kann Svea nicht ausstehen. 23. Februar 7:14 Die Straßen sind glatt und rutschig und ich muss verdammt gut aufpassen, als ich zur Schule laufe. Alleine. Chris hat erst später Unterricht und sein Angebot, trotzdem mit mir zur Haltestelle zu gehen, habe ich abgelehnt. Da setze ich mich doch lieber allein dem morgendlichen Theater aus, als länger als nötig mit ihm zusammen zu sein. Haben diese Leute, die hier in der Straße wohnen eigentlich noch nie etwas von Streusalz gehört!? Ich entdecke meinen besten Freund Sam und laufe auf ihn zu. „Hey“, sage ich und umarme ihn kurz, „dir geht’s also wieder besser?“ Er lag wegen einer Operation im Krankenhaus und zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich ihn nicht gerade oft besucht habe. „Ja, alles wieder gut. Und wie geht es dir?“ Er nickt zu angekritzelten Wand. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich es total verdrängt. Vielleicht habe ich unterbewusst auch gedacht, dass es heute weg sein wird. Warum? Keine Ahnung. Ich muss daran denken, wie cool Chris gestern reagiert hat, einer der wenigen, die so handeln würden… Verdammt! Ich zucke mit den Schultern. „Geht so.“ „Wenigstens verkriechst du dich nicht zu Hause“, meint er tröstend, „sondern zeigst diesen Vollidioten, dass du dich von sowas nicht unterkriegen lässt.“ Wenn der wüsste. 14:45 Drehe ich jetzt völlig durch? Gerade eben habe ich Sam von meinen bescheuerten Gefühlen Chris gegenüber erzählt und alles, was er dazu zu sagen hatte, war: „Oh. Scheiße.“ „Ja“, stimme ich zu, „Scheiße.“ Wir sitzen hinter der Schule auf der Bank, Sam raucht eine Zigarette, weil er verzweifelt versucht, abzunehmen und weniger zu essen und warten auf den nächsten Bus. Ich weiß nicht, wann Chris aus hat und es ist mir eigentlich auch egal – Hauptsache, nicht jetzt. Ich gehe ihm aus dem Weg, mit noch mehr Mühe, seit ich ihn vorhin in der Pause gesehen habe, als er bei seinen Freunden stand und gelacht hat. Missmutig kicke ich Steinchen herum und starre Löcher in die Luft. Seit wann bin ich in der Lage, so zu fühlen? 27. Februar 6:48 Noch immer geht mein Atem stoßweise und mein Herz hämmert wie verrückt. Ich muss mich stark zusammenreißen, um meine Zimmertür nicht hinter mir zuzuschlagen und kralle die Hände in meine Haare. Ganz ruhig, Julius, ganze ruhig. Tief durchatmen. Tief… durchatmen. Ah. Ich setze mich auf meinen Schreibtischstuhl, stoße mich mit den Füßen vom Boden ab, sodass ich mich drehe und schließe die Augen. Ein Fehler. Sofort schießen mir die Bilder meines Traums wieder durch den Kopf, gnadenlos, pfeilschnell und unglaublich treffsicher, weshalb ich sie wieder aufreiße. Aber das macht es auch nicht besser. Mein Blick wandert zu meinem Bett, das Laken ist verschwitzt, die Decke zerwühlt und dass Kissen zusammengeknüllt. Nichts, was sich nicht beheben lässt. Zunächst aber ziehe ich mir etwas an. Die kalte Dusche hat zwar gut getan, trotzdem fühle ich mich irgendwie… schmutzig. Unrein. Ich dachte, das Gefühl geht mit dem duschen weg, habe meinen Körper so fest abgerubbelt, dass er ganz rot ist, aber dennoch… Der Schmutz kommt eher von Innen und lässt sich nicht einfach so abspülen. Ich würde mir gern die Haut abziehen. Seufzend mache ich mein Bett und werfe mich dann darauf. Ich schnappe mir ein kleineres Kissen, presse es auf mein Gesicht und drücke, drücke, drücke. Vielleicht ersticke ich ja. Aber nach einer Minute protestieren meine Lungen und ich werfe das Kissen gegen die gegenüberliegende Wand. Dann springe ich auf, laufe in diesem kleinen Raum umher und weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Noch einmal einschlafen kommt nicht in Frage, obwohl e Samstagmorgen ist – und ich sonst ein richtiger Langschläfer bin. Ich kralle mir die Fingernägel in die Kopfhaut, reiße einige Haare aus und setze mich wieder auf den Schreibtischstuhl. Das Ding ist toll. Dann fahre ich meinen Computer hoch. Seit vier Tagen schaffe ich es, nicht öfter als nötig in Chris‘ Nähe zu sein und trotzdem hat er mir einen solchen Traum beschert. Ich muss stärker werden. Mit zusammengebissenen Zähnen durchforste ich meine Dateien, bis ich gefunden habe, was ich suchte: Die Fotos von seinem sechszehnten Geburtstag. Es sind an die hundert, aber ich schaue sie mir alle an. Chris ist auf den meisten zu sehen, lachend, mit funkelnden Augen. Ein Bild zeigt ihn mit Lucy, als sie sich küssen. Nein, es ist kein Kuss, sie steckt ihm die Zunge in den Hals. Bevor mir schlecht wird, lösche ich es lieber. Nur zwei sind von uns beiden, weil ich eigentlich die Fotos geschossen habe, aber es sind zwei gute: Auf einem umarmen wir uns – freundschaftlich – und ich schaue über seine Schulter in die Kamera. Mein Blick ist schwer zu deuten, einerseits glücklich, aber auf der anderen Seite meine ich, einen Schatten in meinen Augen zu erkennen, der dort nicht hingehört. War ich damals schon verliebt in ihn? War ich aufgeregt, weil ich ihn umarmt habe, hatte ich Hintergedanken, weil ich mehr als Freundschaft für ihn empfunden habe? Damals waren meine Mutter und sein Vater nur lose Bekannte und wir gingen nur zusammen zur Schule… Erschreckend, wie viel sich in einem Jahr ändern kann. Das zweite Foto zeigt uns nebeneinander beim Essen holen. Es war ein ziemlich warmer Winter und er hat eine Grillhütte gemietet. Zunächst war ich wegen der Jahreszeit schon etwas skeptisch, aber es hat Spaß gemacht. Ich kopiere das erste Bild in meinen persönlichen Fotoordner und gruppiere die anderen, bevor ich sie ihm per Mail zuschicke. Warum habe ich das eigentlich nicht schon früher gemacht? Ich kann mich nicht erinnern, dass er die Bilder je haben wollte… Hm. Na ja, ist ja auch egal. Mittlerweile ist es 7:20 und langsam fühle ich mich in meiner Haut wieder wohl. Die Feuerprobe ist überstanden. Ich fahre den PC wieder runter und lehne mich zurück. Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich rein gar nichts. 9:00 „Danke für die Bilder“, sagt Chris und grinst mich an, „manches hatte ich wirklich schon vergessen. Aber sie sind gut geworden, du kannst echt gut fotographieren.“ „Danke.“ Anscheinend hat er schon in sein Postfach geschaut. „Svea fotographiert auch gerne. Ich glaube, ihr würdet euch gut verstehen.“ Ich verschlucke mich an meinem Brötchen. Erstens habe ich seit einem dreiviertel Jahr keine Kamera mehr in den Händen gehabt – das war nur eine Phase – und zweitens kann ich Svea ja auch nicht ausstehen. Bevor ich mehr in seine Worte hineininterpretieren kann, zupfe ich meine Haare zurecht, reiße dabei ein paar aus und lasse sie fallen. Hunger habe ich keinen mehr. 16. März 17:43 Seit sechzehn Tagen habe ich die Feuerprobe überstanden. Und ich gehe Chris immer noch so oft wie möglich aus dem Weg. Die Wand, an der die Beleidigungen standen, wurde neu gestrichen und ich hatte bisher insgesamt einen ziemlich ruhigen März – zur Abwechslung ist es Lucy, über die geredet wird. Sie verträgt die Trennung von Chris überhaupt nicht und hat noch ein paar nervige Sachen gemacht, die ihn regelmäßig auf die Palme bringen. Mir ist das aber relativ egal. Trotzdem kann ich nicht behaupten, dass es mir gut geht. Seit meinem… Traum… habe ich mir irgendwie angewöhnt, mir selbst die Haare rauszureißen, wenn ich mit Chris an einem Tisch sitze, habe ich kaum Hunger, aber dafür stopfe ich mich später mit Schokolade voll und habe eine Kiste Wasser neben dem Bett stehen, weil ich nachts nicht mehr aufstehen und in die Küche laufen kann, wenn ich Durst habe. Aus dem einfachen Grund, dass ich nicht an seinem Zimmer vorbei will, wenn er darin liegt und schläft. Ich sitze gerade am Computer und probiere Sams neues Ballerspiel aus, als es klopft und Chris den Kopf zur Tür reinsteckt. Er schaltet das Licht ein und ich muss die Augen zusammenkneifen, weil ich geblendet werde. Aus dem Geräusch, das der Rechner von sich gibt, schließe ich, dass ich Game Over gegangen bin. „Was?“, fauche ich und drehe mich um. Er wirkt verlegen, irgendwie auch ein bisschen unsicher, wie er da steht und sich am Kopf kratzt. Sofort überkommt mich ein ungutes Gefühl. „Ich will dir … jemanden vorstellen“, sagt er schließlich. Meine Augenbrauen fliegen in die Höhe. „Wen?“ Chris wechselt ein paar Worte mit jemandem, der hinter ihm steht, dann tritt ein blondes Mädchen hervor. Sie lächelt mich an. Es ist ein aufrichtiges Lächeln, dass ihre blauen Augen leuchten lässt und Grübchen hervorzaubert. „Das ist Svea. Meine Freundin“, erklärt Chris und strahlt genauso. Mir ist schlecht und ich starre sie solange an, bis das Lächeln verschwindet und sie einen verwirrten Blick zu Chris wirft. Der verzieht das Gesicht und dann gehen sie händchenhaltend aus meinem Zimmer. Es ist 17:47 und ich will schlafen. Am liebsten für immer. xXx Hey! Sorry, dass es so lange gedauert hat, aber meine Beta war letzte Woche nicht da und bis jetzt habe ich nichts von ihr gehört... Aber weil ich weiß, wie blöd es ist, wenn bei einer neuen Story nach dem ersten Kapitel ewig lang nichts folgt, stelle ich es doch schon jetzt rein... Verzeiht mir, falls es größere Fehler geben sollte, die korrigierte Version wird so bald wie möglich drübergelegt. ^^" Kapitel 3: Comprivigni ---------------------- - The relation of a child to its step-sibling - 16. März 20:30 Es ist der Hunger, der mich aus dem Zimmer in die Küche treibt. Was ich nicht erwartet habe, ist, dass Chris vorm Kühlschrank steht. Sollte der nicht eigentlich mit Svea sonst was machen!? Ich habe vor, mir ein Brötchen zu schnappen und wieder zu gehen, aber er hält mich am Arm fest. „Warte mal“, bittet er mich. „Ich muss mit dir reden.“ Widerwillig bleibe ich stehen, sein Gesicht sieht irgendwie gequält aus. Oh Mann. „Du magst Svea nicht“, fängt er vorsichtig an. „Muss ich auch nicht. Sie ist deine Freundin, du musst sie mögen.“ „Aber wir wohnen zusammen, sind so gut wie Brüder und sie wird demnach auch öfters mal hier sein!“, beharrt er. „Es wäre von Vorteil, wenn du sie auch mögen würdest. Warum eigentlich nicht?“ Ich zucke mit den Schultern. „Es gibt eben Menschen, die sieht man und findet sie gleich unsympathisch. Sie hat mir ja nichts getan“ – außer, dass sie mit Chris zusammen ist, aber fairerweise muss ich einräumen, dass sie von mir keine Ahnung hat – „und ich kenne sie nicht richtig. Ich bleibe eben in meinem Zimmer, wenn sie hier ist… oder gehe raus.“ Ist ja nicht so, dass ich nicht auch Freunde hätte. „Außerdem verstehen wir uns ja vielleicht später noch“, füge ich hinzu, weil er immer noch so verletzt schaut. Aber eher gefriert die Hölle. Er sieht mich zweifelnd an und ich seufze. „Ich gebe mir Mühe, okay?!“ Werde ich nicht. Warum sage ich das dann? „Sei nett zu ihr“, bittet er mich. Ich verdrehe die Augen. „Ja ja.“ „Hey, ich weiß, was das heißt!“ Ich grinse und will gehen, aber er dreht mich, klemmt mir den Kopf unter den Arm und zerstrubbelt meine Haare. „He, meine Frisur!“ Ich lache und trete nach ihm, aber er weicht aus. „Welche Frisur?“, fragt er spöttisch. „Die, die bald aufgrund zu weniger Haare nicht mehr existieren wird? Wo auch immer man hier hingeht, überall findet man rote Haare!“ Das gibt mir einen kleinen Stich, aber ich bin gerade auf unerklärliche Weise glücklich und lasse mir nichts anmerken. „Sammle sie und klebe sie dir an, vielleicht hilft es ja was“, gebe ich zurück und fange mir die nächste Kopfnuss. Warum muss ich nur kleiner sein als er? Ich habe mir gerade eine Flasche genommen und ihn damit gehauen, als meine Mutter in die Küche kommt. „Was treibt ihr denn hier?“, fragt sie verwundert. „Geschwisterliebe“, antwortet Chris lachend und schneidet eine Grimasse in meine Richtung. Ich strecke ihm die Zunge raus und gehe endlich, wobei ich aus den Augenwinkeln sehe, wie er mir den Mittelfinger zeigt. 17. März 0:03 Aus irgendeinem Grund bin ich total hibbelig und kann nicht schlafen. Von draußen höre ich den Wind in den Bäumen rascheln. Vielleicht gibt es diese Nacht noch ein Unwetter. Ich nehme meine Kopfhörer, lausche der Musik und versuche, nicht nachzudenken. Aber ich spüre Chris‘ warme Hand noch immer in meinen Haaren. 6:16 Chris ruft nach mir. Zerstreut schlage ich die Augen auf, frage mich, was für einen Traum ich denn diesmal hatte und finde mich zuerst gar nicht zurecht. Mein iPod ist im Laufe der Nacht auf den Boden gefallen, irgendwann muss ich wohl doch eingeschlafen sein. Ich hebe ihn auf, er hat ein paar Kratzer, aber mehr nicht davon getragen. „Julius, komm mal bitte“, höre ich seine Stimme durch die Wand. Ich habe mich also nicht getäuscht. Ein bisschen irritiert gehe ich in sein Zimmer und finde ihn auf dem Boden, an das Bett gelehnt, sitzend vor. Er ist kreidebleich im Gesicht und starrte etwas in seinen Händen an, das wie eine gepresste Rose aussieht. Als ich die Tür schließe, schaut er auf, aber ich glaube, er nimmt mich gar nicht richtig wahr. „Was ist denn los?“ Ein süßlicher Geruch liegt in der Luft und ich verziehe das Gesicht. Viel zu süß. Wortlos hält er mir einen Umschlag im DinA4-Format hin. Ich öffne ihn und ziehe ein blütenweißes Blatt hervor, auf dem zwei Worte in großen, roten Buchstaben stehen: WAHRE LIEBE Das Blatt riecht ein bisschen nach diesem Duft, aber er geht mehr von der Rose aus, die Chris mir gerade gibt. Sie ist zwar wirklich zusammengepresst, sodass sie in den Umschlag passt, steht aber in voller Blüte und hat seltsamerweise keinen Abdruck auf dem Papier hinterlassen. Erst jetzt erkenne ich, dass die Buchstaben nicht mit einem Stift geschrieben worden sind, denn auf den Dornen der Rose befindet sich in abgedunkelter Form auch rote Farbe. Mir schwant Böses und Chris spricht meine Gedanken aus: „Blut.“ Daraufhin schweigen wir erst einmal bis 6:20, dann frage ich ihn, ob er denkt, dass diese Nachricht von Lucy sei. Er bejaht. „Die ist verrückt“, murmelt er, „vollkommen geisteskrank.“ Ich muss ihm zustimmen, daran gibt es nichts auszusetzen. „Hat sie den Umschlag durch das Fenster geworfen?“ Er nickt. „Wahrscheinlich. Ich habe das Fenster immer gekippt. Aber gemerkt hab ich nichts.“ Ich seufze und er starrt wieder die Rose an. „Ich fasse es nicht“, flüstert er und zittert plötzlich. „Sie hat sich gestochen, um mit Blut zu schreiben!“ „Hey“, sage ich sanft und lege eine Hand auf seinen Arm. Er lehnt sich an mich und ich umarme ihn. Ohne Hintergedanken. Er ist wie ein Bruder für mich und ich tröste ihn… 6:22 Zumindest sollte es so sein. Aber ich habe mich einfach nicht im Griff. Seine hellen Haare sind verdammt weich und er riecht gut, nicht nach diesem grässlichen Geruch. Am liebsten würde ich so mit ihm sitzen bleiben. Was sagt das jetzt über mich aus? 6:25 Er bewegt sich wieder. „Danke“, murmelt er. „Kein Ding.“ Jeder Zeit wieder. „Sagst du deinem Vater etwas davon?“ „Nein.“ Wieder ganz der Alte. Er nimmt den Umschlag, stopft Blatt und Rose hinein und wirft ihn in den Mülleimer. Hm, so einen könnte ich auch mal in meinem Zimmer gebrauchen… „Aber in letzter Zeit belästigt sie dich doch dauernd.“ „Belästigt“, wiederholt er und schnaubt. „Ich weiß, dass das komisch klingt. Aber es ist nun mal Belästigung. Eigentlich kann man so etwas anzeigen!“ „Nein!“, sagt er hart. „Okay, okay, wie du willst“, gebe ich nach. „Aber wenn sie weiter macht, solltest du etwas dagegen unternehmen. Wie du schon gesagt hast, sowas ist nicht normal!“ „Ich weiß.“ „Versprichst du mir, beim nächsten Mal mit deinem Vater oder meinetwegen auch meiner Mutter zu reden? Oder meinetwegen auch jemand anderem?“ „Ich verspreche dir gar nichts.“ Plötzlich sieht er wütend aus. Was habe ich falsch gemacht? Ich will ihm doch nur helfen! Und Lucy hat echt nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ich schließe kurz die Augen, zähle bis zehn und öffne sie wieder. Dann stehe ich auf. Er knirscht mit den Zähnen. „Tut mir leid. Aber ich will erst mal selbst mit dem ganzen Mist klarkommen, okay?“ Nein, nicht okay! Überhaupt nicht okay! Drei Wochen sind einundzwanzig Tage zu viel! Wer weiß, was da noch alles kommt? Aber ich sage nichts, sondern nicke nur und gehe. 8:30 Wir sitzen beim Frühstück und Chris verhält sich ganz normal. Bewundernswert, wie er das schafft… Als ich vor einiger Zeit Hass- und Drohbriefe bekommen habe, hat mir das ziemlich zu schaffen gemacht. Aber er nimmt es richtig locker und ich frage mich, ob das vielleicht ein Fehler ist. Aber Robert und meine Mutter merken nichts, sie sind viel zu aufgedreht. „Erinnert ihr euch an mein Vorstellungsgespräch von letztem Monat?“, fragt Robert und vergewaltigt sein Ei, indem er es immer wieder auf den Tisch haut, obwohl die Schale schon so gut wie kaputt ist. Wir bejahen und er grinst stolz. „Gestern Abend kam die Mail, dass sie mich toll finden und ich morgen zusammen mit zwei anderen nochmal kommen soll. Sie entscheiden sich dann für einen von uns, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Job bekomme.“ „Das ist ja toll, Papa!“ Okay, ein bisschen merkt man es ihm schon an. Er ist nicht ganz so enthusiastisch wie ich mich wohl an seiner Stelle fühlen würde. „Nicht wahr?“, stimmt er begeistert zu. „Gibt es noch Kaffee, Alessa?“ Meine Mutter schenkt ihm lächelnd von der dunklen Brühe nach und wirft ihm verliebte Blicke zu. Warum bin ich eigentlich der Einzige in diesem Haus, der nicht vergeben ist? „Wenn alles gut geht, fange ich ab dem fünfundzwanzigsten auch schon zu arbeiten an.“ „Herzlichen Glückwunsch“, sage ich. Ich habe keinen blassen Schimmer, als was er arbeitet. Aber um 8:53 erfahre ich es, als er seine Eltern anruft. „Es ist ein größeres Architektenbüro als das, in dem ich vorher gearbeitet habe, ja. Aber deswegen ist es bestimmt trotzdem gut!“ Oh, ein Architekt? Ich könnte ihm mal ein paar kaputte Stellen im Haus zeigen, die mich des Öfteren mal aufregen. „Nein, Mutter, du musst dir keine Sorgen machen, es ist ein ganz normaler Arbeitsplatz… Es war eher eine Ausnahme, dass du alle meine vorigen Kollegen gekannt hast, aber die neuen sind bestimmt auch nett… Ja… Okay. Guten Appetit! Tschüss.“ Ausatmend legt er auf, sieht mich im Türrahmen stehen und schmunzelt. „Wenn du mal einen Job hast, werde ich kein Theater wegen deiner Kollegen machen, versprochen.“ Erstens ist er nicht mein Vater, weshalb mir seine Meinung egal sein kann und zweitensweiß ich nicht mal, als was ich arbeiten will. Vielleicht Maler, wie meine Mutter. Und dann hätte ich keine Kollegen. Außerdem hat er den Arbeitsplatz noch nicht mal. Wie kann er dann jetzt schon so darüber reden, als würde er morgen anfangen? Trotzdem lächele ich ihn an, als würde ich mich für ihn freuen. Kapitel 4: Inparlibidinous -------------------------- - Pertaining of the love of one person for another who does not love them - 23. März 16:00 „Wie lange willst du noch hier stehen?“, fragt Sam genervt. „Sch!“, mache ich und gebe ihm einen Klaps auf die Hand – das Körperteil, das mir am nächsten ist. Aber er hat schon recht, das ist ziemlich erbärmlich. Wir stehen hier hinter der Tür und beobachten Chris und Svea (besser gesagt, ich beobachte sie, Sam hat sich demonstrativ weggedreht), die sich ursprünglich nur rasch verabschieden wollten. Chris und ich hatten vor, heute einkaufen zu gehen, weil sein bester Freund Dennis nächstes Wochenende seinen Geburtstag nachfeiert und überraschenderweise auch mich eingeladen hat. Eigentlich hatte er schon am 17. gehabt, aber zu dem Zeitpunkt war er aus welchem Grund auch immer in Hamburg. Ich muss zugeben, ich habe nicht richtig zugehört. Jedenfalls warte ich seit geschlagenen zehn Minuten darauf, dass die beiden endlich fertig werden. „Wie zum Teufel kann man sich so lange küssen?!“, zische ich und hoffe, dass Svea wegen Sauerstoffmangels erstickt. Sam wirft mir einen eigenartigen Blick zu. „Du bist ziemlich eifersüchtig, weißt du das?“ Ach was. Ich gebe einen grunzenden Laut von mir und fahre mir durch die Haare. Wenn das so weitergeht, habe ich wirklich bald keine mehr auf dem Kopf. Mein angeblich bester Freund schüttelt entsetzt den Kopf. „Begehst du jetzt Selbstverstümmelung? Seinetwegen? Um Himmels Willen, Julius!“ „Was soll ich denn machen?“, brumme ich schlecht gelaunt. „Reingehen und Tür schließen?“, schlägt er frostig vor. Wahrscheinlich ist die Idee gar nicht so schlecht. Aber ich kann meinen Blick nicht von den beiden losreißen. Sam deutet meinen verwirrten Gesichtsausdruck, zieht mich ins Haus und schlägt die Tür so laut zu, dass ich zusammenzucke. Aber Chris und Svea lassen sich nicht unterbrechen. 16:30 Endlich – endlich! – sitzen wir in der überfüllten Straßenbahn, auf dem Weg ins Stadtzentrum. „Was sollen wir überhaupt kaufen?“, frage ich auf einmal. Der Gedanke, dass ich ja ein Geschenk aussuchen muss, kommt mir seltsamerweise erst jetzt. Momentan habe ich es wohl nicht so mit dem Denken… Aber ich kenne Dennis kaum und habe keine Ahnung, was er mag. Mir fällt gerade nicht einmal ein, wie er aussieht. „Ich schenke ihm ein Videospiel.“ „Ah. Cool.“ Ganz toll. Er mag also Videospiele. Dumm nur, dass die Dinger immer so überteuert sind… Als könnte er in meinen Kopf schauen, grinst er mich an. „Wird schon.“ Ich bin verwirrt. 16:48 Ich habe mich entschieden, so ein Zubehörteil für Chris‘ Spiel zu kaufen. Wie gesagt, ich habe nicht viel mit Dennis zu tun, also sind fünfzehn Euro wohl genug. Wir bezahlen und als wir aus dem Kaufhaus treten, entdecke ich den Zettel, der hinten an seiner Jacke klebt. LIEBE HAT FOLGEN In roten, großen Buchstaben. Für einen Moment wird mir schlecht, dann springe ich nach vorne und reiße das Blatt vielleicht heftiger als nötig ab. Chris gerät kurz ins Straucheln, fängt sich und dreht sich irritiert zu mir um. „Was sollte das?“, fragt er mit verärgertem Unterton in der Stimme. Stumm halte ich ihm den Zettel hin. „ ‚Liebe hat Folgen‘? Was soll das denn heißten?“ „Dass Lucy in der letzten Viertelstunde in der Nähe war.“ Ich mustere die Schrift genau und zu meiner Erleichterung wurde der Text mit rotem Filzstift geschrieben. „Lass uns nach Hause gehen“, sagt er und wird blass. Plötzlich hat er es eilig. Aber ich kann ihn verstehen. Unterwegs knüllt er das Blatt zusammen und wirft es in einen Mülleimer. Ich fische es wieder heraus und schiebe es unbemerkt in meine Jacke. 17:03 In Rekordzeit sind wir wieder daheim, Chris verzieht sich gleich in sein Zimmer und überlässt mir die Aufgabe, mit meiner Mutter zu reden. „Ja, es ist alles okay. Es geht ihm nur nicht gut“, versuche ich, sie zu beruhigen. Warum eigentlich? Gott, bin ich dumm. Ich sollte ihr einfach die Wahrheit sagen! Schließlich ist Lucy anscheinend nicht ganz zurechnungsfähig. Aber Chris würde mich hassen… Und wenn ich nichts sage, könnte noch mehr passieren. Verdammt! Warum sagt mir niemand, was ich machen soll? 17:15 Ich habe das Blatt in meiner Schreibtischschublade versteckt und stehe jetzt unschlüssig in Chris‘ Zimmer. Man sieht ihm deutlich an, dass es ihm nicht gut geht und ich ertappe mich dabei, wie ich mich danach sehne, ihn zu trösten. Als baldiger Bruder ist es doch meine Aufgabe, für ihn da zu sein! Ich beiße mir auf die Zunge und verfluche mich. Wie tief würde ich sinken, wenn ich seine Situation für mich ausnutzen würde? „Sag niemandem etwas“, bittet er mich schon wieder. „Warum? Du hast versprochen, es beim nächsten Mal – also jetzt – zu erzählen! Chris, das wird alles schlimmer als besser!“, versuche ich, ihn zu überzeugen. Aber vergeblich. „Nein“, sagt er bestimmt. Seufzend füge ich mich seinem Willen. 23:44 Ich habe ein schlechtes Gewissen und kann nicht schlafen. 23:50 Ich hasse mich. 24. März 5:30 Jemand ist draußen. Wie von der Tarantel gestochen fahre ich hoch, renne an mein Fenster und reiße es auf. Aber alles, was ich noch sehe, ist, wie jemand wegläuft. Es ist noch zu dunkel, um viel zu erkennen. Schnell verlasse ich das Haus und finde auf dem Treppenansatz ein Paket vor. Ich öffne es vorsichtshalber schon draußen, obwohl es mit Sicherheit für Chris ist. Ein herzförmiger Kranz kommt zum Vorschein und erst beim zweiten Mal erkenne ich, dass es Haare sind. Rote Haare. Ich bin zwar kein Friseur, aber ich nehme an, dass sie echt sind… Angeekelt lasse ich sie zurück in den Karton fallen und hole den Brief heraus. Es ist noch dunkel, aber auf der Fensterbank der Küche, die neben dem Flur ist, liegt Roberts Feuerzeug. Meine Mutter beordert ihn zum Rauchen nach draußen, was sowohl Chris als auch ich gut finden. Im Schein der kleinen Flamme kann ich lesen, was auf dem Blatt steht: FÜR DICH WÜRDE ICH ALLES MACHEN Es ist die gleiche Schrift, aber zum ersten Mal kommen mir Zweifel, ob es Lucy war. Sie hat blonde Locken und keine glatten, rote Haare. Wenn ich jetzt aber diese Worte ernst nehme… hat sie jemandem die Haare abgeschnitten? Heilige Scheiße. Ich klemme mir das Paket angeekelt unter den Arm. Besser, Chris erfährt davon, bevor der Rest der Hauses aufwacht. 5:40 Er ist wunderschön, wenn er schläft. Ich ertappe mich dabei, wie ich ihn anstarre. Ein paar längere Haarsträhnen hängen ihm ins Gesicht und ich frage mich, ob sie ihn kitzeln. Meine Haare sind zwar länger als seine, aber trotzdem können sie seine Augen bedecken. Ich beuge mich über ihn, aber selbst jetzt kann ich nicht eindeutig sagen, ob seine Haare blond oder hellbraun sind. Aber weich sind sie allemal. Ob das auch für seine leichtgeöffneten Lippen gilt? Vielleicht sollte ich Svea fragen. Die kam gestern ja lange genug in den Genuss. Oder Lucy. Dann kann ich auch gleich nachhaken, was dieser ganze Mist hier soll… Um 5:43 bewegt er sich und wacht auf, wobei er ein paar Mal blinzelt, eher er seine Augen ganz öffnet. Vielleicht hätte ich das Licht erst mal auslassen sollen. Sein süßer, verschlafener Blick wird zu einem verwirrten, als er mich sieht. „Julius? Was ist los? Warum stehst du an einem Sonntagmorgen so früh in meinem Zimmer?“ Ich knabbere auf meiner Unterlippe herum. „Da ist ein Paket gekommen… Ich bin mir sicher, dass es für dich ist und dachte mir, es wäre gut, wenn Mam und Robert noch nichts davon mitbekommen.“ Sofort ist er hellwach. „Von Lucy?“ „Sieht so aus.“ Ich beobachte ihn, während er sich die Sachen anschaut und seine Augen immer schmaler werden. Aber bevor er etwas sagen kann, frage ich: „Glaubst du, sie hat die Haare in einem Friseursalon geklaut oder jemandem abgeschnitten?“ „Ihre Schwester hat lange rote Haare“, flüstert er mit erstickter Stimme. „Gehabt“, ergänze ich und frage mich im Stillen, wie verrückt ein Mensch eigentlich sein kann. Wir schweigen bis 5:50 und gerade als ich ihn wieder dazu drängen will, jemandem davon zu erzählen – es muss ja nicht mal die Polizei sein –, sagt er: „Ich rede morgen mit ihr.“ „Mit wem?“ So ganz kommt der Sinn seiner Worte in meinem Unterbewusstsein nicht an. Er sollte aufhören, sich die Haare zu kämmen. So durcheinander sehen sie besser aus. „Lucy. Gleich morgen, in der Schule.“ Ich erstarre. „Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“ Er zuckt mit den Schultern. „Ich glaube eigentlich kaum noch etwas…“ Kapitel 5: Razbliuto -------------------- - The feeling one has about a person they onced loved, but no longer feel anything for - 25. März 13:20 Ich habe Sam schon mal nach Hause geschickt und warte nun auf Chris. Hoffentlich hat er wirklich mit Lucy geredet … Und dabei keine böse Überraschung erlebt! Jetzt, im Nachhinein, finde ich die Idee, dass er alleine mit ihr spricht, immer schlechter. Warum habe ich zugestimmt? Warum nur? Ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist, aber ich würde es verdammt gern rückgängig machen. Wenn Chris jetzt etwas passiert, ist es allein meine Schuld. Fast schon automatisch fahre ich mit der Hand in meine Haare und ziehe ein paar aus der Kopfhaut. Die rote Farbe lässt nach, aber irgendwie habe ich keine Lust, sie nachzufärben. Und nach fast vier Jahren wieder die normale Farbe annehmen zu können, tut meinen verbliebenen Haaren vielleicht ganz gut. Irgendwelche Idioten gaffen mich an, aber ich ignoriere sie. Wäre ich einer von ihnen, würde ich wohl auch denken, so ein Typ, der allein auf dem Schulhof steht – und das nach Schulschluss – und sich schlecht gelaunt Haare rausreißt, der muss doch einen an der Klatsche haben. Als sie aber stehen bleiben und starren, werfe ich ihnen meine finstersten Blicke zu. Ich bin doch kein Ausstellungsstück! Bevor ich aber etwas sagen kann, kommt Chris. 13:28 „Solange, wie ihr geredet habt, muss ja etwas Produktives dabei rausgekommen sein“, begrüße ich ihn. Die Gaffer wechseln ihre, schließlich ist es Chris Rehberg, mit dem ich da rumstehe. Halleluja, die sollen sich bitte Hobbies suchen. „Na ja, nicht wirklich… Ich habe noch Svea getroffen“, gesteht er und schaut mich ein bisschen reumütig an. Ob es wegen meiner offensichtlichen Abneigung gegen seine Freundin oder der Tatsache, dass er sich nicht an den Plan gehalten und mich unnötig hat warten lassen, ist, weiß ich nicht und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Ich bin schon gereizt genug. Meine Wut kann ich aber nicht an ihm auslassen … Der Ausdruck in seinen Augen hält mich davon ab. „Sie hat ihrer Schwester wirklich die Haare abgeschnitten“, flüstert er erstickt. „Ich habe Mira gesehen. Früher waren sie hüftlang und jetzt sind sie so kurz wie die eines Jungen.“ „Was hat Lucy dazu gesagt?“ „Nicht viel. Dass ich einen Fehler mache. Dass sie mich noch liebt. Dass sie der einzige Mensch auf Erden ist, der alles von mir weiß. Und so weiter. Dabei hatte sie so ein gruselige Funkeln in den Augen.“ Er verzieht das Gesicht. „Dass sie alles weiß …?“, wiederhole ich langsam und mir kommt ein erschreckender Gedanke. „Hat sie auch etwas wegen Svea gesagt?“ „Dass sie mich nicht verdient hat, nicht gut genug für mich ist und so einen Mist.“ „Glaubst du, sie will … also, glaubst du, sie will ihr etwas … antun?“, frage ich vorsichtig. Wahrscheinlich würde Svea mir sogar leidtun. Sie kann ja nichts für … alles. Und ich habe keine guten Gründe, sie zu verachten. Verdammt, ja, ich weiß es, aber … Chris … Ach, scheiße. Was soll’s. Svea hat es nicht verdient, dass Lucy so eifersüchtig ist. Chris erstarrt und wird leichenblass. „Ich hoffe nicht“, sagt er leise, „bitte, bitte nicht.“ Ich beiße mir auf die Zunge und wende mich ab. „Wir sollten nach Hause gehen.“ 16:40 Svea ist da. Sie und Chris sitzen in seinem Zimmer und ich kann hören, wie sie sich küssen, wie sie lachen. Anscheinend hat Chris seine Angst vergessen, während ich mir Sorgen um ihn mache und über Lucy nachdenke. Warum mache ich das eigentlich? Wütend werfe ich ein Kissen gegen die Wand, die mein Zimmer von seinem trennt, aber sie bemerken es nicht. Oder wollen es nicht bemerken. 17:03 Sie stehen vor dem Haus, im perfekten Winkel, sodass ich sie von meinem Fenster aus sehen kann. Chris‘ Lippen müssen ja süchtig machen, so wie Svea an ihnen klebt. 17:05 Und ich hatte Angst um sie, wegen Lucy? Pff. Soll sie doch verschwinden! 17:11 Ich komme gerade aus dem Bad, als Chris an mir vorbeiläuft. Er nickt mir zu, mit dem typischen Strahlen eines Verliebten. Am liebsten würde ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Er braucht mich nicht, um glücklich zu sein. 18:33 „Chris, kommst du mal bitte?“ Auweia. Ich erkenne diese Tonlage genau – ruhig, sachlich. Wenn meine Mutter so spricht, hat das nichts Gutes zu bedeuten. Schnell stehe ich auf, lege meinen Skizzenblock beiseite und gehe in die Küche, um zuzuhören. 18:35 „Kannst du mir erklären, was das ist?“ Meine Mutter wedelt mit einem Briefumschlag vor Chris‘ Gesicht herum. Ich kann mir denken, was es ist und bete, dass nichts allzu schlimmes drinsteht. „Nein“, antwortet er in der gleichen ruhigen Tonlage, aber ich sehe seine Anspannung, „gib ihn mir.“ „Christian! Da stehen Drohungen, mit so etwas ist nicht zu spaßen!“ Sie weiß, wovon sie redet. Viel zu oft habe ich solche Briefe bekommen und mein blaues Wunder erlebt. Darum bin ich eigentlich froh, dass sie das Ding gefunden hat. Jetzt muss er ihr alles erzählen und dann kann sich Lucy auf etwas gefasst machen. „Hast du noch mehr bekommen?“, fragt sie, als er schweigt, den weißen Umschlag fixierend. Chris zögert und schüttelt den Kopf. Warum? Warum zum Teufel sagst du es ihr nicht, du Idiot? „Ehrlich?“, hakt sie nach. Bitte, sag‘ es ihr! „Nein. Gib mir den Brief, Alessa.“ Seine Stimme klingt emotionslos und sie starren sich eine Zeit lang in die Augen. Erst als meine Mutter ihm um 18:40 den Brief gibt, realisiere ich, dass ich die Luft angehalten habe, stoße sie eilig aus und atme ein paar Mal hektisch durch, bis ich mich wieder beruhigt habe. Sie lässt ihn aber nicht los und Chris zieht nicht. „Weißt du, woher der ist?“, will sie wissen. Wieder schüttelt er den Kopf. Ich kralle mir die Fingernägel in die Handfläche, als ich meine Hände zu Fäusten balle. „Hast du Vermutungen?“ „Nein. Vielleicht war es ja ein Missverständnis.“ Ungläubig zieht meine Mutter die Augenbrauen hoch und wirft mit einer ruckartigen Bewegung ihr kupferfarbenes Haar nach hinten. „Erstens steht da dein Name drauf und zweitens kann ich beim besten Willen nichts, rein gar nichts missverständliches an diesem Text erkennen. Verkaufe mich nicht für dumm, Christian!“ Langsam wird ihre Stimme drohend, aber Chris lässt sich nicht einschüchtern und auch er wird deutlich kühler. „Lass los, Alessa. Du bist nicht meine Mutter und hast mir nichts zu sagen, also halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus!“ Entgeisterung ist in ihren Augen zu lesen, als sie nachgibt. „Allerdings geht es deinen Vater sehr wohl etwas an und ich werde nicht zögern, ihm davon zu erzählen“, ist das letzte, was sie sagt, bevor sie sich umdreht und die Küche verlässt. Schnell gehe auch ich in mein Zimmer. Chris bleibt stehen und starrt auf das beschriebene Papier, das in seinen Händen bebt. 19:00 Zu gern würde ich wissen, was da stand, aber irgendwie traue ich mich nicht, Chris um den Brief zu bitten. Immer wieder lasse ich das Gespräch zwischen ihm und meiner Mutter Revue passieren und versuche, daraus etwas zu schließen. Eigentlich kann meine Mutter richtig gut mit so etwas umgehen – sie hat schließlich mich zum Sohn – und wenn sie so um Beherrschung kämpfen muss, scheint es eine wirklich ernste Drohung zu sein. Ich bin mal gespannt, was sie mit Robert besprechen wird. 22:00 Das einzige Thema, über das die beiden Erwachsenen heute Abend gesprochen haben, war Roberts Vorstellungsgespräch. Kein einziges Wort ist über Chris gefallen, der sich seither in seinem Zimmer verkrochen hat und jetzt liegen sie alle im Bett und schlafen vielleicht und ich werde von Neugier und Sorge überfallen. Warum sagt er nichts über Lucy? Klar, sie waren mal zusammen, eine ziemlich lange Zeit sogar und fast jeder wünscht sich, mit seinen Exfreunden im Guten zu bleiben. Aber mit Lucy ist das nun mal unmöglich, darum verstehe ich nicht, warum er sie quasi beschützt! Egal, wie in welche Richtung ich überlege, ich komme auf keine Lösung. Am liebsten würde ich zu ihm rübergehen, aber ich weiß nicht, ob er mich sehen will. Kapitel 6: Decidophobia ----------------------- - A fear of making decisions - 26. März 5:40 Chris ist ruhelos. Eben war er kurz – wirklich extrem kurz, als würde der schwarze Mann gleich aus dem Gebüsch auf ihn zuspringen – draußen und ich habe gesehen, dass er mit einem Umschlag wieder hineinkam. Nun tigert er in seinem Zimmer auf und ab, bleibt alle sieben Schritte stehen, dreht sich und läuft dann weiter. Um 5:46 halte ich es nicht mehr aus und gehe zu ihm. Schweigend sitze ich auf seinem Schreibtischstuhl – das Bett wäre mir zu gefährlich – und sehe ihm zu. Er beachtet mich nicht, aber ich bin mir sicher, dass er weiß, dass ich da bin. „Was steht in den Briefen?“, frage ich, als er wieder innegehalten halt. Er wirft mir nur einen Blick zu und selbst im Zwielicht kann ich ihn nicht missdeuten: Er will es mir nicht sagen. Aber genauso sehr will ich es wissen. „Wie lange bekommst du sie schon?“ Und warum hat er mir nichts von ihnen gesagt? Sonst hat er mir doch auch alles erzählt… oder? Er schweigt beharrlich weiter und ich stöhne entnervt auf. Ich will ihm doch nur helfen, verdammt! 6:03 „Julius…“ Er zögert und ich zucke zusammen. Er hat mich angesprochen! „Hmm?“ „Wenn ich dich jetzt etwas frage, kannst du ohne zu überlegen Ja oder Nein antworten? Einfach das, was dir als erstes in den Sinn kommt?“ Ich runzele die Stirn. Was soll das denn jetzt? Aber er redet mit mir und ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen. „Okay…“ Worauf lasse ich mich ein?“ Mittlerweile ist hell genug, dass ich das zynische Lächeln, welches seine Lippen umspielt, erkennen kann. „Soll ich mit Svea Schluss machen?“ Ja! Ja, verdammt! Ich starre ihn an. Chris, single. Mit mir in einem Haus. Svea außer Gefahr. Lucy beruhigt und in gewisser Weise erfolgreich… Eigentlich will ich Ja sagen. Aber was ich von mir höre, ist: „Nein.“ 6:05 Ich bin ein Idiot. Der größte Vollidiot auf Erden. Das wäre meine Chance gewesen! Ich konnte entscheiden! Warum habe ich Nein gesagt? Warum, warum, warum? Bin ich neuerdings masochistisch geworden? Aus zusammengekniffenen Augen sieht Chris mich unverwandt an und ich halte seinem Blick nicht stand. Verdammt, was ist jetzt los? Ich zittere, atme stoßweise und balle die Hände zu Fäusten. Verkrampft sitze ich auf dem Stuhl, fixiere einen Punkt auf dem Boden, der immer mehr vor meinen Augen verschwimmt. „Julius? Weinst du?“ Plötzlich kniet Chris vor mir, schaut mich besorgt an. „Hey, was ist denn los?“ Ich weiß es nicht, ich weiß es doch selbst nicht, ich spüre nur, wie die Tränen über meine Wangen laufen, wie mein Körper bebt und ich beiße mir auf die Zunge. „Hey“, murmelt er sanft und will nach meinem Arm greifen. Ich springe auf und renne in mein Zimmer. 6:20 Er telefoniert schon wieder mit Svea. Ich kann nicht genau verstehen, worum es geht, aber allein die Tatsache, dass, wenn ich Ja gesagt hätte, er garantiert nicht mehr so oft mit ihr reden würde, macht mich fertig. Chris liebt Svea. Sie sind glücklich miteinander. Eigentlich sollte ich mich für sie freuen. Aber ich liebe Chris und bin nicht glücklich. Zählt das denn gar nicht? Ich vergrabe mich unter meinen Kissen und es gelingt mir, die gottverdammten Tränen zu ersticken. 6:29 Ich höre meine Mutter. Sie soll wegbleiben. 6:30 „Schatz, willst du langsam aufstehen?“, ruft sie durch die Zimmertür und klopft noch viermal dagegen. Wie jeden Morgen. Ich reagiere nicht. 6:32 „Julius, mein Liebling. Wach‘ auf, sonst kommst du zu spät.“ Lauteres Klopfen. 6:34 „Hey, du musst aufstehen!“ Jetzt ist sie in meinem Zimmer, steht neben meinem Bett. Gleich wird sie mir die Decke wegziehen. Ich grummele irgendetwas Unverständliches. „Es gibt Frühstück“, versucht sie, mich zu locken. Aber ich würde eh nichts hinunter bekommen. Mein Magen fährt Achterbahn. „Nein“, sage ich deshalb. Nein, Chris soll nicht mehr mit Svea zusammen sein, Nein, ich will nicht aufstehen, Nein, ich will nicht Essen. „Was, nein?“ „Ich will nicht aufstehen.“ Sie seufzt. „Hör mal, mein Liebling. Dass Chris zu Hause bleibt, ist ja gerade noch so okay. Das kann ich verstehen. Aber du hast keinen Grund, dich hier zu verkriechen. Oder gibt es etwas, das ich wissen sollte?“ Sie klingt ein bisschen besorgt. Ja, es gibt einiges, was du wissen solltest, will ich sagen. Aber ich weiß, dass sie das nicht meint, darum setze ich mich auf und schüttele den Kopf. „Nein, nein. Alles okay. Ich komme schon.“ Sie lächelt, drückt mir einen Kuss auf die Stirn und erhebt sich. „Du solltest deine Haare nachfärben“, bemerkt sie, „So sieht das überhaupt nicht gut aus.“ Ich knirsche mit den Zähnen und sie verlässt das Zimmer. Soso, Chris darf also daheim bleiben. Ich reiße mir noch ein paar Haare aus, damit ich bald keine mehr habe, die ich nachfärben könnte. 15:43 Svea kommt auf mich zu. Sie winkt, damit ich sie sehe und auf sie warte, aber ich habe sie schon davor bemerkt. Eigentlich beobachte ich sie den ganzen Tag und frage mich, was Chris an ihr so toll findet. Außer ihrem Geschlecht. Auf mich wirkt sie wie ein ganz normales, durchschnittliches Mädchen. Okay, sie scheint wirklich nett zu sein und ihre Freunde haben in der Pause über irgendetwas gelacht, was sie erzählt hat, also hat sie wohl einen guten Humor, aber sonst? Nichts, was ich nicht auch habe. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen. „Julius, warte mal“, sagt sie keuchend, als sie nur noch ein paar Meter von mir entfernt ist. „Oh, hallo“, begrüße ich sie, als wäre sie mir erst jetzt aufgefallen. „Kannst du das vielleicht Chris geben?“ Sie hält mir ein kleines Päckchen hin. „Ich weiß, dass er wegen dieser ganzen… Sachen momentan sehr vorsichtig ist und eigentlich finde ich es süß von ihm, dass er sich um mich sorgt.“ Ein verliebtes Lächeln lässt ihr Gesicht aufleuchten. „Vielleicht freut er sich ja ein bisschen.“ Ich nehme ihr das kleine Paket ab. „Ich werde es ihm geben“, verspreche ich und überlege, ob ich auf dem Heimweg an einem Mülleimer vorbeikomme. „Danke, das ist lieb.“ Sie lächelt mich an, aber gleich darauf wird ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. „Ich mache mir solche Sorgen. Wie kann Lucy es nur wagen, so grausam zu sein? Ich verstehe sie einfach nicht! Chris hat so etwas nicht verdient, er war wirklich nett zu ihr, selbst als es mit ihnen vorbei war. Dass sie sich so aufführt, finde ich wirklich nicht okay!“ Ihre Augen spiegeln ihre Sorge und Verzweiflung wider und bringen mich total aus dem Konzept. Toll, ich finde sie sympathisch. Sie ist nett und hat in etwa die gleiche Denkweise wie ich. Seufzend betrachte ich ihr Geschenk. Begebe ich mich nicht auf Lucys Niveau, wenn ich es verschwinden lasse? Svea meint es doch nur gut. Und vielleicht muntert Chris dieses Geschenk auch auf… „Das wird schon bestimmt wieder“, sage ich und lege ihr die Hand auf die Schulter. „Chris freut sich bestimmt.“ Ich verziehe meine Lippen zu etwas – hoffentlich – ähnlichem wie ein Grinsen und verabschiede mich. Um 15:47 betrete ich den Bus und verbanne meine Gefühle in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. 16:08 Als ich daheim ankomme, schläft Chris. Ich will das Päckchen nicht einfach auf seinen Schreibtisch legen und entscheide, es ihm später zu geben. Wieder fällt mir auf, wie anders er aussieht, wenn er schläft. So… ruhig, entspannt. Friedlich. Wenn er wach ist, sind seine Züge von Anspannung, Nervosität geprägt und es tut mir in der Seele gut, ihn so zu sehen. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, ziehe ich die Schreibtischschubladen auf. Ich komme mir beschissen vor, weil ich so in seine Privatsphäre eindringe, aber ich muss es wissen. In den oberen Fächern ist nur Krimskrams, wie Schulsachen, die Lösung zu irgendeinem Videospiel, Ladegeräte und eine Tüte Gummibärchen, aber im untersten Fach werde ich fündig. Weiße Umschläge, auf denen in großen, roten Buchstaben sein Name steht. Mindestens zehn. 16:10 Er bewegt sich und ich bin hin- und hergerissen. Nur zu gern würde ich sie lesen, aber es würde Chris bestimmt auffallen, wenn sie fehlen würden… Andererseits wird diese ganze Situation immer heikler und ich habe so ein verdammt ungutes Gefühl. Trotzdem lege ich den Stapel zurück in die Schublade, schließe sie und verlasse leise das Zimmer. Ich habe Angst, selbst einzugreifen. Macht mich das jetzt zu einem Feigling? Kapitel 7: Hamartithia ---------------------- - Being likely to make a mistake - 27. März 16:00 Wir sind pünktlich im Garten von Dennis‘ Opa, wo er feiert und legen unsere Geschenke auf den nicht gerade kleinen Haufen der anderen dazu. Chris verschwindet ziemlich schnell zu irgendwelchen Leuten und ich bin gezwungen, mir selbst jemanden zu suchen, mit dem ich den Abend verbringen kann. Na toll. Das fängt ja gut an. Missmutig halte ich nach Dennis Ausschau, um ihm zu gratulieren. Ich weiß, dass ich spät dran bin, aber wie gesagt – eigentlich kennen wir uns nicht und ich habe keine Ahnung, warum ich überhaupt eingeladen bin. Chris zuliebe? Wohl kaum. Dann doch eher, weil er vielleicht ein schlechtes Gewissen mir gegenüber hat. Vor drei Jahren gehörte er zu einer dieser verdammten homophoben Cliquen, die versucht haben, mir das Leben schwer zu machen. Meinerseits ist das schon vergeben, aber wenn er meint … Nun gut. 16:07 Dennis steht beim Grill und sortiert irgendwelche Sachen. Mhh, lecker. Ich liebe Grillen. Eigentlich will ich auf ihn zugehen, aber als ich sehe, wer fröhlich schwatzend an seinem Arm hängt, überlege ich es mir anders. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Da steht Lucy, kichert in einem fort und klebt an Dennis, als wären die beiden ein glückliches Pärchen! Aber er verhält sich genauso, grinst und macht keinerlei Anstalten, sie los zu werden. Ich glaube, ich muss kotzen. 16:10 Als ich Sam entdecke, der gerade den Garten betritt, fällt mir ein Stein vom Herzen. Endlich jemand, den ich kenne und mit dem ich mich verstehe! Ich bin zwar erst seit zehn Minuten hier, kann es aber kaum erwarten, wieder zu gehen. Ich langweile mich, scheine aber der Einzige zu sein, denn alle anderen lachen und haben Spaß. Tss. Sam winkt in meine Richtung und ich laufe erleichtert auf ihn zu. „Ich muss mit dir reden“, sage ich, als ich vor ihm stehe. „Ach?“, erwidert er und zieht die Augenbrauen hoch, „neue Herzschmerzgeschichten?“ In Momenten wie diesen würde ich ihm am liebsten eine runterhauen und mir einen neuen besten Freund suchen. 16:13 Wir sitzen im Gras, abseits und außer dem Blickfeld von anderen. Ich reiße statt Haaren Grashalme raus und zwirbele sie zwischen meinen Fingern, den Kopf gesenkt. Sam beobachtet mich, sagt aber nichts. Das ist so ungewöhnlich für ihn, dass ich irgendwann einfach anfange zu reden, obwohl ich nicht weiß, was ich sagen soll. Aber ich konnte schon immer gut drauf los plappern. „Dennis und Lucy scheinen sich ja gut zu verstehen.“ Ich hoffe, er springt auf die Bemerkung an. Tatsächlich reckt er sich, um die beiden zu erspähen. Mittlerweile sitzen sie auf einer Bank, und selbst aus dieser Entfernung kann ich die Funken spüren, die zwischen ihnen hin und herspringen. Uh. „Wäre doch toll, wenn sie zusammen kommen würden“, kommentiert Sam, „dann lässt sie Chris in Ruhe, zwischen dem und Svea nichts mehr – außer dir – stehen würde und alle sind glücklich. Dich ausgenommen.“ Ich grummele irgendetwas und er lacht. „Im Ernst, Julius, du solltest dich freuen!“ „Weiß ich. Aber ich glaube nicht wirklich, dass das ernst ist. Ich meine … das geht so schnell. Wie so ein Wunder oder so etwas.“ Ich wedele mit den Händen hin und her. „So was gibt’s im echten Leben nicht.“ „Pessimist.“ Sam verdreht die Augen. „Außerdem ist Dennis gar nicht Lucys Typ.“ „Geschmäcker ändern sich.“ „Aber Lucys nicht!“ „Gib ihr doch eine Chance!“ Ich starre ihn ungläubig an. „Im Leben nicht.“ Nie und nimmer. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Er erhebt sich. „Weißt du, Julius … So langsam verstehe ich, warum du so wenig Freunde hast. Du benimmst dich manchmal wirklich …“ Er macht eine wegwerfende Handbewegung und ich werde wahrscheinlich nie erfahren, wie ich mich benehme. Hm. Ist mir jetzt auch egal. 16:17 Chris ist weg. Ich habe so ziemlich alle Leute gefragt, aber niemand hat ihn gesehen. Weil Lucy und Dennis die ganze Zeit zusammen waren, halten sich meine Sorgen in Grenzen, es ist eher die Wut, die mich rastlos macht. Kurzerhand laufe ich zu Lucy und Dennis, dränge mich zwischen sie und grinse ihn an. Es fühlt sich an, als würde ich meine Lippen zerreißen, aber das ist mir jetzt auch egal. „Coole Party“, sage ich lobend. „Macht echt Spaß, hier zu sein.“ „Äh … danke.“ Anscheinend habe ich ihn aus dem Konzept gebracht, aber er fängt sich schnell wieder. „Freut mich, dass es dir gefällt.“ Ich nicke. „Hast du Chris gesehen?“ Lucy schnaubt. [:] „Hoffentlich nicht.“ Ich ignoriere sie geflissentlich. „Nein, sorry. Seid ihr nicht zusammen gekommen?“ Lucy prustet los. Es klingt ekelhaft, einfach widerlich. Ich kann nicht anders und balle die Hände zu Fäusten. Gott, warum gibt es so viel Dummheit auf einmal? „Doch, aber wir haben verschiedene Leute getroffen und uns dann verloren.“ Oder zumindest so ähnlich … „Och“, macht Lucy langgezogen. Und Sam hat tatsächlich vorgeschlagen, ihr noch eine Chance zu geben? „Aber mach dir nichts draus. Das ist normal bei Chris. Der kommt und geht, wie es ihm passt. Anscheinend hat er jetzt seine schwule Phase, aber erwarte nicht, dass die lange andauert.“ Sie lächelt zuckersüß und Dennis' Blick geht verwirrt zwischen uns hin und her. Ich würde gern etwas sagen, aber ich glaube, ich würde einfach schreien, wenn ich den Mund aufmache. „Ihr … Äh, seid jetzt zusammen?“ Ich starre ihn an und sehe genau, wie sich etwas in seinem Gesicht verändert. Mittlerweile habe ich gelernt, die Zeichen rechtzeitig zu deuten, aber heute ist es mir egal. „Und wenn es so wäre?“, frage ich provozierend. Bevor Dennis aber reagieren kann, kreischt Lucy los. „Ich wusste es! Dieser verdammte Mistkerl hat mich nur ausgenutzt, weil er Schiss hatte und nicht so behandelt werden wollte wie du!“ Sie wird lauter und schriller und andere drehen sich zu uns um. Langsam fange ich an zu schwitzen. „Und ich Idiotin bin nicht drauf gekommen und habe sonst was seinetwegen auf mich genommen! Wie konnte ich nur so dumm sein?“ Ich komme langsam nicht mehr mit, aber Dennis entscheidet sich, damit aufzuhören, mich mit bösen Blicken zu durchbohren und nimmt Lucy in den Arm. Ich höre ihn einen Unsinn murmeln, von wegen, sie sei doch nicht dumm und dass sei alles meine Schuld. Blablabla. Bis 16:20 steht die Welt still. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und gehe. Bis ich das Tor erreicht habe, verfolgen mich die Blicke der gesamten Gesellschaft und ich kann sie auch noch spüren, als ich vier Straßen weiter bin. Scheiße. xXx Danke für's Lesen an alle! Nein, nein, das ist noch nicht das Ende. Aber letzte Nacht habe ich das zwölfte und letzte Kapitel fertiggestellt und (wie immer) hab ich jetzt so ein seltsames Gefühl... xD Darum wollte ich mich einfach mal bei allen bedanken, die die Story anklicken und bis hierher gelesen haben! (: - San Kapitel 8: Allodoxaphobia ------------------------- - A fear of other people’s opinion - 27. März 16:45 Chris fängt mich im Flur ab und zieht mich in sein Zimmer. Gnädig, wie ich bin, warte ich, bis die Tür hinter uns ins Schloss fällt, bevor ich ihn anmotze. „Wo zum Teufel warst du?“, raunze ich unfreundlich. Wahrscheinlich hier. Wann er wohl abgehauen ist? Langsam kehrt meine Wut zurück und ich kralle meine Fingernägel in die Handflächen, um nicht auszurasten. „Hier“, antwortet er das Offensichtliche. „Tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin, aber ich hab mich plötzlich so … so seltsam gefühlt.“ Ich seufze und beschließe, nichts zu sagen. Er hat schon wieder diesen seltsamen Gesichtsausdruck, den ich zu fürchten gelernt habe. Ich schließe kurz die Augen und atme tief durch. „Ist okay. Aber sag‘ mir nächstes Mal Bescheid, ja?“ Er nickt und ein verkrampftes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Irgendwie bezweifle ich, dass es ein nächstes Mal geben wird. 29. März 06:30 Obwohl heute schulfrei ist – die Abiturienten müssen sich durch mündliche Prüfungen quälen – bin ich schon wach. Ich drehe mich stöhnend um und vergrabe mich unter der Decke, aber es hilft nichts: Meine Mutter und Robert reden zu laut. Wo sind sie eigentlich, dass ich sie hören kann? Halbherzig und verpennt überlege ich ein bisschen, aber eigentlich ist es mir egal. 06:34 Sie stehen draußen, vorm Fenster. Aus irgendeinem Grund hält mich diese Erkenntnis davon ab, weiterzuschlafen und ich stehe genervt auf. Was es so früh am Morgen wohl Wichtiges draußen zu besprechen gibt? 06:40 Meine Hand liegt auf der Türklinke, als ich erschrocken innehalte. Was wäre, wenn es wieder eine böse Überraschung ist? Und die beiden sie entdeckt haben? Ich denke an Chris und beiße mir auf die Lippe. Eigentlich wäre es gut, wenn sie erfahren würden, was er momentan alles durchmacht, aber andererseits … Chris war die ganze Zeit so strikt dagegen gewesen, jemandem davon zu erzählen. Soll ich versuchen, den größten Schaden zu vermeiden und die ganze Sache herunterzuspielen, oder ihnen lieber alles berichten, damit etwas dagegen unternommen werden kann? Ich hasse solche Entscheidungen. 06:43 Ich war noch nie so erleichtert, etwas gegen mich zu sehen. Auf der Straße vor dem Haus steht in großen, roten Buchstaben SCHWUCHTEL geschrieben. Mittlerweile machen mir solche Aktionen herzlich wenig aus, aber glücklich war ich darüber bisher noch nicht. Dennoch muss ich wohl so etwas wie „Gott sei Dank“ ausgestoßen haben, denn meine Mutter starrt mich an und Robert runzelt verwirrt die Stirn. „Julius, Schatz … Kommst du bitte mit in die Küche?“, fordert meine Mutter mich mit ihrer süßesten Stimme auf. Ich schlucke, denn was das bedeutet, weiß ich nur zu gut. Familiengespräch nennt sie das, wenn sie wieder das Gefühl hat, sich in ihre Sorgen um mich hineinsteigern zu müssen. Warum macht sie das bei Chris nicht? Der hätte es verdammt viel nötiger als ich! 06:47 „Du weißt, dass du mit Problemen immer zu mir kommen kannst, Schatz“, sagt sie und schaut mir mit diesem Blick in die Augen, der eine Mischung aus Dackelblick und besorgte Mutter darstellt. Oder so was in der Art. Ich seufze. „Weiß ich, Mama.“ „Warum hast du mir dann nicht gesagt, dass das“ – sie macht seltsame Handbewegungen, aber ich weiß ja, worauf sie hinaus will – „wieder angefangen hat?“ „Weil ich es selbst nicht wusste.“ Das ist sogar die Wahrheit. Ich hab‘ es zwar vermutet, aber nicht gewusst. „Wieder?“, mischt sich Robert plötzlich ein. „Julius wurde früher ein bisschen gemobbt“, erklärt meine Mutter und fuchtelt mit den Händen umher. „Aber eigentlich hat das vor fast einem Jahr aufgehört.“ „Aha“, erwidert er und seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Ich weiß, was er denkt und werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Anscheinend hat meine Mutter den gleichen Gedanken, denn sie sagt schnell: „Aber das hat keine Auswirkungen oder so.“ Ich starre sie verwundert an. Keine Auswirkungen? Natürlich hat das Auswirkungen! Wenn das jetzt alles wieder von vorne anfängt, hat das nicht nur auf mich, sondern auch auf die drei anderen, die hier wohnen, Auswirkungen! Und was für welche! Aber der Ausdruck in ihren Augen hält mich davon ab, das zu sagen. Oh je. Sie ist verliebt und hat Angst, dass er wieder geht. Ganz toll, jetzt bin ich sogar Schuld, wenn meine Mutter vielleicht ihren Freund verliert. Er dauert eine Weile, bis Robert sich wieder zu Wort meldet. 06:50 „Alessa, mein Liebling …“ Ich hasse es, wenn er sie so anspricht. „Solche, ähm, Aktionen … Das bekommen ja auch die Nachbarn mit. Und nicht nur die, sondern alle, die hier am Haus vorbeilaufen“, fängt er vorsichtig an. Sowohl meine Mutter als auch ich wissen, worauf das hinausläuft und wir nicken synchron. „Ich weiß nicht, ob das gut für Chris ist, wenn das so … Also, du weißt schon …“ Hilflos hebt er die Hände, um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen. Ja, sie weiß. Sie weiß es nur zu gut. „Das geht vorbei!“, beteuert sie schnell. „So schnell, wie es gekommen ist, geht es auch wieder vorüber. Und hast du nicht gesagt, Julius', hm, Orientierung sei dir egal?“ Er wirft mir einen kurzen Blick zu. „Ja, natürlich und das stimmt auch, aber ich denke an meinen Sohn …“ Er sieht unsicher aus, als habe er Angst vor meiner Mutter. Fast muss ich lachen. 06:52 „Was ist mit mir?“ Wir zucken alle drei zusammen. Keiner von uns hat mitbekommen, dass Chris die Küche betreten hat. Anscheinend ist er gerade erst aufgestanden, denn seine Haare stehen noch nach allen Seiten ab und er blinzelt gegen das Licht. Hm. Eigentlich ist es unnötig, dass er sich kämmt, so sieht er viel besser aus. Erst, als Robert anfängt zu sprechen, wende ich schnell den Blick von ihm ab. Warum merke ich eigentlich immer erst so spät, dass ich ihn anstarre? „Chris, ich weiß nicht, ob du es gesehen hast, aber vor dem Haus …“ „Ja, hab ich gesehen“, unterbricht er ihn ungerührt, geht zum Kühlschrank und holt sich eine Flasche Cola heraus. Wir beobachten ihn, wie er sich ein Glas aus dem Hängeschrank nimmt, und als er uns auch etwas anbietet, schütteln wie gleichzeitig den Kopf. Er zuckt mit den Schultern, schenkt sich ein und trinkt es aus. Dann erst kommt er auf das Thema zurück. „Mal im Ernst, Papa, über so was musst du stehen. Das sind eben Idioten, solche Leute gibt es überall auf der Welt. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber.“ Wow. Ich bin sprachlos. Das ist … nett von ihm. Vielleicht hat er noch ein schlechtes Gewissen wegen gestern? Aber wenn das die Folgen sind, kann er mich gern öfters mal sitzen lassen. Robert sieht das anders. „Ich soll mir keine Gedanken machen? Verdammt, Chris, das ist der Anfang, dann geht es weiter, steigert sich und irgendwann ist es nicht mehr Julius, sondern du! Weißt du, was ich mir für Vorwürfe machen würde, wenn dir etwas passieren würde?“ Chris und ich schauen uns schnell an. Es ist wie Telepathie. Er liest meine Gedanken und weiß, dass ich den Augenblick für geeignet halte, um auf Lucy zu sprechen zu kommen und sein Gesichtsausdruck verbietet es mir ausdrücklich. Ich seufze. „Was soll denn mit Chris passieren?“, meldet sich meine Mutter wieder zu Wort und jetzt klingt sie verärgert. „Was weiß ich, was denen einfällt!“, fährt er sie an. „Beruhige dich!“, schnauzt sie in der gleichen Tonlage zurück. „Papa, du reagierst ehrlich extrem. Ich bin zwar nicht naiv und weiß natürlich, dass sich das ausweiten kann, aber das ist doch ganz klar homophob. Und schwul zu werden, habe ich nun wirklich nicht vor.“ Autsch. Während ich damit beschäftigt bin, mich zusammenzureißen, gibt Robert einen grunzenden Laut von sich und steht im Begriff, zu gehen. „Aber sorgt dafür, dass das wegkommt“, raunzt er, bevor er die Küche verlässt. 07:00 Es ist Kreide. Ich bin erstaunt, dass es keine wasserfeste Farbe oder so ist, denn wenn man anderen schon so bescheuerte Streiche spielt, sollte man doch eigentlich dafür sorgen, dass es eine Weile anhält. Würde es regnen, würde der Mist einfach abgespült werden. Aber auch mit einem nassen Besen habe ich Glück und es ist bald nichts mehr zu sehen. 07:10 Eigentlich wollte ich wieder ins Bett gehen – und dort den Rest meines Lebens verbringen - aber ich bin rastlos. Robert hat mich überrascht, ich hatte ihn ganz anders eingeschätzt. Wie man sich in Leuten täuschen kann … Was Chris jetzt wohl macht? Er ist auch in sein Zimmer gegangen, aber anders als sonst höre ich weder Musik noch ihn selbst. Ob er wieder schläft? Den Gedanken, zu ihm zu gehen, verwerfe ich sofort wieder. Seine Worte klingen in meinen Ohren nach und am liebsten würde ich heulen. xXx Das Kapitel kommt doch heute schon, weil ich die nächste Zeit wohl nicht zum Posten kommen werde. Über Kommentare freue ich mich natürlich trotzdem! ;P Kapitel 9: Dysania ------------------ - The state of having a rough time in the morning - 30. März 08:00 Ich bleibe zuhause. Meine Mutter ist nicht wie sonst gekommen, um mich zu wecken und hat bis jetzt nur kurz den Kopf durch die Tür gesteckt, also bleibe ich einfach liegen. Wahrscheinlich denkt sie, es sei wegen der Kritzelei von gestern, aber es sind Chris‘ Worte, die mir noch im Kopf herumgeistern … Er ist nicht schwul und wird es nie werden. Warum auch? Entweder man wird so geboren – oder nicht. Selbst wenn er sich also aus welchem Grund auch immer von Svea trennen sollte – er würde nie im Leben auf den Gedanken kommen, es mal mit mir zu versuchen. Erschreckend, wie lange ich gebraucht habe, um auf diese Erkenntnis zu kommen, dabei ist es doch so logisch. Ich wünschte, ich wäre in einem dieser Filme oder Bücher, in denen die Leute irgendwann, von einem Augenblick auf den nächsten, merken, dass sie bisher dem falschen Geschlecht hinterhergerannt sind. Aber das wird nicht passieren und ich spüre den Schlafmangel. Also ziehe ich mir die Decke über den Kopf und rolle mich zusammen. 10:00 Es hilft nichts. Ich kann einfach nicht schlafen. Dabei bin ich müde, so unendlich müde … Meine Mutter hat Schlaftabletten im Badezimmer, aber dazu müsste ich aufstehen, das Zimmer verlassen, an ihrem und dem Wohnzimmer vorbei und somit auch zugeben, dass ich wach bin. Ich setze mich auf den Boden, mit dem Rücken ans Bett und umschlinge meine Knie mit den Armen. 10:03 Ich rutsche weiter nach vorne, lege das Kinn auf die Knie und wippe vor und zurück. 10:07 Es bringt doch alles nichts. Ich bin rastlos und mir fällt nichts ein, womit ich die Zeit verschwenden könnte. 10:10 Ich bin gerade dabei, ein paar Haare auszureißen, nach Spliss zu untersuchen und sie an der gespaltenen Stelle in zwei Teile zu trennen, als es klopft und meine Mutter behutsam die Tür öffnet. Schnell springe ich auf, stehe kurz unsicher herum, ehe ich auf sie zugehe und sie umarme. „Guten Morgen, Mama!“ Im Improvisieren und schnell reagieren war ich noch nie gut. Sie blinzelt kurz verwundert, fängt sich aber gleich wieder und lächelt mich an. „Guten Morgen, Liebling. Telefon für dich.“ Ich nehme ihr den Hörer aus der Hand und starre ihn an, bis sie gegangen ist. Wer ruft denn um diese Zeit an? 10:12 Es ist Sam. „Solltest du nicht in der Schule sein?“, ist meine verblüffte Reaktion, nachdem er sich gemeldet hat. „Bin ich auch, aber es ist wichtig. Hör zu, die Pause ist gleich vorbei.“ Er klingt ein bisschen außer Atem und ich beschließe, die Fragen nach hinten zu verschieben und ihn einfach reden zu lassen. „Ähm, vielleicht solltest du dich besser hinsetzen, oder so… Mach dich auf was gefasst.“ Sicherheitshalber lege ich mich auf den Boden. „Okay.“ Ob ich einfach auflegen soll? „Gut. Also, es geht um Chris… und Svea. Und Lucy und dich“, fängt er an. Oh, toll. Ich bezweifle, dass ich das hören will. Dennoch gebe ich irgendeinen Ton von mir, ich habe keine Ahnung, als was Sam ihn aufnimmt, aber er spricht weiter. „So wie’s aussieht, bekommt auch Svea solche, hm, Drohbriefe. Nur Briefe, nichts anderes, aber das reicht ja auch schon. Sie hat es Chris nur nicht gesagt, weil sie ihn nicht beunruhigen wollte.“ Er schnaubt, als fände er das höchst seltsam. „Jedenfalls hat sie es ihm heute auf, öhm, ziemlich unhöfliche Weise eröffnet und sich auch von ihm getrennt.“ Das geht mir zu schnell. „Halt, langsam“, bitte ich ihn. „Sorry.“ Er atmet tief durch. „Also, Lucy erzählt herum, dass Chris, na ja, dass er schwul sei und ihr beide zusammen wärt.“ Scheiße. Ich hab‘ doch geahnt, dass das noch Folgen hat! Stöhnend drehe ich mich auf den Rücken. Robert hatte mehr oder weniger Recht, Chris und ich tun uns beide nicht gut. „Er hat das natürlich sofort geleugnet, er ist ja mit Svea zusammen… Also, zusammen gewesen. Aber dann haben Dennis und ein paar andere das Gleiche behauptet und Svea ist ausgerastet. Das gab einen ziemlich heftigen Streit.“ Er klingt, als würde er über das Wetter reden. Ich runzele die Stirn. „Und jetzt?“ „Jetzt hat sich Svea zumindest ein bisschen beruhigt und Chris ist abgehauen.“ Es ist schrecklich, auf dem Rücken zu liegen und einen plötzlichen Hustenanfall zu bekommen. Schnell setze ich mich auf und halte den Hörer ein Stück von meinem Ohr weg. Ich sterbe. 10:15 „Ich muss jetzt wieder zum Unterricht“, sagt Sam eilig, kaum dass ich ihm versichert habe, dass ich noch ein bisschen weiterlebe. „Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt und dich irgendwie darauf vorbereitest, Chris zu begegnen…“ Wo auch immer der sein mag. „Danke“, sage ich leise, aber er hat schon aufgelegt. Eine Weile starre ich nur das Telefon an und widerstehe dem Drang, es mit all den anderen Sachen im Zimmer durch die Gegend zu werfen. 10:20 „Julius, ich muss mit dir reden.“ Schon wieder? Es ist momentan erschreckend, wie oft meine Mutter mit mir reden muss. Dennoch schlurfe ich in die Küche und setze mich auf meinen Stuhl, das Telefon noch immer in der Hand. Sanft nimmt sie es mir ab und legt es beiseite. „Ich habe nachgedacht.“ Ganz schlecht. „Über das Gespräch von gestern Morgen.“ Sie zögert kurz. „Eigentlich habe ich mir Roberts Reaktion anders vorgestellt.“ Sie macht eine Pause und wartet wohl auf irgendeine Reaktion meinerseits, also zucke ich mit den Schultern. „Ich habe später auch noch ziemlich lange mit ihm geredet und irgendwie…“ Sie verzieht das Gesicht. „Irgendwie ist er wohl doch nicht der Typ Mann, den ich mir als Lebenspartner wünsche.“ Mittlerweile überraschen mich solche Sätze nicht mehr, so oft habe ich sie schön gehört. Vor ungefähr zwei Jahren habe ich aufgehört zu zählen, wie oft meine Mutter schon dachte, den Richtigen gefunden zu haben. Und momentan ist mir das relativ egal, außer Robert hätte schon die Koffer gepackt. Dann bestünde die Chance, Chris nicht mehr zu begegnen und nicht auf den Mond ziehen zu müssen. „Und Chris scheint momentan auch ziemliche Probleme zu haben.“ Sie wirkt unsicher, weiß nicht, wie viel ich erfahren habe. Aber… jetzt oder nie. Ich nicke. „Das kannst du laut sagen.“ „Julius… Ich weiß nicht, wie viel du darüber weißt und mir ist klar, dass man in eurem Alter mit Problemen nicht unbedingt zu Erwachsenen geht, aber…“ Ich unterbreche sie. „Ich erzähle es dir.“ Kapitel 10: Hypnopompic ----------------------- - The fuzzy state between being awake and asleep - 11:00 Mama schweigt lange, nachdem ich geendet habe. Sie schweigt sogar so lange, dass ich nervös an der Tischdecke herumfummele und überlege, ob es vielleicht besser gewesen wäre, nichts zu sagen. Gerade will ich sie bitten, ob sie das Gespräch bitte wieder vergessen könne, als sie mich plötzlich anlächelt und nach meiner Hand greift. „Hey“, sagt sie, „beruhige dich.“ Beruhigen? Erst jetzt merke ich, dass ich unruhig hin und her rutsche und mit den Füßen wackele. Oh. „Es ist gut, dass du es mir erzählt hast“, meint sie nachdenklich. „Zwar hättest du es ruhig früher tun können, aber wenigstens ist noch nichts Ernsthaftes passiert.“ Ich runzle die Stirn. Nichts Ernsthaftes? „Dir ist klar, dass wir trotzdem zur Polizei gehen, oder?“ Polizei? Wenn Chris das erfährt … ich stöhne auf. Nein, das will ich mir gar nicht vorstellen. „Können wir das nicht verschieben?“, frage ich zaghaft. „Nach dem ganzen Desaster von heute glaube ich nicht, dass Chris noch die Nerven für einen Polizeibesuch hat.“ Und selbst, wenn er sie hätte – ich würde das nicht aushalten. Diesen Gedanken behalte ich allerdings lieber für mich. Ich will nicht, dass sich meine Mutter noch mehr Sorgen macht. Sie seufzt und denkt nach. „Okay. Aber morgen früh auf jeden Fall!“ 13:10 Chris schlägt die Tür zu und ich schrecke aus meinen Träumen auf. „Was zum - “, fange ich verwirrt an, aber er unterbricht mich. „Weißt du, was für eine Hölle heute in der Schule los war?“, faucht er. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Soll ich ja oder nein sagen? Aber Chris nimmt mir die Entscheidung ab; er redet einfach weiter. Sams Erzählung in Kurzform, darum schalte ich ab und beobachte fasziniert, wie er hin und her läuft und sich die Haare rauft. 13:14 „Ist da etwas dran?“ Ich blinzele überrascht und brauche einen Augenblick, um wieder in die Realität zu kommen. „Äh, was? Woran?“ „Daran, was Lucy und Dennis und was weiß ich, wer noch alles behaupten. Dass du in mich verliebt bist und so ein Mist.“ Oh. „Julius?“ Was soll ich sagen? Was, was, was? Ich spüre, wie ich zu zittern beginne, verkrampfe meine schweißnassen Hände ineinander und höre meinem Herzen beim Rasen zu. Scheiße. Gottverdammte Scheiße! „Hey!“ „Natürlich nicht!“, stoße ich aus, halte die Luft an und kralle mir die Fingernägel in die Handflächen. 13:15 Warum genau habe ich das jetzt gesagt? Ich Idiot! 13:16 Chris redet, aber irgendetwas ist in meinen Ohren, sie pochen und ich höre alles aus weiter Ferne. Probehalber stecke ich mir den Finger in das Rechte, aber da ist keine Watte oder sonst etwas drin. 13:20 „Mama will morgen zur Polizei“, sage ich. Ich habe keine Ahnung, wovon er gerade gesprochen hat, oder warum ich das jetzt verkündet habe, aber sobald ich wieder klar denken kann, werde ich mich nicht mehr trauen, es zu sagen. 13:21 Er verlässt mein Zimmer und knallt die Tür schon wieder zu. Ich starre ihm nach und frage mich dumpf, wie lange es wohl dauern wird, bis sie aus den Angeln fällt. 17:00 Niemand schaut nach mir und eigentlich ist mir das ganz recht, so allein zu sein. Ich vermisse sie nicht, irgendwie bin ich gerade … leer. Auch Hunger habe ich keinen und die anderen natürlichen Körperbedürfnisse melden sich ebenfalls nicht. Nur Schlaf. Den brauche ich. Aber ich bin rastlos. Seit Chris wütend aus meinem Zimmer gerauscht ist, liege ich auf dem Bett und suche nach Tieren und anderen Dingen, die sich im Muster der Decke verstecken. Langsam fühle ich, wie der Schlaf doch noch kommt … 23:00 Ich bekomme keine Luft mehr. Erschrocken reiße ich die Augen auf, versuche im Dunkeln etwas zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Irgendetwas presst sich auf meinen Mund, meine Nase, ich kann nicht mehr atmen, mein Puls rast, mein Herzschlag beschleunigt sich bis zum Maximum, vor meinen Augen tanzen Sternchen… ich glaube, ich sterbe… Schwarz. 23:12 „Julius? Julius, hörst du mich?“ Meine Mutter. Ja, will ich sagen. Ja, ich höre dich. Aber es geht nicht. Ich höre die Panik deutlich aus ihrer Stimme heraus, will sie irgendwie beruhigen, aber ich kann nicht. Es ist, als wäre ich in einer anderen Welt, als würde ich von einer Blase umgeben werden, die nichts und niemanden hindurch lässt. Bis auf fürchterlichen Schmerz spüre ich nichts. Aber wenigstens kann ich wieder atmen. Auch wenn es weh tut. „Der Notarzt ist unterwegs“, ist das letzte, was ich höre. „Die Polizei auch.“ Dann werde ich wieder von der Welle der Bewusstlosigkeit überschwemmt. 31. März 09:15 „Julius“, flüstert jemand. „Julius, wache auf.“ Chris? Ist er es? Mein Herz macht einen Hüpfer bei diesem weichen, besorgten Tonfall. Irgendetwas in meiner Nähe piepst und ich drehe mich unruhig hin und her. Schlafe ich? Ist das mein Wecker? Ich komme mir so… wuschig vor. „Bitte.“ Seine Hand liegt auf meinem Arm und ich fühle, wie die Endorphine in meinem Blut Salsa tanzen und sich mein Herzschlag beschleunigt. Das arme Ding. Ich setze es momentan immer solchen extremen Gefühlen aus … „Julius.“ Er ist nah, so nah … Ich kann seinen Atem spüren und zittere vor Aufregung. Ich will die Augen öffnen, sein Gesicht sehen. Chris … 09:20 Seine Lippen. Auf meinen. Und mein Herz explodiert. Kapitel 11: Satisdiction ------------------------ Hallo, ihr Lieben~ Es tut mir wahnsinnig leid, dass es erstens so lange gedauert hat und ich zweitens nicht dazu gekommen bin, Kommentare zu beantworten! Gerade nach dem fiesen Cut des letzten Kapitels... Aber ich hatte alles ganz anders geplant. Bei mir geht momentan alles drüber und drunter und ich weiß echt nicht, wo mir der Kopf steht. Verzeiht mir! Das hier ist also das vorletzte Kapitel... In manchen anderen Geschichten bin ich an der Stelle immer sentimental geworden, aber das hebe ich mir für's letzte Kapitel auf - mit dem ich immer noch nicht ganz zufrieden bin. Ich glaube, ich habe am Ende mehr rumgewerkelt als an der ganzen Story zusammen. v_v Bevor ihr euch aber auch noch mein Gejammer anhören müsst, mache ich lieber schnell mit Kapitel 11 weiter! San xXx Satisdiction - Having said everything that needs to be said - 09:21 „Chris“, keuche ich und reiße die Augen auf. Starr vor Schreck schaut er mich an und weicht hastig zurück. „Sorry“, murmelt er. Er entschuldigt sich? Aber warum denn? Verletzt schaue ich ihn an und mein Blick muss Bände sprechen, denn er wendet den Kopf ab und sieht sich um, als hätte man ihm befohlen, sich den Raum genau einzuprägen. Diesen Raum … erst jetzt wird mir bewusst, dass ich ihn gar nicht kenne. Wo bin ich? Was ist passiert? Ich spüre ein dumpfes Pochen in irgendeinem Winkel meines Kopfes und mein Rücken schmerzt ein bisschen. Nur vage erinnere ich mich an einen viel größeren Schmerz, das Gefühl der Bewusstlosigkeit … Ich versuche zu fassen, was überhaupt passiert ist und schüttele kurz darauf resigniert den Kopf. Nein, meine Erinnerung lässt mich im Stich. Alles ist weg. „Wo bin ich? Was ist passiert?“, wiederhole ich meine Fragen laut und fixiere Chris. Er scheint erleichtert zu sein, dass ich auf das Thema zu sprechen komme und tritt vorsichtig wieder näher. Dennoch, der Sicherheitsabstand, den er einhält, ist mir persönlich zu groß. Er lässt sich Zeit mit seiner Erklärung. 09:24 „Es war Dennis“, beginnt er und zieht die Augenbrauen zusammen, verletzt vom Verhalten seines eigentlich besten Freundes. „Ich weiß nicht, wie er ins Haus gekommen ist. Ich hab‘ deinen Schrei gehört, dann ist irgendetwas zerbrochen und als ich in dein Zimmer wollte, war er gerade auf dem Weg zum Fenster.“ Er schweigt betroffen. Wahrscheinlich liegt es an meinem noch nicht ganz in der Realität angekommenen Hirn, aber ich komme nicht so ganz mit. Dennis in unserem Haus? „Was hat das zu bedeuten?“ Er holt tief Luft. „Er hasst dich. Du hast doch die ganzen Gerüchte mitbekommen, die in der Schule die Runde machen?“ Mein Herz zieht sich zusammen, aber ich nicke. Mehr oder weniger. „Dennis hat, na ja, er hat Lucy geglaubt. Also, was sie über mich und dich und Svea erzählt hat. Er dachte wirklich, du wärst Schuld an allem. Und er war eifersüchtig, weil sich Lucy so an mich geklammert hat.“ „Das ergibt keinen Sinn“, stelle ich fest und runzele die Stirn. Was hat das alles mit mir zu tun? Ich kann doch nichts für … gar nichts. Warum bin ich eigentlich immer der, der alles abbekommt? „Hm, außerdem hat er was gegen Schwule“, fügt Chris zerknirscht hinzu. Oh. Jetzt habe ich den Sinn gefunden. 09:26 So wie es aussieht, hat sich Dennis Zutritt in unser Haus und mein Zimmer verschafft, wo er versucht hat, mich mit einem Kissen zu ersticken. Das Ganze ist gescheitert, weil ich mich befreien konnte und aufgesprungen bin. Wegen des Sauerstoffmangels konnte ich mich kaum orientieren und er hat diese Chance genutzt und mir mit dem Globus, der auf meinem Schreibtisch stand, eins von hinten übergebraten. Ich bin umgekippt und während Robert Chris das Festhalten von Dennis abgenommen hat, hat meine Mutter den Arzt und die Polizei alarmiert. Jetzt sitzen Robert und meine Mutter mit Dennis im Präsidium und und Chris hat die Aufgabe, meine Mutter sofort anzurufen, wenn ich aufgewacht bin. Ganz tolles Desaster. Soweit bin ich also fast auf dem neuesten Stand und wende mich zähneknirschend ab, nur um ihn kurz darauf wieder anzusehen. Er zieht meine Blicke eh magisch an, dieser… Nein, es gibt kein Wort dafür. Zumindest keines in meinem Wortschatz. „Warte“, bitte ich ihn, als er nach Mamas Handynummer in seinem Telefon sucht. „Chris, warte kurz. Was war das? Was war vorhin? Du hast mich geküsst.“ Allein beim Gedanken daran beschleunigt sich mein Atem und eine leise Stimme in meinem Kopf warnt mich, dass ich seine Beweggründe gar nicht wissen will. Ich zwinge mich zur Ruhe und bin auf seine Antwort gespannt. „Ich weiß es nicht“, gesteht er leise und hält tatsächlich kurz inne. Mit einem seltsam melancholischen Ausdruck schaut er mich an. „Es tut mir Leid, Julius, wirklich. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist, warum ich das getan habe. Es ist alles so viel, was momentan auf mich einstürzt. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht schwul bin und dass ich… deine Gefühle nicht erwidere.“ Bevor mir die Frage über die Lippen kommt, weiß ich die Antwort schon. Sam. Natürlich. Er hat mit Chris geredet. Stöhnend ziehe ich mir die Decke über den Kopf und mir wird ganz heiß, als ich daran denke, was er ihm noch alles erzählt haben könnte. Verdammt! 09:30 „Schläfst du wieder?“, erkundigt er sich behutsam. Ich schüttele den Kopf und luge unter der Decke hervor. „Und was ist jetzt? Also, nicht nur mit uns, ich meine allgemein?“ Tausend Was-wäre-wenn-Gedanken und Ideen schwirren in meinem Kopf herum, die eine verrückter und beängstigender als die andere. „Wir ziehen wieder aus“, antwortet er und ich kann seinen Tonfall nicht deuten. „Papa und deine Mutter sind sich einig geworden, dass das wohl das Beste ist. Die alte Wohnung haben wir noch, sie gehört ja meiner Oma. Und der Großteil der Möbel ist auch noch da. Eigentlich haben wir ziemlich wenig mitgenommen, es wird schnell gehen, bis alles wieder eingerichtet ist.“ „Und… wie stehst du dazu?“ Noch eine Frage, vor deren Antwort ich Angst habe. Ich bin so ein verfluchter Feigling! „Ich?“, wiederholt er lahm. 09:33 „Ich finde die Idee eigentlich auch gut. Nicht deinetwegen, oder so, aber um mit der Situation irgendwie abzuschließen. Ich glaube auch, dass es eine gute Entscheidung ist.“ Er zuckt mit den Schultern, aber ich sehe ihm an, dass er sehr lange darüber nachgedacht hat. Darum sage ich auch nichts dagegen. Irgendwo hat er ja Recht. Irgendwo haben sie alle Recht. Das ist mir klar, aber ich… ich weiß nicht. Vielleicht muss ich wirklich noch schlafen. „Deine Mutter kommt bald“, sagt er, „Ich muss jetzt gehen.“ Ich nicke und schaue ihm nach. Mir fällt nichts ein, wohin er gehen müsste – außer in die Schule. Aber ob er da wirklich noch hin will? Der Unterricht hat vor zwei Stunden begonnen, das würde sich gar nicht lohnen. Aber ich mag eigentlich gar nicht darüber nachdenken. Das fällt mir gerade so unendlich schwer. Ich möchte wirklich einfach nur schlafen. Kapitel 12: Finifugal --------------------- - Shunning the end of something - 07. April 15:00 Seit knapp einer Woche sind Chris und Robert ausgezogen. Obwohl sie erst seit einem halben Jahr bei uns gewohnt haben, ist es irgendwie seltsam ohne die beiden. Die meisten würden sagen, dass sie das gemeinsame Abendessen oder den Streit um das Badezimmer vermissen, aber es ist anders. Ich vermisse nicht die Musik, die durch die Wand schallt, oder dass wir zusammen zur Bushaltestelle laufen. Was mir fehlt, ist die bloße Gewissheit, dass er, Chris, da ist, dass ich mehrere Stunden des Tages nur wenige Meter von ihm entfernt verbringe. Wir haben kaum miteinander gesprochen, seit er mich im Krankenhaus besucht hat. Nur das Notwendigste – und selbst das wirkte irgendwie gezwungen, als würden wir nach einem Drehplan handeln und könnten unsren Text nicht. Lucy hat die Schule verlassen und macht irgendeine Therapie. Was mit Dennis passiert ist, weiß ich nicht genau und ich habe ihn auch nicht mehr gesehen, aber in der Schule halten sich die verrücktesten Gerüchte. Weiß der Geier, ob irgendeins von ihnen wahr ist. Ehrlich gesagt, will ich mit der ganzen Scheiße einfach nur abschließen. Robert und meine Mutter haben zwar davon gesprochen, noch in Kontakt zu bleiben, aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Robert war einer von vielen, nichts als ein kleiner Abschnitt im Leben meiner Mutter, die inzwischen wieder zum Alltag zurückgekehrt ist. Ich bewundere sie dafür, dass es ihr so einfach fällt. Vielleicht werde ich ja irgendwann genauso – irgendwann sind mir alle, die nicht zur Familie oder den engsten Freunden gehören, egal. Objektiv gesehen, ist das eine ziemlich traurige Vorstellung, aber wenn ich sehe, wie gut es ihr geht und wie mies mir … Hm. Übermorgen ist mein Geburtstag. Chris und ich haben des Öfteren darüber geredet, er wollte ein Fest für mich veranstalten, aber ich habe widersprochen. Wer sollte auch kommen? Sam. Chris. Unsre Eltern. Nein, ich brauche nicht noch einen Grund, um traurig, wütend, verzweifelt, schlecht gelaunt, einsam, unglücklich zu werden. Aber der Gedanke, dass sich Chris Mühen für mich machen würde, hat mir damals schon gefallen. 17:00 Statt betrübt auf dem Bett zu liegen, helfe ich meiner Mutter beim Abendessen. Pfannkuchen. Die erste Mahlzeit, die ich heute zu mir nehmen werde. Es ist unglaublich, wie wenig Hunger ich habe und wie zugeschnürt meine Kehle auch jetzt ist. Trotzdem will ich ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten, darum gebe ich mir Mühe, zumindest so zu tun, als wäre alles normal. Schließlich kann so etwas jedem mal passieren, es passiert dauernd, immer, hier, in Neuseeland, China, Afghanistan, in Büchern, in Filmen… Am liebsten würde ich mir die Pfanne gegen den Kopf schlagen und spüren, wie das heiße Öl meine Haut verbrennt. 17:20 „Übermorgen ist dein Geburtstag“, sagt meine Mutter, als wir am Esstisch sitzen. Ich seufze und sie verdreht die Augen. „Ich weiß, dass du keine große Party willst, aber Chris hat mich neulich mal angesprochen…“ „Mama!“, falle ich ihr ins Wort, „das hat sich alles schon geklärt, okay? Denk einfach nicht weiter darüber nach. Schenk mir den gleichen Gutschein wie jedes Jahr, oder von mir aus auch Geld für den Führerschein und backe Pfannkuchen. Mehr will ich doch gar nicht!“ Warum machen alle immer so ein Drama um ihren Geburtstag? Seit ich mich geoutet habe, weiß die Familie noch weniger, was sie mir schenken soll – nicht, dass es davor viel besser gewesen wäre – aber dieses Jahr ist wohl Geld am besten. Anfang August will ich mit dem Führerschein anfangen und ich weiß jetzt schon, dass ich bis dahin kein Geld verdienen werde. Ich gehe nämlich nicht arbeiten und habe es in nächster Zeit auch nicht vor. Meinetwegen klingt das jetzt egoistisch, aber jeder, der sich mal bei McDonalds beworben hat und aufgrund seiner Sexualität abgelehnt wurde, wird mich verstehen. „Nochmal Pfannkuchen?“, fragt sie und betrachtet den, der auf ihrem Teller liegt, skeptisch. „Es gibt jedes Jahr Pfannkuchen“, erinnere ich sie. Wenn es nach mir ginge, würde es die Dinger auch jeden Tag geben. „Wir hätten heute ja was anderes machen können.“ „Wie du willst“, sagt sie und verzieht das Gesicht. Ich erwidere den Blick und antworte in der gleichen Tonlage: „Danke.“ 18:10 Meine Mutter ist nie da, wenn man sie mal braucht. Das Telefon klingelt ununterbrochen und ich bin mir sicher: Irgendjemand hat die Lautstärke manipuliert, denn ich höre es selbst durch das dicken Kissen, den ich mir über den Kopf presse. „Mama, Telefon!“, rufe ich, so laut ich kann, aber es hilft nichts. Stöhnend werfe ich das Kissen weg, schwinge meine Beine aus dem Bett und schlurfe genervt zu dem beknackten Teil. „Ja?“, brumme ich unfreundlich. Wehe, das ist jetzt nichts Wichtiges! „Julius?“ Mein Herz bleibt stehen. 18:12 „Bist du da?“, erklingt seine Stimme aus dem Hörer und ich bemerke den leicht belustigten Unterton ohne Schwierigkeiten sofort. „Ja.“ „Hast du kurz Zeit?“ „Ja.“ Immer. „Gut.“ Er räuspert sich. „Es geht um deinen Geburtstag…“ „Nein“, rufe ich und halte den Hörer von meinem Ohr weg. Ich weiß, es ist eigentlich total bescheuert, aber plötzlich zittere ich und würde am liebsten auflegen. Ich habe keine Ahnung, warum ich es nicht einfach mache – wenn er anruft, nur weil er denkt, er sei es mir meines Geburtstags wegen schuldig, soll er mich lieber weiterhin ignorieren. Ich will kein Mitleid, keine aus schlechtem Gewissen geäußerten Worte… „Julius!“, brüllt er. Langsam führe ich den Hörer wieder zu meinem Ohr. „Ja.“ Meine Stimme klingt neutraler als ich dachte. Cool. „Verdammt noch mal, lass das!“, blafft er mich genervt an. Ich bin kurz davor, wieder Ja zu sagen, halte aber in der Bewegung inne und nicke stattdessen. Was er natürlich nicht sehen kann. Mein Gott, bin ich blöd. „Magst du Pfannkuchen mit Ahornsirup oder Erdbeermarmelade lieber?“ „Beides“, antworte ich automatisch, bevor ich die Frage richtig erfasse. Hat er mich gerade ernsthaft nach meinen Pfannkuchenvorlieben gefragt? Was zum Teufel soll das jetzt? „Okay. Wir sind dann so gegen 17 Uhr da.“ Äh? „Ähm, was?“ Ich glaube, ich habe irgendwas verpasst. „Na, übermorgen.“ Übermorgen… „Oh.“ Er schnaubt amüsiert. „Mann, ich hab dir doch gesagt, dass wir deinen Geburtstag feiern werden.“ Ich beiße mir auf die Zunge, weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll und konzentriere mich deshalb auf die unwichtigen Sachen. „Ähm, ja, das solltet ihr vielleicht noch meiner Mutter sagen…“ „Weiß sie schon. Sie war ja eben hier. Papa und sie teilen sich die Kocharbeit.“ Ich habe definitiv irgendwas verpasst. „Warte, langsam. Ich komme nicht mehr mit.“ Untertreibung des Jahrhunderts. Ich bin verwirrt wie nie zuvor. „Mein Vater hat deine Mutter ins Kino eingeladen. Heute Abend. Weil sein Auto mal wieder kaputt ist, hat sie ihn abgeholt. Da sind wir irgendwie auf deinen Geburtstag gekommen“, sagt er langsam und betont jedes Wort einzeln, als würde er mit einem Kleinkind reden. Aber ich verstehe es immer noch nicht. „Was hat dein Vater mit meiner Mutter zu tun?“ Chris seufzt entnervt. „Himmel, Julius, mach einen Schritt nach rechts und komm von deiner Leitung runter! Anscheinend ist es ihnen doch etwas ernster und sie wollen es nochmal miteinander versuchen.“ „Zieht ihr dann wieder hier ein?“ Will ich die Antwort wissen? „Weiß ich nicht.“ Aber wenn ich die plötzliche Anspannung in seiner Stimme richtig deute… 18:17 „Es wird doch normal, oder? Also, übermorgen. Mit uns beiden“, frage ich langsam und durchbreche damit die Stille. „Ich weiß nicht…“, entgegnet er zögernd. „Ich gebe mir Mühe, mich so dir gegenüber zu verhalten, als wäre nichts gewesen, aber… nun ja, es ist eben doch etwas gewesen.“ Ich schlucke. Mein Mund ist plötzlich so trocken. „Schon okay“, sage ich heiser. „Ich komme damit klar.“ „Sicher?“ Sehr überzeugt wirkt er nicht. Ich auch nicht. Außerdem habe ich keine Ahnung, wo diese Worte herkommen. „Sicher“, antworte ich dennoch bestimmt und wenn ich es mir lange genug einrede, glaube ich es bestimmt irgendwann. „Okay“, gibt er nach, „Ich vertraue dir da einfach mal.“ Ich lache kurz auf. „Wehe, die Pfannkuchen schmecken nicht!“ 18:19 Ich bin glücklich. Chris schafft es so leicht, die verschiedensten Gefühle in mir hervorzurufen, eigentlich ist es unfair, dass das nicht auch umgekehrt gilt. Aber ich bin der Letzte, der jemanden dazu zwingen würde, seine sexuelle Ausrichtung zu ändern – vor allem, weil ich weiß, dass das schlichtweg unmöglich ist. Entweder ich akzeptiere es und lebe damit, oder ich gehe daran zugrunde und muss es trotzdem akzeptieren. Ich bin nicht naiv, wirklich nicht und ich weiß, dass es noch eine ganze Weile verdammt weh tun wird, aber irgendwann werde ich damit umgehen können. Das muss ich mir nicht einreden, das weiß ich einfach. Keine Ahnung, woher, aber ich bin mir sicher. Und ein bisschen Optimismus hat wohl noch niemandem geschadet, oder? 18:20 „Dann sehen wir uns übermorgen?“, frage ich sicherheitshalber noch einmal nach. Nicht, dass das doch nur ein Traum war. „Ja“, bestätigt er. „Ich freue mich drauf.“ „Ich auch.“ Das ist das erste Mal, dass ich mich auf einen Geburtstag freue. Ein Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich von einem Ohr zum anderen grinse und jetzt lasse ich den Lachanfall einfach raus. 18:25 Es ist unglaublich, was dieser Chris mit mir anrichtet. In nicht einmal zehn Minuten hat er den Großteil meiner Weltanschauung einfach auf den Kopf gestellt! Und meine Mutter scheint auf eine feste Beziehung aus zu sein! Was wohl als nächstes passiert? Vor mich hin summend räume ich mein Zimmer auf. In der letzten Woche habe ich es ganz schön vernachlässigt – und den Rest der Welt ebenso – aber irgendwann reicht es wirklich. Das Leben ist eben voller Überraschungen. Chris ist eine davon und egal, wie es mit uns weitergeht – ich bin dankbar, dass es ihn gibt. ENDE So... das war's. Ziemlich offen, das Ende, ich weiß... Aber im Gegensatz zu dem Schrott, der davor als letztes Kapitel gedacht war, bin ich sogar einigermaßen zufrieden. Meine Beta auch. Bei der möchte ich mich auch gleich mal bedanken, weil sie einfach wunderbare Arbeit geleistet hat! Also, viele lieben Dank, Lilith Iryna! (: Außerdem ein grooooßes Dakeschön an alle Reviewer, ich habe mich über jedes Einzelne so wahnsinnig gefreut - auch wenn ich es vor allem zum Ende hin nicht mehr geschafft habe, alle zu beantworten. Ich habe aber jedes Wort verschlungen und werde es (hoffentlich) auch weiterhin machen. Dankedankedanke! ~ San ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)