Gegensätze ziehen sich an von Eldeen (Überleben im Jahr 2070) ================================================================================ Prolog: Ein Hoch auf Psychologen. --------------------------------- Missmutig stand ich im Aufzug, der sich schnell Stockwerk für Stockwerk höher schob, und starrte auf die leuchtenden Knöpfe. Ich ahnte es jetzt schon. Es war eine schlechte Idee gewesen, hierherzukommen. Eine ganz schlechte. Als sich schließlich die Aufzugstüren öffneten, war ich kurz davor, den Erdgeschoss-Knopf zu drücken und umzukehren. Für einige Augenblicke betrachtete ich den Knopf und fragte mich, wie viele ungewaschene Hände ihn bereits berührt hatten. Nein danke… Ich schritt zu der Praxis des Psychologen und trat ein. In weiser Voraussicht hatte ich mich für einen entschieden, der weder mit Dr. Minerali bekannt war noch besonders berühmte oder reiche Patienten behandelte. Man konnte schließlich nie wissen. Die Frau hinter der Rezeption warf mir einen kalten Blick zu, als ich eintrat und einmal mehr liebte ich meinen Maskierungszauber. Die brünette Reporterin mit großer Oberweite und langen Beinen war für jede Frau eine potentielle Konkurrenz. Manchmal fragte ich mich, ob ich diese für mich so wichtige Maske nicht etwas schlichter hätte halten sollen, aber mit dem Gedanken normal herumzulaufen und keinen einzigen Blick auf mich zu ziehen, konnte ich mich ebenso wenig anfreunden. „Was kann ich für Sie tun?“ Die Gute hatte mich nicht einmal begrüßt. Ich schenkte ihr mein strahlendstes Reporterin-Lächeln. „Ich habe einen Termin. Ziemlich genau jetzt.“ Ein Funken von Genugtuung war in den Augen der hochkompetenten, kaugummikauenden Frau mit offenkundig nachgebesserter Oberweite zu sehen. Vermutlich hatte sie mich aufgrund schwerer psychischer Schäden soeben als Konkurrenz für die Männerwelt ausgeschlossen. „Gehen Sie doch bitte direkt durch.“ Sie gestikulierte vage in die Richtung eines Ganges, an dessen Ende ich das Sprechzimmer des Arztes erkennen konnte. Fast schon amüsiert dachte ich an den Aufzug zurück. Im Vergleich zu jetzt hatte ich dort hervorragende Laune gehabt. Ohne zu klopfen öffnete ich die Tür, trat ein und schloss sie sofort wieder. Halb überrascht, halb ängstlich starrte mich der Psychologe an. Es war ein etwas kleiner, stämmiger Mensch, dessen Gesicht eine ungesunde, rote Farbe aufwies. Ich tippte auch Bluthochdruck. Verwirrt blätterte er mit kurzen, dicken Fingern in seinen Akten. „Sie müssen… Anthony Canavan sein?“ Sein Blick wechselte von Verwirrung hin zu einem schon fast mitleidig verständnisvollen Lächeln. „Wie ich sehe, haben Sie schwerwiegendere Probleme als Zwangsneurosen.“ Ich entfernte meine Reporterin-Illusion, um weiteren falschen und obendrein peinlichen Schlussfolgerungen zu entgehen. Solange mich niemand kommen sehen hatte… Während der Psychologe mich anstarrte, als sei ich ein Gestaltwandler oder schlimmeres, ließ ich mich auf dem Stuhl ihm gegenüber nieder und verschränkte die Arme. „Ja, gut, dann äh…“, stammelte der Mann, der offensichtlich nicht allzu oft mit Magiern zu tun hatte. „Hallo Mr. Canavan. Anthony. Ich darf doch Tony sagen?“ Fast schon ungläubig starrte ich ihn an. „Tony?“, wiederholte ich und hob eine Augenbraue. „Habe ich mich als Tony vorgestellt? Wenn ich mich nicht irre, sagte ich Anthony. An-tho-ny. Kommen Sie, so schwer kann das nicht sein. Soll ich es buchstabieren?“ Der Psychologe blinzelte mich an, offenbar von meiner Reaktion überrascht. So viel zu der menschlichen Kompetenz von Psychologen. „Ach so, ich dachte nur… Nein, vergessen Sie’s, es tut mir Leid, Anthony“, bemerkte er schließlich, wobei er meinen Namen betonte, als spreche er mit einem kleinen Kind. Ich seufzte. „Hören Sie. Ich weiß genauso gut wie Sie, dass es Ihnen nicht Leid tut“, erwiderte ich und hob kurz die Schultern. „Tun Sie einfach so, als würden Sie den Namen normal aussprechen. Alle drei Silben. Keine Abkürzungen und so, als würden sie mich ernstnehmen.“ „Wieso ist Ihnen Ihr Name so wichtig?“, hakte er nach. Im ersten Moment wollte ich ihm – wie immer, wenn mich jemand nach zu persönlichen Dingen fragte – lediglich einen düsteren Blick schenken und das Thema wechseln, aber letztendlich musste ein Psychologe sowas vermutlich fragen. Ich beschloss, nach dieser Sache ein ernstes Gespräch mit Dr. Minerali zu führen. „Mein Geburtsname lautet Qun“, erklärte ich meinem dicken Gegenüber, das daraufhin die Augenbrauen hob. „Ja, ich weiß, er klingt furchtbar. Kein Klang, kein Stil, kein Ausdruck dahinter. Und wissen Sie, was noch besser ist? Qun war ein Regengott der Inka. Ein Regengott im Regenwald. Ich war schon immer der Meinung, dass man das nicht braucht. Dass ich in Seattle nicht als Qun leben konnte, stand also von vornherein fest. Ich brauchte etwas… Klangvolleres.“ „Ich verstehe“, bemerkte der Psychologe, während er ein paar Zeilen in seinen Rechner tippte. Ich bezweifelte allerdings, dass er mich verstand. „Gut, ich schließe daraus, dass Sie ursprünglich im… äh… Regenwald gelebt haben?“, fuhr er fort. Welch eine messerscharfe Schlussfolgerung. Ich fragte mich, ob der Psychologe zuerst nach einer traumatischen Kindheit oder doch eher nach einem schweren Vater-Sohn-Verhältnis fragen würde. Wie auch immer, die Situation wurde lächerlich. „Richtig“, bestätigte ich schließlich mit dem Hauch eines Lächelns. „Sprechen wir doch über den Regenwald“, schlug der Psychologe vor und öffnete eine weitere Datei an seinem Computer. „Es geht ja bei Ihnen um… leichte Zwangsneurosen, so wie ich das hier sehe vor allem im Bezug auf… Sauberkeit? War das ein Grund dafür, den Regenwald zu verlassen?“ Ich starrte den Mann an und versuchte herauszufinden, ob der Gute einfach inkompetent war oder ob er mich auf den Arm nahm. Ich tendierte zu meiner ersten Theorie. „Sie waren noch nie in einem Regenwald“, stellte ich mit einem gekünstelten Lächeln fest. „Wissen Sie – in mancher Hinsicht ist es dort wirklich etwas unhygienisch und unzivilisiert, aber das Leben im Regenwald wäre für jeden aus meinem Volk wesentlich gesünder als in dieser… Stadt.“ „Gut, dann erzählen Sie mir doch etwas über den Regenwald und Ihre Kultur“, sagte er hastig. „Was ist dort besser als hier, was nicht? Und wieso sind Sie im Endeffekt hierher gekommen?“ Als ich an meine Kindheit und Jugend im Regenwald zurückdachte, überkam mich wie immer eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut. Ich seufzte. „Wissen Sie, das Leben ist etwas ganz anderes. Die Menschen hier zerstören ihre Umwelt, um sich eine eigene zu erschaffen. Mein Volk und alle anderen Völker, die in den Regenwäldern leben, leben nicht nur in den Wäldern, sondern auch mit den Wäldern. Ich weiß nicht, wie gut Sie sich mit den Xapiri Thëpë auskennen…“ Ich machte eine kurze Pause und wartete auf eine Reaktion. Der Blick den er meinen grünen Flecken, dem photosynthetisch aktiven Gewebe, schenkte, sagte mir, dass er vermutlich noch nie von meinem Volk gehört hatte. „Wir sind in der Lage Photosynthese zu betreiben“, fuhr ich also fort. „Endosymbiontentheorie.“ Sein Blick sagte mir, dass er mich nicht wirklich verstand, aber ihm das Einwandern von photosynthese-fähigen Mikroorganismen zu erklären, hielt ich für sinnfrei. „Wie Sie bestimmt auch mal gelernt haben, für Photosynthese benötigt man Sonnenenergie, CO2 und Wasser. Vorzugsweise sauberes Wasser. Letzteres gibt es im Regenwald zur Genüge – das Wasser, das Sie hier trinken, ist… sagen wir, für jemanden, der sich damit auskennt, schmeckt es ungefähr wie flüssiger Dreck. Schadstoffe in der Luft sind für uns ebenfalls unangenehm, im Regenwald produzieren die Pflanzen mehr als genug Sauerstoff, um das alles wieder auszugleichen.“ Der Mann beobachtete mich halb gelangweilt, halb verwirrt. „Kurz um, eigentlich ist der Regenwald die Umgebung, an die wir am besten angepasst sind. Deshalb…“ „Und wieso sind Sie dann hier?“ Ich starrte ihn ungläubig an. Der kleine, dicke Mensch hatte mich gerade unterbrochen. Die erste, grundlegendste Fähigkeit für jeden Psychologen war das Zuhören. Das hatte man meinem Exemplar vermutlich nie gesagt. „Wenn Sie mich aussprechen lassen würden“, entgegnete ich mit einem eisigen Lächeln, „wüssten Sie das jetzt vielleicht bereits.“ Wut und Angst schienen in seinen Gesichtszügen zu kämpfen. Am Ende des Gespräches würde das vermutlich anders sein. „Also – wo war ich stehen geblieben?“, fragte ich und blickte zu dem großen, seit etwa drei Jahren nicht mehr geputzten Fenster. „Richtig. Das waren die positiven Aspekte. Aber es gibt natürlich immer zwei Seiten.“ Ich stützte mich mit den Ellbogen beiläufig auf seinen Tisch und legte die Fingerspitzen aufeinander. „In der Kindheit und Jugend ist es sicherlich ganz… nett, jeden Tag auf Bäume zu klettern und irgendwelche Vögel oder Säugetiere zu jagen. Es ist zwar Alltag, aber dennoch ist es als Kind abenteuerlich, in besseren Zelten zu schlafen, durch Flüsse zu waten oder auf dem Boden durch die Gegend zu pirschen. Verstehen Sie mich nicht falsch, für den Großteil meines Volkes ist das nicht nur in der Jugend nett, sondern auch noch nach zweihundert Jahren. Wir leben abgeschieden, der einzige Kontakt zu Ihrer… dieser Welt sind Forscherteams. Manchmal ist das sogar ganz amüsant…“ Ich dachte zurück an das Forscherteam, das es gewagt hatte einen unserer Schreine abbauen und zu Forschungszwecken mitnehmen zu wollen. Sehr amüsant. „Aber wenn Sie dann als Xapiri Thëpë Geräte und Ausrüstungsgegenstände sehen, die Sie noch nie gesehen haben, eine fremde Sprache hören und wissen, dass es eine völlig andere Zivilisation gibt, finden sie das entweder hochinteressant oder beängstigend. Problematisch ist es, wenn Sie zu der ersten Gruppe gehören, weil etwa 99 % Ihres Volkes der anderen angehören. Als ich ungefähr 20 war, traf ich mich oft heimlich mit einem Forscherteam, um ihre Sprache zu lernen. Im Gegenzug gab ich ihnen einige unwichtige Informationen, erzählte ihnen Dinge über mein Volk.“ Belustigt dachte ich zurück. Für jede richtige Information hatte ich den armen Forschern mindestens fünf falsche gegeben. „Sie erzählten mir von ihrer Kultur, ihrem Leben und ich war fasziniert. Das Leben im Regenwald ist, wie gesagt, ganz hübsch, aber das Leben, von dem die Forscher erzählten, war nicht nur spannender, sondern voller Annehmlichkeiten. Saubere Wohnungen, Betten, Komfort, Dinge, die mein Volk nicht kennt. Glauben Sie mir, das klingt verlockend, wenn sie jeden zweiten Morgen mit Insekten im Gesicht aufwachen. Problematisch ist die Tatsache, dass mein Volk nicht wirklich aufgeschlossen reagiert, wenn einzelne Xapiri Thëpë in die Zivilisation aufbrechen wollen.“ Ich machte eine kurze Pause und dachte zurück. Zuerst hatte man versucht, mich zu überreden, nicht zu gehen. Dann hatte man versucht, mich zu zwingen. Und zum Schluss hatte man versucht, mich zu töten. Meine Mutter hatte mir die Flucht ermöglicht, mein Vater hätte das nicht getan. Unwillkürlich presste ich kurz meine Lippen aufeinander. Ich war mittlerweile sehr gut darin, diese Dinge in den Hintergrund zu schieben und so zu tun, als seien sie nie passiert. „Ich erspare Ihnen die Details“, fuhr ich fort. „Wie Sie vorhin vielleicht schon gesehen haben, bin ich magisch nicht unbegabt. Im Gegenteil…“ Ich ließ den Satz unbeendet und wusste, dass er dem Seelenklempner etwas Respekt einflößen würde. „Aber sagen wir es mal so, es ist anstrengend und unangenehm, stundenlang unsichtbar in einem Flugzeug zu sitzen.“ „Unsichtbar?“, hakte der Psychologe nach und ich kam nicht umhin, eine gewisse Genugtuung zu verspüren, als ich die Angst in seiner Stimme hörte. „Ich kam in Nordamerika an“, sagte ich und ignorierte seinen Einwurf geflissentlich, „und es war, als sei ich in einer völlig neuen Welt gelandet. Auf einem fremden Planeten, wie auch immer. Die ersten paar Wochen waren allerdings… furchtbar. Hm, nein, grausam trifft es vielleicht eher. Sie kommen als Xapiri Thëpë hier an, sehen einen Fluss und müssen das Wasser nur ansehen, um zu wissen, dass es sie umbringen wird, wenn Sie mehr als drei Tropfen trinken. Richtig gutes Gefühl, das kann ich Ihnen sagen.“ „Und wie haben Sie sich zurechtgefunden?“ Offenbar hatte ich jetzt doch das Interesse meines Gegenübers geweckt. „Gar nicht. Ich wusste von den Forschern, dass ich Geld brauche. Sowas gibt es bei uns nicht. Die Forscher sagten, dass jeder Mensch Geld bei sich trägt, dementsprechend habe ich mich dazu entschieden, etwas Geld zu besorgen. Sagen wir… auf nicht ganz legale Art und Weise.“ Ich lächelte, der Psychologe wurde blass. „Dabei stieß ich auf einen Menschen, der mir weiterhelfen konnte. Giovanni, ein guter Bekannter von mir. Er hatte die eine oder andere Verbindung, verschaffte mir eine Wohnung und einen Job und einen Kontaktmann, der mir frisches Quellwasser importiert. Als photosynthetisch aktiver Organismus ist das sehr wichtig.“ „Das ist alles?“ „Womit haben Sie gerechnet?“, fragte ich halb amüsiert, halb beleidigt. „Mit Mord und Totschlag? Magische Duelle in den Schatten der Straßen?“ Tatsächlich hatte es den einen oder anderen Zwischenfall gegeben, den man in diese Kategorien einordnen konnte, allerdings hielt ich es nicht für sonderlich klug, bei dem ohnehin schon eingeschüchterten Menschen ins Detail zu gehen. „Wie lange leben Sie jetzt schon hier?“, hakte der dicke Mann nach. „Und seit wann und wie äußern sich Ihre Zwangsneurosen?“ Wenn ich so darüber nachdachte, hatte der Gute am Anfang wohl doch nicht falsch gelegen. Schwerwiegendere Probleme als die leichten Zwangsneurosen? Vielleicht schon. Objektiv betrachtet sogar definitiv. „Seit gut zehn Jahren“, antwortete ich mit leicht belegter Stimme. „Und zu dem Rest… Der Regenwald mag zwar nicht gerade hygienisch sein, aber diese Stadt, ihre komplette Zivilisation, ich bitte Sie! Hier ist alles kontaminiert. Sehen Sie sich doch mal Ihr Fenster oder den Fußboden an. Sie züchten hier bestimmt mehrere Hundert verschiedene Bakterienarten. Und von dem Wasser müssen wir gar nicht erst sprechen.“ „Ja, hm...“, machte er und kratzte sich gedankenverloren am kahl werdenden Kopf, „wie ist denn Ihre momentane Wohnsituation?“ Ich dachte an meine Wohnung. Aufgeräumt, leblos würden manche vermutlich dazu sagen. Ich hatte keinen unnützen Dekokram, ich hatte das, was ich brauchte. Und Pflanzen. Exotische Pflanzen. Die Wohnung war voll damit. Überall, wo genug Sonnenlicht hinkam, hatte ich sie aufgestellt. „Eine normale Wohnung in einem Hochhaus“, sagte ich. „Viele Pflanzen.“ „Kann es sein, dass Sie den Verlust des Regenwaldes kompensieren wollen?“ „Den Verlust des Regenwaldes kompensieren?“, wiederholte ich und wusste, dass er vermutlich recht hatte. „Das bezweifle ich.“ „Also bereuen Sie Ihre Entscheidung hierher zu kommen nicht?“ Spontan hatte ich keine Antwort auf die Frage und das kam selten vor. Noch bevor ich allerdings die Gelegenheit hatte darüber nachzudenken, fuhr der Psychologe fort. „Ich glaube, Anthony… Tony, dass Sie eine gebrochene, einsame und kaputte Persönlichkeit sind.“ Ich starrte ihn an, war mir nicht sicher, ob ich ihn auslachen oder eher aus dem nicht geputzten Fenster werfen sollte. „Anthony“ bemerkte ich kalt und fügte voller Ironie hinzu: „Und es freut mich ungemein, dass Sie ein so genaues Bild von mir haben.“ „Sie dürfen sich nicht hinter Ihrem Namen verstecken, Anthony!“, forderte er mich auf, machte eine kurze Kunstpause und fuhr fort. „Sie haben alles zurückgelassen, um ein Abenteuer zu erleben, um etwas Neues zu sehen, aber Sie wurden bitter enttäuscht. Sie mussten feststellen, dass Sie weder körperlich noch psychisch für diese Welt geschaffen sind.“ Ich spürte, wie mein Körper sich anspannte. Wut stieg in mir auf. Wie konnte sich dieser plumpe Mensch, der weder etwas von meinem Volk noch von mir wusste, anmaßen, so etwas zu mir zu sagen? Ich biss die Zähne aufeinander, versuchte nach außen hin ruhig zu wirken. „Sie tun mir so schrecklich leid“, fügte er hinzu und ahnte vermutlich nicht, dass er sich damit in immer größere Gefahr brachte. „Lassen Sie den Anthony zurück, kehren Sie um. Sie müssen nach Hause.“ Er machte eine kurze Pause. „Qun, diese Zivilisation wird Sie zerstören.“ Abrupt stand ich auf, mein Stuhl kippte um, landete weich auf dem Teppichboden. Wie von selbst ballten sich meine Hände zu Fäusten. „Sie haben kein Recht dazu, mich mit diesem Namen anzusprechen“, fuhr ich den Psychologen an, darum bemüht, nicht zu schreien. „Sie wissen nichts und maßen sich an, so mit mir zu sprechen!“ Der Psychologe schien immer noch nicht begriffen zu haben, dass er zu weit gegangen war, denn er setzte dazu an, weiterzureden. „Halten Sie den Mund“, kam ich ihm zuvor. „Soll ich Ihnen etwas sagen? Es war ein großer Fehler von mir hierherzukommen und es war ein noch größerer Fehler von Ihnen, mich zu behandeln, als würden Sie mich kennen.“ Strenggenommen hatte der gute Mann einfach Pech. Er hatte Pech, weil er der Psychologe war, den ich mir ausgesucht hatte. Er hatte Pech, weil er mich offenbar nicht im Geringsten einschätzen konnte. Er hatte Pech, weil er zu viel wusste. Ich sammelte meine magischen Kräfte. Mit einem leichten Manaball würde ich den guten Mann dazu bringen können, alles zu tun. Ich setzte ein falsches Lächeln auf und sah, wie sich die Augen des Mannes weiteten, als er die Ausläufer des Manaballs spürte. Jeder, der diesem Angriff nicht wiederstehen konnte, würde Schmerzen erleiden und vermutlich daran sterben. Auch wenn ich in diesem Moment das Bedürfnis hatte, diesen unverschämten Menschen einfach an Ort und Stelle zu beseitigen, war das keine Option. Das Gesicht des Psychologen verzerrte sich. „Hören Sie mir genau zu“, sagte ich leise und mit unterdrückter Wut. „Sie werden jetzt die nette, sympathische Reporterin zur Garderobe begleiten, ihre nette Arzthelferin grüßen, anschließend in Ihr Zimmer zurückgehen und die Türe offen lassen. Haben Sie das verstanden?“ Ich verstärkte meinen Zauber ein wenig und der dicke Mann, dessen Gesichtsfarbe mittlerweile ein noch ungesunderer Rot-Ton war, nickte. Nach einigen Augenblicken brach ich den Zauber ab und legte meine Reporterin-Illusion an, um ihm ein kaltes Lächeln zu schenken. Etwas zittrig begleitete er mich zur Garderobe, grüßte seine Arzthelferin, die nur Augen für ihn hatte und betrat sein Zimmer. Ich machte mich unsichtbar. Ich ahnte bereits, dass das ein sehr anstrengender Tag werden würde, aber er wusste einfach zu viel. Langsam und leise schritt ich zu seinem Zimmer und war dankbar für den uralten, furchtbar ekelerregenden Teppich, der wenigstens meine Schritte schluckte. Wenige Zentimeter hinter ihm blieb ich stehen. „Schließen Sie die Tür.“ Sofort begann der dicke Psychologe zu schwitzen. Sein Atem beschleunigte sich und schließlich stand er zittrig auf und trat zur Tür, um diese zu schließen. Sofort ließ ich den Unsichtbarkeitszauber fallen. Mit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Es tat mir fast ein bisschen leid, aber es gab keinen anderen Weg. Der Mann wusste zu viel und hatte mich obendrein beleidigt. „Setzten Sie sich an den PC“, wies ich ihn an und wartete, bis er sich hingesetzt hatte, „und jetzt tippen Sie.“ Ich diktierte ihm einen Abschiedsbrief. Selbst für meinen Geschmack war das etwas unpassend, aber einen Psychologen zu töten, bei dem ich vorher meine Reporterin-Maske verwendet hatte, war keine gute Idee. Vielleicht hätte ich mir das im Voraus überlegen sollen. Vielleicht hätte ich im Voraus auf einen Psychologen verzichten sollen. Vielleicht hätte ich… Aber Vielleichts würden mich nicht weiterbringen. Als der Abschiedsbrief fertig, ausgedruckt und von dem völlig verstörten und zitternden Mann unterschrieben worden war, blickte ich zum Fenster. „Öffnen Sie das Fenster.“ Er schien zu ahnen, was ich vorhatte, denn er begann zu protestieren, wollte mich sogar angreifen. Um nicht noch mehr Magie zu verschwenden, zog ich meine Holdout. Instinktiv wich er zurück, öffnete das Fenster. Eine kräftige Windböe fegte durch das Zimmer. „Anthony!“, stammelte er. „Tony, ich bitte Sie! Lassen Sie uns wie zwei vernünftige Menschen darüber reden!“ Der Wind zerrte an seinem billigen Anzug, Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. „Drehen Sie sich um und sehen Sie aus dem Fenster.“ Aus reiner Angst tat er es und ich ging davon aus, dass er kurz vor einem Kreislaufkollaps stand, zumal er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. „Ich bitte Sie!“, brachte er hervor, die Worte waren wegen des Windes kaum zu verstehen. „So etwas würden Sie doch nicht tun. Denken Sie an Ihre Familie, Qun!“ Ich wartete auf die Wut, die normalerweise aufkam, wenn mich jemand mit meinem richtigen Namen ansprach, doch sie blieb aus. Stattdessen zögerte ich, erinnerte mich an den Regenwald. Ich hatte es gehasst, Tiere zu töten, zu jagen. Die Auseinandersetzungen und die Kämpfe mit den besonders aufdringlichen Forscherteams, die ich eigentlich im Nachhinein als fast amüsant betrachtete, hatten mich seinerzeit entsetzt und schockiert. Der Psychologe hatte recht. Qun würde so etwas nicht tun. Es gab nur ein Problem: Seit ich in Seattle war, war ich Anthony Canavan. Ein Shadowrunner. Anthony Canavan war zwar äußerlich ein Xapiri Thëpë, doch von der ansonsten naturverbundenen Einstellung seines Volkes war nicht viel übrig geblieben. Ich presste die Lippen aufeinander und bemerkte, wie der Psychologe sich schon fast hoffnungsvoll umdrehte, um mich anzusehen. Anthony Canavan war ein Mann, der gelernt hatte, dass es oft notwendig war Dinge zu tun, an die Qun nicht einmal gedacht hätte. Anthony Canavan bestach als Reporterin getarnt einen Polizisten, um an Informationen zu kommen. Anthony Canavan zögerte nur selten, wenn er zum Selbstschutz jemanden beseitigen musste. Zum ersten Mal seit langem fragte ich mich, wie viel Qun überhaupt noch in mir steckte. Ich sah den Psychologen an und lächelte ein unechtes, falsches Lächeln. „Sie haben recht“, bemerkte ich, „Qun würde nach Hause zurückkehren und Ihnen ein schönes Leben wünschen.“ Ich machte einige Schritte auf ihn zu und seine Augen weiteten sich. „Aber ich bin Anthony Canavan. Und vermutlich hatten Sie auch in einem anderen Punkt recht. Ich glaube auch, dass ich schwerwiegendere Probleme als ein paar Zwangsneurosen habe.“ Tränen formten sich in seinen Augen. „Nein, bitte, Sie können nicht…“ Ich konnte. Die Praxis befand sich im vierzehnten Stock und ich blieb nicht am Fenster stehen, um das Ergebnis meiner Arbeit zu sehen. Stattdessen machte ich mich ein weiteres Mal unsichtbar und stieß die Tür auf, als sei sie durch den starken Luftzug aufgestoßen worden. Die blonde Frau hinter der Rezeption sprang auf und eilte in das Zimmer, Entsetzen stand ihr in das Gesicht geschrieben. Leise schritt ich an ihr vorbei, verließ die Praxis und nahm die Maske von einem unscheinbaren Mann mit einem Allerweltsgesicht an. Ich hasste diese Maske, sie war so schlicht, aber genau das war es, was ich jetzt brauchte. Es war eines jener völlig durchschnittlichen Gesichter, die man tausendfach auf den Straßen sah, eines jener Gesichter, denen niemand einen zweiten Blick schenkte. Im Erdgeschoss verließ ich das Haus und bemühte mich, das Menschenchaos, das sich bereits um den Psychologen auf dem Gehweg gebildet hatte, zu ignorieren. Ein paar Straßen weiter stieg ich in ein Taxi und ließ mich in die Nähe meiner Wohnung fahren. Den restlichen Weg legte ich ohne Maske zurück. Hier kannten mich die Leute ohnehin vom Sehen und ich war weit genug von der Praxis entfernt. Als ich nach einer Weile meine Wohnung betrat, begrüßten mich meine beiden Mitbewohner, ein schlanker, graziler Kater und eine gedrungene, agile Katze. Ich ließ meinen Blick durch die Wohnung schweifen, betrachtete die beiden Tiere und meine Pflanzen. Das war es, was von Qun übrig geblieben war. Ich seufzte, ließ mich auf dem Sofa nieder und lächelte leicht, als der gefleckte Kater sich schnurrend auf meinen Schoß legte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)