Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 6: Meer aus Farben -------------------------- »Liebe Zuschauer, was halten Sie von unseren Tributen? Haben Sie schon einen Favoriten? Ich finde, dieses Jahr erwartet uns wieder eine vielfältige Mischung! Wird uns ein Außenseiter verblüffen oder kann Distrikt eins seine Siegesserie fortsetzen? Was meinst du, Claudius? Nun Caesar, Distrikt neun hat uns dieses Mal eine schöne Überraschung beschert – ich bin gespannt, ob sie noch mehr davon bereithalten. Einzig von Distrikt vier bin ich ziemlich enttäuscht, ihr Kampfgeist hat stark nachgelassen. Nicht ein Freiwilliger! Abwarten, Claudius, wie sich die Tribute bei der Eröffnungszeremonie präsentieren werden. Denn Sie wissen – noch ist alles möglich! Bleiben Sie dran, es wird spannend! Wir sehen uns heute Abend bei Capitol TV, Ihrem staatlichen Sender rund um die Hungerspiele.«   Als ich den Speisewagen für das Frühstück betrete, ist außer mir nur Cece da. Sie ist aufgerüscht wie immer und trägt Kostüm Nummer drei. Ihre bunte Lockenpracht hat sie zur Feier des Tages mit goldenem Glitzerstaub eingesprüht. Erfreut sieht sie auf, während ich unschlüssig in der Tür stehe. »Setz dich, setz dich«, flötet sie. Auf dem Tisch reiht sich Leckerei an Leckerei, wie schon gestern Abend. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich nehme mir gleich zwei der luftigen Brötchen, die ganz anders schmecken als das Brot aus unserem Distrikt, in dem immer etwas Algen eingebacken werden. Auch an Wurst und Obst spare ich nicht. Alles ist so neu und ungewohnt, dass jeder Bissen ein Erlebnis ist. Es kann nicht schaden, wenn ich ein bisschen an Gewicht zulege, denn in der Arena wird Nahrung Mangelware sein. Wenigstens ergeht es mir ein einziges Mal im Leben in diesen letzten Tagen richtig gut. Schließlich kommt auch der verschlafene Pon zu uns. Verschwörerisch lächelt er mich an und ich grinse zurück. Erst als wir beide fast fertig sind mit dem Frühstück und ich gierig die Reste mit einem Stück Brot aufwische, eröffnet Cece das Gespräch. »Also, heute ist euer großer Tag! Deswegen müssen wir noch einmal alles durchgehen. Ihr wisst, dass heute Abend die große Wagenparade ist? Natürlich tut ihr das!«, sie lacht gackernd auf und wirft den Kopf in den Nacken, sodass es ein Wunder ist, dass ihre Perücke nicht herunterrutscht. »Eure Stylisten erwarten euch bereits vor Ort und morgen beginnt dann schon das Training! Da wir das Glück haben, fünf Sieger zur Verfügung zu haben, dachten wir, dass ihr jeweils zwei Mentoren als Trainer an die Seite gestellt bekommt.« Ich nicke lustlos und spüle die Reste des Frühstücks mit Orangensaft hinunter. Solange Cece redet, werden meine düsteren Gedanken wenigstens leiser. »Ihr könnt euch natürlich entscheiden, ob ihr zusammen oder getrennt trainiert! Aber das Wichtigste sind erst mal eure Outfits heute Abend! Ich bin überzeugt, dass ihr entzückt sein werdet! Wir haben uns etwas ganz Besonderes ausgedacht! Also, beeilt euch, wir sind bald da.« Fröhlich strahlend schenkt sie sich noch eine Tasse gelblichen Tees ein und macht sich mit dieser auf den Weg, um unsere Mentoren zu wecken. Seufzend blicke ich ihr nach. Sie lässt uns ja nicht einmal die Chance, etwas zu sagen. Gleichzeitig frage ich mich, was Cece wohl unter ‚besonders‘ versteht. Ihr Kleidungsstil spricht nicht gerade für sie. »Ich hoffe, dass sie uns nicht in Fischkostüme stecken, so wie die Tribute vor ein paar Jahren …«, murmle ich an Pon gewandt. Er grinst. »Oder Taucheranzüge in der Hitze!« Die Outfits bei der großen Eröffnungsfeier, bei der wir uns das erste Mal dem Kapitol präsentieren werden, sind ein heikles Thema. Mitunter werden die Tribute in die grässlichsten denkbaren Kostüme gesteckt. Das Problem ist, dass manche der Stylisten die Besonderheiten der Distrikte etwas … eigenwillig interpretieren. Vor zwei Jahren steckten unsere Kandidaten in schillernden Stofffetzen, die angeblich an Fische erinnern sollten, und davor waren es hautenge Taucheranzüge. Und oft genug kommt es vor, dass die Tribute beinahe nackt, wie ein Stück Fleisch, präsentiert werden. So entblößt vor den hysterischen Massen aufzutreten muss die Hölle sein. Pon ist das entscheidende Quäntchen zu jung, als dass er sich davor fürchten bräuchte, aber was wird der Stylist aus mir machen? Finnick Odair ist schließlich das beste Beispiel für jemanden, der sich vor allem dank des Aussehens Aufmerksamkeit gesichert hat. Ich bezweifle trotz seines Auftretens, dass er sich mit vierzehn dafür entschieden hat, in einem durchlässigen Fischernetz aufzutreten. Irgendein exzentrischer Modeschöpfer wird daran schuld sein. Hoffentlich bin ich nicht sein nächstes Opfer. Draußen vor dem Fenster zieht die Landschaft inzwischen gemächlicher vorbei. Bald werden wir das Kapitol erreichen. Zur Ablenkung wende ich mich den Erdbeeren zu, die Pon in einer Obstschale entdeckt hat. Ich bin eigentlich längst satt, teile sie aber dennoch mit Pon. So werden die unablässigen Gedanken an das Kapitol und die Hungerspiele noch einen Moment von meinem Lieblingsobst zurückgedrängt. »Probier sie mal mit Zucker«, haucht mir urplötzlich jemand von hinten zu. Erschrocken wirble ich herum – und funkle geradewegs Odair in die Augen. Er hält eine Schale mit Zuckerwürfeln in der Hand und zieht eine Augenbraue hoch, als er mich schon wieder erröten sieht. »Vielleicht entspannt dich das etwas«, ergänzt er und stellt die Schüssel auf dem Tisch ab. Von der Seite höre ich ein unterdrücktes Prusten und sehe Amber, die hinter ihm hereingekommen ist, und versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Möglichst kühl greife ich nach einem Zuckerwürfel und zerbrösle ihn über den restlichen Erdbeeren. Zucker gab es daheim zuletzt, als Odair die Spiele gewonnen hat. An dem Tag seiner Rückkehr gab es ein großes Festmahl für alle Einwohner, bei dem ich zum ersten Mal überhaupt einen süßen und klebrigen Kuchen gegessen habe. Der Süßstoff ist ein seltenes Gut, den das Kapitol streng rationiert. Die meisten Distrikte bekommen ihn nur, wenn einer ihrer Tribute siegreich ist. Mit den Jahren habe ich den Geschmack fast wieder vergessen. Doch Odair hat nicht zu viel versprochen, die Erdbeeren schmecken jetzt noch intensiver. Bei meinem überraschten Gesichtsausdruck breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Nicht so übel, oder?« Ich schüttle den Kopf. »Das ist ... fast schon zu süß. Aber nur fast.« Gerade setzt er zu einer Erwiderung an, da schreit Pon laut auf und deutet aus dem Fenster. Draußen kommen die ersten Häuser in Sicht. Der Zug biegt um die Kurve und verlangsamt sich zusehends. Die Aussicht ist unglaublich. Ein riesiger See mit einer großen Fontäne erstreckt sich vor uns, umsäumt von gläsernen Türmen. Dahinter liegt im Morgendunst verborgen die eindrucksvolle Skyline der Hauptstadt. Das Panorama verschlägt mir die Sprache. So sehr uns das Kapitol straft, ich muss gestehen, der Anblick dieser riesigen Stadt mitten in den Bergen hat etwas Majestätisches. Staunend beobachten wir, wie die Prunkbauten näher kommen. Die Bahn schwebt auf den Schienen ein gutes Stück über der Erde, sodass wir einen perfekten Ausblick auf die Menschenmassen haben, die unten auf den farbenfroh gepflasterten Straßen flanieren. Die ganze Stadt sieht wie ein einziges buntes Meer aus. Das Beeindruckendste sind die Gebäude, von denen einige bis in den Himmel zu reichen scheinen. Kein Vergleich zu den kleinen Hütten und Häusern daheim. Ehe wir uns versehen, läuft der Zug schon in den Bahnhof ein. Unmengen von auffällig gekleideten Leuten drängen sich am Bahnsteig, nur um uns zu sehen. Selbst durch die geschlossenen Fensterscheiben ist ihr Jubel hörbar. Aber in Wirklichkeit warten sie nur darauf, dass wie in der Arena sterben. Und doch fühlt es sich für einen Moment an, als wären wir etwas Besonderes und nicht die zum Tode verurteilten Tribute. Ruckend stoppt der Zug. Cece kommt zurück in den Waggon gehastet und faucht, dass wir uns beeilen sollen. In aller Eile greife ich nach der letzten Erdbeere, doch Finnick schnappt sie mir vor der Nase weg. Zeit, mich darüber zu ärgern, bleibt nicht, denn schon werden wir Richtung Ausgang gedrängt. Hinter den geschlossenen Türen höre ich die Menge unsere Namen brüllen. Obwohl es immer noch kühl ist, werden meine Handflächen feucht. Cece packt mich und Pon bei den Schultern. »Denkt daran – Winken, winken und noch mehr winken«, flötet sie, dann öffnet sich zischend die Tür und die Show beginnt. Jubel schlägt uns entgegen wie eine Flutwelle. Cece schreitet winkend die Stufen hinab, dann folgen wir Tribute und die Mentoren bilden die Nachhut. Der Hüne Trexler stützt die alte Mags, die mit unserer flinken Betreuerin nicht Schritt halten kann und auch Floogs mit dem steifen Bein humpelt hinten drein. Wieder schirmen Friedenswächter uns von der Menge ab, wofür sie, anders als in Distrikt vier, ganze Arbeit leisten müssen. Mich beschleicht das Gefühl, dass mindestens die Hälfte des Jubels allein Finnick Odair gilt, dennoch ist es überwältigend. Sogar die Luft scheint hier anders zu riechen, irgendwie blumiger. Zaghaft hebe ich meine Hand und bewege sie ein wenig hin und her. Pon dagegen stellt sich viel besser an. Er strahlt über das ganze Gesicht und schwenkt ausgelassen den Arm. Das Kapitol liebt es. Blumen werden uns zugeworfen und säumen unseren Weg. Bei der Hälfte des Wegs legt Odair mir von hinten die Hand auf die Schulter. »Stell dir vor, diese Leute wären alles bloß Familienangehörige und Freunde von dir. Tu so, als würdest du dich freuen, sie zu sehen. Und wenn das nicht funktioniert, stell dir vor du bist in einem Park mit vielen exotischen Tieren, die alle nur darauf warten, von dir gestreichelt zu werden«, flüstert er mir ins Ohr. Sein Vergleich klingt zwar absurd, aber tatsächlich hilft die Vorstellung, dass der Mann im gelben Federmantel, der lautstark meinen Namen ruft, bloß ein komischer Vogel ist. Ich muss das Kichern zurückhalten, während ich mir einen langen Schnabel anstelle seines tiefrot geschminkten Munds denke. Dem Vogelkerl scheint das Grinsen in meinem Gesicht zu gefallen und er wirft Luftküsse zurück. Ich bin etwas angewidert davon, doch Odair schiebt mich mit sanftem Druck auf die Schulter weiter. »Ignorieren oder erwidern«, zischt er aus dem Mundwinkel, während er selber seinen Fans zuzwinkert und Liebesbekunden erwidert. Und schon finde ich einen neuen Paradiesvogel, dem ich zuwinken kann. Odairs Tipp ist das erste Vernünftige, was er von sich gegeben hat. Vielleicht taugt er doch zum Mentor. »Danke«, flüstere ich ihm zu. Vor dem Bahnhof warten noch mehr Menschen auf uns. Wir werden zu einem großen schwarzen Auto mit getönten Scheiben geführt. Cece seufzt schwer. Sie scheint enttäuscht, dass unser kleiner Auftritt schon wieder vorbei ist. »Sie lieben euch!«, ruft sie begeistert aus. Sobald wir eingestiegen sind, drückt sie sich an das Fenster, um einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das leiser werdende Publikum zu werfen. »Na klar lieben sie uns.« Amber verdreht die Augen. »Sie können es doch gar nicht abwarten, dass die beiden sich zusammen mit den anderen die Köpfe einschlagen.« Mags wirft ihr einen strengen Blick zu und sie schmeißt sich mit verschränkten Armen in einen Sitz im Heck. Erleichtert, der Menge entkommen zu sein, lasse ich mich in das weiche Lederpolster neben Pon fallen, dessen Strahlen langsam verblasst. Die älteste Siegerin setzt sich uns gegenüber und streicht ihm zärtlich über die Hand. »Keine Sorge, jetzt werdet ihr bloß ein wenig frisiert. Das wird vielleicht ein bisschen komisch, aber euch erwartet nichts Schlimmes.« Verlegen schiebe ich meine Hände, die das Zittern seit gestern nie ganz eingestellt haben, unter die Oberschenkel. »Ich bin stolz auf euch! Und heute Abend werdet ihr ihnen noch eine viel bessere Show bieten, das habe ich im Gefühl«, mischt Cece sich lautstark ein. Ich bin froh, dass der Fahrer aufs Gas tritt und wir zumindest diese Menge endlich hinter uns lassen. Erst jetzt bemerke ich die Anspannung in meinen Gliedern. Schultern und Kiefer sind total verkrampft und ich spüre, wie sich Bauchschmerzen ankündigen. Die Hungerspiele haben bereits begonnen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)