Potpourri von abgemeldet (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Transaktionales Stressmodell --------------------------------------- Eigentlich bin ich nicht sonderlich stressempfindlich. Ich leide vor anstehenden Klausuren nicht unter Schlafstörungen, Appetitlosigkeit oder Haarausfall. Ich werde nicht zittrig oder grau oder unausstehlich oder was auch immer. Im Allgemeinen lasse ich mich einfach nicht so sehr von der Welt stressen. Das heißt…mit einer Ausnahme. Jonas. Das war schon immer so, also seit ich ihm das erste Mal begegnet bin. Dienstags und donnerstags bin ich immer zum Nervenbündel geworden. Aber seit wir uns regelmäßig sehen, stehe ich praktisch ununterbrochen unter Stress. Sind wir am Freitagabend verabredet, um im Himmel & Hölle ein Bier zu trinken, fange ich spätestens am Donnerstagvormittag an zu hyperventilieren. Und umso näher dann unser Zusammentreffen rückt, desto schlimmer wird es. Und wenn wir erst voreinander stehen, dann… Ja, dann geht für einige Sekunden gar nichts mehr. Mein Herz setzt ein paar Schläge aus, mein Atem stockt, meine Knie werden weich, meine Ohren summen. Der Gedanke, dass wir tatsächlich miteinander verabredet sind, dass er meinetwegen hergekommen ist, dass wir den Abend gemeinsam verbringen werden, macht mich so wahnsinnig glücklich, dass mir allein vom Denken schwindlig wird. Und natürlich mache ich mir dabei unheimlichen Stress. Schließlich möchte ich, dass er mich mag. Ich möchte ihn davon überzeugen, dass ich nett und klug und witzig und liebenswert bin, möchte ihm zeigen, dass die Zeit mit mir nicht verschwendet ist. Da ist es ganz selbstverständlich, dass ich über meine eigenen Füße stolpere oder ihn ewig mit der sterbenslangweiligen Giraffenfigurensammlung meiner Mutter vollquatsche oder ausgerechnet den Zeichenblock rumliegen lasse, in dem ich fast dreißig Seiten mit fiktiven Aktzeichnungen von ihm gefüllt habe. Oder dass ich… Oh Gott. Zu meiner Verteidigung: Ich stand halt unter Stress. Sehr sogar. So sehr, dass ich für einen Moment die Nerven verloren und mein Gehirn abgeschaltet hab, um ihm eine klitzekleine Auszeit zu gönnen. Und da…ist es einfach mit mir durchgegangen. Ich konnte mich nicht zurückhalten, war nicht mehr Herr meiner Sinne. Theoretisch ist das keine große Sache. So etwas kann jedem mal passieren. Manchmal spielt einem das Bewusstsein einen Streich. Gerade wenn man unter großem Stress steht, kann so etwas leicht geschehen. Davon liest man doch immer wieder in der Zeitung. Jemand befindet sich in einer stressigen Situation – einem Bankraub oder einer Geiselnahme oder einem schrecklichen Unfall – und wenn er dann wieder zu sich kommt, ist er voller Blut und erinnert sich an nichts. So war das auch bei mir. Jedenfalls beinahe. Abgesehen von der Amnesie, denn ich erinnere mich leider noch. Das ist auch der Grund, wieso ich jetzt allein im Bad sitze, anstatt mit ihm zusammen in der Küche. Ich verstecke mich hier und habe den festen Vorsatz, nie wieder heraus zu kommen. Am liebsten würde ich hier drin sterben, um der entsetzlichen Peinlichkeit zu entkommen, in die ich mich selbst geritten habe. Also gut. Folgendes ist passiert: Wir hatten uns zum DVD-Gucken verabredet. Um acht bei ihm. Nur wir zwei, Sherlock Holmes und ein Dessert, das er für uns zubereiten wollte. Schon um vier Uhr nachmittags war ich fix und fertig, so aufgeregt, dass ich wie ein panisches Huhn durch die Wohnung gerannt bin – von meinem Zimmer ins Badezimmer und wieder zurück – und meine beiden Mitbewohnerinnen in den Wahnsinn getrieben habe. Um halb acht saß ich auf dem Fahrrad und fand bei dieser Gelegenheit heraus, dass ich keine zehn Minuten mit dem Rad zu seiner Wohnung brauche. Zwanzig Minuten lang hüpfte ich vor seiner Haustür auf und ab, bevor ich schließlich um Punkt acht und mit hämmerndem Herzen bei ihm klingelte. Der Summer erklang und ich wankte die Treppen hinauf. Er öffnete mir in der zweiten Etage die Tür. Sein Anblick war fast zu viel für mich. Himmel, er sah umwerfend aus. Das denke ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe. Aber vielleicht war es diesmal besonders schlimm. Ich musste mich einmal räuspern, bevor ich hallo sagen konnte, und als er lächelte, sackte der Boden unter mir weg. Er zeigte mir sein Zimmer, damit ich meine Jacke und meine Mütze ablegen konnte, und sein Zimmer sah so nach ihm aus, dass ich es kaum fassen konnte. Es ist hell und warm und auf eine reizende Art irgendwie chaotisch und schon die leiseste Vorstellung, mit ihm zusammen auf seinem Bett zu gammeln und fernzusehen, erregte mich bis ins Mark. Eigentlich hätte ich es da schon wissen müssen. Dass etwas Furchtbares passieren würde. Aber ich ahnte nichts. Wie ein Hündchen folgte ich ihm in die Küche, ließ mir von ihm ein Bier geben und versuchte, mir die Küche anzuschauen und nicht ihn. Wir plauderten ein wenig über seinen und meinen Tag und ich bemühte mich nach Kräften, absolut locker und ungestresst zu wirken. Und dann…holte er das Tiramisu aus dem Kühlschrank. „Hast du das selbst gemacht?“ Meine Stimme klang wie das atemberaubteste Hauchen der Ehrfurcht und hallte in meinen Ohren so jämmerlich nach, dass ich fast die Augen geschlossen und geweint hätte. Doch er lächelte nur sein Zuckerwattelächeln und nickte. „Ja, meine Oma hat es mir beigebracht. Ich hoffe, du magst Tiramisu?“ „Oh Gott, ich liebe es. Es ist mein absolutes Lieblingsdessert.“ „Ehrlich? Na, da habe ich aber Glück gehabt.“ Ich musste mich an die Anrichte lehnen, um nicht davon zu driften. Dumpf fragte ich mich, wie ein einzelner Mensch nur so entzückend und wunderbar sein konnte, ohne zu Schokoladenflocken zu zerfallen. Ich riss mich am Riemen, obwohl die Küche vor meinen Augen verschwamm und mein Herz zu platzen drohte. Ich trank Bier, um nicht zu quietschen. Es hätte ein schöner, leckerer, entspannter Abend werden können. Doch dann beging ich einen großen, großen Fehler: Ich fragte ihn nach dem Rezept. Man sollte meinen, das wäre eine harmlose, beinahe schon langweilige Frage, deren Antwort kaum mehr Begeisterung in einem normalsterblichen Menschen auslösen kann als die erste Mondlandung. Aber Pustekuchen. Ich weiß nicht genau, was es gewesen ist. Ob die Zärtlichkeit in seiner Stimme, als er über seine Großmutter sprach, oder die schlichte Situation, in der wir gemeinsam in seiner Küche standen und er mir das Familienrezept für Tiramisu verriet. Doch was es auch immer war, es traf mich mit voller Wucht. Mit einem Mal schlug der Stress wie eine Klapperschlange zu und hastig schaltete ich mein Hirn ab, um es kurz zu schonen, und da…geschah es. Es brach einfach aus mir heraus. „Ich liebe dich.“ Ach. Du. Scheiße. Scheiße. Scheiße! Gott, wenn ich daran denke, wird mir ganz anders. Ich weiß echt nicht, wie das passieren konnte. Es war der Stress, ganz bestimmt. Mein Herz hat die vorübergehende Abwesenheit meines gesunden Menschenverstandes ausgenutzt und ist mir auf die Zunge gesprungen, um seinen Inhalt herauszulassen. Ohne meine Erlaubnis. Und jetzt hocke ich hier und kann seinen Gesichtsausdruck einfach nicht vergessen. Diese Mischung aus Überraschung und Bestürzung. Diese Sprachlosigkeit in seinen wunderschönen, leuchtenden, blaugrünen Augen. „W… Was?“, hauchte er. Ich starrte ihn an. Fassungslos. Und schlug mir einen Moment später die freie Hand vor den Mund. Doch es war schon zu spät. Meine Worte hingen laut und tosend zwischen uns in der Küche und würden nie wieder unausgesprochen sein. „Oh Gott, es tut mir so leid!“, krächzte ich durch meine Finger, „Es tut mir so leid, entschuldige bitte! Oh scheiße, das wollte ich nicht! Tut mir leid!“ Dann verlor ich endgültig die Beherrschung. Ich drehte mich auf dem Absatz um, rannte aus der Küche und in den ersten offenen Raum, der mir in die Quere kam – das Badezimmer. Dort angekommen knallte ich die Tür hinter mir zu und versuchte mir das Leben zu nehmen, in dem ich meinen Kopf einige Male gegen die Wand schlug und mich dabei auf wortgewaltigste Art selbst beschimpfte. Doch es war zwecklos. Ich überlebte und hatte überdies noch Kopfschmerzen. Und hier endet die Geschichte. Inzwischen sitze ich auf dem Toilettensitz, raufe mir die Haare und halte mich an meiner Bierflasche fest. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seit meiner Flucht vergangen ist. Ich tippe auf mehrere Stunden. Vermutlich hat der Mann, in den ich seit fast drei Jahren unsterblich verliebt bin, schon lange die Wohnung verlassen und schwört in diesem Augenblick, sich nie wieder mit Verrückten einzulassen, die ihre Gefühle einfach nicht im Zaum halten können und sich überdies stundenlang in seinem Badezimmer verbarrikadieren. Ich kann meine eigene Dummheit nicht fassen. Fast drei Jahre lang träume ich ununterbrochen davon, Zeit mit diesem Mann zu verbringen. Und dann, wenn es mir endlich, endlich gelingt, seine Aufmerksamkeit zu erregen, verbocke ich es schon bei unserem sechsten Treffen. Willkommen bei der dämlichsten und aussichtslosesten Liebesgeschichte der Welt. Schauen Sie Emilio exklusiv dabei zu, wie er sich seelenruhig und albern grinsend sein eigenes Grab schaufelt. Ein wahrer Brüller. Ich wünschte, ich wäre tot. Es klopft. „Emilio? Bist du da drin?“ Mein Kopf zuckt so schnell in die Höhe, dass ihn ein stechender Schmerz durchfährt. „Nein!“, quieke ich, „Nein, ich bin nicht hier drin. Ich… ich bin woanders. Oh Gott…,“ Himmel, ich ertrag‘s nicht. Mein Kopf versteckt sich hinter einem Handtuch. „Hey, komm schon…,“ ich höre, wie sich die Türklinke bewegt, „Mach die Tür auf und komm raus. Das Tiramisu wartet.“ „Tut mir leid, aber ich werde nie wieder rauskommen. Ich werde einfach hier sitzen bleiben und auf meinen Tod warten. Vielleicht solltet ihr euch an zweites Bad anlegen.“ „So ein Blödsinn.“ Vorsichtig kommt mein Kopf wieder zum Vorschein. Täusche ich mich oder hat er gerade ein bisschen gelacht? Der Gedanke macht mir Mut. „I…Ich komme nur raus, wenn du mir versprichst, dass du vergisst, was…was grad passiert ist…,“ „Vergessen? Was vergessen? Was ist denn passiert und was machst du eigentlich im Bad? Wollten wir nicht Sherlock Holmes sehen?“ Meine Mundwinkel bewegen sich nach oben. Langsam erhebe ich mich vom Klodeckel und schlurfe zur Tür. Ich sammle meine Kraft und drehe den Schlüssel im Schloss. Sie schwingt auf und der Traum meiner schlaflosen und auch schlafvollen Nächte lächelt nachsichtig auf mich hinunter. „Hallo…,“ sagt er sanft. „Hallo…,“ piepse ich. Ich schlucke und senke den Kopf und hole tief Luft, bevor ich den Blick wieder hebe. „Es…tut mir so leid…,“ jammere ich verzweifelt. „Was denn?“ „Na, alles! Das gerade und dass ich mich in deiner Gegenwart allgemein immer so bescheuert verhalte und ständig irgendwo gegenlaufe und dich mit irgendwelchem Scheiß volllabere! Ich bin so peinlich und stressig und blöd, ich weiß wirklich nicht, wieso du dich freiwillig mit mir abgibst.“ Er schüttelt den Kopf. „Hey!“, erwidert er streng, „Sprich gefälligst nicht so schlecht über meinen Stalker.“ Ich gluckse schniefend. „Wirklich nicht,“ fügt er leise hinzu und ich frage mich, wie es möglich ist, so lieb zu lächeln und gleichzeitig so sexy an einem Türrahmen zu lehnen, „Bitte sei nicht so streng zu dir. Ich finde nicht, dass du dich bescheuert verhältst. Im Gegenteil. Ich finde Giraffen wirklich cool und – okay, die Nacktbilder haben mich ein wenig…verunsichert, aber das war echt nicht weiter schlimm. Außerdem… Außerdem genieße ich es, dass du so…so ehrlich und natürlich bist. Du…hast keine Ahnung, wie sehr ich das tue.“ Ich kann praktisch spüren, wie meine Augen sich weiten. „Ist das dein Ernst?“, hauche ich hoffnungsvoll und mein Herz beginnt wieder zu rasen. Sogar fast stressfrei. Er nickt und lächelt so süß, dass sich mein Inneres zu einem schaumigen Ballon aufbläst. „Ja.“ Verlegen schmunzelnd stehen wir ein paar Sekunden voreinander und schweigen. „Wollen…wollen wir uns jetzt in mein Zimmer chillen, uns den Bauch mit Tiramisu vollschlagen und Sherlock Holmes schauen?“, fragt er dann. Ich nicke. „Es gibt nichts, was ich jetzt lieber tun würde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)