Schlag dem Drachen den Kopf ab! von Ixtli (Original-Speedwichteln für Andromeda) ================================================================================ 5 -     Rubios seltsam verkniffenes Grinsen irritierte Isidor einen Moment lang. Er sah ertappt aus. Warum auch immer. "Gib's zu, du warst schon mal in dieser Stadt."   Rubio schluckte. Sein Hals war allerdings so trocken, dass er damit einen heftigen Hustenreiz auslöste, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er wandte sich von Isidor ab, der ihn die ganze Zeit schon kontrollierend aus nachdenklich zusammengekniffenen Augen ansah.   "Ich wusste es doch." Isidor sah seinen anfänglichen Verdacht durch Rubios merkwürdiges Benehmen bestätigt. Er stolzierte um Rubio herum und ging vor ihm in die Hocke. "Was hat dich denn in diese Stadt gelockt?", murmelte Isidor und fügte beim Anblick von Rubios hochrotem Gesicht hinzu: "Oder, wer?"   "Nichts und niemand", krächzte Rubio atemlos. Ohne Isidor die Chance zu lassen, noch mehr Fragen zu stellen, fuhr Rubio von seinem Platz auf und rannte zu seinem Pferd, um in der Satteltasche nach dem Wasserschlauch zu suchen. Hinter sich hörte er Isidor lauthals lachen.   Hastig strich sich Rubio die Tränen aus den Augenwinkeln, die ihm der Hustenanfall beschert hatte. Seine Hände, die nun den Wasserschlauch hielten, zitterten unaufhörlich. Er schaffte das einfach nicht. Der zweite Tag hatte gerade erst angefangen und schon hatte ihn Isidor unbewusst in die Enge getrieben. Wie sollte das jetzt weitergehen? Wie lange, bis er sich unweigerlich in einem unentwirrbaren Geflecht aus Lügen verheddert hatte?   "Na, fertig?" Isidor schlug Rubio kameradschaftlich gegen die Schulter, der dabei fast den Wasserschlauch fallen ließ. Grinsend schlenderte Isidor an seinem Gefährten vorbei zu seinem offensichtlich eigenem Pferd hin und schwang sich gekonnt auf den Rücken des Fuchses; ganz so, als hätte er das schon öfter getan. "Zeigst du mir jetzt deine Stadt? Und den, der dich schon einmal dorthin gelockt hat?", witzelte Isidor und lachte über die finsteren Blicke, die ihm Rubio zuwarf.       "Du hast Nerven, hier wieder aufzutauchen..."   Mit trotzig erhobenem Kinn stand Rubio vor dem Mann, der ihn zuerst verblüfft und dann entsetzt angesehen hatte. Zwischen ihnen auf dem Tresen lag der Lederbeutel, den Rubio als Lohn dafür erhalten hatte, dass er Isidor belog.   Der Wirt warf einen Blick an Rubio vorbei zu dem Tisch hin, an dem Isidor saß und ahnungslos sein Essen verschlang, von dem der Wirt gestern noch überzeugt gewesen war, dass es endlich die letzte Mahlzeit war, die er seinem Sohn servieren musste.   "Er ahnt doch sowieso nichts mehr davon, was alles vorgefallen ist. Kein einziges Gebäude hat er hier erkannt, als wir ankamen..." Rubio schob den Lederbeutel von sich weg, hin zu dem Wirt, der den jungen Mann ansah, als sei er das Unerträglichste, was ihm in seinem Leben je gegenüber gestanden hatte. "Für ihn ist es einfach nur Heute", fuhr Rubio um Gelassenheit bemüht fort. "Er weiß ja nicht einmal mehr, wer sein Vater ist, geschweige denn, dass er jemals einen gehabt hatte. Was womöglich nicht das Bedauernswerteste sein dürfte, das er nicht mehr weiß..."   "Er weiß es vielleicht nicht mehr, aber der Rest der Stadt weiß sehr wohl, wer er ist", knurrte der Wirt ungehalten. "Und mit jedem Gast, der hier einkehrt, steigt die Gefahr, dass er es auch erfährt und in die nächste Stadt mitnimmt, um davon zu erzählen. Und von dort aus in die nächste und immer so weiter." Der Wirt nahm den Lederbeutel und hielt ihn Rubio anklagend vor die Nase. "Das hast du nicht bekommen, damit du eine Runde um die Stadt machst und wieder zurück kommst, sobald es morgens ist, nur weil diese Kreatur, die zu meinem Leidwesen auch noch von meinem Blut abstammt, alles vergessen hat, was er am Tag zuvor getan hat." Der Wirt schleuderte den verschmähten Beutel Rubio entgegen, der die Hand hob, damit ihn der schwere Beutel nicht im Gesicht traf.   Der Wirt lächelte spöttisch. "Das ist das Geld, das so lange reichen sollte, bis du diesen Schwachsinnigen so weit von hier weggebracht hast, so dass er nicht noch mehr Schande über mich bringt, als er ohnehin schon tut!"   Die Wut, die Rubio bereits seit ihrem ersten Aufbruch und den Erlebnissen, die danach gefolgt waren, begleitete, schnürte ihm die Luft förmlich ab. Ohne den Lederbeutel noch eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ging zurück zu Isidor, der ihm bedeutete, sich endlich zu ihm zu setzen.     Isidor wartete, bis Rubio Platz genommen hatte, und nickte zu dem gefüllten Teller hin, den Rubio noch nicht angerührte hatte. "Willst du mir weismachen, dass du beschlossen hast, nie mehr zu essen?"   Rubio atmete lange aus, ehe er Isidor antwortete. "Ich habe keinen Appetit."   "Das hast du heute morgen auch behauptet." Isidor stieß den Teller an. Das Fleisch darauf duftete noch immer köstlich, auch wenn es bereits kalt sein musste.   Nur schwer konnte Rubio dem Hunger widerstehen, der seinen Magen schmerzhaft krampfen ließ.   "Das Essen hier ist erstaunlich gut", lockte Isidor sein Gegenüber, der tat, als hätte er ihn nicht verstanden und stattdessen nach dem Bierkrug griff, der neben dem Teller stand. "Ich wette, wir waren in noch keiner Schenke, die besser war als diese hier. Du hattest wirklich recht, was die Stadt angeht. Sie ist fantastisch. Ich wünschte, wir könnten länger hier bleiben."   Rubio hätte den Schluck Bier, den er gerade aus dem Krug genommen, beinahe wieder ausgespuckt. Die Kohlensäure stieg ihm in die Augen und kribbelte dort unangenehm. Vorsichtig setzte Rubio den Krug auf der Tischplatte ab.   Isidor beschloss, dass es wohl besser war, zu schweigen, so lange Rubio in dieser Verfassung war. Er schien jeden Moment explodieren zu wollen, ohne dass Isidor wusste, was der Grund dazu war. Er sah zu dem Tresen hinüber, dort, wo Rubio kurz zuvor noch mit dem Wirt gesprochen hatte, ehe er dann so wütend zurückgekehrt war. Isidors Blicke streiften das geschnitzte Wappen, das über dem Tresen hing. Ein Lindwurm wand sich um etwas, das wohl eine Sonne mit vielen Strahlen darstellen sollte.   "Suchen wir den Drachen", murmelte Isidor, ohne sich seiner Worte tatsächlich bewusst zu sein. Er hatte einfach nur den ersten Gedanken ausgesprochen, der ihm in den Sinn gekommen war, ohne zu wissen, woher er gekommen war.   Rubio hob den Kopf und sah Isidor verblüfft an. Er hatte es bisher noch nie erlebt, dass etwas aus Isidors weggewischten Erinnerungen zurückgekehrt war, das in die Zeit fiel, die Isidor stets vergaß. Niemand hatte ihnen erklären können, weshalb Isidor jeden Morgen bis auf die Dinge, die auch andere ohne nachzudenken erledigten, alles vergessen hatte, was am Tag zuvor zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang geschehen war. Das Einzige, an das sich Isidor immer erinnerte, war Rubio und das, was mit ihm zu tun hatte. Nicht einmal der Name seines eigenen Pferdes blieb bei Isidor haften, wohingegen er ohne nachzudenken wusste, dass Rubios Schimmel Ganser hieß.   Er konnte nicht abstreiten, dass ihm Isidors Verhalten früher Angst eingeflößt hatte, aber damals waren sie noch Kinder gewesen und als Kind fühlte man sich in der Welt, die nur Erwachsene zu verstehen schienen, unsicher. Doch diese Angst vor dem, was er nicht verstand, schwand mit jedem Tag, den er Isidor kannte – im Gegensatz zu den Leuten, von denen man erwarten sollte, dass sie wegen ihres Alters und ihrer Reife in der Lage sein müssten, eine Krankheit von einem Fluch unterscheiden zu können. Doch ausgerechnet in diesem Punkt erwiesen sich die Erwachsenen als die eigentlichen Schwachsinnigen, was, je älter Isidor wurde, immer mehr zum Problem für ihn und seine gesamte Familie wurde. Vermutlich konnte noch nicht einmal Isidors Vater etwas dafür, wie er auf seinen angeblich irre gewordenen Sohn reagierte, obwohl er lediglich Angst um seine Existenz hatte, was ihn wiederum für Rubio zum roten Tuch hatte werden lassen.   Hastig leerte Rubio den Krug. "Gehen wir", sagte er mit einer Entschlossenheit, die Isidor nicht nach dem Grund des Aufbruchs fragen ließ. "Schlagen wir dem Drachen den Kopf ab."       Isidor schwieg ebenso wie Rubio, während sie die gleiche Strecke mit ihren Pferden zurücklegten, wie bereits am Vormittag. Rubio dachte darüber nach, dass er diesen Weg bereits zweimal ohne Isidors Wissen genommen hatte, und Isidor hatte einen ähnlichen Gedanken. Er wusste, dass er diesen Weg noch zweimal nehmen würde, ehe die Sonne wieder aufging.       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)