Danse Macabre -Totentanz- von Hielo ================================================================================ Schönbrunn ---------- Rudolf erwachte aus unruhigen Träumen. Es war das erste Mal seit Tagen, das er überhaupt geschlafen hatte und langsam aber sicher zehrte die Erschöpfung an seinen Kräften. Eigentlich musste der Prinz in einigen Minuten zu einer Unterrichtseinheit aufbrechen, doch seine Augen weigerten sich vehement den neuen Morgen anzuerkennen. Der verschwommene Blick des Erzherzogs wanderte zu der kunstvoll verarbeiteten Standuhr in der Nähe eines Schrankes. In etwa sieben bis acht Minuten würde es sechs Uhr in der Früh schlagen, Rudolf hatte schon fast eine Stunde vergeudet. Aber er wollte nicht gänzlich erwachen. Lieber würde er auf ewig in der blassen Sphäre zwischen Traum und Wirklichkeit pendeln, nichts mehr sehen, nichts mehr hören und sich einfach im Meer einer anderen Welt treiben lassen. Alles wäre vergessen, das Land, der Kaiser, der Tod. Seufzend richtete sich Rudolf schließlich auf, strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sein Blick fiel auf die kleine Kommode neben ihm. Dort lag eine Schatulle und in ihr ruhte der Grund für sein pochendes Gefühl im Kopf. Der Arzt hatte es ihm verschrieben, doch nicht in solch einer hohen Dosis. Den Kronprinzen kümmerten die Warnungen allerdings herzlich wenig. Es war eine willkommene Möglichkeit der Realität zu entfliehen, die Rudolf nur zu gerne wahrnahm. Das prunkvolle Bett in welchem er lag und das für ihn allein viel zu groß erschien, empfand er als unbequem. Generell war alles auf Schloss Schönbrunn unnötig riesig und wenig heimelig, weswegen es der junge Prinz vorzugsweise mied und sich entweder auf kleinere Anwesen zurückzog oder sich seinen Reisen widmete. Ein schmaler Lichtblick, wenn schon alles um ihn herum dunkel wie die Nacht war. Ein Klopfen riss Rudolf aus den schweren und teils schlaftrunkenen Gedanken, worauf er rasch aus dem Bett sprang und sich notdürftig ankleidete. Ein keuchendes Husten begleitete die plötzliche Bewegung. Diese verdammte Krankheit. „Ja?“ Auf seine Erlaubnis hin wurde die massive Holztür geöffnet und ein Bediensteter trat ein. Rudolf konnte sich wage daran erinnern, sein Gesicht mit den vielen Furchen schon einmal gesehen zu haben. Den Namen allerdings hatte er nicht im Gedächtnis. „Verehrter Erzherzog, Seine Majestät der Kaiser wünscht Sie unverzüglich in seinem, im Ostflügel gelegenem, Arbeitszimmer zu sprechen.“ Mit einer tiefen Verbeugung verschwand der dürre Mann so schnell wie er aufgetaucht war. Offensichtlich hatte er Anweisungen erhalten sich sofort wieder zu entfernen. Im Zimmer blieb ein Mensch zurück, der seine wirren Gedanken erst einmal sortieren musste. Sein Vater verlangte nach ihm? Das war ungewöhnlich. Ein zittriges Gefühl erfüllte Rudolfs Körper und er musste sich über die Arme fahren, als versuche er Ameisen abzuschütteln. Was konnte der Kaiser von ihm wollen? Er erkundigte sich doch sonst nur selten nach seinem Sohn. Rudolf war sich nicht sicher, wie er darüber empfinden sollte. Neugier baute sich in ihm auf, doch seine Vernunft sprach Angst aus. Das hatte auch berechtigte Gründe und die Vermutung ließ ihn wieder zusammenfahren. Sollte sein Vater herausgefunden haben, dass der wohl ärgste Parasit im österreichisch-ungarischen Reich unter dem eigenen vergoldeten Dach zu residieren pflegte? Julius Felix, der zukünftige Kaiser? Ein weiterer Schauder erfasste Rudolf und er musste sich auf sein Bett setzen um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Herz schlug schneller, er spürte wie sich der Schweiß auf seiner Stirn bildete und Nervosität kroch in ihm hoch wie eine Schlange an einem Baum. Ein höhnisches Lachen hallte in seinem Ohr wider, der Kronprinz wusste sofort zu wem diese Stimme gehörte. Verdrängte allerdings jetzt weitere Gedanken an diesen Beobachter. Schnell erhob er sich, machte sich rasch zurecht und verließ sein Zimmer. Das grausame Gekicher ließ er zurück. Im Moment konnte er nichts tun, außer die Situation auf sich zukommen zu lassen. Mit zügigem Schritt lief er den mit rotem Teppich ausgelegten Flur entlang. Links und rechts neben ihm fixierten den Prinzen seine vollbärtigen Ahnen, die fast schon wie bösartige Schwiegerväter aus Gruselmärchen wirkten. Nie könnte sich Rudolf vorstellen auch einmal in dieser Galerie zu thronen und vermutlich würde er mit seinem Gefühl diesbezüglich Recht behalten. Schließlich war er seinem Vater mehr als egal. Bis jetzt zumindest. Die Uniform in dem rauchigen Blau, welche er ab und an recht gerne trug, schien ihm heute wie ein enger Kokon aus Zwang, falschen Vorstellungen und gespielter Familienidylle. Alles um ihn wirkte unecht und nebelig, Charakteristika, die er sonst nur dem Tod andichtete. Seit der Begegnung im Garten von Miramare hatte Rudolf viel über die flüchtige Gestalt seiner Kindheit nachgedacht, mehr noch als er es sonst schon tat. Das Gesicht des Todes hatte sich so sehr in sein Gedächtnis gebrannt, dass es jetzt wieder so deutlich wie ein Portrait war und nicht länger eine verwaschene Skizze seiner Jugend. Er wusste nicht, ob er sich bei solchen Erinnerungen freuen oder fürchten sollte. Der Tod war sein ständiger Begleiter und würde es auch bleiben, soviel war jedenfalls sicher. Vor dem Arbeitszimmer des Kaisers blieb er einen Augenblick stehen, versuchte seine Anspannung in den hintersten Winkel seines Geistes zu verbannen. Er spürte, wie sein Herz scheinbar unregelmäßig schlug, fühlte sich wie ein Vogelküken, das aus dem Nest gefallen war. Und nun sah der lauernde Bussard seine Chance zuzuschlagen. Zaghaft hob er die Hand und klopfte an. Ein grausamer Moment der Stille, dann wurde die Tür geöffnet. „Seine Majestät, Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn.“, sagte der Bedienstete, welcher Rudolf aufgemacht hatte und nun mit gesenktem Kopf am Türrahmen stand. Der Blick des Erzherzogs wanderte ohne Umwege zum Schreibtisch seines Vaters. Der alte Mann mit dem gräulich schimmernden Bart saß gebückt über einem spärlich beschriebenem Blatt Papier. Die Feder in der Hand wirkte er müde und bedrückt, anscheinend kam er mit dem Verfassen des Briefes nicht sonderlich gut voran. Rudolf vermutete seine Mutter als Empfängerin. „Ihr habt mich rufen lassen, Vater?“, sagte der Kronprinz, schaffte es erfolgreich die Nervosität seiner Stimme fern zu halten. Der Kaiser reagierte nicht, stellte lediglich die Feder zurück in die Halterung und wies mit einer dezenten Handbewegung den Bediensteten an, ihn mit seinem Sohn allein zu lassen. Gemächlich und immer noch schweigend erhob er sich von dem rötlich-braunen Holztisch. Rudolf blieb ruhig, er kannte dieses Verhalten zu genüge. Er wusste, dass sein Vater ihn gehört hatte und nun vermutlich auf den passenden, dramaturgischen Moment zum Brechen des Schweigens wartete. Zumindest konnte der junge Prinz jetzt erahnen, dass dieses Gespräch nicht friedlich von statten gehen würde. Sein Vater hatte sich unterdessen seine Uniformjacke übergezogen und starrte teilnahmslos aus dem kristallklaren Fenster in einen trüben und trostlosen Morgen. Man bemerkte den Sonnenaufgang kaum, ein Schleier aus Wolken und Dunst hatte sich über das strahlende Gestirn gelegt. Es wurde nur kriechend langsam heller. Selten war eine Dämmerung so bedrohlich. „Ich habe Dinge gehört, Rudolf. Dinge, die mir ganz und gar nicht gefallen. Es heißt ein Journalist namens Julius Felix, der offenbar viel mit ungarischen Politikern zu schaffen hat, verfasst Artikel, die sehr scharf an unserer Krone kratzen.“ Die tiefe, klangvolle Stimme des Kaisers schien mit einem Mal den gesamten Raum auszufüllen und gleichzeitig die angespannte Stimmung zu durchschneiden wie ein scharfer Säbel. Ein Säbel, der Rudolf nun an die Kehle gesetzt wurde. „Ich weiß, du hast großen Einfluss in Ungarn. Genauso wie du beim Volk beliebt und geliebt bist. Deshalb kam mir ein Gedanke...“ Der mit Schrecken erwartete Moment. Die Luft vibrierte. Rudolf wünschte sich einfach weg. „Halte deine Augen und Ohren offen, Junge. Du mischt dich viel unter das Volk und auch wenn ich das nicht gutheißen kann...erkundige dich bei Gelegenheit nach diesem Felix. Es geht um die Ehre unserer Familie.“ Beinahe wäre der Kronprinz hinten über gefallen, ob aus Erleichterung oder Schrecken wusste er nicht. Somit hatte der junge Prinz den Befehl des Kaisers erhalten, Julius Felix zu verraten und somit zum Tode zu verurteilen. Der Hund sollte seinen eigenen Schwanz jagen. „Was hast du, Rudolf? Du wirkst verschreckt.“ Es brauchte nur einen Wimpernschlag bis der Kronprinz seine Fassung wiedererlangte, inzwischen hatte er Übung darin. „Nichts, Vater. Alles in Ordnung.“ Er lächelte kurz. Franz-Joseph nickte und schaute wieder aus dem Fenster. Damit war das Gespräch für ihn offensichtlich beendet. Nach einer knappen Verbeugung machte Rudolf kehrt und verließ das Zimmer ohne weiteren Kommentar. Der Flur war dunkel und still wie ein Friedhof um Mitternacht und da das Sonnenlicht auf sich warten ließ, hatte man einige Kerzen angezündet. Doch anstatt eine geborgene Atmosphäre zu verbreiten waberten nun schemenhafte Schatten über Wände, Gemälde und Boden und bedrohten den von den Wachsgestalten angestrebten Frieden. Ein Schwindelanfall zwang Rudolf sich an der Wand abzustützen, nachdem er einige Schritte in Richtung seines Zimmers gegangen war. Sein Hals brannte als erneutes Husten seiner Kehle entwich. Sein Vater hatte Verdacht geschöpft, er wusste um das Geheimnis seines Sohnes. Rudolf war sich sicher. Warum sonst sollte der Kaiser ihm eine derartige Aufgabe anvertrauen? Und wenn er es nicht wusste, dann wollte er sich mit dieser Aktion Klarheit verschaffen. Ein stetiges hämmern durchdrang den Kopf des Kronprinzen. Schweiß strömte in Rinnsalen seine Stirn herab und vor lauter Übelkeit und Atemnot öffnete er die ersten paar Knöpfe der Uniform und des Hemdes, welches er darunter trug. Wirkliche Besserung verschaffte das allerdings nicht. „Armes Prinzlein, ganz allein. Träumt wohl kaum von Sonnenschein. Das Prinzchen soll sich selber jagen. Da frag' ich mich, kann er's ertragen?“ Diese Stimme, dieser spielerische Ton, diese eiskalte Anspannung. Rudolf schaute sich um, sein Herz flatterte genau wie sein Atem. „Julius Felix, soll ich raten? Ich weiß von deinen jüngsten Taten. Komm, sei nicht dumm und flieh mit mir. Vergiss das leere Jetzt und Hier.“ Rudolf kicherte kurz gequält. „Ist das deine neue Art? Irgendwie passt ein solcher Auftritt nicht zu dir.“, sagte er. Keine Antwort. Dann entdeckte er ihn. Er hatte sich in eines der Gemälde geschlichen und scheinbar den ursprünglichen Porträtierten mit Leichtigkeit verdrängt. Selbst die prachtvolle Krone hatte er auf dem Kopf und begutachtete nun, mit dem Ellenbogen auf den Rahmen gelehnt, eingehender das goldene Zepter mit den vielen kleinen Edelsteinen. Das Bild hatte so eher den Anschein eines Fensters ohne Verglasung. Dieses pompöse und glitzernde Erscheinungsbild stand dem Tod ganz und gar nicht, fand Rudolf. „Nun ja, ich dachte mir, vielleicht sollte ich in dieser Zeit des Umbruchs auch einmal etwas Neues probieren. Ich habe schon immer Gefallen an der Dichtkunst gefunden.“, sagte der Tod ruhig, ließ sich von Rudolfs musterndem Blick nicht von der Untersuchung des Zepters abbringen. „Dann kannst du dich mit meiner Mutter beraten. Sie liest und schreibt in letzter Zeit sehr viel, wie ich höre.“, entgegnete Rudolf mit einem erschöpften Lächeln auf den blassen Lippen. Endlich ließ der Tod von seinem Schmuck ab und schaute den Kronprinzen an. In seinem Blick lagen tausende undeutbare Gedanken. „Ich werde vorzugsweise bei meinen eigenen Versen bleiben, kleiner Prinz. Wenn sie dir nicht gefallen, zwingt dich niemand mir zuzuhören.“ Rudolf, der sich inzwischen wieder einigermaßen aufgerichtet hatte, wischte sich den Schweiß vom Kinn und sortierte seine Haare. Er wollte sich vor dem Tod keine Blöße geben. „Was willst du hier?“, fragte er seinen Gegenüber im Bilderrahmen. „Lass uns einfach sagen, dass ich auf jemanden warte. Mehr brauchst du nicht zu wissen, Julius.“ „Nenn mich nicht so.“, schnaubte Rudolf und dreht dem Tod den Rücken zu, hustete wieder. Der Tod schien überrascht. „Ach nein? Wie soll ich denn dann nennen, wenn nicht so? Schließlich ist das der Name mit dem du etwas erreicht hast in deinem Leben.“, spottete er. „Für Rudolf interessieren sich nur eine handvoll Beamte und einige Frauen. Für Julius Felix hingegen hat selbst der Kaiser etwas von seiner Aufmerksamkeit übrig.“ Er hatte Recht mit dem was er sagte. Wie so oft wusste sein Kindheitsfreund besser über ihn Bescheid als Rudolf selbst. Der Gedanke raubte ihm erneut seine Kraft. „Wenn du nur über mich lachen willst, dann geh bitte. Ich habe keine Lust...“ Der Erzherzog wurde unterbrochen als zwei Hände ihn an den Schultern packten und nach hinten zogen. Etwas Kaltes legte sich an seinen Hals und zwang ihn den Kopf zu heben. Eine berauschende Stimme fand ihren Weg in sein Ohr. „Verzeiht, verehrter Prinz, aber wann ich zu kommen und gehen pflege, bleibt mir allein überlassen. Genau wie ich Gedichte aufsagen kann, wann und wie ich es für richtig halte.“, raunte der Tod und lächelte, als er merkte wie schnell der Atem des kranken Rudolfs ging. „Ich bleibe ein stiller Beobachter. Meine Aufgabe ist eine andere.“ Der Prinz erinnerte sich an diese Worte, er hatte sie in Miramare schon einmal gehört. Amüsiert über die offensichtliche Unfähigkeit des jungen Mannes sich zu befreien, legte der Tod seine Hand an die Kehle des Kronprinzen und merkte wie dessen Halsschlagader pulsierte. Mit der anderen Hand hielt er nach wie vor das Zepter unter Rudolfs Kinn. „Du leidest. Du leidest grausamer als irgendjemand sonst in diesem Schloss. Du gehörst nicht hierher, kleiner Prinz. Sogar deine erdachte Phantasiefigur ist in diesen Mauern realer als du es je hättest sein können.“, wisperte der Tod verführerisch nahe am Ohr des Anderen. Dämonisch langsam glitt seine Hand ein Stück tiefer und schob sich schließlich unter die geöffnete Kleidung des zitternden Rudolfs. Dort blieb sie an seiner linken Seite ruhen. „Dieses Herz ist zerfressen. Doch nicht etwa von Krankheit oder Morphium. Geschwärzt ist es vor lauter Bitterkeit und unerfüllten Jungenträumen. Du kannst all dem Entfliehen und das Mittel dazu kennst du ebenso genau wie ich. Sei kein Feigling, Rudolf! Komm mit mir!“ Mit einem Ruck wurde der wie in Trance wirkende Erzherzog herumgerissen, eine zarte aber kräftige Hand fixierte sein Kinn und zwang ihn hinauf zu schauen. Da waren wieder diese zwei rabenschwarzen Augen, allerdings so nah wie nie zuvor. Er spürte wie sich ihre Nasenspitzen berührten und ihre Lippen lediglich wenige Millimeter übereinander schwebten. „Ich weiß, dass du zu mir willst, kleiner Prinz. Lass mich dir die Freiheit wiedergeben.“ „Freiheit...“ Das bösartige Grinsen fand seinen Weg zurück auf das Gesicht des Todes, als der Prinz diese Worte mit einer Sehnsucht aussprach, welche Erinnerungen an Elisabeth in dem blonden Schatten weckte. „Nein!“ Rudolf riss sich aus dem Bann und stolperte einige unbeholfene Schritte zurück. Ein kurzer unaufmerksamer Moment des Todes hatte genügt um sich befreien zu können. Mit dem Blick eines in die Enge getriebenen Rehs starrte Rudolf den schwarz gekleideten Mann vor ihm an, dessen Lippen ein kokettes Lächeln bildeten. Ein unehrliches Lächeln, welches eine gewisse Spur von Zorn verbarg. Der Junge schien seiner Mutter doch ähnlicher zu sein, als der Tod zunächst angenommen hatte. Zumindest in dieser Hinsicht. „Ich habe noch Hoffnung! Noch...habe ich Hoffnung!“, sagte Rudolf energisch, versuchte selbstsicher zu wirken aber seine Stimme überschlug sich und wurde zu einem geschluchzten Wirrwarr aus Wort und Laut. „Hoffnung ist ein starker Begriff. Man sollte ihn nicht leichtfertig verwenden.“, sprach der Tod ruhig, fast schon erhaben. Langsam löste er sich aus dem Gemälde, lies dabei Zepter und Krone zurück und stand schließlich vollständig in dem spärlich beleuchteten Flur. Das Bild zeigte wieder seinen rechtmäßigen Besitzer. „Es hat keinen Sinn sich zu wehren, werter Julius.“ „Und trotzdem werde ich weiter kämpfen! Ich kann dir meine Zukunft nicht geben, die du offenbar so sehr willst.“ Unter Schmerzen zog sich der Kronprinz aus der gebückten Haltung in eine gerade, atmete tief ein und aus. Es fühlte sich an, als hätte man Stacheldraht in seinem Hals gespannt, durch den eine Legion an unschuldigen Soldaten gehetzt wurde. Lichter tanzten vor seinen Augen. Ein Schlag ließ ihn zusammenzucken, neben sich entdeckte er eine Hand und über sich das bekannte, hypnotische Augenpaar, sowie ein hämisches Schmunzeln. „Deine Zukunft? Viel mehr dich, kleiner Kronprinz.“ Ohne auch nur eine weitere Minute mit der eiskalten Präsenz des Todes zu verweilen machte sich Rudolf leicht taumelnd davon, stolperte, schaute nicht mehr zurück. Der Tod wollte ihn? Er wusste den Gedanken nicht zu ordnen. Natürlich stand er auf der Liste des alten Freundes, so wie jeder Mensch auf der Welt, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Tod mit jedem Kandidaten darauf dieses perfide Spielchen trieb. Rudolf wollte es sich auch gar nicht vorstellen. Sicherlich war der Tod ein gefährlicher Begleiter, aber auch jemand, der den sensiblen Kronprinzen endlich für voll nahm. Von dieser Art Individuen hatte es in Rudolfs Leben bislang nur eine geringe Hand voll gegeben. Wenn überhaupt. Keuchend stürmte Rudolf in sein Zimmer, sackte sofort in sich zusammen wie ein Exekutierter, hustete. Langsam arbeitete er sich auf Knien zum Nachttisch vor und streckte die Arme nach der kleinen Schatulle aus. Es würde ihm helfen, ihn beruhigen. Er würde sich hier ein wenig ausruhen, in seiner einsamen Prinzentraumwelt und danach würde er zu Mizzi gehen und sich von ihr trösten lassen. Ja, so sollte es sein, so war es gut. Das Kästchen glitt dem schwachen Erzherzog aus der Hand und polterte neben ihn auf den Boden. Eine kleine gläserne Spitze gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit zeigte ihr bizarr erscheinendes Äußeres. Freudig lächeln griff er nach dem filigranen Instrument, doch stockte er in der Bewegung als sein Blick etwas anderes erhaschte. Ein paar Zentimeter weiter lag ein Brief. Er hatte wohl auf der Schatulle gelegen, allerdings erinnerte sich Rudolf nicht daran kürzlich ein Schreiben verfasst zu haben. Erst Recht keinen Brief. Offenbar musste ein Diener während seiner Abwesenheit das Telegramm dort platziert haben. Neugierig entfaltete er das kleine Stück Papier und überflog die Lettern. In einigen Tagen war ein Hofball angesetzt, welchen seine Mutter arrangiert hatte. Das Lächeln auf dem Gesicht des Prinzen wurde breiter. Seine Mutter, die Kaiserin sollte nach Wien zurückkehren. Endlich jemand von dem er sich Unterstützung erhoffen konnte. Elisabeth würde ihm helfen, sie musste ihm helfen. Eine Träne entwich den rehbraunen Augen Rudolfs, vermischte sich mit den Schweißperlen an seiner Wange. Schweigend legte er den Brief beiseite und zog sich am Bettrand hoch. Die Schatulle lag neben ihm auf dem Laken. Er zog sich die Uniformjacke aus und krempelte sich den linken Ärmel auf, welcher eine mit roten Punkten übersäte Armbeuge zum Vorschein brachte. Nachdem der Prinz ein kleines Lederbändchen aus dem aschgrauen Kästchen gezogen hatte, zurrte er es sich um den nackten Oberarm und setzte schließlich die Nadel an. Ein befreiendes Gefühl durchflutete ihn, wie Wellen eine Brandung. Den Schmerzen war Kraftlosigkeit gewichen und endlich verschwanden all die bitteren Gedanken hinter einem Film aus Farben, Formen und Einsamkeit. Vor der Tür lauerte der Tod und ein zufrieden wirkendes Lächeln umspielte seine Lippen. „Törichter Bengel. Nicht ich muss mich gedulden, sondern du. Der Bube ist ausgespielt aber die entscheidende Karte wurde noch nicht übertrumpft. Erst muss der Narr den Buben schlagen, dann kann das Spiel seine ernste Phase erreichen.“ Langsam schritt er den Flur entlang Richtung Dunkelheit. Der Morgen zeigte noch immer nicht die ersehnten Sonnenstrahlen. „Bald raub ich dich, mein Vöglein. Dann ist die Freiheit endlich dein. Doch du in deinem Eigensinn, wirfst mir erst deine Küken hin. Die Zeit, sie kommt. Es fällt ein Schuss. Das Licht geht aus und es ist...Schluss.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)