Shinigami Haken Kyoukai desu - Shinigami Dispatch Society von Frigg ================================================================================ Kapitel 29: Der Alchemist von Whitechapel ----------------------------------------- Undertaker seufzte ergeben. „Dann hat sich das entspannte Baden als Einleitung für den Feierabend wohl erledigt.“ Alyssa nickte. „Die Verwaltung hat einen an der Waffel! Das schaff ich doch nie pünktlich!“ „Willst du damit sagen, dass Carry mit Absicht getrödelt hat, nur um dir zu Schaden?“ „Ich könnte es mir bei ihr gut vorstellen“, erwiderte sie und nahm sich eines der Handtücher, um sich abzutrocknen. „Weißt du, wie du zu deinem Auftrag kommst?“ „Ich habe keine Ahnung!“ „Soll ich dich dann begleiten?“ „Du hast Feierabend!“ „Du auch!“ „Nein, habe ich nicht. Der Auftrag kam rein und das bedeutet Überstunden!“ „Dann machen wir zu zweit Überstunden. Ich lasse dich als Frau nicht alleine nach Whitechapel!“ Alyssa seufzte und zog die frische Unterwäsche an. Sie hoffte inständig, dass Carry kein Juckpulver oder anderen Zeug reingetan hatte. Aber sie hatte keine Zeit um sich darüber Gedanken zu machen. „Adrian, ich will mich nicht mit dir Streiten.“ „Na also. Dann ist es doch geklärt. Ich begleite dich!“ Undertaker grinste und küsste sie auf die Stirn. Alyssa verzog ein wenig das Gesicht, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich kann doch eh sagen, was ich will, oder?“ „Da hast du auch wieder Recht.“ Schnell zog sie die Uniform an und reinigte mit dem einem Lappen ihre Sense, damit diese nicht mehr so glitschig war. „Das ist doch reine Schikane!“, schimpfte Alyssa los und konnte ihre Wut kaum verbergen. „Soll ich dich tragen?“ „Nein. Ich schaff das schon irgendwie.“ „Lyss, vergiss bei deinem Ehrgeiz nicht, dass die Seele wert voll ist und an erster Stelle steht. Wir müssen pünktlich sein.“ „Ich weiß, aber es macht mich nur so sauer!“ „Wegen Carry?“ Undertaker sah in den Spiegel und band sich die Krawatte. „Auch! Dieses Biest hat seine Finger da mit absoluter Sicherheit im Spiel und hätte ich ihr nicht gerade die Tür vor der Nase zugeknallt, wäre sie hier einfach so reinspaziert und hätte sich zu dir ins Bad gesetzt!“ Undertaker lachte. „Das schien ja sehr interessant gewesen zu sein zwischen euch.“ Alyssa warf ihm einen genervten Blick zu. „Lass uns lieber gehen. Sonst komme ich total zu spät und wer weiß, was Carry noch für Beziehungen in der Verwaltung hat. Nicht, dass ich dann auch noch Suspendiert werde.“ „Ich werde schon dafür sorgen, dass wir pünktlich sind und du keinen Ärger kriegst!“ Alyssa konnte nicht glauben, wie viel Mühe er sich machte und konnte nichts anderes als Dankbarkeit empfinden. Sie griff nach der Akte und nahm ihre Death Scythe in die Hand. Schnell liefen sie die Treppen des Hauses hinunter, riefen dem Empfangsmädchen einen Abschiedsgruß zu und liefen auf die Straße. „Wir sollten über die Dächer dahin!“, rief Undertaker und sprang mit einem einfachen Satz auf das Dach des nächst gelegenen Gebäudes. Alyssa nickte und tat es ihm gleich. Undertaker sah sich auf den Dächern um. „Wie viel Zeit hast du noch?“ „Etwa dreißig Minuten.“ Adrian nahm sie wieder auf den Arm und lief los. „Halt dich gut fest“, sagte er und sprang mit schnellen Schritten über die Dächer von London. Der kalte Regen fiel ihr dabei ins Gesicht und sie hatte Mühe die Unterlagen fest zu halten. Alyssa vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Sie fühlte sich dabei gleich viel wohler und das Gefühl unter Zeitdruck zu stehen, verschwand wie im Flug. Als Adrian sie wieder absetzte, standen sie vor einem alten Herrenhaus, an dessen Wänden sich der Backstein löste und an einer Stelle war die Fassade schwarz gefärbt von einem Feuer. Die Fenster waren zugemauert worden und nur ganz oben, konnte sie mehrere kleine Schlitze erkennen, die als Lichtquelle dienen sollten. Zusätzlich waren Gitter vor den schmalen Fenstern angebracht worden. „Was ist das? Ein Sanatorium?“, fragte Undertaker und sah Alyssa fragend an. „Laut der Akte nicht“, antwortete sie, „Der Mann, der hier lebt, stirbt im Alter von fünfunddreißig Jahren. Er ist Alchemist und experimentiert. Eines seiner Versuche bringt ihn um.“ „Also geht irgendwas darin schief. Sei bloß vorsichtig.“ „Das bin ich.“ Alyssa sah die Fassade hoch. „Da oben ist ein Fenster auf. Können wir von dort einsteigen?“ Undertaker folgte ihrem Blick und nickte. „Das sollte kein Problem sein.“ Er griff um ihre Hüfte und sprang zu dem Fenster hoch. Vorsichtig landete er auf dem Fenstersims und half Alyssa durch das Fenster zu steigen. Nur einen kurzen Moment später folgte er ihr. Alyssa sah sich in dem Raum um. Der Boden war abgelaufen und überall standen Kerzen in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen herum. Von vielen war der Wachs herunter gelaufen und hatte sich an den Möbeln festgeklebt und am Boden. Mit Farbe waren verschiedene Symbole an Wänden und Türen gemalt worden, die inzwischen verblichen waren und abblätterten. In der Mitte des Raumes stand ein alter, dunkler Holztisch mit feinen Schnitzereien und Verzierungen. Es roch muffig und abgestanden. Die Luft im Raum war zum Schneiden dick und der Gestank nach Kräutern und anderen Dingen hing in den Möbeln und Textilien fest. Was einmal ein Sofa gewesen sein musste, stand staubig und dunkel in einer Ecke. Ein altes Kissen lag drauf und darunter konnte man die ursprüngliche weiße Farbe der Sitzgelegenheit sehen. Alyssa konnte eine Kakerlake über das Sofa krabbeln sehen und erschauderte. Sie sah nach oben und ein schwarzer Kronleuchter hing von der Decke herab. Die Kerzen waren mit Staub überzogen und dicke Spinnen hatten sich dazwischen ihre Netze gebaut, die inzwischen auch von Staub überzogen und von den Erbauern verlassen waren. An der Wand stand ein hohes Regal, das über und über mit Büchern vollgestellt war, deren Buchrücken sich langsam lösten. Die Seiten waren ebenso vergilbt und staubig wie der Rest des Regales, die sich unter dem Gewicht zu biegen begonnen hatten. Alyssa nieste unwillkürlich und schniefte laut. „Der Geruch ist eklig. Da ist die Frage, was schlimmer ist. Der Kanal oder das hier!“ „Eine gute Frage.“ Undertaker ging durch das Zimmer und hinterließ einige Fußabdrücke im Staub. Er betrachtete einen alten Kelch, auf dessen Glas sich ebenfalls Staub gebildet hatte. Die Flüssigkeit darin war schwarz und trübe. Angewidert wandte Alyssa den Blick ab und sah weitere Fußabdrücke im Staub. „Ich glaube, mein Opfer ist durch die Tür“, sagte sie und deute zu der bemalten Holztür, die mit merkwürdigen Symbolen verziert war. „Wir müssen uns auch beeilen, denn er stirbt bald!“ Adrian wandte seine Aufmerksamkeit dem verblichenen Portrait eines rundlichen Mannes ab und folgte ihrem Fingerzeig zur Tür. Er nickte und gemeinsam gingen sie in den Flur, der von ein paar Kerzen erhellt wurde, die an Wandhaltern angebracht waren. Es gab keine Türen. Lediglich ein verblichener dunkelgrüner Teppich lag auf dem Boden und mit jedem Schritt stieg eine kleine Staubwolke daraus hervor. Die Fenster waren schmutzig vom Regen, Ruß, Pollen und Vogelmist. Sicherlich waren sie seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Es war schwer etwas durch den Schmutz zu erkennen. Alyssa konnte nur grob die Straße sehen und ein paar Bäume. Wer lebte nur in so einem Anwesen? Sie hatte die Akte nur grob überflogen, doch selbst, wenn dieser Mann verrückt war wie ihr letztes Opfer, so konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass man ihn so verwahrlosen lassen würde. Mit schnellen Schritten ging sie den Flur entlang und öffnete die Tür, die in ein Treppenhaus führte. Das Geländer sah nicht minder verwahrlost und schmutzig aus. „Ich sag doch, die Verwaltung hasst mich.“ „Wie meinst du das?“ „Wenn ich mir meine Aufträge so ansehe. Ich frage mich, was grade schlimmer ist. In dieser verwanzten Bude nach dem Kandidaten zu suchen oder im Kanalwasser zu schwimmen.“ „Ich glaube, das Kanalwasser war schlimmer.“ „Ich glaube es auch. Aber allein die Vorstellung, wie viele Spinnen, Ratten, Kakerlaken und anderes Getier hier ist, lässt meine Haut schon jucken!“ „Denkst du, Carry hat da ihre Finger im Spiel?“ „Sie hat vorhin so etwas angedeutet, aber nachweisen kann ich ihr nichts. Selbst wenn, ich werde mich nicht beschweren. Ich bin froh, wenn ich überhaupt Arbeit kriege.“ „Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Wenn Carry darin ihre Finger im Spiel hat, wird es irgendwann raus kommen. Wir sollten jetzt leise sein, sonst hört uns dein Opfer noch.“ Alyssa nickte. Sie war noch immer sauer, wenn sie an das Gespräch mit Carry dachte. Was fiel diesem Biest bloß ein? Sie war eine Schülerin und hatte ihr nichts zu sagen. Zusammen mit Undertaker folgte sie den weiteren Fußspuren, die im Staub zu sehen waren, in einen neunen Korridor in eine Etage tiefer. Der Boden war aus dunklem Stein und die Wände schwarz von einem Feuer. Niemand hatte sich die Mühe gemacht es zu renovieren oder zu putzen. Als sie die Tür öffnete, schlug sie den Ärmel ihres Jacketts vor die Nase. „Was ist das?“, fragte sie angewidert. Adrian hatte es ihr gleich getan und das Gesicht vor Ekel verzogen. „Ich weiß es nicht“, keuchte er. „Das riech tja schlimmer als das Abwasser!“ Langsam ging sie hinein. Den Ärmel des Jacketts auf die Nase gedrückt. Die Luft war unnatürlich dick und der Geruch war so ätzend, dass er ihr in den Augen brannte. Es roch nach Rost, Qualm und anderen Dingen, die sich nicht definieren konnte. „Oh Gott…“, murmelte sie gequält und ging langsam den Flur bis zum Ende entlang weiter. An den Wänden hingen alte Halterungen für Kerzen und Fackeln. Irgendwo war Feuchtigkeit eingedrungen und es hatte sich ein moosgrüner Schimmel gebildet. Sie hörte eine Ratte quicken und sah aus dem Augenwinkel etwas Fettes den Gang entlang huschen. Es verschwand zwischen den Mauersteinen. Ihre Augen glitten zur Decke und eine große weiße Spinne hing in einer Ecke. Angeekelt sah sie weg und ging ein paar Schritte schneller, ehe sich das Tier dazu entschloss sich herab zu lassen und in ihren Nacken zu krabbeln und weiter den Rücken entlang. Allein beim Gedanken daran, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Ein knacken war unter ihren Füßen zu hören. Prompt hielt sie inne und sah widerstrebend zu Boden. Etwas weißes war unter ihren Schuhen zerbrochen und beim genaueren Hinsehen, konnte Alyssa erkennen, dass es Knochen von einer Maus waren, die sie zertreten hatte. Schnelle machte sie einen großen Schritt darum und sah in einer Ecke das nächste tote Tier, auf das sich Fliegen und Maden gebildet hatten. Sie hörte deutlich das Summen der Flügel und wie sich die weißen Tiere um das tote Fleisch wanden. Eine Pfütze aus dunklem Blut hatte sich gebildet. Die Haut mit dem Fell war eingefallen und ein paar Organe schauten aus der offenen Bauchhöhle heraus. Aber dieses tote Tier allein konnte nicht die Ursache für den Gestank sein, der den ganzen Flur verpestete. Fast konnte Alyssa glauben, der schwarze Tod hatte wirklich so gerochen. Sie hatte die Tür am Ende des Ganges erreicht. Rost hatte sich an den Scharnieren angesetzt und auch an einigen anderen Stellen war die Farbe abgeblättert und das Eisen gerostet. Sie sah schwer und massiv aus. Es gab eine kleine Klappe für Essen und einen kleinen Schlitz, um den Insassen beobachten zu können. Alyssa verzog das Gesicht beim Gedanken, was sie gleich sehen würde und schob den Schlitz zur Seite. Der Raum hinter der Tür war klein und dunkel. Nur ganz oben an der Decke waren schmale Fenster angebracht und zusätzlich mit Gitter versehen. Das war einer der Räume, die sie von der Straße aus hatte sehen können. Alyssa konnte erkennen, dass altes Stroh überall verteilt lag. Fliegen schwirrten herum und sie konnte die roten Augen einer weiteren Ratte erkennen. Der Geruch von Schweiß, Blut und Fäkalien kroch durch den Schlitz und ließ sie vor Ekel aufkeuchen. Dennoch sah sie weiter in den Raum hinein, ob sie jemanden erkennen konnte. In einer Ecke lag etwas mehr Stroh, was wohl die Schlafstätte sein sollte. An der Wand hingen rostige Ketten und sie konnte im schwachen Licht Überreste von Blut und Kratzspuren erkennen. Ein klares Anzeichen dafür, dass die Person versucht hatte heraus zu kommen. Sie sah zu dem anderen Ende der rostigen Eisenkette und konnte daran ebenfalls getrocknetes Blut erkennen. Auf dem Boden stand ein alter Teller mit Essensresten, die schimmlig waren. Das Brot sah hart und ausgetrocknet aus. Ein weißlicher, grün-blauer Pelz hatte sich gebildet und den Großteil davon überzogen. Deutlich sah sie, dass jemand es angefangen hatte zu essen. Inständig betete Alyssa, dass die Person schon lange fort war und das Brot noch frisch gewesen war, aber sie hatte die Befürchtung, dass dies nicht der Fall war. Eine kleine Schale stand daneben und sie konnte erkennen, dass darin altes Wasser war. Es wirkte genauso trüb, wie der Kelch mit seiner roten Flüssigkeit aus der oberen Etage. Aus einer der Ecken stahl sich eine Maus und huschte zur Schale. Alyssa beobachtete, wie sie sich an den Rand wagte und daran schnupperte. Sie schien selbst angewidert davon zu sein und hielt es nicht mal als Putzwasser für die Körperpflege gut genug. Wie lange stand das Wasser schon dort, dass selbst eine Maus oder Ratte es verschmähte? Die Maus drehte sich auf dem Rand herum. Für einen Moment hielt sie still und dann erkannte Alyssa, dass kleine dunkle Punkte hinein fielen. Wäre es nicht so eklig gewesen und würde sie mit Sicherheit wissen, dass diese Zelle leer war, dann hätte sie darüber vielleicht sogar noch schmunzeln können. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf. „Die Zelle ist leer“, sagte sie und schob den Riegel wieder zu. Auch wenn die Zelle so verwahrlost war, konnte das alte Stroh, der Urin und die Fäkalien nicht dafür verantwortlich sein, dass es so widerlich roch. „Diese hier willst du nicht sehen“, meinte Undertaker und schob den Riegel wieder zu. „Warum?“ Er schüttelte sprachlos den Kopf. „Menschliche Knochen.“ „Von?“ „Von keinem Kind, wenn du das wissen willst. Es sah aus wie ausgewachsen. Aber ich bin kein Experte, um zu sehen, ob es mal ein Mann oder eine Frau war.“ Alyssa schüttelte den Kopf. „Wie lange die Person wohl gelitten hat?“ „Das weiß wohl keiner.“ „Wie konnte unser Kollege die Seele einsammeln und so etwas hier weiter zulassen? Das ist doch barbarisch!“ „Du weißt, wir dürfen uns nicht einmischen. Egal, wen wir hier noch finden, wir müssen sie alle zurück lassen!“ „Das weiß ich!“ Alyssa wandte sich einer weiteren Zellentür zu und spähte durch den kleinen Schlitz. Dieser Raum hatte etwas mehr Licht und sie konnte deutlicher erkennen, was darin lag. Wie in der Zelle davor lag altes und gammliges Stroh auf dem Boden. Doch anders als davor, war in diesem Raum jemand. Alyssas Herz schlug schneller. Lebte dort tatsächlich jemand? Sie drückte ihre Nase fester gegen die kalte Eisentür, um mehr erkennen zu kennen. Eine dicke Eisenkette hing an der Wand und daneben lag ein verrotteter Fuß, um den sich die Fliegen gesammelt hatten. Er war grünlich angelaufen, als hätte sich eine Fäulnis gebildet neben den bläulich-grauen Totenflecken. Die Haut schälte sich langsam vom Knochen und die Maden tummelten sich in dem roten Fleisch. Alyssa spähte von dem Körperteil ein Stückchen weiter. Auf dem Boden war noch immer die Blutspur zu sehen, die der Besitzer des Fußes hinterlassen hatte. Doch weit war er nicht gekommen. Nur wenige Meter von der rettenden Tür entfernt lag der erschlaffte und tote Körper. Die Haut hatte sich über die Knochen gespannt und der ganze Körper wirkte ausgetrocknet und dürr. Der Mangel an Nahrung und Wasser hatte die Muskeln abgebaut und den Mann um Jahre altern lassen. Auf dem Kopf befanden sich noch einzelne Haare seiner schwarzen Haare. Der Rest war schon durch den Verfallsprozess und die Misshandlung ausgefallen. Die Kleidung war um einige Nummern zu groß. Die Augen waren eingefallen und die Augäpfel hatten jegliche Farbe verloren. Eines rollte in der Höhle herum und fiel auf den Boden. Es gab ein unschönes, schmatzendes Geräusch dabei von sich. Sie konnte in der Hand des Toten einen Glassplitter erkennen. Hatte er sich damit etwa selbst den Fuß abgetrennt, nur um flüchten zu können? Alyssa konnte die Tränen in ihren Augenwinkeln spüren, ebenso die Übelkeit in ihrem Magen. Wie konnte man jemanden nur so grausam behandeln und zu solche selbstzerstörerischen Taten bringen? Was für schmerzen er gehabt haben musste, wollte sie sich nicht ausmalen. Angewidert wandte sie sich ab und schloss die Sichtklappe. „Oh Gott“, murmelte sie gegen ihre Hand und versuchte den Anblick zu vergessen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Undertaker besorgt und schloss ebenfalls die Luke einer weiteren Zelle. „Das ist alles so grausam…und widerwertig“, brachte sie mühsam hervor. „Die Zelle ist auch nicht besser. Darin liegen gleich zwei Leichen“, sagte er und drückte Alyssa an sich. „Ich will hier weg!“ „Soll ich den Auftrag übernehmen?“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Ich will nicht, dass du Ärger bekommst oder Carry irgendwas zu meckern hat.“ „Gut, dann geh ihn schnell erledigen. Ich bleibe hier und sehe mich noch um.“ Alyssa nickte und ging zurück zur Treppe. Sie folgte den Fußspuren mit schnellen Schritten nach unten in die Kellerräume. Eine leise, raue Stimme dran an ihr Ohr. Das erste Lebenszeichen in diesem Haus. Alyssa begann zu rennen. Ein weiterer Geruch mischte sich unter dem muffigen Gestank von Schimmel und Feuchtigkeit. Es roch nach Kerzenqualm, Kaminrauch, Kräuter und verbranntem Fleisch. Sie rümpfte die Nase und folgte weiter der Stimme bis sie zu einer Treppe kam, die in den Keller führte. Langsam und leise stieg sie diese hinab. „Setz dich!“, blaffte eine Männerstimme. Sie klang rau und kratzig. Alyssa öffnete die Akte und sah hinein. Das Bild des Mannes war noch nicht so alt und er war höchstens dreißig. Aber die Stimme, die sie gehört hatte, klang wie fünfzig. Die Tür stand einen Spalt breit offen und sie konnte an der Wand Schatten entlang tanzen sehen. Auf dem Hocker saß eine schmächtige Gestalt. Es war ein Kind mit blonden Haaren. Die Kleidung hing in Fetzen und er war von oben bis unten schmutzig. Der Blick des Kindes lag auf dem Mann, der im Raum hin und her ging. Er sortierte verschiedene Flasche auf dem Tisch vor sich und das Kind schien darauf zu warten, dass der Mann fertig wurde. Alyssa betrachtete die beiden. Sie konnte kaum glauben, dass der Mann mit dem kräftigen Husten ihr Todeskandidat war. Er wirkte so alt und ganz anders als auf dem Bild. Aber es war ausgeschlossen, dass sie den kleinen Jungen abholen sollte. Er hatte eine ganz andere Haarfarbe als der Mann. Alyssa öffnete die Tür vorsichtig einen kleinen Spalt. Der Mann stellte sorgsam ein paar Flaschen auf den großen Tisch, der überlagert war von Überresten irgendwelcher Pflanzen und Tiere. Sie konnte einen Dolch erkennen auf dessen Klinge sich das Kerzenlicht spiegelte. Der kleine Junge sah zu dem Dolch hinüber und sie konnte sich gut vorstellen, was in seinem Kopf vor sich ging. Sie konnte durch seine abgemagerte und untersetzte Gestalt nicht sagen, wie alt der Junge war, aber er tat ihr irgendwo leid. Auf der anderen Seite konnte sie nichts mit Kindern anfangen. Aber anstatt den Dolch zu ergreifen, ließ er den Kopf hängen und auf sein Schicksal zu warten, währen der Mann noch immer hin und her ging, um Sachen vorzubereiten. Zwischen den Händen zerrieb er ein paar Kräuter und warf sie in eine Schale. Schnell griff er danach zu einer Glaskaraffe, um etwas davon über die Kräuter zu mischen. Während er an der Schale beschäftigt war, griff er mit der anderen Hand zu einer weiteren Flasche und nahm einen großzügigen Schluck daraus. Nur wenige Sekunden später hustete er kräftig und Alyssa glaubte, er würde sich die Seele aus dem Leib husten. Es klang kehlig und schmerzhaft, so wie er sich anhörte. Sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es würde nicht mehr lange dauern bis er sterben würde. Aber was sollte sie nur mit dem Kind machen? Der Junge konnte unmöglich zusehen, wie sie mit der Sense auf einen Körper einstach und die Seele einsammelte. Es würde ihn für den Rest des Lebens verstören. Aber sie konnte ihn auch nicht mitnehmen. Das wollte sie auch nicht. Alyssa hatte keine Ahnung von Kindern und wie man richtig mit ihnen umging. Es hatte nie Geschwister gegeben mit denen sie groß geworden war oder kleine Cousinen oder Cousins. Kinder waren ihr bisher immer nervig erschienen und selbst mit Adrian hatte sie bisher nie über dieses Thema eigener Kinder gesprochen. Allein der Gedanke war für Alyssa absurd. Sie würde keine gute Mutter sein. Aber wie erklärte sie einem so kleinen Kind die Lage? Woher sie kam und dass sie den Mann getötet hatte? Kleine Kinder waren anhänglich und sie wollte kein Menschenkind mit in die Society nehmen müssen. Es würde nur noch mehr Papierkram bedeuten und jede Menge Ärger geben. Leise stieß sie einen Fluch aus. Ein weiteres Husten von dem alten Mann riss sie aus den Gedanken. Alyssa hörte, wie er ein missbilligendes Geräusch von sich gab und Fluchte. Sie seufzte. Der kleine Junge würde wohl zusehen müssen, wie sie dem Mann das Leben nahm. Es führte kein Weg daran vorbei. Seine Zeit war gekommen. Langsam öffnete sie Tür und trat in den Raum hinein. Sie konnte die Blicke des Mannes auf sich spüren und des Jungen. Alyssa sah den Alchemisten aus kühlen Augen an und ließ sich ihre Angst, Abscheu und Unsicherheit nicht anmerken. „Wer sind Sie?“, fuhr er sie an. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Junge zusammen zuckte. Es war nicht das erste Mal, dass der Alchemist ihn anschrie und sie vermutete, dass er auch geschlagen wurde. Sie konnte den Handrücken des Knaben sehen. Er war mit einem schmutzigen Tuch verbunden, um eine Wunde zu verdecken. Was hatte der Mann nur mit ihm angestellt, dass er so verängstigt war? „Wer sind Sie und was tun Sie hier unten?“, fragte er erneut. „Mein Name ist Alyssa Campell“, antwortete sie mit kräftiger Stimme und schob ihre Brille hoch. „Was suchen Sie hier? Sie haben hier nichts verloren!“, schrie er. „Ich bin hier um Sie abzuholen“, antwortete sie und zückte ihre Death Scythe, so dass die Luft kurz surrte vom Schwung. Der Todeskandidat wich zurück und schluckte schwer. Er griff sich an den Hals und hustete kräftig. „Nehmen Sie diese kleine Ratte…Aber verschonen Sie mich…“, krächzte er und sie sah wortlos zu, wie er zu Boden ging. Alyssa wandte den Kopf und zum ersten Mal konnte sie ihn richtig von vorne begutachten. Der Junge zuckte zusammen und machte sich auf dem Stuhl ganz klein, als würde er erwarten, dass sie sich auf ihn stürzen würde wie ein wildes Raubtier. Innerlich schüttelte Alyssa mit dem Kopf. Wie konnte dieser Mann es nur wagen? Ihre Augen verengten sich kurz zu schmalen Schlitzen. Schnell sah sie wieder zu ihrem Opfer. „Er steht nicht auf meiner Liste“, antwortete Alyssa knapp und versuchte so viel Kälte und Abscheu in die Stimme zu legen, wie es nur möglich war. Sie konnte keine Gnade oder Mitleid mit ihm empfinden. Das, was er getan hatte, war nicht zu verzeihen. Er hatte Menschen gefoltert, gequält und diesen Jungen misshandelt. So wenig sie Kinder auch leiden konnte oder mit ihnen zurechtkam, umso mehr tat ihr dieser Junge leid. Er gehörte nicht in diese Welt. Seine Augen waren grün-gelb wie ihre. Ein Zeichen dafür, dass er ebenfalls ein Shinigami war. Aber wie war der Alchemist an ein Kind aus ihrer Welt gekommen? War der Junge ausgesetzt worden? Alyssa sah aus dem Augenwinkel, dass der Junge vom Stuhl kroch und sich in eine Ecke verzog. Um ihn würde sie sich später kümmern und entscheiden, was mit ihm geschehen würde. Sie konnte keinen Shinigami hier lassen. Er gehörte ganz klar in ihre Welt. Alyssa durfte sich nicht ablenken lassen, so sehr es sie überraschte ein Kind aus ihrer Welt hier zu sehen. Der Auftrag stand im Vordergrund. Danach konnte sie sich dem Jungen zuwenden. Aber Alyssa wusste, dass sie ihn in jedem Fall irgendwie hier raus holen würde. Sie hatte zwar noch keine Idee, wie sie es schaffen sollte, ohne Unmengen von Papierkram zu erledigen oder Ärger zu kriegen, aber es war klar, dass er nicht in dieser Menschenwelt bleiben konnte. Ihre Erscheinung schien ihrem Gegenüber Angst einzujagen und Alyssa hatte Mühe sich ein grinsen zu verkneifen. Der Mann streckte die Hand nach ihr aus, als würde er sich an ihrem Saum irgendwo fest halten wollen. Als wäre ihre Kleidung der rettende Strohhalm und sie würde sich erweichen lassen. Alyssa trat einen Schritt zurück und sah ihn aus kalten Augen an. Der Mann flehte sie an, dass sie ihn verschonen möge, doch selbst, wenn Alyssa es gekonnt hätte, nachdem, was sie in diesem Haus gesehen hat und was er mit dem Shinigami-Jungen angestellt hatte, hatte er nichts anderes verdient. Dieses Haus war eine reine Mörderburg. Alyssa sah entspannt zu, wie der Alchemist immer kräftiger hustete und nach Luft schnappte. Er war zu Boden gesunken und griff sich an die Brust, als würde es ihm helfen Sauerstoff zu bekommen. Sie wartete und zählte in Gedanken die Todeszeit herunter. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zu dem Tod und bis ihre Arbeit erledigt war. Zufrieden nickte sie, als er auf dem Boden reglos liegen blieb. Alyssa hob die Sense an und schlug mit der Klinge in seinen Rücken. Sie wollte nicht lange zögern, sondern es schnell und schmerzlos hinter sich bringen. Dieser Mann widerte sie nur an und sie hatte Mühe die Klinge nicht mehrfach auf ihn einzuschlagen. Aber sie wusste, sie musste ihre Fassung bewahren und durfte nicht ihre Neutralität ablegen. Kaum berührte die silbrige Klinge den Körper stiegen die Stränge der Cinematic Records auf und zeigten sein Leben. Alyssa sah sie sich nicht an wie sonst, sondern schlug die Akte auf. „Alchemist James Brown, geboren am achten Juli Sechzehnhundertneunzig, gestorben am zwanzigsten Mai Siebzehnhundertfünfundzwanzig“, leierte sie aus ihrem Buch herunter und setzte einen Stempel hinein, „Besondere Anmerkungen keine.“ „Alyssa, hast du endlich den Auftrag erledigt?“, fragte eine andere Stimme plötzlich. Sie zuckte zusammen und drehte sich zu Adrian herum. „Ja, habe ich. Es hat nur etwas gedauert bis der Alte den Löffel abgegeben hat. Ich war zu früh dran.“ „Besser zu früh als zu spät. Du kennst ja die Leute aus der Verwaltung.“ Er wandte sich dem Mann am Boden zu und musterte seinen leblosen Körper. Sein Blick glitt über den Tisch, der ebenfalls mit Symbolen und Zeichen versehen war, wie der Tisch im obersten Stockwerk. „Interessant“, sagte er mit ruhiger Stimme, „Er hatte alles getan, um uns aus dem Weg zu gehen und los zu werden. Am Ende ist er durch seine Experimente so gealtert, dass er nach oben gerückt ist auf der Liste.“ „Selbst Schuld“, sagte Alyssa, „Er hat doch auch versucht Dämonen herbei zu rufen, nur um uns von sich fern zu halten.“ Er nickte. „Wie wahr…Wollen wir gehen?“ Sie nickte und schaute zu der Ecke, wohin sie den Jungen hat sich verkriechen sehen hatte. Der kalte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden und sie lächelte ihm freundlich zu. Langsam näherte sie sich ihm, während er sich an die Wand drückte. Er schaute sie an, wie ein scheues Reh vor dem Gewähr eines Jägers. „Es ist alles gut“, flüsterte sie und hockte sich zu ihm auf den Boden. Alyssa hatte keine Ahnung, was sie tun oder sagen sollte. Sie hatte nur einmal gehört, dass man bei Kindern immer auf Augenhöhe gesehen sollte, um mit ihnen zu reden. Vielleicht half dieser Trick ja, um ihn zu beruhigen und mit in die Shinigami Welt zu nehmen. Am liebsten hätte sie Feierabend gemacht, aber der Gedanke, dass er in der Menschenwelt alleine zurück bleiben würde, gefiel ihr nicht. Seine Wunden sahen entzündet aus, das Gesicht war dreckverschmiert und die Wangen waren eingefallen. Der Junge bestand nur aus Haut und Knochen. Auch wenn sie mit kleinen Kindern nichts anfangen konnte, konnte sie ihn nicht zurück lassen, damit er am Hungertod starb. Seine Augen sahen sie ängstlich an, als erwartete er, dass sie ihn jeden Moment schlagen würde. Sollte sie sich jemals dazu entschließen doch Kinder haben zu wollen, würde sie nie die Hand gegen sie erheben. Das schwor sich Alyssa. Dieser Ausdruck in den Augen des Jungen war schrecklich. Der Junge öffnete vor Angst leicht den Mund und sie erhaschte einen Blick auf seine spitz zulaufenden Zähne. Was hatte dieser Mann mit dem Jungen angestellt? Innerlich schüttelte sie den Kopf. „Lyss, ich glaube wir sollten gehen. Du weißt, wir dürfen uns nicht in die Angelegenheiten von Menschen einmischen.“ „Das weiß ich, aber wir können ihn doch nicht einfach so hier lassen!“, bittend sah sie ihn an. „Adrian…“ Ängstlich rutschte der Junge ein Stückchen weg. „Hey…bleib hier…ich tu dir nicht weh…du bist frei…du kannst gehen“, flüsterte sie und lächelte ihm liebevoll zu. Sie wollte nicht, dass er Angst vor ihr hatte. Ihr Herz schlug vor Nervosität schneller. Alles, was Alyssa wollte, war ihn zu retten. Sie griff in ihre Tasche und zog ein weißes Tuch hervor. Vorsichtig näherte sie sich ihm und strich ihm vorsichtig über die schmutzige Wange. Der Ruß und Dreck hinterließ dunkle Flecken auf dem weißen Stück Stoff, doch sie wischte sein Gesicht weiter sauber. Dabei versuchte sie so sanft wie möglich zu sein, damit er merkte, dass sie ihm nichts Böses wollte. Alyssa hielt inne, als er kräftig Schluchzte. Aus großen, sehnsüchtigen Augen schaute er ihr in die Augen und sie erkannte darin, dass er ihre Worte verstanden hatte. Sie lächelte ihm weiter aufmunternd zu. Seine Qualen und Leiden waren vorbei und hatten ein Ende gefunden. Er würde mit ihr in die Shinigamiwelt gehen und dann würde sie ihn in ein Waisenhaus bringen, damit er in eine bessere Familie unterkam. „Da siehst du, was du anstellst, wenn du dich in die Sachen der Menschen einmischst.“ „Aber er ist kein Mensch, Adrian. Er ist einer von uns“, erwidere Alyssa und sah Undertaker mit energischem Blick an, der keine Widerworte duldete. „Was?“ „Ich hab es gesehen. Seine Augen sind dieselben wie unsere. Wir können ihn nicht hier lassen. Er gehört nicht in diese Welt. Er gehört in unsere Welt!“ Adrian seufzte ergeben. „Na gut. Aber du erklärst das der Verwaltung.“ „Ja, natürlich!“ Sie verdrehte die Augen hinter der Brille und zog die Jacke aus. Was dachte Undertaker? Dachte er, dass sie ihn behalten wollte? Er wusste doch genau, dass sie keine Kinder mochte und froh war, wenn sie den Papierkram hinter sich gebracht hat. Vorsichtig legte sie ihm den Stoff um, damit er nicht merkte, wie genervt sie bei der Vorstellung war, was auf sie zukommen würde. Sie musste ihm zeigen, dass er ihr vertrauen konnte und sie ihm nur helfen wollte. Dabei spielte es auch keine Rolle, wenn sie schon die zweite Uniform an diesem Tag ruinierte. Der Junge hatte zu weinen begonnen und dicke Tränen liefen ihm über das Gesicht. Alyssa seufzte. Wie ging man nur mit einem weinenden Kind um? Sollte sie ihn einfach so in den Arm nehmen oder doch nur ein paar tröstende Worte sagen? „Das hätte dir echt nicht passieren dürfen…“, flüsterte sie und wischte ihm vorsichtig ein paar Tränen von der Wange. Er schaute sie noch immer an wie ein scheues Reh, doch in seinem Blick lag auch die Suche nach Sicherheit. Flehentlich sah er sie an. Alyssa strich ihm mit der Hand über das Gesicht. Seine Haut fühlte sich rau und kalt an, als wäre er tot. Die Tränen hinterließen einen feinen hellen Streifen auf der Haut, als sie den Dreck ein wenig weg wischten. Er war so blass wie eine Porzellanpuppe. Wann hatte er zuletzt das Sonnenlicht auf seiner Haut gespürt? Wie lange war es her, dass er sich gebadet hatte und die Haare gekämmt wurden? Kannte er solche Dinge wie Schnee und Regen überhaupt oder war ihm das alles unbekannt, weil er in dieser Zelle groß geworden war? Konnte er überhaupt sprechen? Alyssa fiel auf, dass er nur kratzige Laute hervor brachte beim Schluchzen, aber noch kein richtiges Wort gesagt hatte. „Alles ist gut…“, murmelte sie und das Kind schloss die Augen. Sein Gesicht schmiegte sich in ihre Handfläche und es schien, als würde er noch ewig weiter weinen können. Langsam legte sie ihm einen Arm um den Körper und konnte dabei die Knochen unter der Haut spüren. An ihrem Arm spürte sie die Wirbel des Rückens und unter ihren Händen die Rippen. Alyssa erinnerte sich an den Anblick des verdorbenen Essens in der einen Zelle und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie konnte man nur so etwas einem Kind antun oder überhaupt einem Menschen? Wann hatte er zuletzt etwas Anständiges gegessen? In ihrem Kopf entstanden die wildesten und verrücktesten Vorstellungen, wie er gelitten haben musste und eine war schlimmer als die andere. Sie strich ihm über den schmutzigen Kopf und merkte die verfilzten Haare, die dringend gewaschen und geschnitten werden mussten. Der Junge wollte sich von ihr lösen, doch Alyssa drückte ihn wieder an sich. So wie er schluchzte, konnte sie ihn nicht einfach so gehen lassen, auch wenn er ein Kind war und an ihrem Rockzipfel hängen würde. Sein Gesicht legte sich an ihre Schulter und sie strich ihm über den Rücken, wie Undertaker es so oft getan hatte, wenn sie traurig an seiner Schulter lag. Vorsichtig hob sie den Jungen hoch auf ihre Arme und stand auf. Er klammerte sich sofort an sie und innerlich musste sie zugeben, dass es ein angenehmes Gefühl in ihr auslöste, wie er sich benahm. Waren das etwa Mutterinstinkte, die sich bemerkbar machten? „Lyss, du willst ihn doch nicht mitnehmen, oder?“ „Doch, ich kann ihn schlecht hier lassen.“ „Aber du weißt, was das für Ärger geben wird?“ „Ja, aber er ist einer von uns!“ „Das sehe ich auch. Ich bin ja nicht blind!“ „Mach dir keine Sorgen, Adrian, ich werde das schon irgendwie erklären können.“ Undertaker seufzte und sah den Jungen eindringlich an, der seinen Blick fragend erwiderte, als wüsste er nicht, ob er sich dazu äußern sollte oder nicht. In seinem Blick lag lediglich Angst wieder allein sein zu müssen und er schluchzte erneut los. Alyssa wandte ihre Aufmerksamkeit ganz den Jungen zu. „Beruhige dich doch. Es ist alles gut“, flüsterte sie und der Junge grub seine Nägel in den Stoff ihres Hemdes. „Du kommst erst einmal mit mir mit und dann kannst du ein Bad nehmen, ich koche dir eine leckere Suppe und dann ruhst du dich aus.“ „Lyss, du willst ihn doch wohl nicht bei uns schlafen lassen?“ Alyssa seufzte. „Doch, genau das hatte ich vor.“ „Aber die Verwaltung wird uns die Hölle dafür heiß machen! Außerdem, wer weiß, ob er nicht irgendwelche Krankheiten hat oder Läuse oder Flöhe!“ „Er wird ein Bad nehmen, ehe er auf dem Sofa oder sonst wo schläft. Mach dir darüber also keine Sorgen.“ Alyssa warf einen Blick auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk. „Was die Verwaltung angeht, die hat schon Feierabend und woanders können wir ihn nicht hinbringen. Also muss er bei uns schlafen. Da gibt es nichts anderes und wenn die Verwaltung morgen meckern sollte, dann sollen sie längere Arbeitszeiten in ihrem Bereich machen.“ „Die Verwaltung wird sicherlich keine längeren Arbeitszeiten einführen.“ „Genau und deswegen sollen sie sich dann auch nicht beschweren!“ „Lyss, bist du dir sicher, was du da tust?“ Alyssa nickte entschlossen und ging mit dem Jungen auf dem Arm die Kellertreppe nach oben. „Ich bin mir sicher und ich werde auch den Papierkram dafür erledigen.“ „Du willst ihn also der Verwaltung überlassen, damit sie Tests mit ihm machen?“ „Es gibt keine andere Lösung. Ich kann ihn ja schlecht als unseren Sohn ausgeben, oder?“ „Das geht wirklich schlecht“, seufzte Undertaker ergeben und sah zu dem Jungen, der in ihrem Arm eingeschlafen war. „Schon allein vom Alter her ginge es nicht. Oder willst du ihn etwa adoptieren?“ Alyssa seufzte. „Nein, ich kann nicht so gut mit Kindern umgehen. Vielleicht später mal.“ Erleichtert stieß Adrian den Atem aus. „Gut, denn mit einem Kind im Haus könnten wir unsere Arbeit nicht mehr richtig erledigen. Es würde den Großteil unserer Zeit einnehmen und ich dachte, die Arbeit wäre dir wichtig.“ „Ist es auch. Ich schließe nur nicht aus, dass es später mal anders sein könnte. Denn eines zu adoptieren und eines zu bekommen, sind zwei paar unterschiedliche Schuhe. Wenn ich eines gebären würde, könnte ich mich vorher darauf einstellen. Aber das hier wäre zu abrupt.“ Sie waren an der obersten Treppenstufe angekommen und öffnete die Eingangstür mit einem lauten Knarzen. Draußen war es bereits dunkel und die Straßen waren verlassen. Alyssa drückte den Jungen enger an sich und wickelte ihm die Jacke um den Körper. Gemeinsam mit Adrian gingen sie zu dem Portal, das sie zurück in die Society bringen würde und das versteckt in der Menschenwelt lag. Der Regen hatte aufgehört und in den Straßengräben hatten sich tiefe Pfützen gebildet. Eine Kutsche fuhr mit ratternden Rädern vorbei und die Pferde schnauften vor Anstrengung. „Zum Glück schläft der Kleine“, murmelte sie und hörte seinen leisen Atem an ihrem Ohr. „Wer weiß, wie lange er eingesperrt war. Sicherlich würde ihn das alles hier verschrecken.“ „Ich wüsste gerne, wie er heiß“, flüsterte sie und strich ihm über die blonden Haare. „Wenn er keinen Namen hat?“ „Dann gebe ich ihm einen!“ „Welchen würdest du ihm denn geben?“ „Grelle Sutcliffe“, antwortete sie prompt. „Wie kommst du denn auf den Namen?“ „Ganz einfach. Im griechischen steht der Name für „Charon“ dem Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx in den Hades bringt.“ „Also du willst ihn nach einem mythologischen Todeswesen benennen?“ „Ja, wieso nicht?“ „Ist das eine Anspielung auf unsere Arbeit?“ „Ein wenig.“ „Der Name Sutcliffe?“ „Bedeutet so viel wie „von der südlichen Klippe“.“ „Eine Anspielung auf deine Heimat?“ Alyssa nickte. „Genau. Ich hatte dir doch erzählt, dass ich in der Nähe vom Meer groß geworden bin und südlich von unserem Haus waren eben Klippen.“ „Du willst ihm wohl eine kleine Erinnerung an dich verpassen, was?“ Undertaker grinste sie wissend an. „Vielleicht.“ Alyssa grinste ihn wieder an. Sie hatten die alte Kapelle erreicht, durch die sie am Nachmittag gegangen war. Vor der Kirche war ein kleiner Friedhof mit alten, verwitterten Grabsteinen und hüfthohem Gras. Das Gebäude selbst war alt und verfallen. Das Dachgeschoss war ausgebrannt und das Dach wies mehrere riesige Löcher auf, so dass man in den Himmel blicken konnte. Die Fassade war alt und bröckelig. Die bunten Glasfenster waren ausgebaut oder gestohlen worden. Einige davon sogar eingeschlagen. Das alte Tor, das in die Kapelle führte stand offen und gewährte einen Blick in das alte Haus. Alyssa blieb vor dem Tor stehen und sah sich nach allen Seiten um, ob niemand sie sehen würde. Dann ging sie hinein. Es war dunkel und es roch nach altem Holz, das Schimmel angesetzt hatte. In dem spärlichen Licht konnte sie einen herunter gestürzten Balken erkennen, der ein paar Bänke zerstört hatte und in der Schräge hin. Durch den Regen hatte sich irgendwo eine Pfütze gebildet, in die nun vereinzelt ein paar Tropfen fielen und von den Wänden widerhallten. Auf dem Altar lag ein altes Tuch, das mit altem Laub übersäht und durch den Staub schmutzig und grau war. An der Stelle, an der die Gebetskerzen gestanden hatten in ihren mit Gold überzogenen Halterungen, war eine weiße Stelle zurück geblieben auf dem Tuch. Ein paar Spinnweben hatten sich an den Ecken des Altares ausgebreitet. Das Kreuz an der Wand war vom Brand schwarz geworden, dennoch konnte Alyssa die Überreste der Figur erkennen. Sie ging den Mittelgang entlang und auf den Bänken sah sie aus dem Augenwinkel alte Gebetsbücher mit den Liedern, die hier gesungen worden waren. Das Leder war abgegriffen und zerfleddert. Es tat ihr irgendwie leid, die Bücher in so einem Zustand zu sehen. Alyssa war am Ende des Ganges angekommen und ging um den Altar herum auf die Portaltür zu, die im Schatten verborgen war unter dem abgebrannten Kreuz mit Jesus. Es war eine Besonderheit, die mit ihren Augen zu tun hatte, dass sie die Tür sehen konnten. Jegliche Portale, die in die Shinigamiwelt zurückführten, lagen immer im Schatten verborgen und konnten nur die die phosphoreszierenden Augen gesehen werden. So vermied man es, dass ein Mensch jemals versehentlich durch so eine Tür ging und die Menschenwelt verließ. „Schläft der Kleine richtig?“ Alyssa warf dem Jungen einen kurzen Blick zu und lauschte seinem Atem. Sie nickte. „Ja, er schläft tief und fest.“ „Gut. Denn er soll nicht wissen, wo die Portale sind.“ „Ich weiß. Er ist kein Shinigami und hat nicht unseren Ausweis, die uns erlaubt in diese Welt zu gehen.“ „Aber du hoffst, dass er mal einer wird?“ Undertaker sah sich um, ob jemand sie beobachten könnte, dann griff er zur Türklinke und öffnete das Portal. „Ich weiß nicht“, seufzte sie, „Ich hoffe nur, dass es ihm bald besser geht. Morgen sollte er auf jeden Fall in die Krankenstation, wenn wir es der Verwaltung erklärt haben.“ Adrian nickte. „Seine Wunden sehen schlimm aus.“ „Du solltest sie nachher schon mal reinigen und verbinden.“ Alyssa nickte und ging mit dem Jungen im Arm durch die Tür. „Sag mal, du bist nicht begeistert, was den Jungen angeht, oder?“ „Merkt man das?“, fragte er etwas kühler zurück und der Tonfall jagte ihr einen Schauer über den Rücken. So hatte er schon länger nicht mehr mit ihr gesprochen. Alyssa nickte und spürte an ihrer Schulter die Wände des engen Durchganges, der sie zurück nach Hause bringen würde. Undertaker blieb stehen und drehte sie zu sich herum. „Hör zu, ich will nur nicht, dass du oder dass wir Ärger kriegen.“ In der Dunkelheit konnte sie seine leuchtenden Augen sehen und wie nervös ihn das Gespräch machte. Er fuhr sich durch den langen Pony. „Wir haben solange durchgehalten, mein Engel, ich will das nicht durch so einen kleinen Jungen gefährden.“ Alyssa nickte. Sie konnte sich vorstellen, was er meinte. „Ich…Wir…Also…Es hat mich damals so viel Mühe gekostet zu verheimlichen, dass ich dich mag bis zu diesem einen Abend und danach viel es mir noch schwerer es vor den Kollegen geheim zu halten. Ich will einfach nicht, dass unsere kleine Lüge auffliegt und wir beide gefeuert werden. Ich weiß, du liebst diese Arbeit genauso sehr wie ich sie liebe.“ „Adrian, ich weiß, was du meinst“, flüsterte sie zurück. „Lyss, du bist eine der wenigen, der ich vertraue und die meinen richtigen Namen kennt. Ich liebe dich und genau deswegen will ich nicht, dass irgendwer das Gerücht verbreitet, der Junge wäre von uns.“ „Mit irgendwer meinst du Carry?“ Er nickte. „Ich will einfach nicht, dass dieses Weib auf die Idee kommt, wir hätten schon seit der Ausbildungszeit etwas miteinander. Selbst, wenn sie es vermuten. Sie können uns nichts, weil wir offiziell erst nach deiner Prüfung zusammen waren. Daher interessiert es keinen. Aber wenn so etwas in den Umlauf kommt, würde es sie interessieren und irgendwer würde nachforschen oder in unseren Lebensbüchern nachlesen. Dann wäre die Katze aus dem Sack und wir hätten riesen Ärger am Hals.“ „Ich weiß, aber wir können ihn doch nicht im Stich lassen!“ „Lyss, ich bin auch nicht dagegen, dass wir ihn im Stich lassen oder ihm helfen. Aber du bist mir wichtiger! Unsere Beziehung ist mir wichtiger! Ich kenne dieses Kind nicht. Es bedeutet mir nichts!“ „Soll das heißen, dass du keine Kinder magst?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich…ich würde mich sogar freuen irgendwann mit dir welche zu haben. Aber eben erst irgendwann!“ Nun war es an Alyssa zu seufzen. „Ich habe dir vorhin ja gesagt, dass ich jetzt keine Kinder will und erst später vielleicht. Es ist nicht so, dass ich den Kleinen adoptieren will, aber ich kann ihn auch nicht hilflos zurück lassen.“ „Ich verstehe dich ja und das bringt mich eben in dieses Dilemma!“ Wieder fuhr Adrian sich durch die Haare. „Bitte streitet nicht…“, kam es leise und mit kratziger Stimme von dem kleinen Jungen. Alyssa sah überrascht zu Undertaker und dann zu dem Jungen. Es war ihr unangenehm, dass er ihren Streit über ihn mitbekommen hatte. Verschlafen blinzelte er sie an und gähnte. „Tut mir leid, dass wir dich geweckt haben“, flüsterte sie ihm zu. „Lasst mich lieber zurück, aber streitet euch nicht.“ „Du bleibst nicht zurück!“, sagte Alyssa bestimmt. „Warum streitet ihr euch dann über mich?“ „Wir...“ Alyssa seufzte. Es hatte keinen Sinn zu leugnen. Er war alt genug für die Wahrheit. „Es gibt Dinge, die du nicht verstehst und über die wir diskutieren, weil wir eine andere Meinung haben.“ „Aber er mag mich nicht…“ Der Junge sah zu Undertaker, der kurz zusammen zuckte. „Er macht sich nur um mich Sorgen“, erklärte sie. „Aber ich mache euch einen Vorschlag. Wir bringen dich erst zur Krankenstation. Damit niemand denkt, du wärst unser Kind und dann schläfst du dort. Morgen sehen wir uns dann wieder und klären alles Weitere. Du brauchst auch keine Angst vor der Station zu haben. Alle sind sehr freundlich.“ Der Junge nickte und schmiegte sich an ihre Schulter. Adrian seufzte. „Na gut. Das klingt immer noch besser als dass er bei uns im Zimmer schläft.“ „Gut, dann lasst uns jetzt weiter gehen. Ich habe Hunger.“ Ehe sich Alyssa umdrehen konnte, gab ihr Undertaker einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Der Junge gab ein angeekeltes Geräusch von sich, doch sie ignorierte es. Alyssa musste grinsen, denn es bedeutete, dass er nicht von klein auf in Gefangenschaft war, sondern unter Menschen. Er sprach auch ganz normal, was ebenfalls bedeutete, dass er Kontakt mit anderen Menschen hatte. Es bedeutete aber auch, dass er einmal ein Leben gehabt haben musste und einen Namen. „Junge, wie heißt du eigentlich?“, fragte Alyssa, grinste aber als er keine Antwort gab, sondern nur ein leises Schnarchen von sich gab. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, drückte ihn aber wieder an sich und ging weiter. Es würde nicht mehr lange dauern bis sie das Ende des Durchganges erreicht hatten. Sie konnte schon die kühle Luft spüren und den süßen Duft der Blumen riechen. Nur wenige Augenblicke später traten sie durch das Portal auf der Brücke und standen in dem großen runden Pavillon im Garten. Es war zum Glück ein milder und angenehmer Abend. Lediglich der Wind war etwas kühl. Sie konnte das Wasser plätschern hören und wie es sich einen Weg durch den Garten bahnte und unter ihnen den Pavillon passierte. Vier kleine Stege führten zum Garten und zurück zur Society, die hoch in den Himmel ragte. Es brannten nur noch wenige Lichter in den Büros. Die einzigen Fenster, die durchgehend beleuchtet waren, waren die der Krankenstation und der Mensa. Alyssas Magen gab ein knurren von sich und es war eindeutig ein Zeichen dafür, dass sie sich in die Mensa setzen und etwas Essen sollte. Sie gingen weiter über die Brücke. „Wo ist der Wachmann?“, fragte Undertaker und stellte sich schützend vor sie. Alyssa sah sich suchend um. „Stimmt. Wo ist er?“ Es war ihr gar nicht wirklich aufgefallen, dass der Wachposten fehlte, der immer die Ausweise kontrollierte, wenn jemand durch gehen wollte. Undertaker war angespannt und hielt seine Death Scythe fest im Griff. Auch Alyssa spannte sich an und hielt den Jungen fester im Arm. „Wo ist er? Für eine Wachablösung ist es noch zu früh. Die war erst vor etwa zwei Stunden.“ „Das weiß ich nicht. Aber wenn etwas passiert ist, dann sollten wir vorsichtig sein.“ Sie nickte und sah sich weiter um. Das Knacken von Ästen drang an ihr Ohr und sie wirbelte herum. Auch Adrian wandte seine Aufmerksamkeit dem Geräusch zu. Die Blätter raschelten und man konnte deutlich eine Bewegung ausmachen. „Wer ist da?“, rief Undertaker mit kalter Stimme. Für einen Moment war es ruhig, dann steckte jemand den Kopf aus dem Gebüsch. „Oh…Verzeihen Sie…“, nuschelte der Mann und richtete sich auf. Sein Hemd stand halb offen und er steckte es schnell in seine Hose, die ebenfalls offen war. Alyssa wandte beschämt den Blick ab, als er die Hose zuknöpfte und den Reißverschluss zuzog. „Was haben Sie in dem Grünzeug zu suchen?“, fauchte Undertaker mit kalter Stimme und seine Haltung entspannte sich. Dafür richtete er sich zu voller Größe auf. Verlegen sah sie den Mann an und konnte die Dienstmarke erkennen, die ihn als Wachmann auszeichnete. „Ich…ähm…ich…“ Verlegen knöpfte er das Hemd zu und zupfte ein Blatt von seiner Uniform. „Wo sind Sie gewesen?“, fragte Adrian erneut und sah den Mann mit kalten Augen an. „Sie wissen doch, dass Sie hier stehen müssen, um für Sicherheit zu sorgen!“ „Ja, natürlich…“, nuschelte er. „Dann machen Sie Ihren Job gefälligst richtig! Heute Nachmittag war eine Schülerin aus der Buchhaltungsabteilung in der Menschenwelt!“ „Was…ich…nun…“ „Wenn rauskommt, dass Sie dafür verantwortlich sind, können Sie schon mal Ihre Sachen packen!“ „Was schreien Sei denn so?“, fragte eine weitere Stimme und Alyssa wandte den Kopf. Aus dem Gebüsch trat Carry und wischte sich mit dem Finger über den Mundwinkel. Ihre Uniform saß unordentlich und ein Ast mit ein paar grünen Blättern steckte in ihrem Haar. Aus ihrer Tasche blitzte ein Stückchen Stoff, was sich bei genauerer Betrachtung als ihren Slip herausstellte. Sie zwang sich den Blick davon abzuwenden. „Carry?“, fragte Alyssa überrascht, obwohl es sie nicht wirklich überraschen sollte. Wie sonst hätte sie durch den Durchgang gekonnt? Als sie zurückgegangen war, musste der Wachmann wohl auf seinen Preis bestanden haben. „Oh Kanalratte, was machst du hier?“, fragte sie süffisant und wischte sich mit dem Finger am anderen Mundwinkel entlang. Wollte sie wirklich wissen, was sie mit dem armen Wachmann angestellt hatte? „Wie ich sehe, hast du ein Souvenir mitgebracht.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Das wird Ärger geben.“ „Ich wüsste nicht, was dich das interessiert. Du hast genug Ärger selbst am Hals.“ „Ach weißt du. Der Personalchef ist ein…wie sag ich das am besten?“ „Kunde von dir?“ „Nein, ein guter Bekannter. Ich glaube, er wird Gnade vor Recht ergehen lassen. Immerhin bin ich noch eine Schülerin und so ein Fehler kann doch jedem Mal passieren, dass man sich in die Menschenwelt verirrt.“ „Dabei aber zufällig die Sachen bei hat, die ein Bote bringen soll?“ „Ich hatte ihn zufällig getroffen, Dorfhuhn. Aber danke, dass du dir solche Sorgen um mich machst. Aber ich würde mir Sorgen wegen dem Kind machen. Du weißt doch, Menschen sind hier nicht gestattet.“ „Er ist kein Mensch“, gab Alyssa zurück. „Oh, dann ist er etwa deiner?“ Sie schaute zu Undertaker. „Wenn ich ihn mir so ansehe, musst du ihn schon ganz schön lange versteckt gehalten haben. Was sagst du denn dazu Undylein? Er ist doch sicherlich nicht von dir, oder? Wenn doch, dann würde das ja bedeuten, dass du was mit deiner Schülerin hattest!“ Alyssas Augenbraue zuckte gefährlich. „Miss Montrose, es kann Ihnen doch völlig egal sein! Sie haben genug Ärger, wie Miss Campell Ihnen bereits gesagt hat! Sie waren in der Menschenwelt unerlaubterweise und wenn ich mir die Situation so ansehe, dann spricht einiges dafür, dass Sie den Wachmann bestochen haben!“ Carry zuckte unter den harten Worten zusammen. „Ich habe doch gar nichts getan!“, jammerte sie und brachte ein Schluchzen hervor. „Er hat mich ins Gebüsch gezerrt!“ „Was?“, fuhr der Wachmann sie an und sein Gesicht verlor an Farbe. „Es ist wahr…“, schluchzte sie. „Carry, halt die Klappe!“, fuhr Alyssa sie wütend an. „Du hast Mist gebaut und nun steh dazu! Keine Krokodilstränen der Welt werden dir hier weiter helfen. Weder bei Undertaker noch bei mir! Du hast den Wachmann bestochen und jetzt, wo du auf frischer Tat ertappt bist, willst du ihm eine Vergewaltigung unterstellen! Ich glaube, ich höre nicht richtig! Außerdem was erlaubst du dir für einen Umgangston mit mir! Ich bin deine Vorgesetzte, also benimm dich gefälligst! Ich erwarte ein bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“ Alyssa war sich bewusst, dass sie sich in Rage geredet hatte und immer lauter geworden war. Aber sie konnte Carry die Nervosität ansehen. „Stell dich auf ein Disziplinarverfahren ein“, sagte sie noch und wandte sich zum Wachmann um. „Was Sie betrifft, Sie werden für heute Suspendiert. Schicken Sie ihre Ablösung her!“ „Was ist denn los?“, fragte der Junge verschlafen. „Mir tut das Ohr weh…“ Alyssa zuckte zusammen. Sie hatte bei ihrer Wut den Jungen total vergessen. „Oh, das tut mir Leid, Kleiner“, flüsterte sie und sah wieder die beiden an. „Wie Sie sehen, habe ich noch was zu erledigen. Schönen Abend noch!“, fauchte sie und ging wütend davon. Undertaker folgte ihr. „Lyss, das war…“ „Ich weiß, ich habe überreagiert.“ „Nein, das war gut.“ „Was?“ „Du hast ihr endlich mal die Meinung gesagt und welchen Stand sie hat. Das war gut. Ich hätte es nicht anders gemacht, wenn du es nicht getan hättest.“ „Danke“, nuschelte sie verlegen. „Wer war die?“, fragte der Junge leise. „Niemand wichtiges“, gab sie zurück. „Ich mag sie nicht.“ „Ich auch nicht.“ „Sie ist gemein zu dir.“ Alyssa lachte. Das war süß von dem Jungen. „Mach dir keinen Kopf darum. Ich komme zurecht. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich.“ Sie brachte den Jungen auf dem schnellsten Weg in die Krankenstation und ignorierte dabei die fragenden und irritierenden Blicke der noch arbeitenden Kollegen. Es dauerte auf der Station nicht lange bis der Arzt Zeit hatte. Er erfasste schnell den Namen, Conrad Winter, und andere Daten. Der Arzt verstand auch das Problem, dass die Verwaltung schon Feierabend hatte, er aber eine dringende Untersuchung brauchte, worüber Alyssa mehr als froh war. Die Schwestern brachten ihn in einen Baderaum und wuschen ihn sauber, damit die Wunden grob gesäubert wurden. Sie steckten ihn auch in einen weißen Schlafanzug und gaben Alyssa ein paar Kleidungsstücke in die Hand. Die Behandlung dauerte etwas, doch die körperlichen Wunden waren nur das geringste Problem. Conrad hatte ein erhebliches Gewichtsproblem und musste in den nächsten Wochen zunehmen. Er war unterernährt und hatte einen Mangel an den wichtigsten Vitaminen und Mineralien. Alyssa versprach dem Arzt, dass sie sich um ihn kümmern und ihm die richtige Nahrung geben würde bis die Verwaltung beschlossen hatte, was mit ihm passieren würde. Der Arzt reinigte die Wunden und desinfizierte sie. Am meisten überraschte sie jedoch die Narbe auf dem Rücken des Jungen. Der Mann musste sie ihm mit einem glühenden Eisen eingebrannt haben, wie bei einem Tier. Eine der Krankenschwestern fertigte eine Akte für die Verwaltung an und der Doktor legte ein Schreiben mit dabei, um dem Personal verständlich zu machen, dass die Behandlung nicht hätte verschoben werden können. Alyssa fiel ein Stein vom Herzen. Das erleichterte ihr am nächsten Morgen die Arbeit erheblich. Sie konnte dem Arzt kaum genug danken. Eigentlich sollte Conrad über Nacht auf der Station schlafen, damit der Doktor ihn im Auge behalten konnte, doch er wollte bei Alyssa bleiben und bettelte darum, dass er bei ihr schlafen dürfe. Sie besprach sich kurz mit Adrian und er willigte ein, dass er bei ihnen bleiben dürfe. Gemeinsam gingen sie in das Wohngebäude und sie kochte dem Jungen eine kleine Mahlzeit, die er mit schnellen bissen verschlang. Sie blieben nach dem Essen noch etwas wach und fragten Conrad ein wenig nach seinem Leben vor der Gefangenschaft aus und erklärten ihm, was am nächsten Tag auf ihn zukommen würde und wie es weiter ginge. Als Alyssa später im Bett lag und sich eingekuschelt hatte, konnte sie kaum glauben, was an dem Tag alles passiert war. Es war wirklich unglaublich. Conrad lag eingekuschelt neben ihr und er schmiegte sich an sie, als würde ihre Nähe ihn beruhigen. Adrian lag hinter ihr und hatte sie an sich gezogen. Alyssa genoss die Wärme, die er ausstrahlte und die Berührung, wie er sie im Arm hielt. „Du hast heute gute Arbeit geleistet“, sagte er. „Danke“, gab sie leise zurück. Undertaker küsste ihren Nacken. „Ich bin stolz auf dich. Schläft der Kleine?“ „Ja, tief und fest.“ „Das ist gut.“ Er zog sie fester an sich und Alyssa spürte seinen warmen Atmen im Nacken. Sie schloss die Augen. „Ich liebe dich, Adrian.“ „Ich dich auch, mein Engel“, gab er leise zurück. Alyssa lauschte der Stille und hörte den gleichmäßigen Atem von Undertaker, während der kleine Junge neben ihr ebenfalls gleichmäßig atmete. Der Schlaf übermannte sie und nur am Rande nahm sie wahr, dass Conrad sich herumwälzte. „Schlaf weiter, Conrad“, nuschelte sie und legte ihm einen Arm um den Körper. „Das werde ich“, antwortete er leise und noch immer mit kratziger Stimme. „Das bin ich dir schuldig“ Alyssa wollte ihm antworten, doch brachte vor Müdigkeit kein Wort mehr heraus. Sie drückte den Jungen an sich und schlief ein. Alles um sie herum war weich. Weich und bequem, wie sie weiter feststellte. Es war auch warm. Zusammengerollt lag sie auf der Seite, die Decke hatte sie bis zum Kinn hoch gezogen und ihr Kopf ruhte auf einem Kissen. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, erinnerte an feuchter, modriger Erde. Es war aber nicht dieser unangenehme Duft, sondern es erinnerte sie daran, wie es nach frischem Regen roch. Sie kuschelte sich tiefer ins Kissen. Lily wusste nicht, wann sie sich das letzte Mal so wohl gefühlt hatte. Es musste länger her gewesen sein. Es waren mehr als nur ein paar Tage her, fast schon ein paar Wochen. Sie wusste genau, wann sie sich zuletzt so wohl gefühlt hatte. Das war der Moment gewesen, als ihr Mentor sie in der Nacht getröstet und neben ihr im Bett gelegen hatte. Auch, wenn sie nervös gewesen war, hatte sie sich in seinem Arm sicher und geborgen gefühlt. Sie zog die Decke enger um sich und rollte sich zusammen, wie ein Fötus. Das warme Gefühl in ihrer Brust, ließ sie sehnsüchtig aufseufzen und sie sehnte sich danach, es wieder zu spüren. Ohne die Augen zu öffnen rieb sie ihr Gesicht an das weiche Kissen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre sie durch dicken Nebel gegangen. Ein klarer Gedanke wollte nicht in ihren Sinn kommen, obwohl ihr Kopf wach war und den Traum Revue passieren ließ. Gleichzeitig fühlte sie die Müdigkeit, die sie dazu bringen wollte, sich wieder in das weiche Bett zu kuscheln und weiter zu schlafen. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Bett. So viel wollte ihr Verstand ihr mitteilen. Aber was war es? Immer, wenn der Gedanke zum Greifen nah war, entschwand er wieder ihrem Geist. Es war zum verrückt werden. Ihr Geist war wach, aber ihr Körper war zu müde, um sich auch nur ansatzweise zu bewegen. Lily atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Dieser Traum war zwar nicht so schön, aber doch angenehmer als die anderen beim Aufwachen. Es war ungewohnt, dass sie nicht von irgendwelchen Unfällen, Morden oder anderen schmerzlichen Dingen träumte, wie sonst. Oft genug hatte sie schmerzen gehabt nachdem sie wach geworden war. Doch diesmal fühlte sie sich sicher und geborgen. Lily konnte noch immer den warmen Arm fühlen, der sich um ihre Hüfte im Traum gelegt hatte. Genauso wie den warmen Körper, der sich an ihren gedrückt hatte. Noch nie hatte sie sich so sehr gewünscht wie jetzt, dass man sie genauso in den Arm hielt. Selbst, wenn es in diesem Moment Ronald Knox gewesen wäre, wäre es ihr nur recht gewesen. Aber so etwas durfte sie nicht denken! Diese eine harmlose Nacht zwischen ihnen hatte ihr mehr als genug Probleme eingebracht. Sie hatte vor Gericht gestanden und dann hatte sie der alte Shinigami mit den langen grau-weißen Haaren entführt. Lily schreckte auf und saß senkrecht im Bett. Genau das war es, was ihr der Verstand die ganze Zeit hatte sagen wollen. Sie lag nicht in ihrem Zimmer in der Shinigami Dispatch Society und sie träumte auch nicht davon im Bett eines Geliebten zu liegen. Sie lag auch nicht bei Nakatsu im Bett, wie es in den letzten Wochen oft genug der Fall gewesen war. Lily lag im Bett von dem alten Shinigami Undertaker. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und versuchte den Gedanken so schnell es geht zu verdrängen, dass sie sich wohl in seinem Bett gefühlt hatte. Zum Glück war es dunkel und er selbst schien auch irgendwo zu schlafen, so dass niemand sehen konnte, wie ihr bei dem Gedanken die Röte ins Gesicht stieg. Diese Gefühle kamen nur durch Traum, das wusste sie. Sie durfte sich davon nicht beirren lassen. Langsam atmete sie tief ein und aus. Ihr Herz schlug nur durch den Traum so schnell. Es hatte keine Bedeutung. Müde fuhr sie sich durch die Haare und seufzte. Wieso hatte sie solche Träume? Woher kamen sie? Lily schloss die Augen und atmete tief durch. Es fühlte sich an, als wäre sie nicht sie selbst. Jede Nacht war es das selbe Spiel. Jede Nacht wachte sie mit Gefühlen auf, die sie durch einen Traum übernommen hatte. Manchmal fühlte sie sich wie eine fremde Person. Verschlafen blinzelte sie und sah sich in dem dunklen Zimmer um. Etwas Mondlicht fiel in das Zimmer und brachte etwas Licht herein, so dass sie schwach die Umrisse erkennen konnte. Etwas Mondlicht fiel in das Zimmer und brachte etwas Licht herein, so dass sie schwach die Umrisse erkennen konnte. Neben sich konnte Lily ein leises Geräusch hören. Gleichmäßig atmete jemand. Lily beschlich eine kleine Ahnung und rechnete damit, dass Undertaker neben dem Bett saß und auf einem Stuhl oder auf dem Boden auf einer Pritsche schlief. Vorsichtig drehte sie sich zur Seite. Der Shinigami schlief nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. Das Mondlicht ließ seine Haut blasser erscheinen und tauchte es in silbriges Licht. Die Decke hatte er sich bis zur Brust hochgezogen und Lily konnte seine Körperwärme fast spüren. Wieso war es ihr nicht vorher aufgefallen? Er lag so nah bei ihr, dass sie sich fast berührten. Deutlich konnte sie sein Gesicht erkennen, was sonst durch die Haare verdeckt wurde. Der Shinigami hatte schöne Gesichtszüge, wie sie feststellte. Fasziniert sah sie ihm beim Schlafen zu. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Sein ganzer Körper wirkte entspannt und friedlich, als wäre er schon lange nicht mehr zum Schlafen gekommen. Lily beugte sich etwas über ihn und betrachtete die feinen Narben, die sich an seinem Hals, Gesicht und Brust abzeichneten. Sie hatte ihn noch nie ohne sein Grinsen auf den Lippen gesehen und es wirkte fremd ihn so zu sehen. Eigentlich hätte sie die Tatsache erschrecken müssen, dass er neben ihr lag, aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Was hatte sie außerdem gedacht, wo er die letzten Tage geschlafen hatte? Im Raum gab es kein anderes Bett und sie bezweifelte, dass er in einem der Särge geschlafen hatte. Es war also nur logisch, dass er neben ihr geschlafen hatte. Doch obwohl er sie entführt hatte, verspürte sie keine Angst. Er hatte ihr die ganze Zeit über nichts getan. Im Gegenteil. Er hatte sich rührend um sie gekümmert und fast glaubte Lily ihm, dass er sie vor Carry und den anderen beschützen wollte. Sie dachte nur an das Nachthemd, was sie im Augenblick trug. Das hatte er für sie besorgt, genauso wie ein paar andere Kleidungsstücke, die sie tragen konnte, damit sie nicht die ganze Zeit in ihrer Uniform herum laufen musste. Undertaker hatte ihr gesagt, dass es die Kleidung von Alyssa war, die er aufbewahrt hatte. Lily konnte ihm nicht böse sein, nach allem, was er für sie getan hatte. Er hatte viel mit ihr geredet und zugehört, genauso wie ihr Mut gemacht. Sie hatte nicht das Gefühl eine Gefangene zu sein, obwohl er sie gebeten hatte in diesem Zimmer zu bleiben. Aber dennoch wollte Lily so schnell es ging zurück in die Society und einen normalen Alltag nachgehen, die Ausbildung weiter führen und dieses Kapitel abhaken. Noch immer betrachtete sie Undertaker, wie er friedlich schlief. Sie kämpfte gegen den Drang an mit einem Finger seine Narbe im Gesicht oder auf der Brust nachzufahren. Zu gern hätte sie gewusst, woher er sie hatte und irgendwo in ihrem Inneren hatte Lily das Gefühl genau zu wissen, woher sie stammten. Sie konnte sich dieses Gefühl nicht erklären. Es war so, als wäre ihr vieles vertraut, obwohl sie es gar nicht kannte. Dieses Gefühl verwirrte sie und es war beängstigend. Am liebsten hätte Lily sich an seine Schulter geschmiegt und weiter geschlafen. Aber das konnte sie nicht tun. Er war ihr Entführer. Außerdem hatte sie sich schon unwohl gefühlt, als ihr Mentor neben ihr gelegt und sie in den Arm genommen hatte. Dabei war er nur ein Jahr älter. Dieser Mann war einige Jahrzehnte älter als sie. Lily schüttelte den Kopf und seufzte. Sie warf die Decke zurück und stand leise auf. Das hellblaue Nachthemd von Alyssa war ihr etwas zu groß und war während des Schlafens nach oben gerutscht. Schnell richtete sie den Stoff und ging zum Fenster. Lily brauchte dringend etwas Abstand von dem Shinigami. Mit einem Seufzen ging sie zum Fenster und atmete tief durch. Solche Träume konnte sie in diesem Moment nicht gebrauchen. Es war schon schlimm genug, dass Lily sie fast jede Nacht hatte, aber bei jemand eigentlich Fremden, der im Traum dann auch noch vorkam, konnte sie diese nicht brauchen. Wütend fuhr sich Lily durch die Haare und lief vor dem Fenster auf und ab. Leise knurrte sie. Warum hatte sie solche Träume? Was hatte es zu bedeuten? Schon seit Wochen stellte sie sich diese Fragen und konnte keine Antwort finden. Selbst in der Lebensbuchabteilung waren die Bücher der beiden Frauen dauerhaft ausgeliehen, weshalb sie nicht nachlesen konnte, wer sie waren. Doch jetzt waren sie hier. Direkt vor ihrer Nase waren Alyssa Campell und Emily Lyall in Fleisch und Blut. Wie war so etwas möglich? Wie konnten zwei Personen aus ihren Träumen als Personen hier sein? Dabei waren sie in ihren Träumen gestorben. Lily war sich absolut sicher, dass sie von deren Tod geträumt hatte und selbst der Shinigami hatte nicht abgestritten, dass Alyssa ein Zombie war. Zu Emily hatte sie gar nichts mehr gesagt. Es war immer noch unheimlich zu wissen, dass irgendwo in den Räumen unter ihr zwei Zombies lagen. Lily seufzte und rieb sich über die Arme. Das Gefühl in ihrer Brust war noch immer da und schien so schnell nicht verschwinden zu wollen. Sie sah aus dem Fenster und konnte gegenüber ein Backsteinhaus erkennen, aus dessen Fenster schwaches Licht drang. Neugierig trat sie näher heran. Die Häuserreihe erstreckte sich die ganze Gasse entlang. Sie hörte eine Kutsche entlang rollen und das Geschrei von einem Betrunkenen. Eine Glasflasche klirrte und im nächsten Moment vernahm sie die Stimme einer Frau. Lily drückte sich dichter an das Fenster heran und ihre Nase an der Scheibe platt, um einen Blick auf die Straße zu erhaschen. Sie hört etwas gegen die Scheibe trommeln. Es hatte angefangen zu regnen und dicke Tropfen schlugen auf die Straße und gegen das Fenster, was ihre Sicht auf die umstehenden Häuser erschwerte. Etwas weiter zur Straße rauf, war das Schild für ein Blumengeschäft zu sehen. Zwei Gestalten bogen in die Gasse ein. Lily konnte erkennen, dass eine Gestalt kleiner und zierlicher war als die andere. Sie vermutete einen Mann und eine Frau. Die zwei gingen bis zum Ende der Gasse, wo die Frau an den Lattenzaun gedrückt wurde. Verwirrt runzelte die Stirn. Was taten sie da? Lily kniff die Augen etwas zusammen und beobachtete weiter das Geschehen. Plötzlich fühlte sie mehrere starke Finger, die ihre Schulter umfassten und im nächsten Moment sah sie in zwei phosphorisierende Augen. Erschrocken zog sie die Luft ein und wich zurück. Sie prallte gegen die Fensterschreibe. „Macht es dir Spaß den beiden zuzusehen?“, fragte Undertaker sie mit seinem üblichen Grinsen. „Oh...nein...ich wollte mir die Straße ansehen...“, gab sie verlegen zurück und Lily spürte, wie sich ihre Wangen vor Scham rot färbten. „Wieso bist du nicht im Bett und schläfst?“ „Ich bin wach geworden“, antwortete sie. „Dann hast du nichts anderes zu tun als anderen nachzuspionieren?“ „Nein! Ich wollte mir nur die Straße ansehen. Seit ich hier bin, habe ich nichts anderes gesehen als dieses Zimmer!“ „Die Gegend ist auch nicht besonders Sehenswert.“ Er trat an das Fenster und warf einen Blick auf die Gassenseite, wo noch immer der Mann und die Frau am Zaun beschäftigt waren. „Ich schätze mal, so etwas hast du noch nie gesehen, oder?“ Lily schüttelte den Kopf. „Wir sind hier in einem ärmeren Stadtteil von London und es ist ganz normal, dass die Prostituierten ihre Freier in den Seitengassen befriedigen.“ Undertaker sprach darüber, als wäre es das natürlichste der Welt, während ihr Gesicht sich dabei rötete. „Oh“, war alles was Lily hervorbrachte. Sie sah auf das Fensterbrett und kratzte mit dem Nagel an der Maserung. „Ist dir das Thema so unangenehm?“ „Ein wenig“, gestand sie leise und sah noch immer auf das Holzmuster. Aus dem Augenwinkel sah sie zu der Prostituierten und konnte im schwachen Licht erkennen, dass sie ein paar Münzen vom Boden aufsammelte. Der Mann ging und schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr. „Beachte es nicht weiter, wenn es dir so unangenehm ist. Nur bedenke, es ist das älteste Gewerbe der Welt, genauso wie meines.“ Er ging zurück zum Bett und erst jetzt, wo das schwache Licht besser auf ihn fiel, fiel Lily auf, dass sein Rücken und Oberarme muskulös waren. Unter seiner dunklen und abgetragenen Kleidung hatte er immer so unscheinbar und schwach gewirkt. Undertaker ließ sich auf die Matratze sinken und sah sie mit einem breiten Grinsen an. „Welches Gewerbe meinen Sie eigentlich?“, fragte sie verwirrt und vermied es ihn anzusehen. Der Anblick, wie er halbnackt auf dem Bett lag und sie grinsend ansah, war ihr nicht hilfreich. Das Gefühl wurde sogar noch schlimmer und ihr Herz schlug schneller. „Ich bin Bestatter“, antwortete er. Lily nickte. Wenn er Menschen beerdigte, war es nur natürlich, dass er vom Ausheben der Erde so viele Muskeln bekommen hatte. Nun, wo er es gesagt hatte, erinnerte sie sich auch daran, dass Emily ihn als solchen auch kennen gelernt hatte. Wie hatte sie diesen Traum nur vergessen können? „Woran denkst du?“, fragte er mit ruhiger und neugieriger Stimme. „An nichts bestimmtes.“ „Du siehst nur so gedankenversunken aus.“ Lily schüttelte den Kopf, als würde es ihr helfen, die Gefühle und verschiedenen Erinnerungen los zu werden. „Was ist los?“, fragte Undertaker. In der Dunkelheit konnte sie seine Augen sehen, die interessiert auf ihr ruhten. „Was hast du für Gedanken, die dich nicht schlafen lassen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Es sind viele Dinge...“ „Zum Beispiel?“ „Sie sind ziemlich neugierig.“ „Ich interessiere mich lediglich für meinen Gast.“ Lily musste leise kichern. „Eine merkwürdige Art der Gastfreundschaft.“ „Nach allem, was du durchgestanden hast, würde ich es unschön finden, wenn es noch mehr Dinge gäbe, die dich belasten.“ „Was soll ich machen? Ich habe auch ein normales Leben außerhalb meiner Ausbildung.“ Undertaker verzog das Gesicht. „Schade, dabei hatte ich gehofft, dass dir der Aufenthalt hier hilft zur Ruhe zu kommen. Du sahst so angespannt und erschöpft aus.“ „Das ist ein schöner Gedanke, aber die Dinge, die im Kopf sind, lassen sich nicht abschalten.“ „Was geht in deinem hübschen Köpfchen vor?“ Lily errötete und seufzte. Sie begann wieder vor dem Fenster auf und ab zu laufen. „Es ist so viel.“ „Ich habe Zeit. Auf mich warten nur die Toten und die laufen mir schon nicht weg.“ Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Es sind Erinnerungen.“ „Erinnerungen woran?“ „An merkwürdige Dinge.“ Sie seufzte und fuhr schnell fort, ehe er die nächste Frage stellen konnte. „Dinge, die sich während des Schlafens zeigen.“ „Bist du deshalb aufgewacht?“ Lily nickte. Undertaker stand vom Bett auf und hielt sie an den Schulter fest, damit sie nicht mehr länger auf und ab lief. Er stand nur wenige Zentimeter entfernt. „Was sind das für Dinge? Bitte hör auf damit auf und ab zu gehen, sonst läufst du mir noch den Boden durch.“ „Tut mir leid...“, nuschelte sie und sah auf seine nackte Brust. Wieder überkam sie der Drang mit dem Finger die Narbe entlang zu fahren. Schnell wandte sie den Blick ab, doch sie konnte nicht anders als hinsehen. „Die Narben...“, fing Undertaker an, als er ihren Blick gespürt hatte. „…hast du durch einen Kampf mit einem Dämon bekommen, als Alyssa gestorben war, die du vorher auch noch selbst abgeholt hast“, beendete sie den Satz und berührte mit dem Finger die Narbe. Während Lily gesprochen hatte, war sie diese ganz langsam entlang gefahren, als wäre sie in Trance. Undertaker schloss die Augen und seufzte unter der Berührung auf, als hätte ihn schon Ewigkeiten niemand mehr berührt. Schnell zog Lily die Hand zurück und starrte mit rotem Gesicht zu Boden. Er zog die Luft scharf ein und stieß sie langsam wieder aus, als hätte er sie angehalten. „Lyss…“, flüsterte er leise und öffnete mit einem Seufzen die Augen. Er sah sie mit verträumtem und glasigem Blick an, der sich sofort klärte, als er Lily erkannte. Undertaker streckte die Arme aus und hielt sie auf Abstand. Ihr Körper zog sich innerlich zusammen und schrumpfte unter der Berührung zu einem einzelnen Punkt zusammen. Es fühlte sich an, als würde dieser Punkt vor Hitze glühen. Es war ein friedliches und warmes Gefühl. „Alles in Ordnung?“, fragte Lily vorsichtig. „Prima…“, murmelte er und seine langen Haare fielen ihm wieder ins Gesicht. „Das sieht mir nicht danach aus…“ Die Geräusche von der Straße entfernen sich nicht, dennoch klangen sie dumpf in ihren Ohren. Sie hatte noch nie einen Mann so nahe gestanden und erst recht nicht, wenn sein Oberkörper nackt war. Lilys Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wusste nicht, wie sie mit seiner Reaktion über ihre versehentliche Berührung umgehen sollte. Die Wärme, die seine nackte Haut ausstrahlte, konnte sie spüren, auch ohne, dass er sie berührte. Lily schloss die Augen und versuchte das Schlagen ihres Herzens zu ignorieren. Genauso wie die Erinnerungen an den Traum und was sie empfunden hatte darin. Sie hatte Undertaker geleibt. Sie war im Traum in ihn verliebt gewesen und mit ihm zusammen, aber das konnte nicht sein. Er war ihr erst ein paar Mal über den Weg gelaufen und es blieb nur ein Traum. Lily rief sich ins Gedächtnis, was Träume waren. Sie waren Wünsche und Verarbeitungen des Unterbewusstseins. Diese Gefühle waren nicht echt. Es war mit Sicherheit nur der Wunsch ihres Unterbewusstseins nach einer Beziehung, dass sie gerade davon geträumt hatte und so empfand in diesem Augenblick. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, wie es sich anfühlen würde, wenn sie mit der Hand über seine muskulösen Arme streichen würde, über die Schultern und Brust. Lily versuchte die Vorstellung zu verdrängen, welche Reaktion es ihm entlocken würde. Diese Gedanken waren ihr so fremd, wie Französisch als Sprache. Sie gehörten nicht ihr und sie durfte nicht daran denken. Es gab zudem jemanden, den sie mochte und das stand außer Frage. Undertaker rührte sich immer noch nicht und er sah noch immer zu Boden. Die Müdigkeit machte sich wieder Bemerkbar, aber so konnte sie nicht ins Bett gehen. Dieses sehnsüchtige Seufzen, das sie ihm entlockt und nach mehr geklungen hatte, stand zwischen ihnen. Er hatte zudem statt ihren Namen den von Alyssa geseufzt. Was hatte es zu bedeuten? Plötzlich fing er an zu sprechen. „Es tut mir leid“, murmelte er leise und blickte sie aus den grün-gelben Augen traurig an. „Ich wollte dich nicht Lyss nennen. Es ist mir einfach so rausgerutscht.“ „Mir tut es leid….ich hätte nicht…“ Undertaker schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin dir nicht böse. Du sollst nur wissen, dass ich nicht…“ „Hören Sie, ich werde es keinen sagen! Ich werden Sie nicht in Schwierigkeiten bringen!“ Er schwieg und Lily spürte, wie er sie nicht mehr auf Abstand hielt. „Das ist mir egal“, sagte er. „Weil Sie schon mal mit einer Schülerin Sex hatten?“ Schnell schlug sich Lily die Hand vor den Mund. Sie hatte es nicht sagen wollen, aber es war ihr einfach so rausgerutscht. Sie sah Undertakers überraschten Gesichtsausdruck. „Du weißt davon, dass ich mit Alyssa geschlafen habe als sie noch meine Schülerin war?“, fragte er leise. Lily nickte. „Es tut mir leid…ich wollte Sie nicht kränken…“ „Woher?“, fragte er lediglich und schüttelte über ihre Entschuldigung den Kopf. „Durch die Träume.“ „Also doch…“, murmelte Undertaker mehr zu sich selbst als zu ihr. „Was? Ich verstehe nicht…“ „Das musst du auch nicht verstehen“, gab der Bestatter zurück. „Ich will nur nicht, dass du mich hasst.“ Lily konnte den Blick auf sich spüren, die Berührung seiner Hände an ihren Armen. Aber sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, so unangenehm war es ihr zu wissen, wie sein erstes Mal mit Alyssa gelaufen war. Auch wenn sie es im Traum selbst erlebt hatte, fühlte sie sich wie ein gemeiner Spanner. Die röte war ihr ins Gesicht gestiegen. „Warum ist es Ihnen so wichtig?“, fragte sie. „Weil du was Besonderes bist“, flüsterte er zurück. „Sie kennen mich doch aber gar nicht!“ „Ich kenne dich einfach. Ich würde dich überall erkennen. Du bist sie, auch wenn du es nicht weißt.“ Jetzt war sie sich sicher, dass er verrückt war. Sie war sie selbst, Lily McNeil. Niemand sonst. Wovon redete er also? „Ich bin aber niemand…“ Undertaker antwortete nicht und ihr wurde bewusst, dass er keine Antwort geben würde. Aber Lily wusste auch, dass es einen Grund gab, wieso er sie ausgewählt hatte. „Du wirst es noch verstehen. Irgendwann, aber noch ist nicht die Zeit dafür“, sagte er. „Ich habe lange geschlafen. Viele Jahrzehnte lang, aber jetzt….jetzt bin ich wach und du bist da.“ „Aber ich kenne Sie doch nicht!“ „Wenn du genau nachdenkst, doch. Oder woher sonst, weißt du so viel?“ „Es sind die Träume!“, gab sie zurück, „Bloß Träume! Daran ist nichts Reales! Nichts davon ist wirklich passiert!“ „Was ist dann mit den Narben und dass ich Alyssa als Schülerin schon geliebt habe? Wie nennst du das?“ „Zufall!“, gab sie zurück und Lily hörte, wie ihre Stimme einige Oktaven höher klang als sonst. „Das ist alles bloß Zufall!“ „Du willst es nicht wahr haben, oder?“, fragte Undertaker mit leiser Stimme. „Ich will nur, dass es aufhört!“, schluchzte sie plötzlich und merkte, wie ihr die Tränen aus den Augenwinkeln flossen. „Ich kann nicht mehr schlafen! Ich wache auf mit Schmerzen, mit Gefühlen, die nicht meine sind! Ich will mein Leben leben!“ Undertaker seufzte. „Du machst es mir nicht einfach. Ich kann deinen Mentor verstehen…“ Er strich sich die Haare nach hinten, die wieder nach vorne gefallen waren. Auf seinen Lippen war ein kleines Lächeln zu sehen. „Was meinen Sie damit?“ Er schüttelte den Kopf. „Das verrate ich dir nicht.“ Undertaker legte einen Finger auf seine Lippen. Lily spürte seinen Atem ganz nah an ihrem Gesicht. Dann schloss er die Augen und küsste sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)