Shinigami Haken Kyoukai desu - Shinigami Dispatch Society von Frigg ================================================================================ Kapitel 4: Tag und Nacht ------------------------ Es war ein nebeliger Nachmittag in London. Die Luft hing schwer und feucht über der Stadt mit ihren vielen Menschen. Die Zeiten waren trostlos und schwer. Der Kampf in britischen Kolonien in Amerika und auch in Afrika kostete vielen Menschen das Leben. Einige dieser Kriegsverwundeten fand man auf den Straßen Londons im East End, dem Armenviertel. Oft fehlten den Menschen, die in den Kämpfen dabei gewesen waren, Arme, Beine oder Augen. Der Wahnsinn stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch auch allerlei andere verarmte Menschen trieben sich in dem Stadtteil herum und bettelten um jede einzelne Mahlzeit. Emily, die gerade einmal zehn Jahre alt war, hielt ihren kleinen Bruder im Arm. Er selbst war noch ein Baby und schrie wie am Spieß, während sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihm tun sollte. Ihre ältere Schwester war im Webhaus und ihr anderer Bruder, der ihr sowieso keine Hilfe gewesen wäre, irgendwo in dem Stadtviertel mit seinen Freunden. Ihre Mutter war bei der Geburt ihres Bruders gestorben und manchmal fragte sie sich, ob er schuld an ihrem Tod war. Ihr Vater hatte Emily mit ihm fort geschickt, als er von seinem Tagwerk zurückgekommen war. In der Hand hatte er bereits eine halb leer getrunkene Alkoholflasche gehabt. Sie hatte ihren Bruder nur genommen und war mit ihm hinausgegangen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sich ihr Vater sehr verändert. Er war fast nur noch betrunken und verschwand oft für Tage. Seine Arbeit wechselte und oft hatte er gar keine. Wenn er betrunken war, war es besser, das zu tun, was er sagte, denn er wurde sehr schnell gewalttätiger. Emily war so lange mit ihrem Bruder draußen gewesen, wie es ihr möglich gewesen war. Sie hatte sogar versucht ihn zu beruhigen, als er angefangen hatte zu schreien, doch er hörte einfach nicht auf. Nun rannte sie durch den Nebel, der die Straßen Londons füllte, zu der kleinen Hütte, in der sie lebte. Ihr Weg führte vorbei an Dieben, Trunkenbolden, Bettlern, Huren und anderem Gesindel. Ihr Bruder schrie aus vollem Leibe, als sie die Tür aufstieß und die Hütte betrat. „Papa?“, fragte sie, „Viktor schreit die ganze Zeit. Ich hab versucht, ihn zu beruhigen, aber er will nicht aufhören! Es tut mir leid, bitte, schlag mich nicht!“ Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie Angst vor ihrem Vater hatte. Emily sah sich in der Hütte um, ihren Bruder fest im Arm. Es war dunkel und das Licht fiel von draußen nur spärlich herein. Aus der Schlafecke hörte sie Geräusche. Es klang nach einem Keuchen und Stöhnen, aber auch nach einem unterdrückten Wimmern. „Papa?“, fragte sie erneut und vorsichtig. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte eine Gestalt ausmachen. „Emily!“, blaffte eben diese und drehte sich zu ihr um. Es war ihr Vater. „Ich hab dir doch gesagt, dass du weggehen und nicht vor Sonnenuntergang zurückkommen sollst! Ich muss dir wohl wieder eine Tracht Prügel verpassen!“ Er stand vom Lager auf und schwankte, als hätte er Probleme, sein Gleichgewicht zu halten. Auch sein Gang war nicht besonders sicher, während er seinen Gürtel aus dem Hosenbund zog. Ängstlich wich Emily zurück, als sie auf einmal ihren Namen hörte. Es war eine weibliche und vertraute Stimme, die jedoch etwas kratzig und schwach klang. „Maria, Schwester, was machst du denn hier?“, fragte Emily verblüfft. Sollte sie nicht im Webhaus sein? Was war passiert, dass sie schon so früh zu Hause war? Mit ihren vierzehn Jahren war Maria nur wenige Jahre älter als Emily. „Em, tu was Vater sagt! Verschwinde von hier!“, rief sie und klang voller Sorge und Angst. Maria stand vom Lager auf und packte ihren Vater an der Hüfte. Sie versuchte ihn aufzuhalten. „Los, geh schon, Emily! Nimm deinen Bruder und hau ab!“ Emilys junges Herz klopfte. Ihre Schwester Maria nannte sie nur bei ihrem vollen Namen, wenn es wirklich wichtig war. Dies schien so ein Moment zu sein. Sie wandte sich um, schlang die Arme fester um ihren Bruder und rannte aus der Hütte. Emily hatte noch erkennen können, wie sich ihr Vater umgedreht, ihre Schwester von sich geschoben und ihr einen Fausthieb verpasst hatte. Dann hatte er sich über sie geworfen. Der Weg durch die Straßen war leicht und Emily achtete nur wenig darauf. Sie kannte die Stadt mit ihren Gassen und Straßen. Als Kind war es obendrein sehr leicht, sich durch die Menschenmenge zu quetschen und den Kutschen schnell auszuweichen. Einige der Menschen warfen ihr fragende Blicke zu, wie sie mit ihrem schreienden Bruder durch die Straßen lief, doch niemand sagte oder tat etwas. Ehe sie wusste, wohin sie lief oder wie sie überhaupt dahin gekommen war, stand Emily auf dem Friedhof mit seiner Kirchenkapelle. Die lauten Glocken ertönten über das ganze Feld und ließen sie aufschrecken. Ihr Herz klopfte und in ihren Augen standen Tränen. Sie strich sich eine schwarze Haarsträhne zur Seite und sah sich auf dem Friedhof mit den alten Gräbern um. Den Namen, der auf dem Grabstein vor ihr stand, konnte sie nicht entziffern. Emily hatte nie lesen oder schreiben können, doch sie konnte sich Dinge merken. Zu diesen Dingen gehörten das Aussehen der Kirchenkapelle von dem Friedhof, auf dem ihre Mutter lag und die Form ihres Grabsteines. Der Turm der Kirche war groß und hatte ein dunkles Dach mit einem Wetterhahn auf der Spitze. Die Fassade der Kapelle war weiß und es gab unzählige bunte Glasfenster. Über der Tür, welche schwarz und alt war und deren Scharniere mit Rost überzogen waren, prangten zwei Löwen. Ihr Blick war so ausgerichtet, dass sie auf denjenigen hinabsehen konnten, der vor der Tür stand. In der Mitte stand ein Text, den Emily nicht lesen konnte. Sie hatte nur einmal gehört, dass er auf Latein war. Auf der anderen Seite der Kirche war an der Fassade das Bildnis einer heiligen Frau angebracht. Der Nebel war auf dem Friedhofsfeld immer noch sehr dicht. Nur vage erkannte sie die anderen Gräber. Alles war ruhig und beängstigend. Emily ließ sich auf den feuchten und kalten Boden nieder. Ihre Arme taten inzwischen weh, weil sie ihren Bruder so lange gehalten hatte. Vorsichtig ließ sie ihn auf den Boden nieder und bewegte ihre Arme. Sie wollte nicht daran denken, wo sie war, doch konnte sie den Blick kaum von dem Grab vor ihr abwenden. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie die Gedanken und das Wissen, wo sie sich befand, nicht verdrängen konnte. Es war das Grab ihrer Mutter. Sie sehnte sich nach ihrer Liebe und Zärtlichkeit. Ihre Mutter hatte sie immer angelächelt und in den Arm genommen. Die Haut war warm gewesen und sie hatte immer ein wenig nach Kohl, Schmutz und Schweiß gerochen. Als sie ihren kleinen Bruder im Bauch gehabt hatte, hatte sie immer kleine Lieder während der Hausarbeit gesungen. Emily hatte oft an dem Bauch hören und fühlen dürfen. Ihre Freude war immer groß gewesen, wenn er sich bewegt hatte. Abends hatte sie neben ihrer Mutter gesessen und ihrem Bruder Geschichten von ihrem Tag erzählt. Auch wenn sie arm waren, hatte ihre Mutter ihr nie das Gefühl gegeben, sie nicht zu lieben. Tränen sammelten sich in ihren Augen und ohne es zu wollen, schluchzte sie leise. Emily vermisste ihre Mutter sehr. Ihr Bruder hatte inzwischen aufgehört zu schreien, quengelte aber immer noch vor sich hin. „Na“, sagte plötzlich eine Stimme, die einen belustigten Unterton hatte und das Wort in die Länge zog, „Was macht denn ein kleines Kind, wie du, mit einem Baby am Ort der letzten Ruhe? Solltest du nicht lieber spielen und dich deines Lebens erfreuen?“ Emily schreckte auf und sah einen Mann über sich aufragen. Das hüftlange Haar des Mannes war grau und eine Strähne war geflochten. Der Pony war lang und verdeckte seine Augen. Er trug einen Zylinder, welcher, genauso wie das von ihm herabhängende lange Stück Stoff, schwarz und alt war. Auch sein dunkler Mantel schien nicht mehr der neueste zu sein. Die Ärmel reichten weit über seine Arme. Um seine Hüfte trug er einen Gürtel aus Amuletten in verschiedenen Formen. Über seine linke Schulter hing eine graue Schärpe und um seinen Hals eine Perlenkette. Über seinem Gesicht und seinem Hals war eine große Narbe. In seinen Arm hielt er einen großen Strauß Lilien. Sein Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen. Emily hatte ein wenig Angst vor ihm und warf einen Blick auf den Grabstein. Der fremde Mann folgte ihrem Blick. Er grinste ein wenig breiter. „Der Verlust eines geliebten Menschen“, sagte er und schien die Worte mehr zu sich selbst zu sagen, „Sag mir, ist es deine Mutter? War deine Mutter Viktoria Lyall?“ Emily nickte nur und starrte ihn an. Ein Kichern entfuhr dem Fremden und aus den langen Ärmeln seines Mantels erschien eine blasse Hand. Die Nägel waren lang und schwarz. Auch an einem der Finger hatte er eine Narbe und er trug einen goldenen Ring mit einem weißen Stein. Er legte einen Finger an die Lippen. „Ich erinnere mich an ihren Körper. Die arme Frau hatte furchtbar viel Blut verloren. Es war eine Menge Arbeit, sie wieder herzurichten.“ „Woher wissen sie das?“, wagte Emily zu fragen. „Meine Wenigkeit hat sie bestattet“, sagte der Fremde und kicherte, „Mein Name ist Undertaker und meine Wenigkeit führt ein Bestattungsinstitut. Sagst du meiner Wenigkeit auch deinen Namen?“ „Emily…“, sagte sie schüchtern und wusste nicht, was sie von diesem Bestatter halten sollte. Er wirkte verrückt. „Das ist mein Bruder Viktor.“, fügte sie schnell hinzu. Zum ersten Mal schien der Mann seine Aufmerksamkeit auf ihren Bruder zu lenken, doch auch der Anblick des Babys ließ sein Grinsen nicht verblassen. „Der Kleine scheint etwas zu wollen.“ „Aber ich weiß nicht was. Und ich darf nicht nach Hause, ehe es dunkel geworden ist." „Bedauerlich“, war das Einzige, was er dazu sagte. Emily sah zu Boden. Es war erbärmlich, wie sie hoffte, der Fremde könnte ihr helfen. „Hier“, sagte er plötzlich, „Nimm das, damit du wenigstens etwas auf das Grab legen kannst.“ Als Emily aufsah, hielt er ihr eine einzelne Lilie hin, welche er aus dem Strauß genommen hatte und die sie nun vorsichtig nahm, um sie auf das schmucklose Grab zu legen. „Danke“, nuschelte sie, „Haben Sie auch hier jemanden liegen?“ Undertaker nickte. „Meine Wenigkeit hat diese Person schon lange verloren.“ Seine Stimme klang ein wenig traurig, als würde die Erinnerung schmerzen. „Wer ist es?“, fragte sie neugierig, „Ich meine, nur wenn ich es wissen darf.“ „Immerhin hast du Manieren“, sagte er und drehte sich um. Sein Gang war ruhig und gelassen, als hätte er alle Zeit der Welt. „Du darfst mir gerne folgen.“ Emily nahm ihren Bruder und folgte ihm zu einem Grab mit schlichtem Holzkreuz. Undertaker legte den Strauß auf die Erde und sah sich das verwitterte Holz des Kreuzes an. Emily blieb in einiger Entfernung stehen und wartete darauf, dass der Mann etwas sagte. „Ihr Name war Alyssa“, fing er plötzlich an und Emily hätte schwören können, dass für wenige Sekunden das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand, „Wir waren immer zusammen. Meine Wenigkeit hat sie sehr gern.“ Dieser Mann schien den Verlust noch immer nicht überwunden zu haben, da war sich Emily sicher, doch sie sagte nichts. „Was hast du nun vor, Kleines?“, fragte er und kam auf sie zu. Emily zog die Schultern hoch. Sie hatte wirklich keine Ahnung, was sie tun sollte. Undertaker verzog etwas das Gesicht. „Du bist echt arm dran. Komm mit. In meinem Geschäft habe ich Tee und Kekse.“ Emily wollte protestieren. „Ich…aber…ich habe gar kein Geld…“ Undertaker lächelte wieder breit und lachte auf. „Alles hat seinen Preis, das ist richtig. Aber mach dir darüber keinen Kopf.“ Sie folgte dem Bestatter zu seiner Kutsche. Er half ihr, sich auf den Kutschbock zu setzten und gemeinsam fuhren sie durch die Straßen zu seinem Geschäft. Das Bestattungsinstitut befand sich in einem schlichten Gebäude, an dessen Wand ein Schild hing. Es trug den Namen des Inhabers und einen Totenkopf. Die Räumlichkeiten in dem Haus waren dunkel und voll mit Särgen. An den Wänden standen Regale, die gefüllt waren mit Büchern und Flaschen. In einer Ecke standen das Anatomiemodel des menschlichen Skeletts und ein kleineres Model der menschlichen Muskulatur. „Setz dich irgendwohin.“, sagte Undertaker und ging in einen der hinteren Räume. Emily sah sich um. Sie fragte sich, worauf sie sich setzen sollte. Es waren nur Särge da. Unsicher ließ sie sich auf einem von diesen nieder und wiegte ihren Bruder im Arm, der erneut angefangen hatte zu schreien. „Hier“, sagte Undertaker und reichte ihr einen Messbecher, der gefüllt war mit einer ihr unbekannten Flüssigkeit. „Das ist Tee. Er wärmt dich auf. Gib auch deinem Bruder davon, wenn er etwas kühler geworden ist.“ „Danke.“ Emily roch daran. Es war ein ihr bislang unbekannter Geruch. Vorsichtig pustete sie und trank einen Schluck. Undertaker sollte Recht behalten. Er wärmte sie wirklich und schmeckte obendrein auch noch sehr gut. Undertaker kniete sich vor ihr hin und beobachtete sie. Sein Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter bis er sich ein lautes Auflachen nicht mehr verkneifen konnte. „Was ist los?“, fragte Emily sichtlich verunsichert. Undertaker lachte und schien sich kaum beruhigen zu können. Es dauerte mehrere Minuten bis dieser sich wieder beruhigt hatte. Er griff nach einer Urne und nahm den Deckel ab. Darin befanden sich Kekse in Form von Knochen. Er nahm sich einen heraus und hielt die Urne dann Emily hin. „Nimm ruhig. Es sind keine echten Hundekuchen“, sagte er auf ihren fragenden Blick hin und biss von dem Keks ab. Unsicher nahm sich Emily einen Keks und biss hinein. Er schmeckte köstlich. „Was war denn so lustig?“, fragte sie, nachdem sie den Keks gegessen hatte. Undertaker kicherte erneut. „Nichts. Es ist nur so, dass jemand einen großen Fehler gemacht hat und es sicherlich jede Menge Ärger und Tumult geben wird.“ Emily verstand nicht, was daran so lustig sein sollte und legte den Kopf schief. Der Bestatter winkte ab und trank einen Schluck seines Tees. „Nicht so wichtig für dich.“ Die Zeit verging und als es immer dunkler wurde, verabschiedete Emily sich von Undertaker. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft. Wie kann ich mich nur bedanken?“, sagte sie und nahm Viktor wieder in den Arm. „Du kannst meine Wenigkeit und das Geschäft jederzeit besuchen.“ Undertaker verschränkte die Finger und erneut überzog ein breites Grinsen sein Gesicht. „Dein Dank wird mir sicherlich später einmal zuteil.“ Verwirrt nickte Emily, auch wenn sie die Worte nicht verstand. Sie verließ das Institut und lief nach Hause. Der Nebel hatte sich etwas aufgelöst und sie beeilte sich, so schnell es eben ging mit einem Baby im Arm, nach Hause zu kommen. Vor der Tür blieb Emily jedoch stehen, machte einen Schlenker um die Hausecke und spähte durch das einzige Fenster in das Zimmer hinein. Nachdem ihr Vater am Nachmittag so betrunken war, wollte sie ihn diesmal nicht erneut auf falschem Fuß erwischen. Eine kleine Kerze brannte in dem Zimmer. Auf dem Tisch stand eine leere Flasche. Von ihrem Bruder war nichts zu sehen und auch ihren Vater oder ihre Schwester konnte sie nirgendwo entdecken. Emily ging zurück zur Haustür und öffnete sie. Sofort schlug ihr der Gestank von Alkohol entgegen und sie vernahm keuchende Laute und das Rascheln von Stroh. „Maria?“, fragte sie vorsichtig und legte ihren Bruder in das Lager in der Ecke. Sie hörte ein lautes Stöhnen und einen schnell gehenden Atem. „Wo warst du?“, blaffte die Stimme ihres Vaters und sofort verkrampfte sich ihr Körper. Seine Stimme klang sicher und fest. Sie konnte seine Gestalt auf einem der Lager ausmachen, die sich erhob und auf sie zukam. Diesmal schien ihr Vater nüchtern zu sein. Er packte sie am Kragen ihres Kleides und drückte sie gegen die Wand. „Nicht…“, flehte sie und kniff die Augen fest zusammen. Die raue Hand ihres Vaters schloss sich fest um ihren Hals. Es schmerzte und sie konnte kaum atmen. Die Luft wurde knapp und sie krallte sich an die Hand, die um ihren Hals lag. Tränen der Angst rannen ihr Gesicht hinab. Ihr Blick wurde unklarer. Dumpf hörte sie die Stimme ihrer Schwester über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hinweg. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Dann wurde alles schwarz. Nakatsu lag noch wach im Bett. Er konnte nicht einschlafen. Warum, konnte er selbst nicht sagen. Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere oder stand auf. Und wenn er doch mal einschlief, dann war es eher ein unruhiger Halbschlaf. Seine Gedanken kreisten immer wieder um seine Nachbarin. Er konnte tun, was er wollte. Sie ließen sich nicht vertreiben. Nakatsu dachte an das Training. Es war wirklich beeindruckend gewesen, wie gut Lily durchgehalten hatte. Dennoch gab es mehr, was ihn so sehr an sie denken ließ. Sie war seine Mitschülerin, Kollegin und auch als Frau schätzte und respektierte er sie. Das war alles, aber immer wieder kehrten Bilder von ihr in seinen Kopf zurück und ihm war unbegreiflich, was der Grund war. Er richtete sich auf und schlug genervt die Decke zurück. An Schlaf war nun gar nicht mehr zu denken. „Du kleines Biest…“, murmelte er und es entfuhr ihm ein leises, kurzes Lachen. Er konnte die Bilder einfach nicht aus seinem Kopf vertreiben. Abermals stand er auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab, während er an sie dachte. Nur eine dünne Wand trennte ihn von Lily. Bei diesem Gedanken schlug sein Herz wieder wie wild und seine Handflächen wurden feucht. In seinem Magen machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit. Nakatsu seufzte und strich sich durch die Haare. Seine Reaktion am frühen Abend war ihm ebenfalls unverständlich. Zuerst dachte er, er hätte eine Herzkrankheit. Aber woher sollte diese kommen? Er war jung, lebte gesund und hielt seinen Körper in Form. Ein erneuter Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es bereits nach drei Uhr war. Die Nacht war also fast vorbei und er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen. In vier Stunden würde es Frühstück geben. Nakatsu gab es auf und ging duschen. An Schlaf war wirklich nicht mehr zu denken und sein Gehirn war hellwach. Er hoffte, durch das Wasser nicht nur den körperlichen Schmutz, sondern auch die Bilder aus seinem Kopf vertreiben zu können. Als er fertig war, war er auch mit den Nerven am Ende. Je mehr er es versuchte zu verdrängen, desto mehr dachte er an seine Nachbarin. Es führte dazu, dass er wieder nur an sie dachte, an ihr Lächeln, wie sie sich durch die Haare strich und viele andere kleine Dinge. „Was hat die kleine Hexe nur mit mir gemacht?“, murmelte er in die Stille seines Wohnzimmers und rieb sich mit dem Handtuch die Haare trocken. Er brauchte dringend frische Luft und zog die Vorhänge zur Seite. Die Terrassentür war schnell geöffnet und auf nackten Sohlen ging er hinaus. Der Steinboden war kühl, was ihn allerdings nicht besonders interessierte. Viel lieber genoss er die angenehme, frische Luft. Plötzlich erhellte ein Lichtstrahl die Terrasse neben ihm. Sein Herz fing wieder an zu klopfen. Lily war ebenfalls wach. Er konnte ihren Schatten auf dem Terrassenboden erkennen. Nur wenige Sekunden später hörte er die Tür aufgehen und Lily trat an das Geländer. Sie bemerkte ihn nicht und sah in die dunkle Nacht. Sein Blick fiel auf ihre nackten Beine und Füße. Er musste sich anstrengen, um den Blick abwenden zu können. Ihre Haare lagen offen auf ihrem Rücken. Sie trug nur eine kurze Hose und ein kurzes Oberteil. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe zu sehen und ihr Gesicht war eingefallen. Sie rieb sich über die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Offensichtlich hatte auch sie schlecht geschlafen, doch es kratzte nicht im Geringsten an ihrer Schönheit. Nervös überlegte Nakatsu, ob er etwas sagen oder lieber wieder hineingehen sollte. „Guten Morgen, Dornröschen!“, sagte er grinsend und mit stark pochendem Herzen zu ihr. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer. Erschrocken und verwirrt fuhr Lily zu ihm herum. Es war offensichtlich, dass sie ihn nicht erwartet und er sie in ihren Gedanken gestört hatte. „Hast du schlecht geschlafen oder warum bist du nicht im Bett?“ „Ich glaube, das geht dich gar nichts an“, erwidert sie nur leise und mied seinen Blick. Nakatsu verstand. Sicherlich war es etwas, worüber sie nicht reden wollte, also suchte er nach einem anderen Thema. „Wann glaubst du, machen wir die ersten praktischen Übungen?“ Lily zog die Schultern hoch und trat näher an die Abgrenzung zwischen ihren Terrassen. Sie legte müde und geschafft den Kopf an die Wand. Für wenige Sekunden schloss sie die Augen. „Ich weiß es nicht. Ein bisschen warten werden wir wohl noch müssen.“ Ihre Stimme klang genauso müde, wie sie aussah. Nakatsu blickte über seine Schulter hinunter. „Wie tief, glaubst du, wird das ganze hier sein?“ „Ich denke, einige hundert Meter sicherlich.“, murmelte sie mit geschlossenen Augen. „Wenn man da runterfällt…“, begann er. „Dann wirst du dir einiges brechen“, beendete sie den Satz. Ihren Kopf hatte sie zu ihm gedreht und schenkte ihm ein kleines Lächeln, was Nakatsu sofort in Übermut verfallen ließ. „Nun gut, dann lass uns mal sehen, ob ich zu dir rüberkomme, ohne dass ich zerquetscht werde“, erklärte er und grinste breit. „Was?“, fragte sie etwas verwirrt und sah ihn erschrocken an, während er das Geländer musterte. „Du weißt, dass es Türen und Flure gibt, oder?“, hakte sie noch einmal nach. „Schon, aber das hier ist doch viel lustiger“, sagte er. „Also ich rette dich nicht, wenn du runterfallen solltest.“, kommentiert sie nur, doch das war ihm egal. Er stand schon auf dem Geländer, zwischen den Terrassen war etwa ein Meter kein Boden und kein Netz, das ihn auffangen würde. Er nahm noch nicht einmal Anlauf und landete, fast schon elegant, auf ihrem Geländer. „Voila!“, rief Nakatsu aus und verbeugte sich. „Bitte ein Applaus für den Meister Nakatsu! Reservierungen für eine Wiederholung werden jederzeit entgegengenommen.“ Lily musste ein wenig grinsen, griff nach seinem Hemd und zog ihn von dem Geländer herunter. „Genug jetzt!“, sagte sie bestimmt, „Sonst brichst du dir noch den Hals!“ Sie ließ ihn auch sofort los, als er von dem Geländer herunterkam und wandte ihm den Rücken zu. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr und Nakatsu hätte gern gewusst, was es war. Er war sich aber sicher, dass sie es nicht so einfach erzählen würde. „Ach, lass dich drücken, du Trauerkloß!", sagte er und drückte sie an sich. Ihr Duft stieg in seine Nase. Er war süßlich, fruchtig und auch ein wenig würzig. Sie roch auch ein wenig nach Schlaf und ihre Haut war warm. „Hey, was soll der Unsinn?“, rief sie und versuchte, sich aus seinen Armen zu befreien. „Du bist so ein Spielverderber…“, brummte Nakatsu und ließ sie los. Lily verschwand wieder in ihr Apartment und er folgte ihr. „Ist irgendwas passiert?“, wagte er zu fragen, als er im Wohnzimmer stand und die Terrassentür geschlossen hatte. „Nein, nein…“, murmelte sie und setzte sich auf das Sofa. Lily lehnte sich zurück und starrte die Decke an. Nakatsu setzte sich neben sie. Sein Blick war besorgt. „Du hast doch was.“ „Ich hab nur schlecht geschlafen. Das ist alles.“ Ungläubig zog er eine Augenbraue nach oben. „Du siehst aus, als hättest du geheult.“ Lily blickte ihn an. „Wirklich?“ Er nickte nur. „Scheiße…“, fluchte sie leise und wandte wieder den Blick ab. „Also was ist los?“, hakte er erneut nach. „Ich hab einfach nur schlecht geschlafen. Glaub mir.“ Ihre Stimme klang ein wenig kratzig. Ein Seufzen entfuhr ihr. Sie ließ sich ins Sofa zurücksinken und schloss die Augen. Besorgt sah Nakatsu sie an. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er sie in den Arm nehmen und trösten oder lieber alleine lassen? Es war zum Verrücktwerden! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und auf seinen Handflächen bildete sich ein feiner Schweißfilm. Nervös blickte er zu ihr, ehe er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Es schien ihr unangenehm zu sein und er wollte sie einfach nicht anstarren. Unauffällig wischte er sich mit den Händen über die Hose, um den Schweiß los zu werden, legte dann einen Arm um sie und zog sie an seine Brust. Mit einer Hand strich er ihr tröstend über einen ihrer nackten Arme. Gerne würde er ihr helfen, wusste jedoch nicht wie und wenn Lily nicht darüber reden wollte, war es eh hoffnungslos. Nakatsu wusste auch nicht, was er sagen sollte. Jedes Wort schien ihm nicht passend genug zu sein. Er schwieg stattdessen einfach und genoss den Moment, Lily im Arm halten zu dürfen, auch wenn sie sicherlich seinen schnellen Herzschlag hören würde. Die Stille senkte sich über beide. Doch war es kein peinliches, unangenehmes Schweigen. Es war eher eine angenehme Ruhe, die zur Entspannung beitrug. Worte waren in diesem Moment einfach nicht nötig. „Lily?“, fragte Nakatsu nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens und der Ruhe. Er blickte in ihr entspanntes Gesicht, während sie mit geschlossenen Augen ruhig durch den leicht geöffneten Mund atmete. In seinem Gesicht bildete sich eine leichte Röte. Der Anblick war einfach zu verführerisch. Seine Augen starrten auf den geöffneten Mund. Sein Kopf spielte mit dem Gedanken, was wohl passieren würde, wenn er sich zu ihr herunterbeugen und seinen Mund auf ihren legten würde. Nur schwer verdrängte er diese Vorstellung und schüttelte den Kopf. Wie kam er nur auf solche Ideen? Er kannte Lily nicht einmal richtig und lange schon gar nicht. Wieso sollte er sie dann küssen wollen? Immerhin war er nicht in sie verliebt. „Ähm…Lily…?“, fragte er erneut und bekam wieder keine Antwort. Nakatsu seufzte, schob einen Arm unter ihre Kniekehle und den anderen unter ihren Rücken. Mit einem kurzen kraftanstrengenden Laut hob er sie vom Sofa hoch. Lily war nicht besonders schwer, aber es kostete ihn dennoch Kraft, sie auf den Weg ins Schlafzimmer nicht fallen zu lassen. Es war nie so wie in romantischen Büchern, wo der Held die Prinzessin locker auf den Händen trug. Im Gegenteil. Es war recht mühsam, sie so zu tragen, dass das Gewicht ihn nicht nach vorne und er Lily nicht auf den Boden fallen ließ. Mit dem Fuß drückte er die Türklinke nach unten und öffnete die Tür. Das Bett war nicht mehr weit und als er davor stand, war es auch mit seiner Kraft vorbei. Das Gewicht zog ihn nach vorne und Lily landete härter als beabsichtigt auf dem Bett. Mit beiden Händen konnte sich Nakatsu gerade so abfangen, anstatt mit seinem ganzen Gewicht auf ihr zu landen. Sein Atem ging ein wenig schneller. Mit der Zunge fuhr er sich kurz über die Lippen. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von ihr. Lily hatte nur ein kurzes Aufstöhnen von sich gegeben, schlief aber weiter. Nakatsu atmete erleichtert aus, erhob sich und legte ihr die Decke über. Er strich ihr ein paar Haare aus dem Gesicht und seine Hand ruhte für einige Sekunden auf ihrer Wange. Erschrocken fuhr Nakatsu zurück, als Lily sich zur Seite drehte und sich tiefer in die Decke kuschelte. Ein leichtes Lächeln legte sich über seine Lippen. „Schlaf gut, du kleines Biest…“, murmelte er, verließ kurz den Raum, um das Licht im Wohnzimmer zu löschen und setzte sich dann auf die Bettkante. Eine ganze Weile saß er nur still da und beobachtete Lily, wie sie schlief. Es schien ein Alptraum zu sein, denn sie jammerte und bewegte sich unruhig. Nakatsu ergriff ihre Hand. „Hey…ganz ruhig…“ Ein wenig beugte er sich zu ihr herunter. Ihr Gesicht war angespannt, als hätte sie Schmerzen. „Lily, hörst du mich? Ich bin bei dir…“ Unruhig warf sich Lily zur Seite, ihr Arm schwang durch die Luft und traf Nakatsus Hals, der durch den unerwarteten Schwung umgerissen wurde und mit dem Gesicht neben ihr landete. Ihr Arm blieb auf seinem Rücken liegen. „Du bist echt unmöglich…“, flüsterte er und legte einen Arm um Lily. Er schloss die Augen und lauschte ihrer Atmung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)