The darkest thrill von Porzellan_Puppe (NaruSasu) ================================================================================ Kapitel 12: Bound together -------------------------- Als ich aufwache, ist es fast Nachmittag. Der Himmel ist trüb und wolkenverhangen und es kommt kaum Licht ins Zimmer, das mich im Schlaf hätte blenden können. Und trotzdem fühle ich mich absolut unausgeruht, obwohl ich nicht müde bin, sondern eher—nicht bereit für das, was auf mich wartet. Zwei verschiedene Decken sind um mich gewirrt und wenn ich meine Arme ausstrecke, ertaste ich nur Leere, wo sich normalerweise ein warmer Körper befindet.   Ich brauche keine Sekunde, um mich zu orientieren, obwohl es selten ist, dass Sasuke vor mir aufsteht. Und eigentlich sollte ich auch gar nicht hier liegen. Im Rückblick erscheint es sogar mir irgendwie dreist, dass ich in der Nacht tatsächlich noch in Sasukes Bett geschlafen habe, aber nach langen gedankenlosen Minuten unter dem Fenster bin ich einfach aufgestanden und hab nicht mehr nachgedacht. Es sah fast aus, als hätte Sasuke extra Platz für mich gelassen, dabei ist es nur seine Angewohnheit, nah an der Wand zu schlafen und die Hälfte des Bettes unberührt zu lassen, genauso wie ich meistens in die Mitte rolle und alles umklammere, was sich auf dem Weg dorthin befindet. Vielleicht ist es seltsam, dass ich unsere Schlafgewohnheiten so gut gegenüberstellen kann, aber gerade ist alles seltsam, irgendwie.   Auch im Wohnzimmer ist Sasuke nicht zu entdecken, dafür hängt eine Jacke weniger neben der Tür. Mein Herz schnürt sich zusammen, aber ich kann es ihm nicht vorhalten, dass er mir erstmal aus dem Weg gehen will. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, ich glaube, ich hab gar nicht gedacht, aber vielleicht war es ja auch nur ein Versehen und ich habe einfach das Gleichgewicht verloren? Meine Erinnerungen an die Nacht sind idealerweise schwammig (obwohl ich die Sekunden danach wie einen Film abspielen kann, seine erschrockenen Augen und der Frost am Fenster, das Stück Zeitung unter meinem Knie und die Sprachlosigkeit in meinem Kopf) und so lässt es sich besser schlafen und vor allem Hinata leichter in die Augen sehen. Und das ist ganz ganz wichtig, denn in wenigen Stunden bin ich bei ihrer Familie zum Essen eingeladen und spätestens dann sollte der ’So tun als wäre nichts’-Modus fehlerfrei laufen. Dabei bin ich ein grottiger Lügner und ich fühle mich schrecklich, dass ich ihr nach fast zwei Jahren zum ersten Mal in unserer Beziehung etwas verheimlichen muss. Vielleicht kann ich es ihr irgendwann erzählen und wir lachen gemeinsam darüber (und Sasuke hoffentlich auch), aber im Moment vergesse ich es lieber so schnell wie möglich.   Sasuke kommt nicht zurück, bis ich mich selbst auf den Weg machen muss, aber damit hab ich auch nie wirklich gerechnet. Ein bisschen niedergeschlagen deswegen stapfe ich durch die gepflegten, freigeschaufelten Straßen in Kensington, wo ich mich immer noch sehr sehr fehl am Platz fühle, weil alles viel zu schick und teuer aussieht (und die Leute, die normalerweise hier rumlaufen, auch). Als mich Hinata zum ersten Mal zu sich nach Hause eingeladen hat, wäre ich fast an der Tür wieder umgedreht, denn ich wusste zwar, dass sie eigentlich außerhalb meiner Liga spielt, aber nicht wie sehr, und ich hatte nicht einmal gebügelte Klamotten an.   Das ist zum Glück nur noch eine unangenehme Erinnerung, ich bin inzwischen oft genug hier gewesen, dass mich der Pförtner erkennt und mir zur Begrüßung zunickt, während ich auf den Aufzug zusteuere. Oben angekommen erwartet mich Hinata auch schon, wie immer wunderschön und mit der Fähigkeit, selbst den grauesten Tag zu erhellen. Ich begrüße sie mit einem kurzen Kuss auf die Lippen und versuche dabei den aufdringlichen Gedanken loszuwerden, der mich daran erinnern will, wer die letzte Person war, die ich geküsst habe. (Als ob ich das nicht gut genug wüsste.) Die Wohnung ist festlich dekoriert, es sieht ein bisschen so aus, als hätten sie die Weihnachtsabteilung von Harrod's aufgekauft, und ich lege eine heimliche Schweigeminute für mein eigenes Weihnachtspflänzchen ein, das ich beim Verlassen des Hauses heute im vermüllten Vorgarten nebenan entdeckt habe. Sasuke hätte wenigstens etwas diskreter sein können, wenn er seinen Ärger über mich schon an unschuldigen Objekten auslassen muss.   Hinatas Familie sitzt bereits im Esszimmer; am Anfang als ich ihnen vorgestellt wurde, waren sie ziemlich distanziert und spürbar skeptisch, aber ich glaube, sie haben mich inzwischen schon als sowas wie ihren Schwiegersohn in spe akzeptiert und auch Neji ist mir gegenüber viel wärmer geworden. Es flackert sogar ein Feuer im Kamin, um das Bild perfekt zu machen, und es ist so kitschig, aber ich fühle mich wirklich wohl. Im Laufe des Nachmittags hat es schon wieder angefangen zu schneien und das ist auch das einzige, was man sehen kann, wenn man aus dem Fenster schaut, schwere weiße Flocken. Ich frage ich mich, was Sasuke wohl gerade macht, denn es ist Feiertag und fast jeder sitzt in familiärer Atmosphäre zu Hause. Ich hoffe, er hat einen Ort gefunden, wo er hingehen kann, und irrt nicht in der Kälte draußen rum, nur weil er den Gedanken an meine Anwesenheit gerade wohl so unerträglich findet, dass er nicht in der Wohnung bleiben kann.   Etwas später zieht mich Hinata beiseite und ich hab es schon kommen sehen, nach den ganzen sorgenvollen Blicken, die sie mir während dem Essen immer wieder zugeworfen hat.   "Ist irgendetwas mit dir, Naruto?", fragt sie beunruhigt und ich ärgere mich so, dass ich so leicht zu lesen bin, denn das letzte, was ich will, ist, dass sich Hinata wegen irgendetwas Sorgen macht. Deshalb lache ich ein bisschen gezwungen und winke ab.   "Nein nein, ich hab nur schlecht geschlafen. Ich hatte mit Sasuke gestern Abend noch Streit. Das geht an die Substanz."   "Ohje…" Sie fragt gar nicht erst, worum es ging, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Hinata hat das perfekte Gespür, wie weit sie sich in welche Dinge einmischen sollte, und besonders wenn es um Sasuke geht, agiert sie behutsam wie auf einem Minenfeld. "Ist alles wieder in Ordnung?"   "Ich hab ihn heute noch nicht gesehen."   "Achso...", macht sie mitfühlend und beißt sich sanft auf die Lippe. "Ich hoffe, ihr könnt das bald aus der Welt schaffen."   Ich weiß nicht, wie sie das macht. So aufrichtig besorgt zu klingen, obwohl ihr meine Freundschaft zu Sasuke doch eigentlich ein Dorn im Auge sein müsste. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihn mag, denn Sasuke zählt allgemein nicht zu den liebenswürdigsten Personen und er hat ihr auch nie einen Grund dazu gegeben, mit seinem Namen etwas Positives zu verbinden, aber es ist unmöglich, das an ihren Reaktionen oder irgendetwas festzumachen. Sasuke spricht zwar an sich auch nie schlecht über Hinata, aber er macht es trotzdem unmissverständlich klar, dass er sie nicht wirklich leiden kann.   Wenn Hinata vor mir steht, sehe ich dieses perfekte Mädchen, und ich frage mich immer noch manchmal, womit ich sie eigentlich verdient habe, wenn ich aber Sasuke ansehe—habe ich oft gar keine Ahnung, was ich eigentlich denken soll. Inzwischen noch weniger als jemals zuvor.   Als ich nach Hause komme, rechne ich irgendwo fest damit, dass er gegangen ist und mich nur gepackte Kisten begrüßen (nicht, dass er mich sonst begrüßen würde...). Denn wenn es um Sasuke geht, ist es gesünder, wenn man immer vom Schlimmsten ausgeht, aber er ist da und es hat sich eigentlich nichts geändert, mit der Ausnahme, dass meine Bettwäsche jetzt wieder auf meiner eigenen Matratze liegt und er in der Nacht seine Zimmertür abschließt. Damit kann ich leben, ist eh nicht so, als würde ich mich noch näher als eine Armlänge an ihn herantrauen.   Für eine Weile spiele ich sogar mit dem Gedanken, mich bei ihm zu entschuldigen und eine billige Erklärung aufzutischen, aber wenn ich es mir recht überlege, will ich das Thema eigentlich gar nicht nochmal anschneiden. Das ist wahrscheinlich auch in Sasukes Interesse, Ignorieren und Weitermachen, er hat sowas perfektioniert, ich beneide ihn manchmal darum, auch wenn ich irgendwo vermute, dass er in Wahrheit eine unglaublich nachtragende Persönlichkeit hat und einfach nur nicht über unangenehme Dinge reden möchte. Sich distanzieren oder gleich verschwinden ist da eher sein Ding. Aber alles ist gut und irgendwie schaffen wir es, umeinander herum zu navigieren, ohne es zu merkwürdig werden zu lassen.   Eines Abends kommt Sasuke zur Tür herein, schneeverweht, mit weißen Sprenkeln in seinen dunklen Haaren und roten Wangen von der Kälte. Er sieht fast jungenhaft aus für den kurzen Moment, wenn seine Augen glänzen und er noch nicht sortiert genug ist, um seine stoische Mimik hochzufahren. Nicht ganz wie 21 1/2, aber sobald die Emotionen erstmal aus seinem Gesicht gewichen sind, wirkt er direkt um mehrere Jahre gealtert. Noch während er mit kühler Präzision die Handschuhe einzeln von seinen Fingern streift, hat er sich wieder hinter seine nichtssagende Maske zurückgezogen, und ich schaue ihm gelangweilt dabei zu, wie er seine Schuhe achtlos in den Raum kickt.   "Ich hab uns 'nen Gig in irgend so einer Bar organisiert", meint er einen Takt später und es ist komplett offensichtlich, dass er es absichtlich so beiläufig wie möglich erwähnt hat, als wäre es für ihn keine große Sache, aber ich freue mich zu sehr, um ihn darauf hinzuweisen.   "Oh mein Gott, Sasuke, im Ernst?!", rufe ich aufgeregt und ich glaube, ich bin noch nie so schnell vom Sofa aufgestanden wie jetzt gerade. Bevor ich es merke, bin ich auf halbem Weg zu ihm und fast dabei, ihn anzuspringen, aber ich kann mich rechtzeitig fangen, denn Körperkontakt wird von uns beiden in stummem Einvernehmen vermieden seit dem Vorfall an Heiligabend, und ich stehe stattdessen nur ein bisschen unnütz im Raum herum. "Wow, das ist so cool! Oh Gott, ey, du hast keine Ahnung, wie glücklich mich das macht!"   "Es ist nur ein kleiner Auftritt", meint Sasuke augenrollend und hängt seine Jacke auf.   Aber das ist es nicht und das weiß er. Ich hab noch deutlich seine Stimme im Ohr, wie er die Band begraben wollte, ohne ihr überhaupt eine Chance zu geben, und jetzt ist er von sich aus losgegangen und hat ihr bei den ersten Gehversuchen geholfen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Ahnung, warum er das macht oder was ihn dazu gebracht hat, seine Meinung zu ändern, aber das ist jetzt nicht wichtig, ich will es nicht kaputt machen, indem ich es hinterfrage.   Es ist tatsächlich nichts Großes, was er organisiert hat; wir dürfen als musikalische Untermalung in einer gut besuchten Bar dienen, weil da kurzfristig jemand abgesprungen ist, aber das spielt keine Rolle, ich bin trotzdem die ganze Zeit schon sehr hibbelig, denn ich habe bisher nur vor Sasuke oder Hinata gespielt und auch wenn es mir nichts ausmacht, das vor anderen Leuten zu tun, ist so ein erster richtiger Auftritt doch etwas anderes.   Sasuke sucht eine Hand voll Lieder aus, die so weit geschliffen sind, dass man sie einem Publikum zumuten kann und ergänzt Basslines und Drumbeats. Ich wusste nicht, dass er das kann, aber laut Sasuke sind es nur schlichte Standardsachen und er hat sich dafür kein mentales Bein ausgerissen. Weil wir zwei Personen zu kurz sind, holt er Suigetsu und Juugo für das eine Mal an Bord und sie sind einverstanden, wenn auch in Suigetsus Fall ein wenig widerwillig. Das ganze ist zu spontan, um zusammen zu proben, aber die werden es schon irgendwie hinbekommen, meint Sasuke, und wenn nicht, ist es nicht seine Schuld.   Ein paar Tage später ist es soweit, wir sitzen in einem Hinterzimmer der Bar während Juugo noch sein Drumset aufbaut und Sasuke gibt uns schonmal ein vorsorgliches Briefing. Er ist nicht annähernd so nervös wie ich, warum auch, er hat das ja alles schon gemacht. Außerdem gibt es keinen Grund für ihn, nicht in seine Fähigkeiten zu vertrauen. Er ist ein verdammtes Genie und ich hab vor zwei Jahren meine erste Gitarre geklaut. Und jetzt stehen wir hier, mit Suigetsu am Aushilfs-Bass und Juugo an den Aushilfs-Drums. Eigentlich sind wir ja nicht einmal eine richtige Band, sondern ich und Sasuke und halt noch irgendwer, der sich auf die Schnelle zusammentreiben ließ. Er hält mir seine halbleere Jack-Daniels-Flasche hin, die heute schon den ganzen Abend an seinen Lippen hängt. Irgendwie kriegt er es aber hin, sich relativ normal zu verhalten, nur sein Gang ist nicht mehr so stabil. Und eigentlich ist das ja gar keine schlechte Idee, sich ein bisschen Mut anzutrinken—   Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach ist, betrunken Gitarre zu spielen. Wir haben vor zwei Minuten angefangen und meine Finger bewegen sich fast automatisch zu den richtigen Stellen, drücken gegen die abgenutzten Saiten—ich muss mir wirklich neue kaufen—und dann schiebe ich den Griff nur noch hoch und runter, hoch und runter, hoch und—wow, ich habe keine Ahnung, was ich gerade tue. Blinzeln macht meine Sicht nicht weniger verschwommen, da sind so viele Menschen in dem Raum und sie stehen sicher schon eine Weile da, aber es ist mir eben erst richtig aufgefallen. Als wir angekommen sind, war noch überhaupt nichts los und ich hab nicht damit gerechnet, dass es in der kurzen Zeit so voll wird. Ein hübsches Mädchen lächelt mich von einem Tisch in der Nähe aus an. Oder lacht sie mich aus? Ich weiß nicht, aber ich spiele einfach weiter, das ist sicher das beste, einfach hier stehen zu bleiben und die Gitarre festzuhalten und diesen Song so fehlerfrei wie möglich hinter mich zu bringen, denn es ist einer von Sasukes Favoriten, glaube ich, und wenn ich Scheiße baue, wird er bestimmt wütend. Gerade steht er halb vor mir und singt in mein Mikro, blockt dabei meine Sicht auf das Mädchen und das ist schade, weil ihr Oberteil so tief ausgeschnitten war. Jetzt kann ich nur Sasukes Rücken sehen, der zwar okay ist, aber irgendwie nicht so erregend. Ich verstehe kein Wort von dem, was er singt—ist das überhaupt noch derselbe Song?—vielleicht liegt es aber auch nur an mir, es fällt mir so schwer zu denken. Hoffentlich ist Sasuke mehr bei sich, hoffentlich weiß er, was er tut, denn ich hab keinen Plan, aber ich würde meinen Kopf gerne an seine Schulter lehnen. Nur ist das nicht drin, jetzt sowieso nicht und bestimmt auch nicht später. Seine Haarspitzen kleben ein bisschen in seinem Nacken, nasses schwarz auf blasser Haut, und whoa, wir haben uns vor ein paar Wochen fast oder ganz oder halb geküsst und sollte es mich beunruhigen, dass ich es nicht bereue? Ich meine, er sieht gut aus, er ist Sasuke und—fuck, ich hab vergessen, weiterzuspielen. Wo sind wir gerade? Wenn Sasuke nicht so verdammt nuscheln würde, wüsste ich es, aber, ah, okay, das Wort gerade hab ich erkannt, glaub ich, jetzt muss ich nur noch den richtigen Akkord finden und dann bin ich wieder dabei. Ist das jemandem aufgefallen? Die werden uns hier wahrscheinlich nie wieder spielen lassen, weil wir so extrem schlecht sind, vielleicht hätte ich nicht so viel trinken sollen, aber irgendwie… juckt mich das nicht. Es ist dafür richtig lustig, die ganze Situation, wenn ich so darüber nachdenke und ich muss mich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Sasuke spielt gerade sein Solo und trifft die Hälfte der Töne nicht und dann sind es nur noch ein paar Akkorde, bis ich es geschafft habe. Zumindest den einen Song. Denn gleich geht es weiter und ich habe komplett den Faden verloren.   Angestrengt versuche ich mich daran zu erinnern, was Sasuke vorhin gesagt hat, als wir die Setlist besprochen haben, aber das ist alles weg. Der Whiskey hat jede neue Information einfach direkt weggespült und es wundert mich, dass Sasuke noch so bei sich ist, denn er hat mehr getrunken als ich. Aber er hat sich meistens besser im Griff, vielleicht schlägt sich der Alkohol bei ihm auch auf andere Weise nieder, keine Ahnung. Ein bisschen unfair ist es schon.   Juugo hat schon damit angefangen, einen Rhythmus zu trommeln und ich habe das Gefühl, dass ich meinen Einsatz verpasst habe. Sasuke schlägt einen Akkord an und dreht sich erwartungsvoll zu mir um, aber das hilft mir auch nicht wirklich und ich spiele ihn verunsichert zurück. Die Ungeduld in seinem Gesicht wächst immer weiter und ich bekomme langsam Panik, aber dann wird seine Aufmerksamkeit plötzlich auf etwas anderes gelenkt und ich schaue mich verwirrt um. Ohne Vorwarnung drückt er mir seine Gitarre unsanft in die Hand und ich sehe nur noch, wie Sasuke von der flachen Bühne hüpft und irgendwelche Leute zur Seite stößt, die ihm im Weg stehen. Ich hab keine Ahnung, was gerade überhaupt passiert, aber er ist wütend und ich glaube, das wird böse enden.   Sasuke steht mitten in der Menschenmasse, er ist ganz gut zu erkennen, weil alle um ihn herum Platz gemacht haben. Und schon im nächsten Moment hängt er im Gesicht von irgendeinem Bodybuilder, jedenfalls sieht der Typ so aus, in dessen zu enges T-Shirt er seine Hand krallt. Ein bisschen wirkt es so, als würden sie sich gleich küssen, aber das tut es immer, wenn Sasuke jemandem droht. Dafür, dass er sich immer so unnahbar gibt, kann er extrem physisch werden.   "Nicht sein Ernst...", murmelt jemand neben mir, Suigetsu, glaube ich, aber das nehme ich nur noch am Rande wahr.   Normalerweise habe ich vollstes Vertrauen in Sasukes Fähigkeit, alleine klarzukommen, aber nicht wenn der Kerl, mit dem er sich angelegt hat, einen guten Kopf größer ist als er und bestimmt das Doppelte wiegt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eingreifen soll, meine Gedanken sind zu wirr, um zu einem richtigen Entschluss zu kommen, aber dann wird Sasuke gegen die Brust gestoßen und ich habe unsere Instrumente schneller an Suigetsu weitergegeben und bin von der Bühne runter als ich hinterherkomme mit dem Denken. Ich stolpere gegen Sasuke oder vielleicht stolpert Sasuke auch gegen mich, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich atme auf einmal in sein Ohr hinein, flüstere "Lass uns verschwinden", und der Rest ist Tauziehen, Gesichter, Körper, Klaustrophobie, und dann endlich Luft und Freiheit. Meine Hände sind immer noch irgendwo an Sasuke, ziehen, schieben, zerren ihn mit mir, weiter und weiter, weg, und ich bemerke gar nicht, dass er sich die ganze Zeit halbherzig dagegen wehrt.   "Komm!", sage ich und fange an zu rennen, ein bisschen paranoid und ein bisschen adrenalinsüchtig, aber Sasuke rennt trotzdem mit. Die Straße verschwimmt unter meinen Füßen und es fühlt sich an, als würde das Auf-die-Fresse-fliegen mit jedem Schritt unausweichlicher, bis ich mich im letzten Moment dann doch immer wieder fangen kann.   Hinter der nächsten Ecke greift Sasuke nach meinen Arm und zwingt mich mit einem Ruck dazu, stehenzubleiben. Wir sind beide außer Atem und er muss erstmal nach Luft schnappen, bevor er mich verständnislos anfahren kann.   "Was soll das? Ich hätte ihn fertig gemacht!"   "Er war doppelt so groß wie du", lache ich ungläubig, halb weil Sasuke so einen Mist zusammenredet und halb weil ich nie gedacht hätte, dass ich selbst betrunken mal der Vernünftigere von uns beiden sein würde. Aber er bleibt stur.   "Egal, lass mich zurück!"   "Nein, wir gehen da nicht nochmal rein!", sage ich entschieden und hoffe, dass Sasuke es gut sein lässt. Wenn er das Bedürfnis nach selbstzerstörerischem Verhalten hat, muss er schon warten, bis ich weg bin und ihn nicht davon abhalten kann. "Was war überhaupt dein Problem?"   "Der Wichser hat uns beleidigt."   "Wir waren ja auch ziemlich scheiße", werfe ich schulterzuckend ein.   "Du warst scheiße."   Das kann ich leider nicht leugnen, darum lache ich einfach nur. So hab ich mir meinen ersten Auftritt an Sasukes Seite eigentlich nicht vorgestellt, sondern ein bisschen cooler und beeindruckender. Denkwürdiger. Wobei es das ja irgendwie war, nur eben nicht auf einer Weise, an die man sich auch gerne zurück erinnert. So spazieren wir eine Weile lang vor uns hin, bis ich mir irgendwann eine entscheidende Frage stelle.   "Eh, Sasuke. Wie kommen wir eigentlich heim?"   "Keine Ahnung. Da lang, glaube ich", antwortet er mit überzeugender Kompetenz und deutet in eine ungefähre Richtung.   Hoffnungslos betrunken sind wir durch Londons Straßen geirrt, ohne Plan, ohne Orientierung, ich habe mich auf Sasuke verlassen und er sich auf mich und am Ende wussten wir beide nicht, wo wir waren. Es hat etwas Romantisches, etwas Abenteuerliches, sich zu verlaufen. Aber irgendwann biegen wir dann doch mal richtig ab; die Gegend beginnt langsam, mir vage vertraut vorzukommen, ohne dass ich sie konkret zuordnen kann, und ein paar glückliche Wendungen später tun sich am Ende einer Straße die Häuserfronten auf und geben den Blick frei auf das Themsenufer.   "Ich weiß, wo wir sind!", rufe ich aufgeregt und renne ein Stück vor. Der Fluss glitzert schön in der Nacht, man sieht das trübe, graue Wasser gar nicht mehr, stattdessen ist es tiefblauschwarz.   "Was du nicht sagst."   Sasuke navigiert schon in Richtung der nächsten Fußgängerbrücke und zieht an meinem Ärmel, um mich zum Gehen zu bewegen, aber ich ignoriere ihn und laufe auf die Brüstung zu, wo ich mich darüberlehne, bis ich meine schemenhafte Umrisse auf der dunklen Wasseroberfläche sehen kann. Zwei, drei Mal schwappen sanfte Wellen gegen die Kaimauer, bevor sich Sasukes Spiegelbild zögerlich zu meinem gesellt.   Wir schweigen eine ganze Weile. Aber irgendwann öffnet Sasuke den Mund für einen zusammenhangslosen, seltsam betonten und unverständlich genuschelten Satz.   "Es ist entweder die Spitze der Welt oder der Grund von diesem Fluss."   Ich brauche ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass er etwas gesagt hat, was er gesagt hat und wie genau er es meint. Und dann begreife ich es auf einmal und es kommt mir so vor, als hätte er noch nie eine bessere Idee gehabt, noch nie weisere Worte gesprochen. Da liegt so eine grob skizzierte Schönheit in dem Lebensentwurf, die mich in meiner Trunkenheit auf sentimentale Weise ergreift.   "Weißt du, was du da sagst?", höre ich mich fragen und richte mich auf, bis ich in Sasukes unleserliches Gesicht sehen kann. "Meinst du das wirklich wirklich ernst? Weil es ist das Sinnvollste, was du seit Langem gesagt hast, und, wenn du willst—ich bin dabei."   "Ja", antwortet er, aber sein Blick ist ganz weit weg.   Und erst jetzt fällt mir auf, dass ich zum ersten Mal seit dem Vorfall an Heiligabend in einer Position bin, wo ich die paar Zentimeter zwischen unseren Gesichtern ohne weiteres überbrücken könnte, wenn ich wollte, aber ich kann nicht sagen, ob nun Sasuke unvorsichtiger geworden ist oder ich selbst. Der Gedanke drängt sich auf—ich könnte es wirklich nochmal versuchen, einfach so, warum nicht?   Und dann fallen mir tausend Gründe ein, warum nicht, und ich lasse mich einfach nur gegen ihn fallen. Es ist fast nicht zu bemerken, wie sein Atem stockt, bevor er wieder zu seinem gewohnten ruhigen Rhythmus findet, aber ich kann noch eine ganze Weile lang jeden durcheinandergebrachten Herzschlag spüren.   Ich würde so gerne eine triefend-kitschige Szene beschreiben. Bedeutsame Stille, bis auf das sanfte Plätschern der Themse, über uns der sternenbesetzte Nachthimmel, der sich funkelnd auf der Wasseroberfläche spiegelt. Aber das ist von der Realität ungefähr so weit entfernt, wie wir davon, durchdachte, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen. In Wirklichkeit ist es natürlich laut, chronischer Stadtlärm eben, und dieser gravierende Moment hält auch kein Polizeiauto davon ab, die Sirene einzuschalten. Einen Sternenhimmel gibt es hier in London sowieso nicht und das Wasserplätschern kann man nur hören, wenn man sich sehr, sehr anstrengt. Wir sind ja nicht mal alleine, sondern werden von einem betrunkenen Obdachlosen um Geld angebettelt, noch bevor die dramatische Musik in meinem Kopf ganz verklungen ist. Rest in peace, Romantisches Klischee. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)