Von gleicher Natur von Re-belle ================================================================================ Kapitel 9: Clachith ------------------- Das erste Jahr nach dem Auftauchen des Alpträumchens an der Grenze zum Verbanntenreich war Dun regelmäßig an die gleiche Stelle zurückgekehrt. Das Jahr darauf nur noch halb so oft. Er saß auf dem Boden, an die kalte Steinwand gelehnt und dachte nach. Was versprach er sich überhaupt davon hier zu sitzen und zu warten? Es gab keinen Ausweg, er würde nicht wieder aus der Verbannung kommen. Es hatte zu seiner Zeit damals in der gesamten Geschichte der Daoine noch nie einen Freispruch gegeben und er wusste auch nicht, ob so etwas überhaupt möglich war. Die Verbannung war wie ein Fluch, eine Krankheit, die einen an diesem Ort hielt. Es zerfraß die Seele und das Herz und hinterließ nichts weiter als Bitterkeit und Kälte. Jäh drängte sich das Bild von Nubila in seine Gedanken. Sie war schon so lange hier, wie niemand anderes. Sie war schon fast eine Legende der Verbannten von der die Daoine in der oberen Welt nichts wussten. Nubilas halber Körper war schon mit der Dunkelheit verschmolzen. Dass sie noch  nicht komplett vergangen war lag nur an ihrem unbändigen Hass und der Willenskraft zu überleben und sich irgendwann zu rächen. Sein Mundwinkel zuckte bei diesem Gedanken und er schüttelte leicht den Kopf. Sie war wahnsinnig geworden. Noch wahnsinniger, als sie sowieso schon war. Kein Wunder bei den Gegebenheiten hier unten. Ihm würde es bald genauso ergehen. Er fühlte die Kälte schon in sich, wie sie sich um ihn schlang, sein Herz umschloss und durchbohrte, alles was ihn einst ausgemacht hatte mit Düsternis infizierte und ihn zu einem anderen Daoine machte. Vielleicht sollte er es den anderen, die kürzere Zeit hier gewesen waren aber dieses Gefühl kaum ausgehalten hatten gleich tun. Sollte das, was von ihm über war retten, bevor er zu jemandem wie Nubila wurde. Sollte die Grenze überschreiten und dem Ganzen so ein schnelles, schmerzloses Ende bereiten. Er stand auf und wandte sich zu der Stelle. Ein Schritt nur. Ein einziger Schritt. Wie viele Male hatte er versucht die anderen aufzuhalten. Wie viele Male hatte er anderen wiederum diese Stelle gezeigt. Wie oft hatte er darüber nachgedacht mitzugehen. Etwas berührte seine Schulter, er drehte sich ruckartig um, die Hand zur Faust geballt und verfehlte Nubilas hämisch grinsendes Gesicht nur knapp.   "Komm mal wieder runter, schmeiß Deine Depressionen ins nächste Erdloch und komm mit." sagte sie und fügte nach kurzem Schweigen noch hinzu: "Festmahl." Ihre klauenartigen, verschatteten, schon leicht transparent gewordenen Finger berührten sein Kinn und wollten dann seine Wange streifen, doch er drehte sein Gesicht noch rechtzeitig weg. Nubila starrte ihm einen Moment eigenartig in die Augen, dann senkte sie den Blick und schien zurück in die Dunkelheit zu schweben. "Was ist passiert?" fragte er, schüttelte sein Unbehagen ab und folgte ihr kurz darauf. "Sieh's Dir selbst an." erwiederte sie aus dem Schatten vor ihm. Nach einem längeren Weg durch tiefschwarze Gänge weiter hinab ins Reich der Verbannten waren sie an ihrem Ziel angelangt. Dun verengte seine Augen. Vor ihnen sammelten sich mehrere, verschieden große Alpträume und Wesen. Sie drängten sich dicht an dicht um etwas in ihrer Mitte. Zusammen leuchteten sie heller als sonst und ließen seine Sehnerven unangenehm kribbeln. Nubila senkte ihren Kopf, ihre Haare fielen wirr in ihr Blickfeld und schützten ihre Augen vor dem zu hellen, ungewohnten Licht. "Komm, wir kämpfen uns in die Mitte. Die anderen sind bestimmt schon da und schlagen sich die Mägen voll. Müsste aber trotzdem noch genug für uns da sein, Básgu hat einen ziemlichen Brocken erwischt." Básgu, einer der wenigen anderen, die seit längerer Zeit hier lebten. Er war laut Nubila kurz vor Dun verbannt worden, aber ihre Zeitwahrnehmung war nicht allzu verlässlich. Er selbst hatte von dem Prozess jedenfalls nichts mitbekommen damals, allerdings wusste er auch, dass auch Daoine aus anderen Bezirken und Bergen hier waren. Die abgeschottete Gegend reichte endlos weit unter den eigentlichen Heimatgebieten der Daoine in alle Richtungen. Dun hatte noch nicht viel davon erkundet, verspürte den Drang aber auch nur selten. Was sollte es hier unten schon sehenswertes geben außer den furchterregendsten Monstern? Seite an Seite quetschten sich Nubila und Dun durch die sich drängenden Wesen. Als sie im Zentrum angekommen waren bot sich ihnen ein Bild, das für jeden anderen verstörend gewesen wäre, für sie aber schon fast Alltag geworden war. Auf der kalten, steinigen Erde der Höhle lag, eigenartig verdreht, der tote Körper eines noch nicht ausgewachsenen Clachurrag. Trotzdem war das Tier von beachtlicher Größe, oder besser gesagt, Länge. Der Steinwurm hätte ausgestreckt sicher gut 33 Fuß gemessen. Jetzt lag er von Daoinen zusammengeschoben in unnatürlicher Pose da und bot ein trauriges Bild. Dun schluckte einen Kloß im Hals herunter, als er die Kreatur, die unangenehme Erinnerungen seiner Vergangenheit in ihm wach rief, dort liegen sah. Ein Stück entfernt standen auf der anderen Seite des Clachurrag Básgu mit einigen wenigen anderen Verbannten. Daneben hockten gierig dreinblickende, sabbernde fleischfressende Monster, die in der umgebenden Gegend lebten. Sie trauten sich nicht an den Riesenwurm, trotz des für sie verlockend riechenden Blutgeruchs, den er ausströmte. Básgu oder einer der anderen hatte ihnen wahrscheinlich zu verstehen gegeben, dass sie erst nach den Daoine mit dem Essen an der Reihe sein würden und lediglich die Reste bekommen würden. Er drehte sich von den Verbannten weg und sein Blick wanderte über den toten Körper zu Dun und Nubila. Sein Mundwinkel zog sich ein Stück nach oben und entblößte spitze Zähne, die blutverschmiert waren. "Da seid ihr ja endlich. Den hier hab ich in der Nähe... nun ja... gefunden!" sagte er mit einem spöttischen Ton. "Greift zu, in der Mitte ist er bestimmt noch warm und weich." seine Augen glitzerten bösartig in dem schummrigen Licht der Alpträume um ihn herum. Dann wandte er sich zu den anderen und lud sie mit einer auffordernden Geste ebenfalls ein. "Dieser gönnerhafte Scheißkerl.." dachte Dun. Dann sah er, dass Nubila sich unbemerkt auf den Clachurrag gestürzt hatte. Ohne jegliche Scheu oder Hemmung riss sie mit Händen und Zähnen die harte Hautschicht auf und verspeiste das dunkelrote Fleisch des Steinwurms. Dun näherte sich langsam und widerwillig. "Schalt einfach den Kopf aus. So viel zu Essen hattest Du schon verdammt lange nicht mehr zur Verfügung. Nutz es aus. Gib Dich hin. Iss. Lass die Vergangenheit vergangen sein und denk nicht an Bìdán." sagte er in Gedanken zu sich selbst. Er stand noch kurz da und verdrängte das Bild seines ehemaligen Freunds, dann verfinsterte sich seine Miene. Mit den Erinnerungen schüttelte er auch sein Gewissen ab, er dachte nicht mehr nach und gesellte sich zu den anderen. ______________________________________________________ (Vergangenheit) Vor sich hin kichernd stolperte der kleine Junge durch den spärlich beleuchteten Gang. Er war seiner Mutter in einem unbeobachteten Augenblick entwischt, aus dem großen, vielräumigen Appartement der Familie gehuscht, hatte die Gemeinschaftshalle so flink wie es ihm auf seinen kurzen Beinen möglich gewesen war durchquert und war dann ohne nachzudenken durch die angrenzenden Gänge und Höhlen der Traumberge gehuscht. Seine Eltern waren einige Male mit ihm in der Heiligen Grotte, der Kristallhöhle und anderen in der Nähe liegenden, sehenswerten Höhlen gewesen, doch das war ihm nicht genug. Er wollte öfter diese tollen Orte besuchen und sie genauer erforschen. Eigentlich wollte er hauptsächlich dort herumrennen und spielen, aber seine Eltern würden das nicht als Ausrede gelten lassen, das hatte er schon vor einer Weile gelernt. Sie waren ziemlich streng und fanden, dass man in jungen Jahren lieber möglichst viel lernen sollte anstelle ständig Zeit mit Spielen zu vergeuden. An dieser Erziehung war hauptsächlich sein Vater schuld, der gleichermaßen aufgewachsen war und dies dementsprechend als die einzig richtige Vorgehensweise empfand. Seine Mutter war stets darauf bedacht, was andere - vor allem ihr Mann - von ihr hielten und tat folglich auch meistens das, was er für richtig hielt. Dun würde nie erfahren, dass er charakterlich sehr nach seinen Großeltern mütterlichseits geraten war - die aber leider in der Erziehung ihrer Tochter diesbezüglich ein bisschen versagt hatten. Er bog um eine Ecke und fand sich in einer kleineren Höhle wieder, an deren Eingang eine dauerleuchtende Algidardensfackel hing. Sie verbreitete nicht besonders helles Licht, brannte dafür aber viele Jahre lang ohne auszugehen. Ihr Feuer flackerte kaum und war nur warm, nicht heiß. Man konnte problemlos mehrere Augenblicke die Hand in die Flamme halten ohne, dass die Haut beschädigt wurde oder man Schmerzen verspürte. Dun hatte das schonmal heimlich ausprobiert und war nur aufgeflogen, weil er es in seiner Euphorie übertrieben und sich nach zu langem Hineinhalten der Hand ein paar Brandblasen zugezogen hatte. Er löste den Blick von der Fackel und sah in den Raum, der sich vor ihm ausbreitete. Die Höhle wirkte für ihn größer als sie eigentlich war, denn mit seinen 14 Jahren war er schließlich noch ein Kleinkind und gerade mal dreieinhalb Fuß groß. Die Höhle war fast ein Tunnel, so lang erstreckte sie sich vor ihm. Das Ende konnte er nicht erkennen, vielleicht ging es sogar noch weiter, als er sich vorstellen konnte. Von der Decke hingen unzählbar viele Stalaktiten, die teilweise abgebrochen und zwischen die aus dem Boden wachsenden Stalagmiten gestürzt waren. Um ihn herum befand sich ein Wirrwarr aus Zacken und Säulen, was er wahnsinnig spannend fand. In dieser Tropfsteinhöhle war er vorher noch nie gewesen. Er fasste seinen gesamten Mut zusammen und lief langsam hindurch. Das Licht der Fackel ließ eigenartige, sich schwach bewegende Schatten entstehen die ihm anfangs noch leichte Schrecken einjagten, aber nach einer Weile war er vollkommen entspannt und rannte kreuz und quer durch das Tropfsteinlabyrinth. Von dem unerwarteten Besucher aufgeschreckt huschten im letzten Moment kleine Spinnen und anderes Krabbelgetier davon, tiefer in den Schatten hinein und weg von dem Wirbelwind. Der kleine Junge flitzte planlos hin und her und fand sich irgendwann in einem Teil der Höhle, der fast nicht mehr von der Lampe beleuchtet wurde. Seine Augen fingen die letzten kleinen Lichtreflexionen ein und ließen ihn trotz der spärlichen Beleuchtung noch ganz gut sehen. Er blinzelte in die Dunkelheit und sah immer noch kein Ende, vielleicht war es tatsächlich ein Tunnel und gar keine richtige Höhle. In seinem rechten Augenwinkel nahm er plötzlich eine leichte Bewegung wahr. Etwas huschte hinter einen der Stalagmiten. Duns Augen wurden groß und eine Gänsehaut breitete sich von seinem Rücken über seinen ganzen Körper aus. "Geh nicht alleine in irgendwelche Höhlen, Dun" hatte seine Mutter ihm oft gesagt. "Manchmal hausen dort bösartige Monster, die gefährlich für Dich sein könnten. Ich möchte nicht, dass Dir etwas passiert, also versprich mir das bitte." Er hatte es versprochen, wenn auch nur widerwillig. Sie hatte ihn ja mehr oder weniger dazu genötigt, also was hätte er anderes tun sollen. Und jetzt stand er da. Alleine in irgendeiner Höhle, die auch noch kaum beleuchtet war und weniger als zwei Meter von ihm entfernt lauerte ein schreckliches Monster auf ihn, dass ihn bestimmt aufessen wollte. Stocksteif stand er da und atmete so flach und leise wie er konnte. Sein Herz raste und sein Kopf war vollkommen leer. Er hatte nicht die geringste Ahnung was er tun sollte, also starrte er einfach weiter auf die Stelle, an der er das Ungeheuer vermutete. Auf einmal schob sich langsam etwas am Boden direkt neben dem Stalagmit vorbei. Es schlängelte sich vorsichtig in seine Richtung und sah aus wie ein kleiner Wurm. Dun bewegte sich immer noch nicht, keinen einzigen Zentimeter. Inzwischen hatte er die Luft angehalten. Das Wesen war wirklich nur ein Würmchen, trotzdem gaukelte ihm seine Fantasie vor, dass selbst diese kleine Kreatur für ihn gefährlich werden könnte. An einem Punkt des Bodens angelangt, an den ein schummriger Strahl des Lichts der Algidardensfackel fiel, verharrte der grünliche Wurm. Er bewegte sich einen Moment lang genauso wenig wie Dun selbst, dann hob es sein eines Ende, was offensichtlich der Kopf war und richtete diesen nach oben. Dun konnte jetzt die kleinen, gelben Augen erkennen, die das Licht sanft reflektierten und die noch unvollständig entwickelten Beißzangen darunter. Er hatte noch nie vorher einen Steinfresser gesehen und vergaß in seinem Staunen vollkommen seine Angst. Er kniete sich hin und hob das kleine Tier vorsichtig auf die Hand. Es wand sich zwischen seinen Fingern und rollte sich auf seiner flachen Hand blitzschnell zusammen, die Augen fest geschlossen. Jetzt erst erkannte Dun, dass das Wesen, dass er für gefährlich gehalten hatte, mindestens genauso viel Angst vor ihm gehabt hatte. Er hob seine Hand dicht vors Gesicht und sagte leise: "Pscht, ich tu' Dir nichts." Dann setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden und wartete ab. Eine ganze Weile passierte nichts. Als der kleine Clachith sich endlich vorsichtig entrollte und ihn wieder ansah spürte Dun eine eigenartige Woge der Erleichterung und Freude, die sich in ihm ausbreitete. Er grinste und rief etwas zu laut: "Hallo!" Der Steinfresser kniff wieder die Augen zusammen und zuckte bei dem plötzlichen Lärm zusammen, blieb ansonsten aber ruhig auf seiner Hand. "Ich bin Dun." flüsterte er, jetzt ganz leise. "Dun, bist Du hier?!" Laute Rufe drangen vom Eingang der Höhle zu ihm. Der Wurm zuckte wieder zusammen, starrte in Richtung der Stimmen, dann wieder zu Dun, der in diesem Moment genauso überrascht dreinblickte wie er sich fühlte. Überrumpelt von dem Lärm und voller Angst zwickte der kleine Steinbeißer, der in Wirklichkeit kein Steinwurm sondern eine Babysteinschlange war, was Dun später noch herausfinden würde, ihm in den kleinen Finger. Erschrocken von dem pieksenden Schmerz, den die kleinen Kiefer ihm zugefügt hatten, entfuhr ihm ein "Au!" und er ließ das Wesen fallen, das sich sofort eilig in den Schatten zurückzog und im nächsten Augenblick verschwunden war. "Nein, komm zurück!" rief er ihm nach, doch der Clachith war schon längst verschwunden und würde die nächsten Tage auch nicht mehr aus seinem Versteck kommen. Schritte näherten sich, dann fiel der helle Lichtkegel einer tragbaren Lampe auf ihn. "Ich hab ihn gefunden!" rief eine ihm bekannte Stimme. "Na, mach Dich mal bereit auf eine ordentliche Portion Schimpfe, Kleiner." sagte Urras leise zu ihm, packte ihn um die Mitte und trug ihn durch die Steinformationen zurück zum Eingang der Höhle, wo seine Mutter schon wartete. Ihr Gesicht verriet die großen Sorgen, die sie sich gemacht hatte und den noch größeren Ärger darüber, dass er sein Versprechen gebrochen und sich in Gefahr gebracht hatte. Der Hünenhafte Mann setzte ihn vorsichtig vor ihr ab und strubbelte ihm durch die Haare. "Nicht so streng sein, der Kleine war ja nur neugierig. Außerdem ist ja gar nichts passiert." sagte er zu Dimea, deren Lippen sich zu einem dünnen Strich verengt hatten. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann kniete sie sich hin und umarmte ihren Sohn innig. "Mach sowas nie wieder, Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt!" sie packte seine kleinen Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen. "Dun, haben wir uns verstanden?" fragte sie. Er blickte schuldbewusst zu Boden und schnaufte kapitulierend. "Ja, Mama..." nuschelte er. Sie blickte ihn noch einige Momente an und stand dann auf, ihre Hand fest um die seine geschlossen. "Dann gehen wir jetzt zurück nach Hause und erklären Deinem Vater später was passiert ist. Vorher trinken wir aber noch eine heiße Nussmilch, Du frierst sicher ganz furchtbar." sagte sie lächelnd. Er bekam für die nächsten paar Jahre Hausarrest und musste als Strafe ebenso lange regelmäßig die Kochstelle reinigen. Seine wundersame Begegnung vergaß er zwar nicht, verdrängte sie aber vorerst wegen der unschönen Umstände. __________________________________________________ Er blickte sich verstohlen um und schlich unauffällig davon, als er sicher war, dass es niemand bemerken würde. Die anderen waren wie in einem Blutrausch darin vertieft Fleisch aus dem toten Steinwurm zu reißen und zu verschlingen. Hinter der nächstbesten Abzweigung eines Gangs legte er einen kurzen Sprint ein, bog immer wieder in andere Gänge ab und gelangte schließlich in eine weitreichende, finstere, bodenlose Höhle. Er blieb direkt an der Kante stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann setze er sich hin, ließ die Beine in den Abgrund baumeln und stützte das Gesicht in die Hände. Die Erinnerungen an Bìdán hatten ihm schlagartig den Appetit verdorben. Er konnte das Bild des toten Steinwurms nicht abschütteln, wie er da lag und zerfleischt wurde. Ausgewachsen hatten Steinwürmer und Steischlangen zwar nicht mehr so viel Ähnlichkeit miteinander, doch er musste trotzdem unweigerlich an seinen ehemaligen Freund denken. Es hätte genausogut er sein können. Langsam schüttelte er den Kopf und versuchte seine Gedanken zu verdrängen. Er seufzte leise und ließ zur Entspannung seine Schultergelenke knacken, dann schwang er sich über die Kante. Er hätte den Weg selbst im Schlaf noch fehlerfrei zurücklegen können, so oft war er ihn schon gegangen. Stück für Stück hangelte er sich an der kalten Felswand hinunter und erreichte nach einigen Metern einen winzigen Vorsprung, der sich rund um den Krater entlangzog. Mit wenigen sicheren Sprüngen war er auf der anderen Seite angelangt und kletterte dort rasch wieder nach oben. Es war eigentlich ganz einfach den endlos wirkenden Abgrund zu überwinden, aber außer ihm schien das bisher noch niemand herausgefunden zu haben. Zum Glück. Er war nicht versessen darauf, dass Nubila oder einer der anderen Verbannten seinen Rückzugsort ausfindig machen würden. Dann hätte er sich auf die Suche nach einem anderen Versteck machen müssen und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Zumal er fand, dass seine kleine Höhle für die gegebenen Umstände wirklich gemütlich war. Also war er immer doppelt und dreifach vorsichtig, wenn er dort hin oder von dort weg ging. Er lief den Gang entlang und bog erneut mehrfach ab, was so wahllos wirkte, als hätte er nicht den geringsten Plan wohin es ihn führen würde, aber dem war natürlich nicht so. Im nächsten Gang waren die Wände deutlich höher und der Stein roh und zerklüftet. Er hörte sich unauffällig um, vernahm aber weder Geräusche noch spürte irgendeine Nähe, also zwängte er sich schnell durch einen der größeren Risse in der Wand. Der folgende Korridor verlief in einer sanften Kurve nach oben und wurde nach wenigen Metern breiter, so dass er normal hindurchlaufen konnte. An seinem Ende lag eine kleine Höhle, die Dun als eine Art zu Hause empfand. Lange vor ihm musste schon ein Mal jemand diesen Ort als Unterschlupf gewählt haben, denn in die Wände war improvisiertes Mobiliar geschlagen worden. Kleine Einbuchtungen mit unterschiedlichen Maßen, unter- und nebeneinander gereiht, wie eine Art Schrank ohne Türen, dienten ihm als Lagerplätze für Nahrung, Kleidung und andere Gegenstände. Gegenüber davon gab es einen Vorsprung, der sich auf Augenhöhe waagerecht die gesamte Länge der Wand entlangzog und hervorragend als Regal benutzt werden konnte. Das untere Stück der Fläche ragte hervor und konnte als Sofa oder Bett benutzt werden. Dun hatte sich aus Pflanzenresten, Stoffen und Fellen, die er in anderen Höhlen gefunden hatte eine passende Matratze mitsamt Kissen zusammengebastelt. Eine Decke brauchte er selten, denn der kleine Raum wärmte sich schnell von allein auf, wenn man sich darin aufhielt. Trotzdem lag in einem der Fächer zusammengelegt ein großes Laken, das er kurz nach seiner Verbannung aus einem der zahlreichen unterirdischen Flüsse gefischt hatte. Immer wieder kam es vor, dass dort Dinge umhertrieben, mal mehr, mal weniger nützlich. Er wusste es nicht, aber er lag mit seiner Vermutung richtig, dass all diese Objekte von den Daoinen der an das Verbanntenreich angrenzenden Bezirke kamen. Viele warfen heimlich Sachen in die Flüsse und hofften, dass sie jemanden von unten erreichen würden. Manche warfen sogar Briefe in Flaschen ins Wasser, aber die wenigsten davon kamen wirklich bei demjenigen an, für den die Botschaft bestimmt war. Dun hatte ein Mal eine Flaschenpost gefunden und kurzfristig gehofft der Inhalt möge an ihn gerichtet sein, doch der Angesprochene war längst in den Schatten gegangen, also warf er den Brief weg und behielt die Flasche für sich und nutzte sie als Wasserbehälter. Es war ihm noch ein paar Mal so ergangen weshalb er nun eine äußerst praktische kleine Flaschensammlung besaß. Das meiste aber, was angeschwemmt wurde, war unbedacht weggeworfener Müll und Unrat, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Dun ignorierte das meistens. Nur wenn er mal Langeweile hatte, fischte er auch diesen aus dem Gewässer und warf ihn in einer Ecke auf einen Geröll- oder Müllhaufen. Geräuschvoll ließ er sich auf sein Bett fallen. Er schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Er würde jetzt erstmal ein bisschen schlafen und hoffen, dass er weder von seiner Vergangenheit träumen, noch nach dem Aufwachen weiterhin daran denken würde. ______________________________________________________ Viele Jahre nach seinem Ausflug in die Stalaktitenhöhle war Dun nochmal an die gleiche Stelle zurückgekehrt, aber er hatte in der ganzen Höhle keine Wesen außer Spinnen und anderen Insekten entdecken können. Im Unterricht hatten sie gerade die verschiedenen Arten der Steinfresser durchgenommen, was seine Erinnerung an die seltsame Begegnung wieder geweckt hatte. Er war nicht großartig traurig darüber, dass er die Steinschlange nicht wiedergefunden hatte, aber trotzdem hatte er unrealistische Hoffnungen gehabt und hätte den Clachith gerne nochmal gesehen. Inzwischen war er 36 Jahre alt und ein paar Centimeter gewachsen. In seiner Klasse war er der größte und maß 4 1/6 Fuß gegenüber den anderen, die alle höchstens 4 Fuß groß waren. Eine Kräuterfrau hatte ihm mal vorhergesagt, dass er später eine stattliche Form erreichen würde, was ihm ziemlich gefallen hatte. Es war nur ein paar Mal zu Raufereien gekommen, aber weil er immer gewonnen hatte, trauten sich die Jungen seitdem nicht mehr ihn auf irgendeine Art zu ärgern. Die Mädchen hingegen starrten ihn oft komisch an und rannten dann kichernd weg. Er verstand das nicht wirklich, es war ihm allerdings auch egal. Er interessierte sich mehr für seine Umgebung und die ganzen, vielen Monstergeschichten. Aus Langeweile streifte er durch die nahe gelegenen Gänge und kickte kleine Steine vor sich her bis er in die nächste Höhle kam. Sie war eigentlich ziemlich unspektakulär im Vergleich zur Heiligen Grotte, den Kristallhöhlen oder den Stalaktit- oder Stalagmithöhlen. Rund geschnitten, düster und mit einigen abzweigenden Gängen. Das einzig tolle an diesem Ort war die Akustik, wie er jetzt herausfand. Aus den verschiendene Zugängen schallten unterschiedliche Geräusche in den Raum und verbanden sich zu einem merkwürdigen Tongemisch. Stimmen und Schritte, Gelächter und Geklapper verbanden sich zu einer fast melodiösen Unruhe. Er stellte sich in die Mitte und spitzte die Ohren. Vielleicht konnte er sein Gehör etwas trainieren und die einzelnen Töne herauskristalisieren und zuordnen. Er schloss die Augen und driftete in seine Gedankenwelt ab, bekam nichts mehr mit von allem um ihn herum, außer dem Geräuschtumult. Gelächter kam von Links, wahrscheinlich aus einer der Schankraumhöhlen. Weiter entfernt vernahm er trappelnde Schritte und freudiges Kreischen von einigen anderen Kindern, die sich durch die Korridore jagten und näher kamen. Dicht bei ihm knirschten ganz leise Steine, er schreckte aus seiner Vertieftheit hoch und blickte auf den Boden neben ihm. Er konnte seinen Augen kaum glauben, aber direkt vor seinen Füßen kringelte sich eine kleine Steinschlange. Sie hatte die gleiche grünliche Färbung wie die von damals und betrachtete ihn mit den gleichen gelblich-orangefarbenen Augen. "Das kann doch nicht wahr sein..." murmelte er und wollte sich gerade herunterbücken, als der Lärm der Kinder ganz plötzlich sehr laut wurde und ebendiese im nächsten Moment aus einem der Gänge in die Höhle gesprintet kamen und Dun bemerkten. Der Clachathair war noch immer schreckhaft und lärmempfindlich und suchte sich blitzschnell das nächstbeste Versteck, was in diesem Falle Dun war. Die Steinschlange kringelte sich um seinen Knöchel, verborgen unter dem Hosenbein und erstarrte dort, als wäre sie ein Teil von ihm. Die plötzliche Berührung verbunden mit dem Auftauchen der anderen Kinder erschreckten Dun so sehr, dass er zusammenfuhr und zur Seite taumelte. "Hey, Du. Was machst'n Du hier?" fragte einer der Jungen während die anderen, zwei weitere Jungen und ein Mädchen, ihn unverhohlen musterten. "Ich äh. Ähm... Ich... gar nichts!" stammelte er vor sich hin und setzte sich in Bewegung. "Ich war gerade auf dem Weg nach Hause." Im Gehen streckte er den Rücken und richtete sich so zu seiner vollen Größe auf. Er überragte auch diese Kinder wieder um einige Zentimeter und hoffte, dass sie nicht versuchten ihn zu ärgern, sondern ihn in Ruhe lassen würden. Erhobenen Hauptes schritt er an dem Jungen, der anscheinend der Anführer war, vorbei, der erst zu ihm hoch und ihm dann hinterhersah. "Du könntest auch eine Runde Fangen mit uns spielen, wenn Du willst. Da kommt man immer in coole Höhlen und Gänge, die man so gar nicht entdecken würde!" Dun blieb abrupt stehen und wäre am liebsten auf das Angebot eingegangen, aber dies war einer der seltenen Momente, in denen er etwas noch spannenderes vorhatte. Er fühlte den kleinen Clachathair an seinem Knöchel und ließ den Kopf sinken, dann drehte er sich um und lächelte den anderen zu. "Ich würde echt gerne, aber meine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn ich zu lange weg bleibe... Ein anderes Mal, vielleicht?" Die anderen schauten sich der Reihe nach an, dann erhob wieder der Anführer das Wort. "Klar doch, wir sind meistens nach dem Unterricht hier irgendwo unterwegs. Wenn Du uns suchst, wirst Du uns bestimmt finden!" er grinste ihm schief zu, dann wandte er sich wieder um und rannte in den Gang zu seiner rechten. Die anderen folgten ihm wortlos. Dun lief ein Stück weiter bis er zur nächsten Kreuzung kam, wo er sich hinhockte und sein Hosenbein hochkrempelte. "Na Du?" sagte er und tippte die Steinschlange vorsichtig an, die sich aber kein Stück bewegte. "Die anderen sind weg, Du kannst wieder loslassen." Nichts passierte. "Du kannst jetzt aber nicht die ganze Zeit da bleiben, ich muss auch irgendwann nach Hause..." flüsterte er und tippte das Wesen nochmal an. Es rührte sich noch immer nicht. Dun versuchte es noch eine Weile weiter, dann gab er auf. Der Clachathair würde schon noch loslassen, früher oder später. Er rollte das Hosenbein zurück und Strich den Stoff glatt, dann nahm er zielstrebig den Weg nach Hause. Er hatte sich absolut nichts anmerken lassen und niemand, nicht einmal seine Mutter, hatte bemerkt, dass er nicht alleine war. Mit einem triumphalen Gefühl ließ er seine Zimmertür zufallen und warf sich auf sein Bett. Nochmal krempelte er sein Hosenbein hoch und krabbelte der Steinschlange über den Kopf. "Ich hab' Dich reingeschmuggelt. Das darf aber niemand mitbekommen, sonst krieg ich total Ärger!" Er versuchte das Wesen von seinem Knöchel zu zupfen, aber es klammerte sich immer noch fest darum und ließ nicht locker. "Jetzt komm schon, hier ist doch keiner mehr außer mir. Lass los." Dun kraulte seinem Anhängsel über den Rücken und seufzte. Er hatte die Beine angezogen und saß auf der Bettkante, seinen Kopf legte er auf seine Knie und schloss die Augen als er ein leises, gurrendes Geräusch hörte. Dun hob den Kopf wieder und starrte auf seinen Knöchel. Das Wesen öffnete langsam die Augen und bog den Kopf nach hinten, wo Duns Finger noch immer vorsichtig über seinen Rücken strichen. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte gedacht, dass Clachiths gerne gekrault wurden! Die kleine Schlange löste sich von seinem Knöchel und Dun fing sie auf, bevor sie von der Bettkante zu Boden fallen konnte. In seiner Hast packte er etwas zu fest zu und bekam als Antwort promt einen Biss in den Daumen. "Au! Du kleiner Beißer!" lachte er. Der Schnitt war zwar etwas tiefer und es quoll deutlich mehr Blut hervor als bei ihrem letzten Zusammentreffen, aber es tat immer noch nicht sonderlich weh. Er steckte den Daumen in den Mund und betrachtete den Clachathair in seiner Hand, der daraufhin die grimmige Variante seines Blicks erwiederte. "Guck mich nicht so an, ich hab nichts gemacht." mahnte er ihn scherzhaft. Der Kleine zappelte hin und her und wickelte sich um Duns Arm, als er seinen Griff lockerte. "Du willst also hier bleiben, was?" die Frage war eher rhetorisch als wirklich ernst gemeint, denn Dun hatte schon nach der Hälfte des Weges von der Höhle nach Hause gewusst, dass er den Clachith als eine Art Haustier behalten würde. Heimlich natürlich. Und eher freundschaftlich als wirklich als Haustier. "Aber wenn Du bleiben willst... brauchst Du einen Namen. Wie heißt Du?" fragte er, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem Kopf seines kleinen, neuen Freunds entfernt. Im nächsten Moment schnellte das Wesen vor und kniff Dun in die Nase. "Au, verdammtnochmal!" rief er und ließ den Beißer neben sich auf die Matratze fallen, während er sich über die schmerzende Nasenspitze rieb. "Du..." gerade wollte er ihm drohen, als ihm etwas klar wurde. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch und grinste den Clachith schief an. "Beißer... Beißerchen! Das bist Du, das ist Dein Name." er lachte leiste und ließ sich nach hinten auf sein Bett fallen. "Bìdán!" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)