Eines Tages von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Eines Tages ---------------------- Ein Schatten schiebt sich vor die Sonne. Als Mukuro träge die Augen öffnet, glaubt er zuerst, es sei eine kleine Wolke gewesen, wegen der es plötzlich dunkler wird. Aber es ist keine Wolke. Es ist ein Kopf, der durch das kleine Fenster herein sieht, ein struppiger, zu großer Kopf an einem zu dürren Hals. Die Proportionen sind so verdreht, dass man sich fragen müsste, wie lange dieses Kind noch aufrecht wird stehen können. „Mugen.“ Mugen antwortet nicht, grinst nur auf diese ihm eigene Art, greift nach dem oberen Fensterrahmen und zieht sich durch das Fenster. Der hohle Laut, als er mit seinem gesamten Gewicht auf dem Holzboden landet, lässt Koza erschrocken auffahren. „Was ist passiert?“ „Nichts“, sagt Mukuro und greift nach ihrer Hand. „Nur dieser kleine Scheißkerl schon wieder.“ „Ich habe Hunger“, sagt Mugen. Als Aussage ist dieser Satz überflüssig, denn selbstverständlich hat er den, selbstverständlich haben sie den alle. Der Hunger steht in ihren Augen, sitzt in ihren zu dünnen Gliedern und klebt in den Wunden an ihren Knien. Der Satz ist keine Aussage, sondern eine Frage, und natürlich verstehen die anderen beiden. Wie jeden Morgen. „Mama?“, brüllt Mukuro, indem er sich aufsetzt und hinunter in den tieferen Teil der Hütte sieht. „Kann Mugen bei uns essen?“ „Das fragst du mich?“, erklingt die schlecht gelaunte Stimme der Mutter, wie jeden Morgen. „Wenn wir können, wird er es wohl auch können.“ Ein Grinsen zieht über Mugens schmales Gesicht. „Na dann“, sagt Mukuro und greift nach der Strickleiter, über die man in den unteren Teil der Hütte kommt. Koza und er schlafen auf der Plattform unter der Decke, seitdem sie diese Strickleiter hinauf klettern können. Mugen schafft es sogar außen am Haus hoch. Er bewegt sich wie ein Affe, denkt Mukuro oft. Zum Frühstück gibt es einen kleinen Rest Reis, der in einer seltsamen, wässrigen Soße schwimmt und mit irgendetwas Grünem garniert ist. Mugen fragt sich, was zur Hölle das sein soll, will aber lieber nicht laut fragen. Die Mutter von Mukuro und Koza ist eine resolute Frau, die keine Kritik an ihren Kochkünsten zulässt. Manchmal fragt Mugen sich, für welches Verbrechen sie hier ist. Vielleicht dafür, dass sie jemanden vergiftet hat, hat er Mukuro gegenüber mal vermutet. „Halt die Schnauze, Scheißkerl.“ „Halt sie selber, Drecksack.“ Damit war das Gespräch beendet. Diesmal wechseln sie kein Wort beim Frühstück, während sie auf dem Boden aus fest getretener Erde hocken und aus ihren Schüsseln schlürfen. Mukuro und Koza teilen sich eine. Die von Mugen hat einen Sprung am Rand. „Und jetzt raus mit euch kleinen Ratten“, sagt Mutter, steht auf und sammelt die Schüsseln ein. „Aber seid wieder da, bevor es dunkel wird.“ „Vater kommt gleich vorbei“, flüstert Koza Mugen zu, als sie hinaus gehen, als wolle sie sich für diesen Rauswurf entschuldigen. „Mutter ist lieber allein mit ihm. Er mag uns nicht.“ „Könnte dran liegen, dass er gar nicht unser Vater ist“, sagt Mukuro schlecht gelaunt und tritt gegen einen Stein auf dem Boden. „Mutter will, dass wir ihn Vater nennen, aber nicht einmal er will es.“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagt Mugen zu Koza und streift ihren Arm ab. „Ich bin nichts anderes von deiner Mutter gewohnt.“ Sie sieht ihn mit diesen großen Augen an, doch bevor sie noch etwas sagen kann, schlägt Mukuro Mugen auf den Arm. „Wer zuerst beim Pinkelfelsen ist!“ Also rennen sie los, und Koza stolpert hastig hinterher. Die Sonne ist aufgegangen und das kleine Dorf ist erwacht. Es ist vielleicht kein richtiges Dorf, nur ein paar Häuser, die auf dem trockenen Land gebaut sind. Einige davon sind gar nicht schlecht gebaut, von irgendeinem Betrüger-und-Zimmermann vielleicht. Von einem Mörder-und-Maurer. Niemand hier hat nur einen Beruf, alle haben mehrere. Aber selbst mehrere Berufe reichen kaum, um den eigenen Magen zu füllen. „Wartet!“, ruft Koza kläglich, wird langsamer und bleibt zurück. Mugen und Mukuro hören sie nicht. Ihre nackten Füße schlagen auf den sandigen Weg, ihre Fäuste sind geballt. Die Luft brennt in ihren Lungen. Keiner von ihnen will verlieren. Das Wettrennen ist alles, was sie im Kopf haben. Zumindest so lange, bis sie den Strand erreichen und sehen, dass gerade ein Boot an einem der Stege angelegt hat. Gleichzeitig bleiben die Jungen stehen, neben einander im Sand, und starren. In dem Boot befinden sich zehn Männer, von denen einige offenbar gerudert haben. Der Schweiß glänzt auf ihren nackten Oberkörpern und Tropfen von Meerwasser hängen in ihren ungepflegten Haaren. Auch die übrigen Männer sehen kaum vertrauenerweckender aus. Verschlossene Gesichter, missmutig verzogene Lippen, Unsicherheit und Angst in den Blicken. Sie kommen hierher mit dem Wissen, dass diese Insel als Hölle bekannt ist. Und was ist das erste, was sie an Land begrüßt? Zwei Jungen mit verfilzten Haaren und aufgeschlagenen Knien, die sie angaffen. „He, ihr da!“, ruft einer der Männer wütend. „Was starrt ihr so?“ Mugen und Mukuro sagen kein Wort. „Habt ihr noch nie einen Verbrecher gesehen?“, fragt einer der Männer, der beinahe etwas müde klingt. Der, der zuerst gesprochen hat, funkelt die Kinder an und schiebt eine Hand unter seine Weste. Die Bewegung ist bekannt und eindeutig. „Hört gefälligst auf damit!“ In seiner Stimme liegt, ohne dass er sich selbst dessen bewusst wäre, ein Unterton von Verzweiflung. Er will seine Frustration an jemandem auslassen und schämt sich gleichzeitig dafür, aber er wird es trotzdem tun. Mugen und Mukuro wissen es. Sie haben so etwas schon unzählige Male erlebt, zu zweit oder auf sich allein gestellt, in tiefster Nacht oder am helllichten Tag, und sie haben sich abgewöhnt, einfach nur wegzulaufen. Darüber sind sie längst hinweg. Gleichzeitig bücken sie sich und greifen nach den Steinen zu ihren Füßen, und gleichzeitig schleudern sie sie dem Mann entgegen. Er weicht dem einen aus, der andere trifft ihn an der Schulter. Mit einem wütenden Heulen rennt der Mann auf die beiden Jungen zu, ein Sonnenstrahl bricht sich in der Klinge seines Messers. Ohne auch nur einen Blick zu tauschen, greifen Mugen und Mukuro nach weiteren Steinen, riskieren noch einen Wurf und noch einen, bevor sie sich umdrehen und davon rennen, so schnell ihre dürren Beine sie tragen. „Bleibt stehen!“, brüllt der Mann hinter ihnen und versucht, aufzuholen, doch er ist schon bald außer Puste. Durch Mugens Adern fließen Adrenalin und Schande und Blut, so viel Blut, und er kneift die Augen zu und rennt. Er ist noch jung, der Wind reißt an seinen Haaren, seine nackten Füße schlagen auf den Boden, und er rennt. Das hier ist seine Welt. Eine Welt, in der er die Oberhand behält. „Scheißkerl“, bringt Mukuro hervor und lässt sich ins Gras fallen. „Drecksack“, erwidert Mugen keuchend und stützt den Kopf in die Hände. Schweiß steht auf seiner Stirn und ihm ist schwindlig, fast ein wenig schlecht vor lauter Laufen. Natürlich wird er das Mukuro gegenüber niemals zugeben. „Wo ist Koza?“ „Keine Ahnung. Ist sie meine Schwester oder deine?“ „Ich sollte nach ihr sehen“, sagt Mukuro und setzt sich auf. „Hmm“, macht Mugen. Aber anstatt aufzustehen, bleiben sie beide sitzen und sehen über das Meer. Die Sonne glitzert auf den kleinen Wellen. Der Himmel ist hell und unendlich weit. Am Horizont ist Land zu erkennen. „Ich will da hin“, sagt Mugen unvermittelt und deutet mit dem Arm nach vorn. „Ins Wasser?“ „Zu dem Land natürlich, Drecksack.“ „Ist doch nur Land“, sagt Mukuro und streicht über das Gras neben sich. „Haben wir hier auch.“ „Ja. Aber da drüben ist ein besseres.“ „Woher willst du das wissen? Du weißt nichts über dieses Land.“ „Kein Land kann schlimmer sein als dieses hier“, sagt Mugen fest. Mukuro runzelt kurz die Stirn und lacht dann auf. „Als ob man uns woanders wollen würde, Scheißkerl. Wir sind hier geboren, und wir werden hier sterben. Keine Diskussionen. Keine Chance.“ „Hat je jemand versucht, zu entkommen?“ „Sie versuchen es alle Nase lang. Du ertrinkst, oder sie schicken dich wieder zurück. Du hast keine Chance.“ Mugen verzieht wieder auf diese Art den Mund und sagt nichts. Sie sitzen weiter nebeneinander. Der Wind streicht über das Gras. „Eines Tages“, sagt Mugen. „Eines Tages was?“ Er antwortet nicht, steht auf und klopft sich den Hosenboden ab. „Wir sollten Koza suchen gehen“, sagt er knapp. Letztendlich tun sie das doch nicht. Sie treiben sich herum, werden abgelenkt von diesem und jenem. Als sie Hunger bekommen, reißen sie wilde Beeren von den Büschen und stehlen zwei Äpfel aus einer Schüssel, die unbeaufsichtigt auf einer Fensterbank steht. Es passiert also nichts Besonderes, und irgendwann wird es ihnen langweilig, das ewige Laufen und Stehlen. Gerade als sie an den Punkt kommen, an dem sie normalerweise aus Langweile eine Prügelei beginnen, passiert doch etwas. Mitten auf dem freien Platz in der Dorfmitte gibt es einen Baumstumpf, etwa zwei Meter hoch, wo ein Baum gestanden hat und nun nicht mehr steht, aber der Stumpf ist noch da. Ein Mann ist mit Seilen daran festgebunden. Er ist blass und verschwitzt, seine Augen sind aufgerissen, seine Haare und Kleider triefen vor Wasser. Die Angst stinkt aus jeder seiner Poren. „Wer ist das?“, fragt Mugen leise, als sie näher kommen. „Der Schmied“, flüstert Mukuro in sein Ohr. „Er hat vor zwei Tagen eines der Boote gestohlen und ist verschwunden, weißt du noch? Anscheinend haben sie ihn rausgefischt.“ „Also ist er gekentert.“ „Oder sie haben ihn zum Kentern gebracht.“ Eine große Gruppe von Männern steht auf dem Platz herum, Schwerter an Riemen über ihren Rücken, Messer in ihren Gürteln. Fast alle sind da. Mugens Blick huscht rastlos umher, wie ein gehetztes, kleines Tier auf der Suche nach Schutz. Genau so wirkt auch der gefesselte Mann. „Verdammte Ratte“, sagt Mukuro abfällig. „Wollte abhauen. Wollte uns im Stich lassen... die letzten, die er noch hat. Hätte er das mal lieber nicht getan.“ Die Spitze eines Schwertes stößt gegen das Kinn des Mannes, der nach Luft ringt und ein beinahe komisches Gurgeln von sich gibt, einen Laut, der kaum noch menschlich klingt. „Jemand wie wir“, sagt Mukuro mit einem Seitenblick auf Mugen und fast mit etwas wie Genugtuung in der Stimme, „kommt hier nicht weg. Wir sind nur ein Haufen von Verfluchten. Wer einmal hier war, verlässt diese Insel nicht mehr. Nicht mehr lebendig.“ Mit einem Ruck fährt Mugen herum und läuft davon. Mukuro rennt ihm nach. „Hey! Wollen wir nicht zusehen?“ „Mach doch“, knurrt Mugen. „Ist mir egal.“ „Aber...“ Ein Schrei erklingt hinter ihnen, ein schriller, panischer Schrei. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, es sei eine Frau gewesen, die geschrien hat. Mugen presst die Lippen zusammen, hält sich mit beiden Händen die Ohren zu und läuft stur weiter geradeaus. „Feige?“, fragt Mukuro mit einem Grinsen, aber Mugen nimmt die Hände nicht runter. „Verdammter Feigling. Nicht den geringsten Mumm, ja? Die Hose voll. Kleiner Scheißkerl!“ Aber Mugen nimmt die Hände nicht runter. Sobald sie außer Sicht- und Hörweite sind, stürzt Mugen sich auf Mukuro und sie prügeln sich, wie sie es so oft tun, mit Fäusten und Ellbogen und Fingernägeln. Es dauert nicht lange, bis Mukuro auf dem Rücken liegt, beide Hände neben seinem Kopf auf den Erdboden gepresst, und nach Luft schnappt. „Ist ja gut! Du hast gewonnen!“ Einen Moment lang starrt Mugen ihn noch an, die Augen verengt, beinahe geschlossen. Seine Finger um Mukuros Handgelenke zittern kaum merklich. Mit einem Schnauben lässt er los, steht auf und tastet nach seinem aufgeschürften Ellbogen. „Drecksack.“ „Scheißkerl“, keucht Mukuro und setzt sich auf. „Eines Tages gewinne ich auch noch.“ „Eines Tages“, wiederholt Mugen spöttisch, denn bisher hat Mukuro noch nie gewonnen. Obwohl er eine Handbreit größer ist und auch ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen hat, kommt er gegen Mugen nicht an. „Was macht ihr da?“, erklingt eine zögerliche Stimme hinter ihnen. Mugen dreht sich um und sieht Koza auf dem Weg stehen. Mit runden Augen und diesem winzigen, leicht geöffneten Mund starrt sie die beiden Jungen an. „Wonach sieht's denn aus?“, fragt Mukuro spöttisch und steht auf. Koza runzelt leicht die Stirn. „Ihr sollt euch nicht immer schlagen.“ „Warum nicht?“, fragt Mugen grinsend. „Sollen wir warten, bis jemand anderes es für uns tut?“ Er lacht, und Mukuro stimmt mit ein. „Das ist nicht lustig“, sagt Koza mit leicht zitternder Stimme. „Ach, jetzt sei nicht immer so eine Heulsuse“, sagt Mukuro, geht auf sie zu und klopft ihr auf die Schulter. „Was machst du überhaupt hier?“ „Mama sagt, der alte Fischer schuldet uns noch drei Fische. Ich soll gehen und sie holen, zum Abendessen.“ Ein Funke entsteht in allen Augen, bei Mugen und Mukuro und Koza selbst, als sie es ausspricht. Fisch ist gut, Fisch macht den Mund und den Magen voll und vertreibt den Hunger für die nächste Nacht. „Warum sollst du sie jetzt schon holen?“ „Nicht jetzt schon. Zum Abendessen. Ich habe euch gesucht.“ „Und gefunden“, sagt Mukuro ausgelassen. „Was machen wir jetzt?“ „Runter zum Strand?“ „Alles klar.“ Sie rennen los, und diesmal schafft Koza es, Schritt zu halten. Sie gibt sich Mühe. Der Strand ist ihr liebster Spielplatz, zusammen mit dem großen Wald, aber der befindet sich auf der anderen Seite der Insel. Man braucht zwei Stunden, bis man da ist, und meistens mehr als drei Stunden zurück – aus irgendeinem Grund ist der Rückweg nie so leicht zu finden wie der Hinweg, und außerdem sind sie abends immer erschöpft, zerschlagen und von Mücken zerstochen. Aber es lohnt sich trotzdem, im Wald zu spielen. Der Wald ist großartig. Der Strand ist allerdings auch nicht schlecht. Übermütig johlend und kreischend laufen sie in die Wellen, kühlen ihre Füße und ihre Gesichter. Mugen und Mukuro fangen an, ins Wasser zu treten und sich gegenseitig von Kopf bis Fuß nass zu spritzen. Koza zieht sich schnell vor dem Lärm zurück, stakst an Land und läuft durch den feinen Sand hinüber zu dem Boot, das halb verdeckt hinter einem großen Felsen liegt. „Es ist noch da!“, ruft sie den Jungen erleichtert zu, die ihr allerdings nicht zuhören, weil sie noch mit ihrer Wasserschlacht beschäftigt sind. Koza lächelt leicht und streicht über das raue, sichtlich alte Holz des Bootes. Sie liebt es, Boot zu fahren. Entschlossen geht sie einmal darum herum, stemmt die schmalen Hände gegen die Bordwand und drückt. Sie mag klein und mager sein, aber sie ist kräftiger, als man es ihr ansieht. Die Jungen sind ihres Spiels müde geworden kommen über den Sand auf sie zu. Mukuro tritt den Sand vor sich her. Mugen fährt mit beiden Händen durch seine nassen Haare und stellt sie hoch, sodass sie aussehen wie Hörner. Er grinst dämonisch und streckt die Zunge heraus, und Mukuro lacht lauthals. „Du bist ein richtiger Teufel, Scheißkerl!“ Koza sieht nicht auf, sondern schiebt weiter ächzend das Boot über den Sand. Mukuro und Mugen beruhigen sich ein wenig und helfen ihr. Sie stemmen die Füße in den Sand und drücken, so fest sie können. Wenig später gleitet das Boot ins Wasser. „Alle Mann an Bord!“, ruft Mukuro und schwingt sich über die Bordwand, so schnell, dass das Boot bedenklich schaukelt. Mugen springt hinterher und streckt Koza die Hand hin. Sie greift danach und lässt sich helfen, obwohl sie eigentlich allein ins Boot kann. Aber sie mag es, Mugens Hand zu halten. „Wir stoßen ab!“, sagt Mukuro und greift nach dem Paddel, das unten in dem Boot liegt. Eifrig taucht er es ins Wasser und beginnt, zu paddeln. Mugen sitzt am anderen Ende des Bootes und sieht hinaus aufs Meer. Er sieht fast aus, als würde er hinter dem Meer etwas suchen, denkt Koza. Sie mag es, Mugen anzusehen. Noch immer tropft ein wenig Wasser aus seiner wilden schwarzen Mähne. Die bläuliche Perle, die als Ohrring an seinem Ohr baumelt, glänzt nass. Er hat ihr einmal erzählt, er hätte sie beim Tauchen auf dem Grund des Meeres gefunden, erinnert sich Koza. Aber Mukuro hat gesagt, er hätte sie wahrscheinlich gestohlen. „Hey, Scheißkerl! Hilfst du vielleicht auch mal?“ Mugen schüttelt den Kopf, als müsste er die Gedanken aus seinem Kopf bekommen, bückt sich um und greift nach dem zweiten Paddel. Sie kreuzen eine Weile lang auf dem Meer herum, immer in Sichtweite der Küste, bis Mukuro und Mugen keine Lust mehr haben, zu paddeln. Danach liegen sie in der langsam sinkenden Sonne und sehen hinauf in den Himmel. „Später mal“, sagt Mukuro träge, „fahren wir weiter raus. Dann überfallen wir reiche Schiffe und nehmen uns, was uns gehört.“ „Was gehört uns denn?“, fragt Koza unsicher. „Das Meer“, antwortet Mukuro. „Dieses Meer ist unseres. Alles, was darauf fährt, gehört uns.“ „Obwohl das Shogunat das anders sieht“, wirft Mugen spöttisch ein. „Pah! Wen interessiert es denn, was das Shogunat sagt?“ Koza möchte nicht sagen, dass es sie interessiert, weil zum Shogunat Männer mit Schwertern gehören, die ihr Angst machen. Mukuro lacht sie aus, wenn sie Angst hat. Mugen lacht meistens nicht, aber er sagt auch nichts dazu. Dass er nicht lacht, liegt eigentlich daran, dass er das fast nie tut. Mugen kann grinsen, die ganze Zeit, aber nicht lachen. Wenn er es doch mal tut, dann immer über Dinge, die überhaupt nicht zum Lachen sind. Manchmal macht das Koza traurig. „Eines Tages“, sagt Mukuro verträumt, streckt die Hand nach oben aus, als wollte er nach der Sonne greifen, und ballt sie triumphierend zur Faust. „Eines Tages bin ich Kapitän von einem großen Schiff.“ „Du willst Kapitän werden?“, fragt Mugen. „Ja. Warum nicht?“ „Mit dir als Kapitän würde ich nicht fahren wollen. Wir sind schon wieder meilenweit vom Kurs abgekommen, Drecksack.“ „Du hättest ja auch gegensteuern können, Scheißkerl!“ Mugen schnaubt, setzt sich auf und greift wieder nach dem Paddel. Koza sieht hinauf in den Himmel, betrachtet die schon tief stehende Sonne und reißt plötzlich die Augen auf. „Die Fische!“ „Welche Fische?“, fragt Mugen überrascht und lugt hinunter ins Wasser. „Die fürs Abendessen!“, sagt Koza erschrocken und setzt sich so hastig auf, dass das Boot schwankt. Mukuro greift nach ihrem Arm. „Was ist damit? Wir fahren zum alten Fischer, du holst sie, wir bringen sie zu Mutter. Ist doch nichts dabei.“ Koza atmet tief durch und nickt. „Also gut. Fahren wir?“ „Verlass dich auf mich“, erwidert Mugen selbstbewusst und stößt das Paddel ins Wasser. „Ich bin ein besserer Navigator als dein Drecksack von Bruder.“ „Ach ja?“ Mukuro setzt sich ebenfalls auf. „Sei froh, dass ein Wettpaddeln nicht funktioniert, wenn man im selben Boot sitzt.“ Aber es ist gut, dass sie im selben Boot sitzen, denkt Koza. Wenn es nicht so wäre, würde es keine zwei Tage dauern, bis Mugen und Mukuro sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten. Mit einem Knirschen läuft das Boot auf den Strand auf. Koza springt zuerst an Land. „Ich gehe rauf zum Fischer und sage ihm, dass Mutter die Fische braucht. Ihr wartet besser hier. Er kann euch nicht leiden.“ „Kein Wunder“, sagt Mugen grinsend und springt ins Wasser, damit es möglichst weit spritzt. „Er hat uns im Verdacht, letzten Monat die Hälfte von seinen Fischen geklaut zu haben.“ „Selbst Schuld, wenn er sie im Räucherofen hängen lässt und sich aufs Ohr legt“, fügt Mukuro hinzu. „Eben. Und die Fische waren wirklich ausgezeichnet!“ „Die meisten haben wir gar nicht geschafft. Wir mussten sie im Wald verscharren.“ „Besser, als sie ihm zurückzubringen, oder?“ „Es ist furchtbar, gutes Essen wegzuwerfen“, sagt Koza unglücklich. „Essen konnten wir sie nicht alle“, erwidert Mukuro. „Noch ein Bissen, und ich wäre geplatzt!“ „Ich nicht“, widerspricht Mugen. „Wenn ich noch eine halbe Stunde Zeit zum Verdauen gehabt hätte...“ „Das sagst du jetzt. Damals klang das anders.“ „Jedenfalls...“, sagt Koza und wendet sich zum Gehen. „Wartet ihr hier?“ Sie nicken. Es beginnt schon zu dämmern, und das ist keine Zeit, in der man allein durch das Dorf laufen sollte. Je mehr sie sind, desto besser. Während Koza weg ist, schlagen Mugen und Mukuro sich einige Schritte in ein kleines Wäldchen in der Nähe, bis sie zwei geeignete gerade Stöcke finden und beginnen, zu fechten. Es ist schwierig, beinahe unmöglich, weil sie ständig Bäumen und Unebenheiten im Boden ausweichen müssen und die Stöcke nicht die besten Waffen sind, aber gerade das macht das Spiel so lustig. Und da sie noch keine richtigen Waffen haben, aber trotzdem werden kämpfen müssen, womöglich früher, als es ihnen lieb ist, ist dieses Spiel sehr nützlich für ihre Zukunft. Sagt Mukuro. Mugen sagt immer, ihm ist die Zukunft völlig egal, er will einfach seinen Spaß. Nach ein paar Minuten sind sie völlig verschwitzt und noch mehr von blauen Flecken und Mückenstichen übersät als vorher. „Scheißviecher“, flucht Mugen, schlägt auf seinen Arm und wischt das zerquetschte Insekt triumphierend ab. „Erwischt! Eins weniger.“ „Wir sollten zum Boot gehen und auf Koza warten“, sagt Mukuro. „Die dürfte doch langsam mit den Fischen zurück sein.“ „Wo ist denn das Boot?“ Sie sehen sich um, den Strand entlang. Nirgendwo ist ein Boot zu sehen. „Wahrscheinlich ein Stück da runter“, sagt Mukuro und deutet nach rechts. „Es wird ja auch schon dunkel. Wahrscheinlich sieht man es nicht auf die Entfernung.“ Also machen sie sich auf den Weg, den heißen Sand unter ihren Füßen und die abkühlende Luft auf ihrer Haut. Mugen schlägt nach Mücken. Mukuro spuckt von Zeit zu Zeit ins Wasser. Kein Boot kommt in Sicht. Dafür erreichen sie nach einer Weile einen Felsen, auf dem Koza sitzt. An Schnüren, die sie in den Händen hält, hängen zwei Fische und eine mickrige Entschuldigung für einen Fisch. Haken aus Draht ragen aus ihren Köpfen. „Wo ist das Boot?“, fragt Koza ängstlich. Sie laufen die Straße entlang. Alle drei haben eine unglaubliche Wut im Bauch, aber bei jedem äußert sie sich anders. Koza hält mit zitternden Fingern die Fische fest und kaut auf ihrer Lippe herum. Mukuro tritt gegen jeden kleinen Stein, der auf der Straße liegt, und manchmal tritt er auch, wenn kein Stein da ist. Mugen sagt nichts, aber seine Augen sind schmal und funkeln gefährlich. „Hey“, spricht sie ein Mann an, der zusammen mit drei anderen vor einer Hütte sitzt und Karten spielt. „Was ist euch denn passiert?“ „Geht dich nichts an!“, blafft Mukuro ihn an und ballt die Fäuste. Der Mann zieht die Augenbrauen hoch. „Na na na. Immer langsam mit den jungen Pferden.“ Vielleicht sind es ein paar von den neuen Männern, denkt Mugen. Er hat sie hier zumindest noch nie gesehen. „Lasst uns gehen“, sagt Koza leise, aber Mukuro hört sie überhaupt nicht. Er muss seine Wut an irgendetwas auslassen – so weit versteht Mugen ihn. Aber muss er sich dafür ausgerechnet vier erwachsene und offenbar selbst schlecht gelaunte Männer aussuchen? „Gehen wir, Drecksack“, zischt er und greift nach Mukuros Arm. Unerwartet heftig macht Mukuro sich los und schreit ihn an. „Fass mich nicht an!“ Er schubst Mugen vor die Brust, der das Gleichgewicht verliert und auf der Straße landet. Zwei der Männer stehen auf. „Nun mal langsam“, sagt der eine. „Was ist das?“, fragt der andere und deutet auf Kozas Fische, die sie erschrocken an sich drückt. „Lasst uns in Ruhe!“, sagt sie ziemlich elend, aber im nächsten Moment wird sie wieder abgelenkt, weil Mugen und Mukuro begonnen haben, sich zu prügeln. Besser so, denkt Mugen, als wenn Mukuro sich mit den vier Kerlen dort anlegt. Es ist besser so. Er hört ein Kreischen von Koza aus dem Hintergrund, dreht den Kopf und kassiert prompt einen Kinnhaken von Mukuro. Durch die Lichter, die vor seinen Augen tanzen, sieht er, dass jetzt einer der Männer die Fische festhält. Er hält sie so hoch, dass Koza, die auf den Zehenspitzen steht und verzweifelt die Arme nach oben streckt, nicht herankommt. „Die zwei sehen gut aus“, sagt er anerkennend und stupst gegen den verkümmerten dritten Fisch. „Aber was zum Teufel soll das da sein?“ „Gebt uns sofort...“, beginnt Mugen wütend und schüttelt Mukuro ab, der endlich ebenfalls begriffen hat, was vor sich geht. Bevor er aufstehen kann, hat einer der Männer ohne Fische ein Messer gezogen. „Ihr haut besser ab“, sagt er humorlos. „Oder ich werde ungemütlich.“ Koza fängt laut an zu heulen. Mugen starrt das Messer an, starrt Mukuro an und entscheidet. „Verdammte Mistkerle!“, brüllt er, dreht sich um und rennt die Straße hinunter. Die kleinen Steine bohren sich in seine Fußsohlen. Hinter sich hört er die Schritte von Mukuro, der Koza am Arm hinter sich her zieht. „Danke für die Fische!“, ruft einer der Männer ihnen nach. „Das verschrumpelte Ding hier könnt ihr behalten. Man ist ja kein Unmensch!“ Etwas landet auf der Straße. Koza bremst ab, reißt sich von Mukuro los und rennt zurück. „Koza! Bleib sofort...“ Sie hebt etwas vom Boden auf, schluchzt auf und kommt wieder zurück gerannt, so schnell sie kann. Ihr Gesicht ist nass vor Tränen und ihre Nase läuft. In der Hand hält sie den kleinsten Fisch. Er ist winzig und vertrocknet, die Schuppen an einer Seite aufgerissen vom Aufprall auf der Straße, das Maul seltsam zerfetzt, als der Haken heraus gerissen wurde. Und Koza hält ihn in der Faust und drückt ihn so fest, dass Mugen fürchtet, er könnte platzen. Sie will ihn auf keinen Fall noch verlieren. „Gehen wir“, sagt Mukuro grimmig, der eine frische blutige Nase hat, und greift nach ihrer freien Hand. „Gehen wir nach Hause.“ Mutter schreit. Zum Glück ist wenigstens Vater nicht mehr da, aber Mutter regt sich auch so genug auf. So schwer kann es ja wohl nicht sein, drei dumme Fische vom Fischer nach Hause zu bringen! Wie konnte Koza sie verlieren? Und was zum Teufel ist das für ein Fisch? Sie hätte einen größeren als diesen vom alten Fischer verlangen sollen, nicht so ein mickriges Ding. Was ist das, eine Kaulquappe? Und dann auch noch so zerfetzt! Was haben die Kinder damit gemacht, Ball gespielt vielleicht? Steckt wieder dieser verdammte Mugen dahinter? Aber nein, ihre eigene Brut ist ja auch nicht besser als dieser Herumtreiber. Womit hat sie das nur verdient? Koza bekommt Angst und klettert die Strickleiter zum Bett hinauf, so schnell sie kann. Beinahe rutscht sie ab und fällt, aber sie schafft es, hinauf zu klettern, sich unter der Decke zu verkriechen und sich die Ohren zuzuhalten. Mukuro bleibt unten, denn ihm ist es egal, wenn er Prügel bekommt, er hat heute schon genug davon gehabt. Mugen hat sich längst aus dem Staub gemacht. Er hat schon begriffen, dass es hier heute kein Abendessen für ihn gibt. „Scheißkerl“, murmelt Mukuro später, als er neben Koza im Bett liegt. Sie hat sich in den Schlaf geweint und liegt jetzt still neben ihm. Er hat Hunger, seine Nase blutet schon wieder und seine blauen Flecken schmerzen. Er sieht durch das kleine Fenster in den Himmel und überlegt, wo Mugen jetzt ist. Dieser Scheißkerl. Vielleicht schläft er wieder im Wald, in irgendeiner Höhle oder Hütte. Mugen kennt seine Schlupfwinkel. Manchmal verspottet Mukuro ihn, weil er keine Eltern hat, anders als Koza und er, die wenigstens Mutter haben. Aber manchmal wäre es ihm lieber, wenn er wie Mugen wäre. Natürlich würde er das niemals ihm gegenüber zugeben. Mukuro dreht sich auf die andere Seite, ohne Koza zu wecken, und sieht hinunter in die Hütte. Mutter liegt auf ihrer Matratze und schnarcht leise. Eines Tages wird er es nicht mehr aushalten, denkt Mukuro und tastet nach einem Bluterguss an seiner Schulter. Einer mehr als nötig. Böse Männer gibt es immer, dagegen kann man nichts machen, aber wenigstens Mutter könnte doch ein bisschen weniger böse sein. Irgendwann ist das Maß voll, denkt Mukuro. Eines Tages wird er aufhören, einfach nur auszuhalten, und zurückschlagen. „Eines Tages“, murmelt er in die Hütte hinein. Es ist ein Versprechen. Die Dunkelheit ist nicht vollständig dunkel, wenn die Augen sich erst einmal daran gewöhnt haben. Mugen schlägt mit seinem Stock auf den Baum ein, wieder und wieder, aus dieser Richtung und aus der anderen, bis er mit dem Fuß an einer Wurzel hängen bleibt und der Länge nach hinschlägt. Frustriert rappelt er sich auf und wirft den Stock weg. Der Baum ist ohnehin kein würdiger Gegner für ihn, er braucht Mukuro. Diesen Drecksack. Am Himmel über ihm stehen zahllose Sterne. Er läuft aus dem Wäldchen hinaus zum Strand und lässt sich dort in den Sand fallen. Er ist immer noch warm. Über ihm funkeln die Sterne, aber weit hinten, am Horizont über dem dunklen Wasser, leuchtet etwas anderes. Etwas ist da, denkt Mugen. Ein anderes Land, das besser ist als dieses hier, denn kein Land der Welt kann schlimmer sein als dieses hier. Und eines Tages wird er dieses andere Land für sich erobern. Ein breites Grinsen zieht über sein Gesicht. „Eines Tages“, sagt er leise zu sich selbst. „Ganz bestimmt.“ Dann gähnt er herzhaft, dehnt ächzend die Arme über dem Kopf, lässt sich in den Sand zurück fallen und schließt die Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)