Teilchenbeschleuniger von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 5: Bewegungsenergie --------------------------- Und hier ist es schon: das letzte Kapitel von Teilchenbeschnleuniger! Dies ist mein Lieblingskapitel und es ist auch etwas länger geworden als die anderen 4. Ich hoffe, es gefällt Euch und beantwortet Eure Fragen - falls nicht, dann schreibt mir und fragt nach ;) Ach ja, ich möchte dieses Kapitel gern widmen, weil sie mich immer wieder mit ihrer entzückenden Begeisterung glücklich gemacht hat! Ich danke Euch allen für Eure Favos und Eure Kommentare, wir lesen uns hoffentlich bald wieder y ={21x + ¼Z} - ℮ ≤ 56c + 44% ≠ 0 ≥ ½ Ω ≈ ¾ E = mx + √6β - 4² + α = ∞ Mein Unterkiefer sackte mir auf die Brust. „Was?!“ „Bitte sei nicht böse!“, flehte er und fixierte mich verzweifelt über seine aneinander gelegten Handflächen, „Ich meine, ich könnte das verstehen, aber bitte lass mich erklären.“ Ich dachte gar nicht daran. „Du?“, stieß ich entsetzt hervor, ohne auf seine Bitte zu achten, „Du willst mich wohl verarschen?!“ „Nein, es stimmt! Beruhige dich. Okay? Ich erklär’s dir!“ Ich wollte nix hören, ich wollte es nicht wissen. Hinter meiner Stirn fand ein kleiner Weltuntergang statt. Benommen starrte ich den Kellner, diesen jungen Mann vor mir an, den ich das 1. Mal wirklich zu sehen schien. Dieser Junge, den ich kaum kannte, hatte meine 18monatige Beziehung zerstört. Und er gab es einfach zu – sogar ohne direkte Frage, beharrte geradezu darauf. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, aber da überfiel er mich wieder, der gerechte Zorn. Ich sah rot, sah schwarz, sah alle Farben des Regenbogens. „Ich will’s nicht hören!“, blaffte ich den heuchlerischen Mistkerl an, „Wie zum Teufel kommst du dazu, meine Beziehung kaputt zu machen?! Das geht dich verdammt nochmal überhaupt nix an!“ Köpfe flogen herum und glotzten uns an. Zum 2. Mal an diesem Tag sprang ich wutschnaubend auf die Füße. „Das muss ich mir echt nicht geben! Das war garantiert das letzte Mal, dass ich in diesem Scheißladen war!“ Ich packte meine Tasche, warf dem überrumpelten Kellner einen letzten, zornerfüllten Blick zu und schoss aus meinem Lieblingscafé, dem ich momentan grauenvolle Rachegefühle entgegen brachte. Am liebsten hätte ich es angezündet. Bei meinem Fahrrad angekommen, fisselte ich den Schlüssel aus meiner Tasche und ließ ihn fallen. Ich fluchte und bückte mich, um ihn aufzuheben. Mein Herz trommelte vor Zorn und Verwirrung. Ich konnte es nicht fassen, konnte diesen verfluchten Tag nicht fassen. Das konnte doch alles nicht wahr sein, das war zu viel für mich! Erst die Sache mit Florian und dann auch noch das hier. Und wieso? Wieso? Wieso hatte Florian mich betrogen? Und wieso zerstörte dieser Wicht meine Beziehung? Wieso hatte er das getan? Wieso mischte er sich ein? Wie war er an meine Tasche gekommen und wer war er überhaupt? Was bildete er sich eigentlich ein? Ich rammte den Schlüssel in mein Fahrradschloss und stieg gerade auf, als die Tür zum Teilchen & Beschleuniger mit einem Klingeling aufflog und besagten Wicht auf den Fußweg spuckte. Mit 4 Schritten war er an meinem Fahrrad, ergriff den Lenker und funkelte mich an. „Oh nein!“, fauchte er, bevor ich ihn beleidigen konnte, „Du wirst jetzt nicht einfach abhauen, du hörst dir jetzt verdammt nochmal meine Erklärung an!“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Pah! Du kannst mich mal! Lass gefälligst mein Rad los!“ „Das hättest du wohl gern, so leicht lass ich mich nicht abfertigen! Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe!“ „Wie bitte? Durchgemacht?! Lass los oder–,“ „Oder was?! Willst du mich schlagen?“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus und Herausforderung. Seine Augen schleuderten Blitze. Ich wollte ihn tatsächlich schlagen, diesen Mistkäfer. Aber ich tat es nicht, natürlich nicht. Ich hatte noch nie irgendjemanden oder irgendetwas geschlagen. Dafür fehlte mir ein gehöriges Maß an Brutalität. Also schnaubte ich nur und wandte grollend den Blick ab. Einige Sekunden lang atmeten wir nur. Am Himmel kreiste eine Schar Vögel, um uns herum schlenderten nichtsahnende Passanten und auf der Straße rauschten die Autos vorbei. „Hör zu…,“ begann er nach einer Weile mit ruhiger Stimme von Neuem, „Ich kann verstehen, dass du wütend bist, ehrlich. Aber bittebitte lass mich erklären. Das bist du mir schuldig.“ „Schuldig?“, knurrte ich. „Ja, allerdings. Schließlich hab ich dir die Wahrheit über deine verkorkste Beziehung gezeigt. Ich habe dich gerettet!“ „Gerettet?!“, höhnte ich voller Abscheu und ein vorbeiflanierendes Mädchen beäugte uns erstaunt, „Das ist allein mein Bier, verstanden?! Du kannst doch nicht einf–,“ „Mein Gott!“, unterbrach er mich hitzig, „Du bist wirklich ein Vollidiot, weißt du das?! Du kannst doch nicht allen Ernstes darüber enttäuscht sein, dass du jetzt endlich die Wahrheit kennst. Dein Freund hat dich betrogen! Ständig!“ Ich schnappte nach Luft. „Danke, dass du’s mir nochmal unter die Nase reibst, ich hatte es fast vergessen! Ja, ich kenne jetzt die Wahrheit. Toll, soll ich mich jetzt freuen? Dir dafür danken, dass du’s mir gezeigt hast? Du hattest kein Recht dazu, verdammt! Ich hätte es selbst rausfinden müssen!“ „Aber das hättest du nicht! Du hättest es nicht rausgefunden. Du hast es mir selbst gesagt: Deine Freunde haben dich 100mal darauf hingewiesen, aber du wolltest nicht zuhören. Sie haben aufgegeben, dich überzeugen zu wollen, weil du es einfach nicht wissen wolltest. Du hast nix geahnt und du hättest auch nie was geahnt. Du weißt, dass es stimmt.“ Das wusste ich in der Tat. Ich wusste es und das tat weh. Dummer, blinder, naiver Hornochse. Dort stand ich über meinem Fahrrad, die Hände am Lenker, gezeichnet als Vollidiot, und beschimpfte jemanden, der eigentlich gar nichts dafür konnte. Jemanden, der mir – objektiv gesehen – geholfen hatte. Doch noch konnte ich mich nicht freuen. Noch konnte ich nicht dankbar sein. Die Wunde war noch zu frisch. Erneut verschwand der Zorn so schnell wie er gekommen war. Kraftlos und bekümmert sackte ich auf meinem Fahrradsattel zusammen. Senkte den Kopf und schloss die Augen. Mein Florian hatte mich betrogen. Die ganze Zeit. Und ich hatte nichts bemerkt. „Tut mir Leid…,“ flüsterte ich, „…dass ich dich angebrüllt habe…,“ „Ist schon okay…,“ antwortete der Kellner leise, „Ich hätte mich an deiner Stelle auch angebrüllt. Lass uns wieder reingehen, ja? Ich mach dir noch nen Kaffee gratis und dann erklär ich dir alles. Alles, alles, alles. In Ordnung?“ Ich nickte. Langsam und träge wie eine Schildkröte stieg ich vom Fahrrad, schloss es wieder ab und folgte dem Kellner ins Teilchen & Beschleuniger. Ich ließ mich zurück in den Sessel plumpsen und trauerte still vor mich hin, während er mir einen Cappuccino machte. Nachdem er zurück war und erneut gegenüber Platz genommen hatte, betrachteten wir einander schweigend. Das 1. Mal fiel mir mehr an ihm auf, als sein dunkelbraunes Haar. Nun bemerkte ich, dass er hellblaue Augen hatte, ein rundes Gesicht, eine Stupsnase und einen kleinen, niedlich geschwungenen Mund, schwarze Augenbrauen, ein Grübchen im Kinn. Mir wurde klar, dass ich ihn das 1. Mal tatsächlich bemerkte. Ich hatte nie wirklich auf ihn geachtet. Obwohl ich nun schon fast 3 Jahre lang ins Teilchen & Beschleuniger kam. Ich hatte immer nur Augen für Florian gehabt. Er war lediglich »der Kellner« gewesen. Er lächelte unter meinem forschenden Blick und schlug die Augen nieder. „Starr mich bitte nicht so an…,“ Ich zog die Augenbrauen hoch. „Auf einmal so verlegen?“, spottete ich mit einem neuerlichen Anflug von Missmut, „Wolltest du mir nicht alles erklären?“ Er nickte und musterte seine Hände. „Ja, ich…ich weiß nur nicht genau, wo ich anfangen soll…,“ „Wie wäre es mit dem Grund für alles?“, fragte ich angesäuert und schüttete energisch Zucker auf die Milchschaumhaube meines 2., unbezahlten Cappuccino dieses Tages, „Der Grund, wieso du es für nötig hieltst, dich in meine Beziehung einzumischen. Betrug hin oder her.“ Als er nicht gleich antwortete, hob ich den Blick und stellte fest, dass er meinen ungesund hohen Zuckerkonsum belächelte. Allerdings nicht verächtlich, sondern eher…? „Der Grund sollte dir inzwischen völlig klar sein…,“ sagte er sachte. Ich blinzelte. „Äh… Nein. Nein, der ist mir nicht klar, fürchte ich.“ Er grinste schief. „Entschuldige. Ich hatte vergessen, dass du blind und blöd bist.“ „Haha. Jetzt sag schon.“ Er seufzte. „Es ist wirklich ganz einfach,“ erklärte er nüchtern, „Ich bin in dich verliebt.“ Tja. Das erklärte tatsächlich alles. Trotzdem erwischte er mich kalt. Vollkommen überrascht riss ich Augen und Mund auf. Ich war absolut sprachlos. Das war endgültig zu viel für mich. Mein Kopf schaltete ein paar Sekunden in den Leerlauf, bis ich meinen Körper wieder spüren konnte und mein Herz aufgehört hatte, SOS zu morsen. „Was?!“, machte ich erneut, „W… I… D…Das kann unmöglich dein Ernst sein…!“ „Doch,“ erwiderte er ruhig, als würden wir über das Wetter sprechen, „Das ist sogar mein voller Ernst.“ Ich verstand nur Bahnhof. In meinem Hirn ging alles durcheinander: Wie? Was? Wo? Verliebt? Bitte?! Ich beäugte ihn wie etwas, das sich spontan aus der Luft vor mir materialisiert hatte. Ich versuchte zu sprechen und brauchte ungefähr 9 Anläufe. „D… A… Aber… Aber du…du kennst mich doch gar nicht…,“ Er grinste. Das machte mich verrückt. Aber was er dann sagte, war der Gipfel. „Dein Name ist Jonas Warbende. Du bist am 16. Juni 24 geworden. Du studierst im 6. Semester Mathe und Physik auf Lehramt. Eigentlich wolltest du kein Lehrer werden, aber dann hast du ein paar Tutorien geleitet und festgestellt, wie viel Spaß dir das Unterrichten macht. Du wohnst seit Studienbeginn in einer 3er-WG, in der du dich sehr wohl fühlst, obwohl es andauernd chaotisch ist. Du benutzt Number One von Hugo Boss. Deine Schuhgröße ist 45/46. Du nimmst immer einen Haufen Zucker in deinen Kaffee. Deine liebste fritz-kola ist Apfel-Kirsch-Holunder, dein Lieblingsbagel ist Henrikas Bagel. Du bist gegen Fisch allergisch, weswegen du nur den Bagel mit Lachs nie ausprobiert hast.“ Er holte Luft und ich schloss währenddessen meinen offenen Mund, nur um ihn einen Moment später wieder aufzuklappen. „Deine Eltern haben sich scheiden lassen als du 8 warst. Erst hast du bei deinem Vater gelebt, bist mit 15 aber zu deiner Mutter gezogen, weil dein Vater ein Problem mit deiner Homosexualität hat. Deshalb hast du zu ihm auch nur noch wenig Kontakt, was du traurig findest. Du bist Einzelkind, obwohl du dir immer kleine Geschwister gewünscht hast. Du hattest in deinem Leben nur ein einziges Haustier, ein Meerschweinchen namens Polly Pocket. Du lachst nicht über frauenfeindliche Witze, deine Lieblingsfarbe ist blau. Du magst The Killers, Kings of Leon und 30 Seconds to Mars. Aber wenn du dich unbeobachtet fühlst, dann summst du manchmal Schlager.“ Er lächelte unschuldig. „Soll ich weitermachen?“ Das war wohl eine rhetorische Frage, denn er lehnte sich zurück und schien keine Antwort zu erwarten. Er hätte auch keine bekommen, da ich für mehrere Augenblicke das Bewusstsein verloren hatte. Als ich wieder zu mir kam, war mir schwindelig vor Empörung. „Sag mal, hast du sie noch alle?!“, schnappte ich, „Hast du mir etwa nachspioniert?“ Er nickte ergeben und vielleicht auch ein bisschen zerknirscht. „Ja. Schon. Jeden Tag hab ich dein Profil bei Facebook angesehen. Dienstags und donnerstags hab ich die Gespräche mit deinen Freunden belauscht. Ich hab jedes Details deines Lebens, an das ich heran kommen konnte, gespeichert.“ „Oh Gott…,“ ich war entgeistert, „Ich… Ich hab einen Stalker…,“ Er lachte schuldbewusst und steckte sich ein paar Finger in den Mund. „Aber ich verspreche dir, ich bin harmlos. Nicht so, wie die Irren im Fernsehen. Ich würde dir nie Säure ins Gesicht schütten oder dich entführen und einkerkern oder so.“ „Das wäre ja auch noch schöner!“ „Ich weiß noch mehr über dich. Willst du’s wissen?“ „Nein.“ Erschöpft und überfordert massierte ich meine Schläfen und versuchte zu denken: Ich hatte vorhin mit meinem Freund Schluss gemacht, weil er mich betrogen hatte. Soeben hatte ich erfahren, dass ich einen Stalker hatte, der über kurz und lang für meine Trennung verantwortlich war. Ich brauchte dringend eine Pause. Also nahm ich einen Schluck Kaffee. „Sag es mir.“ „Was?“ „Was du noch über mich weißt.“ Er lächelte weich. „In einer Beziehung geht dir Treue und Vertrauen über alles. Wenn du liebst, dann liebst du ohne Vorbehalte. Du würdest deinen Freund nie belügen oder betrügen. Du würdest ihn nie grundlos verdächtigen, lieber legst du dich mit deinen Freunden oder wahlweise der ganzen Welt an. Du…bist der netteste Mensch, den ich jemals getroffen habe. Und ich habe mich fast sofort nach unserer 1. Begegnung in dich verliebt.“ Ich schloss die Augen. Nervenkollaps. „Oh mein Gott…,“ „Tut mir Leid. Also, dass das jetzt alles auf einmal kommt. Ich hatte mir unsere Aussprache auch anders vorgestellt. Aber…,“ er seufzte und strahlte mich so hell an, dass es mich beinahe blendete, „…du hast keine Ahnung, wie wundervoll ich es finde, dir endlich einmal so gegenüber zu sitzen und direkt mit dir zu sprechen. Nicht nur Smalltalk zwischen Kellner und Gast. Sondern…so richtig. Ich hab so lange von diesem Tag geträumt.“ Ich konnte es nicht glauben. Diese Situation, dieser Junge, diese Art, mit der er über mich sprach und mit der er mich ansah. All den privaten Kram, den er über mich wusste. Das war alles so schräg, so unmöglich. Und er schien es tatsächlich ernst zu meinen. Das…fand ich unheimlich und beängstigend. Und trotzdem. Nach all den Heimlichkeiten, all den Lügen, erfrischte mich seine Ehrlichkeit wie ein Sommersturm. Ich blickte ihn an, meinen Stalker. Er beobachtete mich und wirkte atemlos, aber glücklich. Atemlos glücklich. Nicht zu fassen. Ich brauchte mehr Kaffee. „Erzähl es mir.“ „Was?“ „Alles. Wann, wo, wie und wieso. Erzähl mir von heute. Und von unserer 1. Begegnung. Und von allem, was dazwischen kam.“ Er lächelte und nickte, holte tief Luft und begann. „Also…,“ Unsere 1. Begegnung war am 8. Oktober, vor nun mehr 2 ½ Jahren. Ich trug einen blauen Pullover und lächelte breit, als ich bestellte. Ich gab ihm 90 Cent Trinkgeld. Er erzählte mir von zahllosen Tagen, die vorbei zogen. Von Herzrasen und weichen Knien, von zitternden Händen, alberner Aufregung, versauten Bagels. Von den verzweifelten Versuchen, etwas Kluges und Witziges zu sagen. Von dem fehlenden Mut, mich anzusprechen. Auftritt Florian. Entsetzen, zerstörte Träume, Eifersucht und Wut. Der 17. März. Die Navigation-Party im GoGo. Florian knutscht auf der Tanzfläche mit einem anderen Kerl. Sind sie wieder auseinander? Oh, bittebitte, mach, dass sie wieder auseinander sind. Die Toilette, Gewissheit muss her: Sag mal, seid du und Jonas wieder auseinander? Nö, wieso? Weil du da mit nem anderen rummachst. Florian erkennt sofort, was Sache ist. Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß. Und wage es ja nicht, mich bei ihm anzuschwärzen. Sonst reiß ich dir den Arsch auf, hast du kapiert?! Halte dich von Jonas fern! Mein Stalker machte eine kurze Erzählpause und ich schluckte trocken. Ich konnte es richtig vor mir sehen. Wie Florian in der versifften Toilette vom GoGo auf ihn zuging, mit funkensprühendem Blick. Wie er sich vor ihm aufbaute und ihm drohte. Mein…Ex-Freund konnte sehr bissig werden, wenn er wollte. Und, Scheiße, der andere Kerl. Nicht der einzige, nicht der 1. und nicht der letzte. Mein Gott, was war ich nur für ein Trottel gewesen. Er fuhr fort. Und ließ die vergangenen Monate aus einem anderen Blickwinkel vor meinem inneren Auge wieder auferstehen. Böse und traurig. Kein Mut für reinen Wein. Kein Rückgrat. Immer wieder andere Männer an Florians Seite. Komm schon, es ist doch so offensichtlich! Bemerk es endlich, bitte, bemerk es endlich! Doch Jonas, der dumme, blinde, naive Hornochse, schwebt auf Wolke 7 und schöpft nicht den geringsten Verdacht. Ich werde ihn vergessen, ich werde ihn vergessen, ich werde ihn vergessen! Ablenkung muss her. Es gibt doch so viele andere Männer, such dir einfach einen aus. Aber dann… Dein Gesicht, mein Gesicht. Immer wieder, unauslöschbar. Keine Chance. Freunde schütteln den Kopf, tun ihr Bestes, doch nichts funktioniert. Fast 3 Jahre lang. 2 Jahre, 9 Monate, 1 Woche und 5 Tage, um genau zu sein. Mein Stalker fauchte und es klang wie ein trauriges, in die Enge getriebenes Kätzchen. „Ich war am Ende. Ich war sooo wütend. Auf mich und dich und – oh Gott! – auf ihn. Da hatte er den besten Mann der Welt und betrog ihn mit irgendwelchen Typen, die selbst für ihn bedeutungslos waren. 1 Jahr, 4 Monate und 3 Tage hab ich nichts unternommen. Aber heute…hatte ich genug. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Wie er sich an dich gedrückt und dich vollgesülzt hat. Wie er mich angesehen hat, nachdem er erfahren hatte, dass ich dir den Cappuccino ausgegeben habe. Wie er dich abgeknutscht und mir dabei diese Blicke zugeworfen hat. Diese Blicke, die sagten: Schau her, Kellner. Er gehört mir und du hast keine Chance. Obwohl er doch derjenige war, der dich die ganze Zeit verarscht hat. Da hab ich es nicht mehr ausgehalten.“ Er seufzte schwer. „Also bin ich euch nachgefahren, nachdem ihr gegangen seid. Als du und deine Freundin Imke kurz weg wart, bin ich zu deiner Tasche hin. Yves und Lauritz standen mit dem Rücken zu mir und waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich absolut nicht bemerkt haben. Ich hab dein Federmäppchen raus geholt und den Zettel hinein getan. Dann bin ich wieder her gefahren.“ Er verfiel in Schweigen. Wir schauten einander an. In meinem leeren, stillen Kopf rollten ein paar Steppenhexen vorbei. Sogar die Namen meiner 3 engsten Freunde kannte er. Meinen Cappuccino hatte ich inzwischen ausgetrunken. Nur am Boden der Tasse leckte noch eine kleine, braune Pfütze. Und an den Rändern klebte getrockneter Milchschaum. „Boah…,“ machte ich irgendwann tonlos. Mein Kellner lächelte. „Tja. Jetzt weißt du alles.“ „Eher nicht. Ich weiß noch nicht mal deinen Namen.“ „Oh…,“ er errötete tatsächlich etwas, „Ich heiße Emilio.“ Entzückt über den sanften Rotschimmer auf seinen Wangen lächelte ich zurück. „Was für ein schöner Name.“ „Danke…,“ „Jonas?“ „Emilio?“ „Es gibt da noch was, was ich dir sagen muss.“ „Noch was? Ich glaub, mir platzt gleich der Schädel.“ „Ich bin verliebt in dich.“ Ich spürte, wie es mir Hitze ins Gesicht pustete. „N… Nein, so geht das nicht!“, protestierte ich verlegen, „Du kannst mir das nicht so einfach sagen. Du musst mich fragen, ob wir mal zusammen was machen wollen oder so.“ Er lachte belustigt. „Okay. Wollen wir mal was machen?“ „Nein! Ich… Ich bin doch noch keine 2 Stunden solo. Und ich…ich kenne dich noch längst nicht genug.“ „Das können wir doch ändern! Ich beantworte dir jede Frage, die du über mich hast. Auch die peinlichen. Du… Du könntest mir über Facebook schreiben und dann…können…wir uns einfach mal treffen und…dann lernst du mich kennen. Und wenn du dann feststellst, dass du mich doof findest, dann ist das okay. Denn dann liegt es an mir und nicht an jemandem, der…zwischen uns…steht…,“ Er verstummte und lief noch rosaroter an. Da fiel mir plötzlich auf, wie hübsch er eigentlich war. Dabei war ich noch keine 2 Stunden solo. Jonas, du ungezogener Bengel. „In Ordnung,“ antwortete ich und nickte, „In Ordnung.“ Der Rest ist Geschichte. Die Kurzform lautet so: Ich fuhr nach Hause und stellte fest, dass Yves, Imke und Lauritz mein lautloses Handy und meine verdatterte WG terrorisiert hatten. Jonas, wo bist du? Jetzt geh endlich ran! Oder schreib! Gehts dir gut? Ricky und Amelie sagen, dass du mit Florian Schluss gemacht hast und der jetzt Rotz und Wasser heult! Ist das wahr?! RUF AN! Ich rief sie an, sie fielen in mein Zimmer ein und wollten alles wissen. Alles, alles, alles. Ich erzählte es ihnen. Der Kellner? Nicht dein Ernst! Imke stalkte Emilio bei Facebook. Uhuhu, der ist aber süß! Wirst du ihm schreiben? Ich schrieb ihm. Und wenn ich jetzt, in diesem Moment, den Kopf drehe, kann ich ihn sehen. 7 Monate sind vergangen. Draußen ist kalter Winter. Hier drin nicht. Emilio sitzt ganz nah neben mir, auf seinem Bett, und zeichnet mich. Das macht er ständig. Meistens bin ich nackt auf seinen Bildern. Auch wenn ich eigentlich angezogen bin. Mein Laptop liegt auf meinen Knien. Im Hintergrund singt Cat Stevens. Und meine Tastatur klappert leise, während ich tippe. „Na? Bist du jetzt bald fertig?“ „So gut wie. Ich brauche nur noch einen zündenden Titel.“ „Nenn es Teilchenbeschleuniger.“ „Wieso ausgerechnet so?“ „Na, weil dort alles angefangen hat. Und weil ich die Teilchen mit meinem Zettel beschleunigt habe.“ „Aha. Du hältst dich wohl für den Protagonisten der Geschichte?“ „Klar. Ich bin der Held.“ Was soll ich dazu noch sagen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)