Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 25: Ein Angebot zum Anbeißen ------------------------------------ Boris Pfeiffer und El Silbador verfolgten die vier blinkenden Punkte gleichzeitig auf Bildschirm und Stadtplan. »Gut, erst mal haben sie jetzt mit dem Dark Knight eine kleine Strecke vor sich. Bis zur Semperoper sind’s schon ein paar Minuten, wir können uns also getrost was zum Frühstück machen.« Elsi folgte Pfeiffer, das ausgedruckte Kartenmaterial unter dem Arm. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, das MIU-Außenteam unter eine Schar Vogelstimmenfreunde zu schmuggeln. Es war Frau Schmitts Idee gewesen, weil es die zeitlich nächste Gelegenheit darstellte; die verschiedenen überwinternden Vögel begannen ihr Lied bereits vor der Morgendämmerung. Aber würden Fritz, Ingo, Basti und Marco in einer Gruppe aus wissbegierigen Biologie-Studenten und interessierten Rentnern nicht auffallen? Nun, vermutlich würde der Professor, der die Exkursion durch den Park leitete, sich eher freuen, auch offensichtliche Laien unter den Teilnehmern zu entdecken. In der Küche hatten auch einige andere schon versucht, ein bisschen zu frühstücken, aber die angespannte Lage verdarb offensichtlich nicht nur den Vampiren gründlich den Appetit. In einem kargen Zimmer, in das man vom Flur aus durch ein kleines verglastes Fenster schauen konnte, schlief Klaus Buschfeldt seinen Vampirgift-Rausch aus. Abwechselnd postierten sich Falk, Lasterbalk und Sugar Ray vor der schweren Luftschutztür, um sich ständig zu vergewissern, dass es ihm gut ging. El Silbador wartete gerade darauf, dass sein Tee durchzog, als sich am Laptop, der neben ihm auf dem Tisch inmitten von Brotkrümeln stand, erneut das Signal einer eingehenden Nachricht vernehmen ließ. »Ich gehe mal ran«, sagte er, als er sah, dass Boris sowieso kaute, und adjustierte das Headset. »Hier Adler Eins!« »Guten Morgen, kleiner Elsi!«, sang eine vergnügte Stimme am anderen Ende, die der junge Mann zunächst nicht zuordnen konnte. »Wie geht es uns im sonnigen Dresden?« »Ähm …« Elsi wusste nicht genau, was er antworten sollte. »Also, es ist nicht sonnig … Es ist erst kurz vor sechs … Nicht, dass uns hier unten viel Sonne erreichen würde …« »Das ist aber schade. Ich hoffe, wir haben euch nicht aufgeweckt, ihr Tagwandler. Verzeiht, sollte das doch der Fall sein. Für uns geht gerade erst die Zeit des Herumtobens zu Ende.« Ein verhaltenes, amüsiertes Lachen folgte diesem Geständnis. Und jetzt konnte El Silbador die Stimme endlich zuordnen. »Och nöööö«, stöhnte er, »nicht ihr! Wir sind auf einem Einsatz, wir haben keine Zeit, mit euch zu spielen, also was zur Hölle wollt ihr, Max Coppella?!« »Einsatz, tse? Drucks nicht herum, lieber Elsi, wir wissen sowieso alles«, besänftigte ihn der Anrufer. »Ja, das … hab ich befürchtet.« Boris neben ihm warf ihm einen eindringlichen Blick zu; seine Lippen formten fragend das Wort Coppelius. Elsi nickte düster. Es war schwer, vor diesen alten Bekannten etwas geheim zu halten; sie hatten ihre Informationsquellen überall. »Ich hoffe, ihr habt euch benommen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte Elsi bemüht zwanglos. Mit derart verstaubten Leuten zu sprechen war immer wieder ein bisschen seltsam. »Natürlich, natürlich. Wir sind ja schon dankbar, dass wir wenigstens einigen der alten Laster noch frönen dürfen. Nun, wahrscheinlich ist dir klar, dass wir euch nicht aus Spaß anrufen.« »Nein, wann hättet ihr das je getan?« »Deshalb lass uns doch gleich zur Sache kommen, guter Elsi. Wir … haben etwas, das ihr gut gebrauchen könntet, da sind wir uns sicher.« El Silbador zögerte. Wenn man mit Coppelius sprach, durfte man niemals vorschnell antworten. Sie waren ein Sextett aus Vampiren unbekannten Alters, das sich selbst als ein ›Kammermusikorchester‹ titulierte und dabei grundsätzlich eine nur scheinbar maßlos übertriebene Show abzog. In ihrer Musik und ihrem Auftreten gaben sie gern vor, sich der modernen Zeit nicht anpassen zu wollen, kleideten und verhielten sich dem neunzehnten Jahrhundert entsprechend und vermittelten ein so wirres, unberechenbares Bild von sich, dass die MIU ihnen nicht anders als mit großer Vorsicht begegnen konnte. Elsi und die anderen hatten den starken Verdacht, dass Coppelius sich – wie alle anderen Vampire – durchaus anpassen konnten, aber allzu gerne ein verzerrtes Bild ihrer Charaktere präsentierten, das sie äußerst schwer einschätzbar machte. Bevor die MIU auf sie aufmerksam geworden war, waren Coppelius nicht nur Musiker gewesen, sondern außerdem das, was der BfV ›Genussmörder‹ nannte: Sie hatten ohne jedes Unrechtsbewusstsein alte, einsame Menschen um Blut erleichtert und sie anschließend dezent entsorgt, um sich mit den Folgen nicht auseinandersetzen zu müssen. Im neunzehnten Jahrhundert hatte es nicht zum ›guten Stil‹ adliger Vampire gehört, ihre Opfer nach dem Blutkonsum zu pflegen und gesundet wieder zu entlassen. Eric Fish, den die sechs alten Vampire schnell mit ihrer Freundschaft beschenkt hatten, hatte dem Tun persönlich einen Riegel vorgeschoben und dafür gesorgt, dass Coppelius ordentlich registriert und von der MIU überwacht wurden. In der Folge waren sie gemeinsam mit Subway To Sally und auch mit Saltatio Mortis getourt und aufgetreten. Elsi erinnerte sich daran, wie er schaudernd die höflichen Bemühungen Coppelius’ in Aleas Nähe beobachtet hatte; auch sie verzehrten sich nach dem Blut des Vexecutors, so viel stand fest, und Alea hatte natürlich nichts davon bemerkt, sondern war begeistert vom ›authentischen‹ Auftreten der schrägen Musiker gewesen, besonders von Butler Bastille, der die Fähigkeit zu haben schien, seinen fünf ›werten Herren‹ jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Hätte Alea gewusst, dass diese freundlich-weltfremden Gestalten in ihren Gehröcken und Zylindern Genussmörder waren … Er wäre entsetzt gewesen. »Also … Wir hören uns gerne an, was ihr für uns habt«, gab Elsi nach. Nervös begann er, sich das Headset-Kabel um den Zeigefinger zu wickeln. Er wusste, dass er Max Coppellas Tonlage jetzt schärfstens im Auge behalten musste. »Wir haben ein Lockstück für euch«, verkündete der Vampir am anderen Ende süffisant. »Nicht irgendeins natürlich. Es ist das Lockstück der Lockstücke! Es ist so unsäglich alt, dass kein Vampir dagegen immun sein kann.« Er machte eine kurze Pause und ergänzte, indem er ganz unwissend tat: »Das ist doch euer Problem, oder nicht? Eure Locksänger sind nicht bei euch … und ihr könnt dieses verbrecherische Geschmeiß nicht hypnotisieren, um eure Pflöcke in ihre Herzen zu treiben. Genau deshalb möchten wir euch helfen. Wir haben dieses Lockstück aus einer zuverlässigen, vertraulichen Quelle, direkt aus Transsylvanien.« Elsi wusste nicht, was er antworten sollte. Dass Coppelius stets über alles informiert waren, was die MIU tat – und zwar in demselben Maße, wie die MIU sie überwachte – beunruhigte ihn nach wie vor und brachte ihn, wie schon so oft, mental ins Wanken. »Ähm … Was wisst ihr wirklich über die Wirksamkeit des Stücks? Habt ihr es getestet?« »Wir haben es testen lassen – vielfach! Außerdem sagte ich doch bereits, dass wir dieser Quelle zu einhundert Prozent vertrauen. Das Stück war für Jahrhunderte verschollen. Seine Wirksamkeit ist so grandios wie zu Zeiten seiner ersten Niederschrift!«, beteuerte Max Coppella. »Also lasst euch mit guten alten Freunden auf einen Handel ein. Wir überlassen es euch gegen einen wirklich kleinen, unbedeutenden Handschlag.« Oha, dachte El Silbador stirnrunzelnd. War ja klar, dass da ein Haken ist. Coppelius waren außerordentlich belesen in Sachen Vampirhistorie, boten aber niemals ihre Hilfe an, wenn sie sich davon keinen Vorteil erhofften. »Und das wäre …?«, traute er sich endlich zu fragen. Wieder kicherte der Vampir dieses kleine, amüsierte Kichern. »Lieber Elsi … Kannst du es dir nicht denken?« Doch. Elsi konnte es sich denken. »Ihr wisst, dass das nicht in Frage kommt«, sagte er ruhig. »Weshalb nicht? Wir benehmen uns ganz passabel.« »Falk und Lasterbalk werden es nicht zulassen.« »Die beiden brauchen sich nicht so anzustellen. Wir wollen ja nicht alles haben – nur eine Kostprobe.« »Wieso wartet ihr nicht, bis wir wieder mal mit euch auftreten?«, fragte Elsi hoffnungsvoll. »Oh, mit Verlaub, wir können Alea nicht beißen, wir mögen ihn viel zu sehr. Aber jetzt ist er, wie wir hörten, indisponiert und nicht unbedingt, naja, in der Lage zu protestieren.« Verdammt. Es stimmte, sie wussten wieder einmal alles. Unbehaglich rieb sich Elsi die Stirn und versuchte, Yellow Pfeiffers bohrenden Blick zu ignorieren. »Also, ich … ich kann höchstens versuchen, da was zu arrangieren …« »Das wäre außerordentlich entgegenkommend von dir. Denk daran, wir würden euch eine mächtige Waffe in die Hand geben. Eine, gegen die wir nicht einmal selber immun sind. Das zeigt dir hoffentlich, wie sehr wir euch vertrauen.« »Ähm … Ja.« »Gut, alter Freund. Wir melden uns am Vormittag wieder, in Ordnung? Ja, wir werden nur für euch den Tag zur Nacht machen, wenn es nötig ist. Bis in ein paar Stunden.« Elsi nahm das Headset ab und versuchte, das unheimliche Kichern aus seinem Kopf zu verscheuchen. »Was wollen die?«, fragte Pfeiffer ihn scharf. »Was wohl?« El Silbador starrte zurück. »Ihr von In Extremo hattet noch nicht mit denen zu tun, oder? Was weißt du über sie?« Achselzuckend antwortete Boris: »Ich habe die Akte gelesen. Eine dicke Akte. Fünf alte, staubige Vampire mit einem Lakaien. Wollen sich partout nicht der Moderne anpassen und sind ständig dabei, sich selbst zu bemitleiden. Jedenfalls soll es so aussehen.« »Sein und Schein kann man bei Coppelius schwer unterscheiden … Wie auch immer, sie wollen uns ein Lockstück anbieten, ein angeblich unfehlbares, das jemand für sie irgendwo ausgegraben hat. Dafür wollen sie – Surprise! – ein Schlückchen Vexecutor-Blut.« »Na, das passt ja hervorragend in unseren Terminkalender«, murmelte Pfeiffer und zuckte ratlos die Schultern. Elsi trank seinen Tee aus und stand auf. »Ich gehe mich den Großen beraten. Die sind wohl diejenigen, die das erlauben müssen … zumindest inoffiziell.« »Wir sollen Alea von Coppelius ausschlürfen lassen?«, wiederholte Falk fassungslos. »Was fällt denen eigentlich ein? Sind die noch ganz dicht?!« »Die wähnen sich wohl in einer guten Position, um solche Forderungen zu stellen«, fand Elsi. Auch Lasterbalk stöhnte auf und presste die Hände an die Schläfen. »Verdammte Hacke … Stellt euch vor, wir könnten Eff Eff auf einen Schlag komplett besingen, inklusive Frais! So ein Lockstück wär Gold wert!« »Oder Blut wert«, knurrte Falk. »Arrrrrrrrr, ich ertrage den Gedanken nicht!« »Was soll ich ihnen sagen?«, fragte El Silbador ratlos. »Gnnnnnf … Frag sie, bis wann sie hier sein können …« Lasterbalk bekam die Worte kaum über die Lippen und hielt sich immer noch den Kopf. Falk sah ihn bestürzt an. »Wollen wir das nicht noch mal überdenken?« »Wie lange denn bitte? Wenn wir den Tausch durchziehen wollen, müssen wir uns beeilen! Du hast Bock doch gehört! Wenn bei Alea erst mal in sämtliche Körperöffnungen Schläuche gesteckt wurden, wird’s sehr schwierig, ihn kurz von der Station zu entführen!« Während Falk immer noch grummelte, wiederholte Lasterbalk an Elsi die Aufforderung: »Sag ihnen, sie sollen herkommen … noch heute. Ich mache die Sache mit Bock klar.« Ingo und Marco gaben sich zumindest große Mühe, Interesse an Vögeln zu heucheln. Fritz fiel das weit schwerer, und auch Basti, so fiel ihm auf, tat alles andere, als den singenden Herrn Nachtigall auf dem Baum zu suchen, um den die kleine Gruppe aus staunenden Frühaufstehern versammelt war. »Ich habe ihn!«, rief ein magerer Student mit dicker Brille voller Verzückung. »Da oben – auf dem Ast!« Er zeigte irgendwo in das mit verfärbtem Laub behängte Geäst, als würde das den anderen Suchern irgendetwas nützen. Fritz entdeckte den Vogel nicht, aber er versuchte es auch nicht wirklich. Immer wieder spähte er auf dem ansonsten menschenleeren Parkgelände um sich, doch von sich nähernden Fremden war noch nichts zu sehen. Es war ausgesprochen kalt an diesem frühen Morgen. Der Himmel war dicht bewölkt und wollte nicht richtig hell werden. Unter seiner dicken Jacke fror Fritz, weil er vor Sorge geschwitzt war. Hinter seinem Ohr klebte der winzige, von außen kaum sichtbare Peilsender weiterhin bombenfest. »Noch ist nichts zu sehen«, murmelte Sebastian kaum hörbar. »Bleibt ruhig«, antwortete Yellow Pfeiffer prompt und zeigte ihnen damit, dass er ständig bei ihnen war. »Wir haben euch auf dem Schirm.« Eben schaltete der Assistent des Professors unter einem Berberitzenstrauch einen tragbaren CD-Player ein und spielte ein reizendes Gezwitscher ab, das den realen Vogel provozieren sollte. »Gleich wird das Männchen der Mönchsgrasmücke angeflogen kommen und sein Revier verteidigen!«, verkündete er. Fritz schaute sich unbehaglich um. Der Park ringsherum war so verdammt leer, nur Nebel und Feuchte stiegen aus dem taubedeckten Gras auf. Unterdessen ließ sich der graue Vogel mit der schwarzen Haube tatsächlich blicken: Laut protestierend landete er vorwitzig auf einem Zweig ganz in der Nähe und trällerte aus voller Brust gegen den unsichtbaren Rivalen an. Die Exkursionsteilnehmer begafften ihn selig, und die MIU-Leute bemühten sich, es ihnen gleich zu tun. »Achtung«, wisperte Ingo, der plötzlich dicht hinter Fritz stand. »Da sind sie.« Fritz sah die beiden bereits. Aus dem mit verblühenden Rosen überwucherten Rondell traten zwei weitere Studenten hervor – zweifelsfrei erkennbar an ihrer Kleidung und ihren Rucksäcken –, einer männlich, einer weiblich, und stellten sich zu dem Biologie-Professor, der die Exkursion leitete, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Der graue Mittfünfziger nickte lächelnd und wandte sich an die Teilnehmer. »Das Frühstück im Café der Semperoper ist jetzt für uns vorbereitet. Lassen wir unseren kleinen Ausflug gemütlich ausklingen und stärken uns dann alle zusammen bei einer heißen Tasse Kaffee und anregenden Gesprächen.« Schöne Aussicht, dachte Fritz. Wenn es doch nur so wäre! Als die Gruppe sich in Bewegung setzte, rückten Hampf, Lange, Flex und Fritz instinktiv zusammen, sodass sie dicht nebeneinander gingen. Die beiden vorher nicht dagewesenen Studenten ließen sie dabei nicht aus den Augen. »Semperoper, hmmm«, murmelte Ingo. »Dit is hübsch da«, gab Basti zischelnd zurück. Gemächlich hielt die Gruppe auf den Theaterplatz in der Altstadt zu. Immer mehr Menschen bevölkerten inzwischen die Straßen, Besorgungen erledigend oder den allmorgendlichen Weg zu ihrer Arbeitsstelle zurücklegend. In Sichtweite der imposanten Semperoper übernahmen nun die beiden Studenten – heiter mit dem Professor plaudernd – die Führung. »Hier lang, bitte!«, wies sie das Mädchen lächelnd an. Ihre winkenden Hände steckten in gestrickten Pulswärmern, und sie trug eine hellbraune Strickmütze. Fritz beobachtete ihren Hals, der aus dem grün, blau und rot gestreiften Schal hervorragte; er glaubte, zumindest eins von zwei Einstichlöchern erkennen zu können. Das Café, das sie nun betraten, hatte noch keine anderen Gäste. Es war hell erleuchtet und auf eine Weise eingerichtet, für die Fritz nur das Wort possierlich einfiel. Allerdings hielten die beiden Studenten nicht an einem der großen Tische, sondern traten durch einen Gazevorhang in einen immerhin einsehbaren, dahinter gelegenen Raum. Dort standen auf einem mit Spitzendeckchen ausgelegten Tisch tatsächlich eine große Zahl Tassen und drei Thermoskannen, daneben – und damit hatte Fritz eigentlich nicht gerechnet – ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Besonders auffällig war das mannigfaltige Sortiment an Obst, das zu dieser Jahreszeit sicher kaum noch aus der Region stammte. »Obst«, raunte Ingo hinter ihm bedeutungsschwer. »Süßes Obst, Fritz.« Sofort erklärte Boris, was Hampf nicht laut aussprechen konnte: »Vampire mögen Blut mit einem hohen Blutzuckerspiegel besonders gern, es gibt ihnen schneller Kraft. Am höchsten ist der Zuckergehalt im Blut, wenn man gerade gegessen hat, und besonders lieben sie das Aroma von Früchten – das ist einer der Gründe, warum Hyperborea mit Fructose gesüßt wird. Esst ruhig, sonst fallt ihr auf. Gibt es Getränke?« »Ja«, antwortete Marco leise. »Dann trinkt sie nicht. Lasst nichts davon eure Zungen berühren. Ihr wisst, was schon ein einziger Tropfen Vampirblut anrichten kann!«, warnte Pfeiffer sie eindringlich. Fritz brauchte er das nicht zu sagen. Zwar goss er sich mit zitternder Hand einen Becher Kaffee ein, gab jedoch nur vor, daran zu nippen; das Widerstehen fiel ihm leicht, denn er hatte das Gefühl, sein Ekel vor Blut sei nie größer gewesen. Er würde ohnehin nichts von diesem Gebräu bei sich behalten können, ob es nun wirklich mit Vampirblut versetzt war oder nicht. Während die anderen Exkursionsteilnehmer sich begeistert an den Speisen labten, hielten die MIU-Männer sich eher zurück, obwohl sie versuchten, nicht misstrauisch zu wirken. Fritz biss von einer harmlos aussehenden Apfelspalte ab und beobachtete durch den Vorhang, wie die beiden Studenten völlig gelassen die Eingangstür zur Straße hin wieder zumachten und sogar abschlossen, ohne dass einer der Anwesenden Verdacht geschöpft hätte. Eine beunruhigende Zeit lang passierte gar nichts. Die Leute ließen sich Zeit mit dem Essen, und sie wurde ihnen gelassen. Fruchtucker wird langsamer aus der Nahrung ins Blut aufgenommen, glaubte Fritz sich zu erinnern. Die wollen, dass wir alle schön süß schmecken, wenn wir gebissen werden … »Pssst«, machte Basti an seinem Ohr. »Die Leute werden wenijer … Ist dir dit uffjefallen?« Fritz schaute sich an dem Buffet um. Der Musiker hatte Recht: Nicht nur die Speisen, auch die Menschen waren weniger geworden. Mindestens um die Hälfte. »Aber wo sind sie hin?«, wisperte Fritz und sah rasch beiseite, als ihm auffiel, dass der Blick der lächelnden Strickmützen-Studentin, die an dem Tisch lehnte, auf ihm ruhte. »Jibt nur eene Möglichkeit. Die Tür nach draußen ist zu … also sind se alle …« »… auf der Toilette verschwunden.« Ein irgendwie kurioser Gedanke, aber es musste stimmen. »Jut erkannt. Wir treffen uns da. Schön eener nach ’m andern.« Mit diesen Worten schob Basti sich ganz gelassen den letzten Käsewürfel in den Mund und schlenderte scheinbar desinteressiert in den angrenzenden Gang, der Ausschilderung folgend. Fritz vernahm, wie seine Schritte auf Stufen widerhallten, leiser wurden und dann nicht mehr zu hören waren. Fritz ließ sich ein paar Minuten Zeit, ehe er möglichst unauffällig folgte. Eine Treppe, die zu den Toiletten führte, war nicht ungewöhnlich, doch die Stille in dem gekachelten Gang beunruhigte ihn. Vor den beiden Türen – eine mit dem Piktogramm einer Frau, eine mit dem eines Mannes – blieb er zunächst unwillkürlich stehen; es drang kein Laut aus den Waschräumen, und er musste sich regelrecht zwingen, die Tür zur Männertoilette aufzumachen. Zwei Männer standen dort neben den Urinalen und streckten routiniert eine Hand aus, um Fritz den Zugang zu den Kabinen zu verwehren. »Es ist gerade keine frei, einer nach dem an–« Aber Fritz konnte nicht anders: In dem Moment, als er den linken Vampir als einen der Wächter erkannte, die ihn bei seiner Gefangenschaft beaufsichtigt hatten, setzte sein Verstand aus, und er verpasste ihm eine Ladung Natron – selbst überrascht, wie flüssig er die Kanone aus ihrem Versteck unter seiner Jacke befördert hatte. Der getroffene Vampir ließ sich aufheulend auf die Knie fallen, während der zweite alarmiert auswarf und auf Fritz losging. Im gleichen Moment kam Ingo Hampf zur Tür herein und reagierte wie erwartet, indem er ohne merkliche Überraschung den Pflock hervorzog und drauflos pfählte, nur mit einer Hand. Als beide Vampire erledigt waren, kam Flex herein und staunte nicht schlecht. »War das der Plan?« »Fritz hat eine Plananpassung vorgenommen«, knirschte Ingo. Aus einer der Toilettenkabinen drang eine nervöse Stimme: »Carl, Eamon, ist alles okay da draußen …?« Ingo trat schnurstracks zu der Kabinentür und trat sie einfach mit dem Fuß auf. Dahinter kam, zur Überraschung der drei, keine Kloschüssel, sondern ein heller Tunnel zum Vorschein. In ihm drängten sich Leute, höchstvermutlich Vampire, die jetzt ganz verdattert aufsahen. Gerade reichten sie einen schlaffen älteren Herren, der eine frische Bisswunde am Hals hatte, über ihre Köpfe nach hinten weiter; im Vordergrund des Ganzen kniete ein junger Mann über Basti Lange und hob verschreckt den Kopf, als das Poltern der Tür ertönte. Vor Verblüffung ließ er den Mund offen stehen, und Blut rann ihm aus den Winkeln. »Was, wieso denn drei – ?« Bevor er den Satz beenden konnte, griffen die MIU-Pfähler an; sie hatten keine Wahl. Die Vampire, die damit nicht gerechnet hatten, drängten strauchelnd nach rückwärts, einige fielen grunzend um. Flex sprang denjenigen an, der Sebastian gebissen hatte, und lieferte sich einen kurzen Nahkampf mit ihm, den er aufgrund seiner schier unmenschlichen Agilität und Wendigkeit rasch für sich entschied. Die Vampire flohen. Ingo folgte ihnen nur ein Stück weit, dann kehrte er wieder um; Fritz kniete sich neben Basti, dessen Halswunde noch blutete, weil der Vampir beim Saugen unterbrochen worden war. »Iiiiiiigh …«, jammerte Fritz, als er merkte, dass er das Blut schon an den Fingern hatte. Ingo packte ihn am Kopf und drehte ihn in eine andere Richtung. »Guck einfach nicht hin!« Dann zog er ein Tuch aus der Tasche und bemühte sich, das Gemisch aus Blut und Vampirspeichel aufzuwischen, ehe er das Hilfsmittel vorsichtig auf die Wunde drückte. »Ach, Scheiße«, presste er hervor. Fritz drehte sich ganz vorsichtig wieder um. »Basti …?« »Der redet jetzt nicht mit uns, der hat Schlummifix intus. Wahrscheinlich sieht er gerade bunte Pferdchen über ’ne grüne Wiese traben.« Lange stöhnte leise, als Ingo ihm behutsam den Hals abtupfte. »Na, zum Glück macht die Vampirsabber schon ihre Arbeit, wenn man sie ein bisschen breitschmiert. Es hört gleich auf zu bluten.« Während sie neben Basti knieten, tigerte Marco von einer Tunnelseite zur anderen. »Was sollen wir jetzt machen? Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, bis entweder von der Seite jemand kommt – oder von der.« Er zeigte erst zur Tür des Waschraums, dann in den Tunnel. »Wir wollten doch da rein, verflixt!« »Was ist schief gelaufen?«, ließ sich Pfeiffers besorgte Stimme aus dem Ohrknopf vernehmen. »Alles!«, gab Flex zurück. »Sie haben Basti den Hals gelocht!« Boris stöhnte. »Und deswegen fand ich die Idee mit dem Blutspenden heute Morgen bescheuert. Wenn der Vampir sich satt getrunken hätte, würde Basti jetzt in einem hämorrhagischen Schock liegen!« »Nun übertreib nicht«, murrte Ingo. »Sebastian ist ein Fakefang, wie ich, und wir mussten uns ein höheres Blutvolumen antrainieren – du nicht, Boris, du sitzt immer nur vor der Kiste. Mach dir keinen Kopp, auch ein ganzer Liter Verlust würde dem Langen nicht wehtun.« Fritz verscheuchte den letzten Schwindel hinter seiner Stirn und stand wackelig auf. »Ich gehe die Männer aufhalten, die aufs Klo wollen«, murmelte er. »Mach das.« Ingo blieb weiterhin neben Basti hocken, der ruhig auf der Seite lag und träge blinzelte. Als Fritz gerade dem Szenario den Rücken gekehrt hatte und aus der Kabine treten wollte, hörte er eine gebieterische Stimme aus dem Tunnel dröhnen: »Ihr Menschen! Bleibt stehen, wo ihr gerade seid, und rührt euch nicht vom Fleck!« »Aaaaaha!«, zischte Ingo. »Bleib hier, Fritz. Soll er ruhig denken, wir hätten sein dreckiges Vampirblut gesoffen!« Fritz verharrte mitten im Gehen; sein Rücken kribbelte. Schritte näherten sich aus dem Tunnel hinter ihm. Lange, gleichmäßige Schritte. »Fritz, Ingo, Marco«, sagte Boris ganz leise in sein Ohr. »Er wird es persönlich sein … Paul Frais. Tut nichts Unüberlegtes!« Fritz schluckte. »Nanu, rede ich jetzt etwa mit dem Chef?«, schnurrte Max Coppella an Lasterbalks Ohr. »Ja«, grummelte der ins iPhone. »Also, ihr … könnt herkommen. Wir geben euch Blut. Ein bisschen. Mehr net!« »Das freut mich sehr. Aber ich würde euch bitten, mit dem Anzapfen zu warten, bis wir eingetroffen sind. Wir würden das gerne live mit ansehen.« »Denkt ihr vielleicht, wir bescheißen euch?« »Nicht doch, nicht doch, Verehrtester. Aber es bringt doch eine gewisse … Spannung, zu sehen, wie das Blut des Vexecutors in ein Gläschen läuft … an dem man dann nippen darf.« Wieder dieses spöttische Kichern. Lasterbalk zwang sich zur Ruhe. Es war verdammt schwer. »Es ist wolkig heute … Kommt einfach, sobald ihr könnt … Wir empfangen euch dann. Aber es muss vor heute Abend sein!« »Das werden wir schaffen, so voller Vorfreude, wie wir sind.« »Na dann … Bis nachher.« Lasterbalk drückte das Gespräch weg und ergänzte um einiges lauter: »Ich hoffe, ihr kotzt!!« Dann warf er das iPhone weit ausholend über seine Schulter. Es landete weich auf seinem Bett. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)