Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 12: Essig bei die Fische -------------------------------- Hamm ist eine Stadt in Nordrhein-Westfalen, flankiert von Kamen, Bergkamen, Lippetal und dem kleinen Unna, nur um ein paar zu nennen. Man sagt, Hamm sei die zweiundvierzigst größte Stadt Deutschlands und weise ein überschäumendes Kulturangebot auf. Tatsächlich ist Hamm im Herbst einfach nur kühl und überschaubar. Die Straßen sind voller Blätter und es fällt nicht weiter auf, wenn ganze Hügel davon am Wegesrand einer Abfuhr harren. Blut fällt auf roten Blättern auch nicht auf, jedenfalls nicht so sehr wie auf grünen. Vampire finden zahlreiche Möglichkeiten, in der wimmeligen Stadt unterzutauchen. Vielleicht ist dies der Hauptgrund dafür, dass Fiacail Fhola sich Hamm aussuchten, um damit fortzufahren, seltsame Todesfälle zu verursachen – und dies wiederum war der Grund dafür, dass die Musikindustrieüberwachung ihnen endlich auf die Schliche kam. Zwei Tage, nachdem das Vampirversteck im Wuppertaler Hauptbahnhof leer vorgefunden worden war, traf das ganze Team der MIU, angefordert durch einen typischen ungeklärten Todesfall, in Hamm ein. Neben Fritz’ Auto, Buschfeldts Cabrio und dem geheimdienstlichen Dark Knight gab es nun auch noch Schievenhöfels VW Golf, sodass die nunmehr fünfzehn Personen ohne Platzprobleme ob all ihrer nicht gerade raumsparenden Gerätschaften anreisen konnten. »Sieh an, es regnet nicht!«, frohlockte Falk, als sie aus den Autos stiegen. »Aber wo sind wir hier eigentlich?« »Im Künstlerviertel«, erklärte El Silbador mit Blick auf einen etwas zerknitterten Stadtplan. »Das ist die Martin-Luther-Kirche …« Er zeigte auf besagtes sakrales Gebäude. »… und wir wohnen jetzt … hier.« Sein Finger richtete sich auf die Hauswand unmittelbar neben ihnen, an der die vier Autos parkten; sie gehörte zu einem mehrstöckigen, hellgrau gestrichenen Gebäude. »Naja, ist doch hübsch. Auf, richten wir uns ein.« Neben der Eingangstür im Erdgeschoss befand sich ein Schaufenster unter einer grün und weiß gestreiften Markise. Es war jedoch leer. »War wohl mal ein Laden«, sagte Schievenhöfel. Im Inneren des Hauses war alles aus Holz, das in warmen Farben lasiert war und Heimeligkeit ausstrahlte. Das Treppenhaus war eng und knarrte, die Türen splitterten an den Rändern ein wenig und quietschten zum Teil auch bei sanftem Öffnen, doch diese gewissen Gebrechlichkeiten eines alten Hauses waren den Männern um einiges willkommener als die schmucklos weißen Tapeten, von denen sie im Wuppertaler Stützpunkt umgeben gewesen waren. Hier waren die Wände ganz und gar nicht weiß: Sie waren hellrot oder sanft gelb gestrichen und fast vollständig eingenommen von Kunstdrucken aller Art, sei es Rembrandt, van Gogh, Dalí oder Caspar David Friedrich. »Schick«, kommentierte Simon. »Na, ich weiß nicht«, murrte Ingo. »Könnte einen auf Dauer ’n bisschen wuschig machen.« Buschfeldt nahm kommentarlos seine Vorrechte in Anspruch und suchte sich zuerst ein Zimmer; danach wies er seinem Assistenten eines zu. Die Übrigen verteilten sich auf Zimmer mit zwei oder drei Betten. Sobald die Küche und die Badezimmer inspiziert worden waren, begann Dr. Saltz damit, eines der größeren freien Zimmer als neuen ›Bockshof‹ einzurichten. Er machte sogar ein entsprechendes Schild aus einer leeren Blockseite und bemalte es mit Kringeln und Schnörkeln, um es der allgemein kunstbeherrschten Atmosphäre anzupassen – mit mäßigem Erfolg. »He, es sind ja schon Leute hier!«, stellte Lasterbalk überrascht fest, als er eins der letzten Zimmer bereits belegt vorfand. »Was hat denn das bitte zu bedeuten?« El Silbador versuchte vergeblich, ihm über die Schulter zu schauen, und duckte sich schließlich unter einem Arm des Hünen durch. »Da liegt ein Zettel auf dem Bett, der könnte die Frage beantworten.« Neugierig nahm er das Stück Papier, setzte sich auf die Matratze und las laut vor: »Hallo Freunde, wenn ihr das hier lest, sind wir schon bei der Polizei und begutachten die Leiche. Werden gegen Mittag zurück sein. Haben stapelweise Aspirin mitgebracht, wie angefordert, ist in der Küche. Im Kühlschrank ist Obstkuchen. Kommt nach zur Wache, wenn ihr wollt. Bis später. Eric und SRR.« Er sah auf. »Soso, die beiden sind endlich da, wurde ja Zeit. Aspirin … na klar. Nette Alea-Tarnung.« »Guck an«, grinste Lasterbalk. »Chefchen wird sich freuen, jetzt haben wir noch ein paar Leute mehr und ein paar Probleme weniger.« Damit verschwand er aus der Tür, um die Nachricht weiterzuleiten. Fritz hatte sich zusammen mit Simon Schmitt einquartiert, der nicht widersprochen hatte. Nun suchten sie wieder nach den anderen. In diesem Haus gab es keinen Aufenthaltsraum, nur ein Wohnzimmer mit zwei durchgesessenen Sofas, das an die eher kleine Küche angrenzte. Aus diesem Grund sammelten die Männer zunächst aus allen Schlafzimmern die Stühle ein, die dort nicht gebraucht wurden, und stellten sie ziemlich eng beieinander in die Stube. Falk, Lasterbalk und Alea saßen dort schon, als die beiden kamen. Simon gesellte sich sofort zu ihnen, aber Fritz zögerte; irgendwie fühlte er sich noch immer nicht voll in die Gruppe integriert. Alea schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Komm schon, setz dich hin! Wir beißen nicht!« Wenn du wüsstest, dachte Fritz und erwiderte das Lächeln etwas zaghaft, ehe er sich dazu setzte. Nach und nach trafen die Übrigen ein. Sebastian begann Kaffee auszuschenken, den die beiden MIU-Agenten, die Fritz noch nicht kannte und die jetzt fehlten, offensichtlich bei ihrer Ankunft am Vormittag aufgebrüht hatten. »Der ist fast kalt«, stellte Asp enttäuscht fest. »Tja, Herr Spreng, wennse wat Warmet wollen, dann müssense schon ’n Bier bestellen«, feixte Basti. »Sind jetzt alle da?« Er versuchte, die Runde zu überschauen, und trat widerwillig beiseite, als Buschfeldt mit grimmiger Miene den Standort an der Front des Wohnzimmers beanspruchte. »Weg mit dir, Lange. Ah – keiner hat rumgetrödelt. Na gut, wir wollen die Besprechung hinter uns bringen. Also, zu meiner Zufriedenheit sind nun auch noch zwei unserer Besten von Subway To Sally –« Fritz sah, dass alle von In Extremo die Augen verdrehten. »– dem Aufruf gefolgt und zu uns gestoßen. Ich habe mit der Polizei gesprochen, während ihr so emsig um die Zimmer gestritten habt, und es gibt bereits eine zweite neue Leiche hier in Hamm. Gleich im Anschluss werde ich daher mit Klaus-Peter, Friedrich, Einhorn und Lasterbalk zur Polizei fahren, wo wir die anderen treffen. Irgendwelche Einwände?« »Wieso ich?«, fragte Lasterbalk. »Berechtigte Einwände?«, ging Buschfeldt darüber hinweg. »Keine? Gut.« Es war offensichtlich, dass er außer Micha einen in seinen Augen zuverlässigeren Vampir dabei haben wollte, aber ob Aleas aufmerksamer Präsenz konnte er diese Tatsache nicht begründen. »Dann fahren wir jetzt los.« Fritz nahm seine Jacke und sein Portemonnaie, das er sich in die Gesäßtasche seiner Hose schob, und trottete zu Lasterbalk, der schon an der Tür wartete und dabei einen gerahmten Gemäldedruck an der Wand so eindringlich anstarrte, als habe er ihn kritisch zu bewerten. Als Fritz bei ihm war, erkannte er das Bild; es war Der Schrei von Edvard Munch. »Komisches Bild«, sagte er. »Find ich net«, erwiderte Lasterbalk. »Eigentlich trifft es das Thema sogar ziemlich gut.« »Was meinst du damit?« »Der Maler hatte Umgang mit Vampiren. Er hat sogar ein Ölbild mit einer Vampirin drauf gemalt, die einen Mann beißt. Überhaupt war seine Kunst ein bisschen … naja … gruselig. Aber bei dem hier –« Er deutete auf Der Schrei. »– sind wir uns sicher, dass der Schrei, der ihn dazu inspiriert hat, von einem Vampir kam. Alte Vampire können auf eine Art und Weise schreien, dass ganze Bäume ausgerissen und Häuser abgedeckt werden. So was muss er gehört haben.« »Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt.« Fritz starrte das Bild an. »Wie nennt man diese Fähigkeit?« »Der Schrei«, antwortete Lasterbalk achselzuckend. »Witzigerweise haben Subway daraus einen Dauer-Bühnengag gemacht, indem sie bei jedem Auftritt das Publikum bitten, ihnen den Schrei zu schenken. Wär lustig, wenn wirklich mal ein alter Vampir dabei wäre, der sie dann einfach alle … wegpustet.« Der große Mann lachte vergnügt. »Schade, auf die Idee ist noch keiner gekommen.« »Seid ihr fertig?«, bellte Buschfeldt, als er, Micha und den fröhlichen Schievenhöfel im Gefolge, angehinkt kam. Sein Knöchel tat augenscheinlich trotz Bocks Pflege immer noch weh. »Dann können wir ja los.« In der Grünstraße Nummer zehn befand sich das Polizeipräsidium. Sie parkten direkt auf dem Hof, wie immer – mit zwei Autos, da sie die anderen beiden Agenten gleich mitnehmen wollten –, und wurden bereits erwartet. Man führte die Fünf durch das etwas schlecht beleuchtete Gebäude an zahlreichen Informationstafeln vorbei. Mitten auf dem Gang kamen ihnen zwei Männer entgegen, die keine Polizeiuniform trugen; einer war hager, hatte langes schwarzes Haar und trug einen dunklen Mantel, der andere war etwas gedrungener und weißblond, wirkte schlecht gelaunt und starrte zu Boden, bis die beiden Gruppen aufeinander trafen. »Tja, ihr habt leider Pech«, sagte der Hellhaarige, bevor jemand ein Wort des Grußes in den Mund nehmen konnte, »sie haben die andere Leiche längst in der Pathologie. Da müssen wir noch vorbeifahren.« »Ja, wir freuen uns auch, euch zu sehen«, sagte Lasterbalk ein wenig tadelnd, aber er meinte es ernst, anders als vermutlich Buschfeldt. »’tschuldige, Lasterbalk. Wir hatten keinen schönen Tag bisher.« Der Blick des Blonden fiel auf Fritz und wurde sofort misstrauisch. »Und wer ist das?« »Friedrich Wunderbaum«, stellte ihn Buschfeldt vor. »Unser Neuer. Friedrich, das sind Sugar Ray und Eric Fish.« Da Fritz diese Codenamen erst im Kopf wiederholen musste, vergaß er, die Hand hinzuhalten, und beide ihm fremden Männer zogen ihre eigenen darum wortlos wieder zurück. »Na los, beeilen wir uns«, drängte Eric und ging los. Ihm schien es ganz und gar nicht fremd zu sein, Anweisungen zu erteilen. Fritz war froh, als der durchdringende Blick sich von ihm löste und auf die Doppeltür nach draußen gerichtet wurde. Micha indes hatte sich im Hintergrund gehalten und wurde deshalb erst jetzt überhaupt bemerkt, da die Gruppe kehrt machte, Er und Eric Fish tauschten einen längeren Blick, dann sagte letzterer seufzend: »Michael, das Einhorn.« »Eric, der Fisch«, gab Micha ungerührt zurück. Mehr hatten sie einander nicht zu sagen. Fritz staunte über diese unterkühlte Begrüßung und fragte sich, warum die beiden Männer sich nicht mochten. Das Evangelische Krankenhaus in der Werler Straße beherbergte eine der ansässigen Pathologien. Hier wurde die Leiche eines jungen Mannes untersucht, der in das ›Wuppertaler Schema‹, wie es mittlerweile in ganz Westfalen genannt wurde, hervorragend passte. Als die MIU-Ermittler im bläulichen Licht um den toten Körper herumstanden und die Kälte des Raumes zu ignorieren versuchten, war es Lasterbalk, der schließlich die Initiative ergriff. »Also gut, ich mach’s. Wenn alles stimmt, müsste dieser Typ extrem nach Stress schmecken. Finden wir’s raus.« »Der ist schon seit zwei Tagen tot«, erinnerte ihn Schievenhöfel. »Er wurde nur später gefunden. Das Blut ist schon nach unten gesackt und geronnen, wie du siehst. Bist du sicher, dass du probieren willst?« »Ein Tropfen – na, sagen wir Krümel – wird mich schon net umbringen.« Lasterbalk nahm die Hand des Toten, hielt dann noch einmal inne und wandte sich an Sugar Ray: »Du hast den anderen probiert, oder?« »Ja«, antwortete dieser ruhig. »Er war bitter. Abstoßend bitter.« Er sprach fast unbeteiligt und so leise, dass Fritz sich automatisch vorbeugte, um ihn besser hören zu können. »Gut, das passt.« Lasterbalk schaute sich kurz im Labor um und vergewisserte sich, dass kein Unwissender in der Nähe war, dann warf er aus und ritzte den herabhängenden, schwarz verfärbten Daumen der Leiche vorsichtig an seinem linken Fangzahn an. Alle starrten ihn an, seine Reaktion abwartend, und er enttäuschte sie nicht, als er das Gesicht verzog und vor Ekel erschauerte. »Ach du Scheiße, pfui!« Mühsam versuchte er, den Geschmack wieder von der Zunge zu bekommen. »Man sollte echt keine kalten Leute beißen … Sollte man echt net machen …« Micha, der hinter Fritz stand, bemühte sich erneut um ein Kochbeispiel: »Jetzt stell dir vor, dir fällt der Essig in die Suppe.« »Du bist widerlich!«, knurrte Fritz und sah beiseite. Eric verschränkte die Arme vor der Brust und schaute finster. »Ich sehe, wir haben ein Muster.« »Oberchecker«, sagte Micha unbeeindruckt. »Bisher waren alle Opfer voll mit Stresshormonen. Ich hoffe, ihr habt das Musikgerät irgendwie sichergestellt?« »Wir haben beide«, antwortete Sugar Ray, um Frieden bemüht. Buschfeldt machte eine gebieterische Geste. »Mitkommen.« Dann ging er voraus und verließ die gerichtsmedizinische Abteilung, sich einmal kurz per Schulterblick vergewissernd, dass alle ihm folgten. Als sie wieder vor dem Klinikgebäude standen, fuhr der Direktor fort: »Einhorn, du nimmst Friedrich mit und zeigst ihm, wie man Hyperborea besorgt. Ich glaube, das stand bisher nicht auf dem Programm. Wir fahren inzwischen zum HQ und liefern die Geräte zum Untersuchen ab.« »Von mir aus«, antwortete Micha und bedeutete Fritz mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. »Komm, wir gehen guten Wein holen.« Fritz behielt es für sich, dass er keine große Lust hatte, sich mit Vampirnahrung zu befassen. Schon gar nicht wollte er, dass Micha ihn erneut dazu aufforderte, sie zu trinken. Schweigend ließ er den Sänger fahren – es war seltsam, im eigenen Auto nicht am Steuer zu sitzen –, und sah aus dem Fenster. Eigentlich gefiel Hamm ihm ganz gut. »Du kriegst Hyperborea in jedem x-beliebigen Getränkeladen«, erklärte Micha schließlich. »Alle Verkäufer in Deutschland müssen das auf Lager haben. Die werden das auch gut los, weil auch Polizisten sich das holen, oder Leute vom Ordnungsamt, vom Zoll … eben so Typen bei Behörden. Also, falls du irgendwann mal das Zeug holen sollst, zeige ich dir jetzt, wie du da rankommst.« Sie betraten einen dieser x-beliebigen Läden, der sich neben einem ALDI auftat, und Micha hielt schnurstracks auf die Kasse zu, hinter der eine etwas korpulente Frau mit roten Strähnchen saß. »Hmmm?«, machte sie und sah ihn blinzelnd an. »Einen wunderschönen guten Tag, ich möchte einen schönen, dunklen Rotwein«, sagte Micha in beiläufigem Ton. Sofort schien im gelangweilten Ausdruck der Frau etwas umzuschalten, und sie wurde ganz aufmerksam. »Wie wär’s mit Spätburgunder?«, fragte sie in leichtem ripuarischen Dialekt. »Ein griechischer wäre mir lieber.« Noch immer sprach Micha ganz unbefangen. Die Frau reagierte. »Ich verstehe«, sagte sie bedeutungsvoll und stand auf, um watschelnd im Lager zu verschwinden. »Einen Moment.« Verdutzt über die Einfachheit der Sache wandte Fritz sich an Micha: »Eine simple Parole. Klappt das immer so leicht?« »Nee. Die Azubis laufen manchmal weg.« »Also wissen die, was in den Flaschen ist.« »Gehe ich mal von aus, ja.« Ein paar Minuten später kehrte die speckige Frau zurück und überreichte Micha zwei Flaschen Hyperborea; eine war mit dem Jahrgang 2009 betitelt, die andere mit 2010. »Wir haben halbtrocken und lieblich«, flötete sie. »Danke, wir mal nehmen beide mit«, antwortete Micha und drückte Fritz eine der Flaschen in die Hand. »Machen Sie’s gut, schönen Tag noch.« Fritz entsann sich, dass Höflichkeit immer unverdächtig wirkte. Na prima, dachte er verdrießlich, als er nun die Falsche festhielt. Bestimmt werden sie mich jetzt als Laufburschen abstellen, um ständig dieses Zeug zu holen, da ich ja sonst zu nichts zu gebrauchen bin. Nachdem die beiden Männer den Getränkemarkt verlassen hatten, lehnte sich die gut ausgebildete Verkäuferin wieder in ihrem Stuhl hinter der Kasse zurück. Sie beobachtete ein paar Kunden bei den Biersorten, die lautstark diskutierten, was sie für ihre Party einkaufen sollten, und summte leise vor sich hin. Umso erschrockener war sie, als plötzlich ein Mann vor der Kasse stand, den sie gar nicht hatte kommen hören. Er war adrett gekleidet, hatte kurzes, braunes Haar und lächelte galant; seine Augen waren von einem intensiven, hellen Blau. »Guten Tag«, sagte er mit weicher Stimme. »Ich hätte gern einmal denselben Wein wie die beiden Herren, die gerade gegangen sind.« Innerlich zuckte die Frau zusammen. Dass jemand ohne Parole diesen ganz besonderen Wein verlangte, war ihr noch nicht untergekommen. Was hatte das zu bedeuten? »Oh«, begann sie nervös, sich darauf besinnend, dass sie den griechischen Roten ohne Geheimzeichen nicht herausgeben durfte. »Das … war leider unsere letzte Flasche.« »Oh. Wie schade«, bemerkte der Fremde und fuhr sich mit einer blassen Zungenspitze über die Lippen. »Und wann bekommen Sie wieder eine Lieferung?« »Nun ja … Vorerst nicht.« Sie schluckte; ihre Kehle war plötzlich ganz trocken. »Schade«, wiederholte der Mann, und obwohl er ihr in keiner Weise drohte, bekam die Verkäuferin plötzlich ein klammes Gefühl in der Brust, als stünde sie einem knurrenden Hund gegenüber. »Haben Sie … denn etwas anderes Rotes? Etwas, das … nicht von roten Trauben stammt?« Wieder lächelte er sie einnehmend an. »W-wir haben … roten Met«, antwortete sie ganz verwirrt. »W-Wikingerblut.« »Ah! Wikingerblut … Das ist ein schöner Name für ein Getränk.« Der Fremde sah durch sie hindurch, als dächte er intensiv über etwas nach, und seine Finger mit den ordentlich gefeilten Nägeln trommelten leise auf dem Kassentisch; dann befeuchtete er sich nochmals die Lippen und wandte sich ab. »Tja, vielleicht komme ich darauf zurück. Haben Sie einen friedlichen Feierabend.« Als er gegangen war, konnte die Verkäuferin nicht behaupten, ihn dabei gesehen zu haben. Er war einfach verschwunden. Nicht verschwunden dagegen war das Zittern, das sie während der Unterredung befallen hatte, und es sollte auch noch eine ganze Weile bleiben. Während der Abwesenheit des Suchtrupps, Tage zuvor, hatte Fritz Pfeiffers Laptop und den Internetanschluss dazu genutzt, den vier Kapellen, mit denen er zusammenarbeitete, nachzuforschen. Erstaunt hatte er festgestellt, dass er einige Lieder aus Kittys Sortiment wiedererkannte. Ihm fiel auf, dass die Bands nicht nur im Geheimen zusammenarbeiteten; auch musikalisch gab es Kooperationen zwischen ihnen. Fritz klickte sich durch Live-Auftritte, alberne Videos und Interview-Mitschnitte und entdeckte unter anderem, dass Saltatio Mortis gelegentlich zusammen mit Subway To Sally auftraten, Micha dafür mit Schandmaul gesungen hatte. Wer zu allen gute Beziehungen pflegte, war Asp: Seine gleichnamige Band ASP hatte ein Lied von Saltatio Mortis instrumentalisieren lassen, es hieß ›Besessen‹; außerdem sang er ein Duett mit Eric Fish, ›Zaubererbruder‹, und eins mit Micha namens ›Wer sonst‹. Fritz mochte die raue, düstere Musik nicht, aber er glaubte zu verstehen, warum andere sie mochten, etwa Kitty. Was er nicht fand, war eine Zusammenarbeit von In Extremo und Subway To Sally, doch damit hatte er irgendwie auch nicht gerechnet. Als er nun wieder mit Micha im Auto saß und sie auf das Künstlerviertel zusteuerten, musste er eine Sache, die ihm bei seinen Nachforschungen aufgefallen war, unbedingt noch ansprechen, so banal sie auch sein mochte. »Micha, ich … hab mir eure Musik angehört.« »Ach so?«, sagte Micha nur. »Was um alles in der Welt hat es mit diesem komischen Musikvideo Vollmond auf sich?« »Vollmond?«, wiederholte Micha. »Das ist doch hundert Jahre alt. Wo hast du das gefunden?« »Ihr habt alle Videos auf euer Website.« »Oh. Wusste ich gar nicht.« »Wieso durftet ihr das machen?«, fuhr Fritz erregt fort. »Ich meine – das war ein Outing! Sozusagen!« »So?« Wie schon so oft nahm Michas gleichgültige Miene ihm den Wind aus den Segeln. Er schaute gelassen auf die Straße. »Muss ich das echt erklären? Du hast keine Tarnlinsen drin! Du hast die Zähne draußen! Hat Buschfeldt das erlaubt?« »Och, wir hatten damals noch nicht Buschfeldt als Chef. Und Outing würde ich das nicht nennen. Denken doch alle, das war ’ne Verkleidung.« »Aber …!« Fritz war ganz platt. »Ihr habt doch alles verraten, was die MIU macht! Armbrüste, Natron-Kanonen … Ihr habt eure ganze Arbeitsweise offengelegt!« »Das interessiert doch keine Sau«, wehrte Micha ab, um Geduld bemüht. »Wir wollten ein Vampirvideo machen, also haben wir die Requisiten genommen, die wir hatten. Unsere Feinde kennen ja unsere Arbeitsweise sowieso. Keiner, der nicht eh bescheid weiß, denkt sich dabei irgendwas.« Schwungvoll drehte er das Lenkrad, um Fritz’ Auto um eine Biegung zu dirigieren. »Aber Buschfeldt hätte das nicht erlaubt, du hast du Recht, weil der nämlich ein Arschloch ist.« »Dachte ich’s mir doch«, grummelte Fritz. »Diese ganzen Hinweise im Video. Das Getränk am Anfang, das wie Rotwein aussieht … Hyperborea?« »Na klar.« »Und der Hund?« »Daisy, die hatten wir vor Amboss.« »Und was willst du mit der Schlagader von dem armen gefesselten Kerl? Ich denke, Vampire trinken aus der Vene.« »Ja, aber die Halsvene kannst du nicht tasten. Die läuft aber genau neben der Arterie, also sucht man einfach den Puls und geht von da dann zwei Fingerbreit nach vorne.« Micha fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und seine Mundwinkel zuckten kurz. »Der gefesselte Kerl ist übrigens unser Bassist.« »Ernsthaft? Der sah nicht glücklich aus.« »Doch. Total.« Er grinste. Fritz war klar, dass er das Gespräch nicht auf pulsierende Adern oder gefesselte Bassisten hätte lenken sollen. Etwas jämmerlich bemerkte er: »Das mit dem Zapfhahn … fand ich echt … voll … eklig.« Nun lachte Micha laut auf. »Nicht? Ich fand das hammer!« Er kicherte leise in sich hinein, bis sie den Stützpunkt erreichten. »Wir haben was Neues vor«, begrüßte sie El Silbador. »Haben es gerade eben ausgearbeitet. So was haben wir vorher noch nie gemacht und es wird uns auf unglaubliche Weise voranbringen, wenn wir den Todesfällen nachspüren. Wir nennen es: Genervtes, anhaltspunktloses Durchkämmen der Stadt.« »Ganz was Neues«, stimmte Micha ironisch zu. »Wenn ich das richtig sehe, habt ihr ja bisher rein gar nichts über die verantwortlichen Vampire rausgefunden«, brachte Eric Fish, der mit vor der Brust gekreuzten Armen mitten im Flur stand, das Problem aufs Tapet. »Wird Zeit für ein paar Ergebnisse.« »Dann bist du ja zur rechten Zeit gekommen, Hecht«, sagte Micha spöttisch. »Greif dir gleich Amboss und spür ihnen nach.« Eric warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ach ja, stimmt: Amboss hört ja nicht auf dich.« »Ich brauche keinen Hund, um Vampire zu verfolgen.« Eric kehrte Micha den Rücken und schob sich an Fritz vorbei, der noch im Flur stand, um zur Treppe zu gehen. Fritz wich automatisch beiseite und starrte dem Mann nach, von dem er bisher nicht wusste, was er von ihm halten sollte; dann stutzte er. Jetzt, da Eric Schal und Jacke nicht mehr trug, fiel an ihm etwas ins Auge, das zuvor verdeckt gewesen war: Etwa drei Finger breit rechts der Kehlgrube hatte Eric eine Vampirbisswunde am Hals. Sie sah relativ frisch aus; die beiden Einstichlöcher, wo die Fangzähne eingedrungen waren, schienen noch nicht verschorft zu sein. Hektisch fing Fritz Michas Blick auf, der Eric unfreundlich nachsah, doch sein Partner kommentierte die Wunde nicht, obwohl sie nicht zu übersehen war. Also schlich Fritz zu ihm hin und raunte, seine Irritation kund tuend: »Micha, hast du das gesehen? Eric wurde gebissen!« Micha zuckte demonstrativ die Schultern. »Kommt manchmal vor.« »Wie? Wann wurde er denn angegriffen?« »Gar nicht, wette ich. Eric ist Profi im Abwehren von Vampiren.« Fritz verstand nicht, was das bedeuten sollte. Micha seufzte und fuhr leise fort: »Boris meinte, er hat dich darauf hingewiesen, dass es … in der MIU Bands gibt, bei denen … naja.« Bedeutungsvoll tippte er sich mit zwei Fingern gegen die Halsseite. »Du weißt schon.« Fritz’ Mund klappte auf. Eigentlich hatte er diese Erkenntnis nicht in Worte kleiden wollen, allein schon deshalb, weil Micha es so penibel vermieden hatte, doch es brach sich von selbst Bahn: »Du meinst, er lässt sich beißen?« »Pssst!« Micha hob beschwörend die Hand. »Tabu-Thema. MIU-Vampire dürfen keine menschlichen Kollegen beißen, aber wenn das innerhalb von Bands passiert, ist das Privatsache. Darüber redet man nicht. Verstehst du?« »Aber …«, begann Fritz, »wieso sollte … warum muss denn – …« Micha würgte ihn ab: »Das geht uns ’nen Scheiß an, und jetzt belass es bitte dabei.« Mit einem letzten gewichtigen Blick beendete er das Gespräch. »Genervtes, anhaltspunktloses Durchkämmen der Stadt«, stöhnte Simon, als er und Fritz sich in ihrem gemeinsamen Zimmer schlafen legten. »Ich weiß genau, wie das laufen wird.« »Aber dieser Eric scheint einen Plan zu haben.« »Wahrscheinlich … Deshalb freut Buschfeldt sich ja ein Loch in den Bauch, dass er da ist. Aber ich freu mich auch drüber. Eric ist wirklich gut in seinem Job.« »Nur Micha mag ihn nicht.« »Naja … Micha ist ja so ein voll lockerer Typ, der alles weniger eng sieht, aber Eric arbeitet gerne schnell und effizient.« Der junge Mann reckte sich hoch und schaltete das Licht aus; Finsternis legte sich über den Schlafraum. »Micha wird dir bestimmt nicht sagen, wieso genau er ihn nicht mag … Er wird höchstens sagen, dass Eric ihm zu … ehrgeizig ist. Ja, ich glaube, so nennt er das.« »Kapiere ich nicht«, murmelte Fritz. Allmählich wurde er müde. »Ach, du wirst schon sehen, was zwischen den beiden läuft, wenn wir morgen genervt und anhaltspunktlos die Stadt durchkämmen.« Simon kuschelte sich raschelnd in seine Decke. »Naja, gute Nacht.« »Hmmm.« Jetzt, da seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, fiel Fritz auf, dass auch die Zimmerdecke ein Kunstwerk war: Ein leuchtender Sternenhimmel spannte sich über ihre Köpfe. Manche Dinge muss man wohl im Dunkeln suchen, dachte er, weil sie bei Licht nicht zu sehen sind. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)