Komm in meinen Schlaf von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Vertrauen (Amos) --------------------------- +++ Komm in meinen Schlaf Komm in meinen Schlaf Trockne meine Tränen Komm in meinen Schlaf +++ Einen Augenblick lang scheint die Zeit still zu stehen. Unsere Blicke treffen sich über das Spielbrett hinweg, das nun unbeachtet auf dem Boden liegt. Ich sehe das Erstaunen in ihrem Blick, merke, dass ich sie vollkommen überrascht habe mit meiner Frage. Doch nicht nur sie… ich habe auch mich selbst überrascht. Normalerweise denke ich nach, bevor ich etwas sage, halte meistens eher den Mund und lasse die Anderen reden. Das ist auch in dieser Traumwelt nicht anders, sondern gehört zu der Person, die ich nun einmal bin, ob es mir gefällt oder nicht. Wie also konnte es geschehen, dass mir diese Frage ungewollt über die Lippen rutscht? Und ich weiß, dass es mehr ist, als eine zufällige Aneinanderreihung nett gemeinter Worte. Ich bin kein sehr netter Mensch. Das Mädchen findet es lustig, wenn ich manchmal etwas Grobes sage. Sie ist wortgewandter, nennt mich dafür aber ehrlich. Vielleicht hat sie damit gar nicht mal Unrecht. Es ist ehrlich gemeint, wenn ich sie nach ihren Problemen frage. Erschrocken halte ich die Luft an als mir bewusst wird, wie ernst es mir damit ist. Obwohl wir uns schon öfters getroffen haben, weiß ich kaum etwas über sie. Bisher hatte ich auch nur selten das Bedürfnis, sie darauf anzusprechen, obwohl ich selbst, wenn ich wach bin und sich tatsächlich einmal die Gelegenheit dazu ergibt, kaum an etwas anderes denke. Ich stelle mir vor, was sie wohl den ganzen Tag über macht. Ihr Alltag wird ganz anders aussehen als meiner, denn mit ihrer offenen Art hätte sie wohl kaum eine Überlebenschance in meiner Welt. Stattdessen versuche ich, das, was ich in meinen anderen Träumen von diesem fremdartigen Leben sehe, auf sie zu übertragen, was wesentlich besser funktioniert. Ich sehe sie die breite Straße entlanglaufen, auf der zahlreiche Metallgefährte fahren - Autos in allen Farben und Formen - und bunte Läden, die mit Leuchtreklame auf sich aufmerksam machen. Ich höre den Lärm, den sie dabei verursachen, höre das Geschrei unzähliger Menschen. Das Mädchen ist mitten unter ihnen, vielleicht mit einer kleinen Gruppe Gefährten unterwegs. Sie lacht und verbreitet gute Laune unter ihren Begleitern, so wie sie es bei mir tut. Die Sonne scheint, aber es ist nicht so drückend heiß, wie in meiner Heimat. Nur der Geruch ist schlimmer - keine trockene, verbrannte Erde, dafür Abgase, verbrannte Reifen und die Ausdünstungen zu vieler Menschen die auf zu engem Raum zusammenwohnen. Manchmal stelle ich mir auch vor, dass sie ein richtiges Zuhause hat, einen Ort, wo sie in Frieden zusammen mit ihrer Familie wohnt. Sie essen zusammen, vielleicht hat sie kleine Geschwister, mit denen sie genauso spielt, wie mit mir eben. Diese Gedanken, so unsinnig sie auch erscheinen, beruhigen mich. Zu gerne wüsste ich, wie ihre Realität wirklich aussieht, ob meine Vermutungen stimmen oder nicht. Für mich ist längst klar, dass sie mehr ist, als ein Hirngespinst. Zum einen reicht meine Phantasie nicht aus, um eine solche Traumgestalt hinauf zu beschwören, andererseits wäre es doch wirklich Verschwendung, wenn sie nur nachts in meinem angeschlagenen Verstand Gestalt annehmen dürfte. Das Mädchen wendet zuerst den Blick ab und ich weiß, der Moment ist vorbei. Noch bevor die Worte ihren Mund verlassen, weiß ich, dass sie mir heute nichts von sich erzählen wird. Auch wenn ich damit gerechnet habe, bleibt ein bitterer Nachgeschmack in meinem Mund zurück. Mir wird bewusst, wie sehr ich mich nach ihren Worten sehne, nach der Gewissheit, dass ich nicht langsam aber stetig dem Wahnsinn verfalle. Sie könnte mich erlösen, tut es aber nicht. Warum sollte sie auch? Es ist viel verlangt von ihr, sich mir, einem Fremden, anzuvertrauen. Schmerzlich wird mir bewusst, dass ich noch nicht einmal ihren Namen kenne. Wie lange wir schweigend dasitzen, weiß ich nicht. Zum ersten Mal entsteht eine unangenehme Stille, von der ich nicht weiß, wie ich sie füllen soll. Verletzter Stolz, wie kindisch. Für so etwas bin ich eigentlich zu alt und derlei überflüssige Emotionen werden einem in meiner harschen Realität schnell ausgetrieben. Trotzdem kann ich nicht anders. Ihre Zurückweisung tut weh, gleichzeitig versuche ich jedoch eine Entschuldigung in meinem Kopf zu formulieren, die nicht wie eine halbherzige Lüge klingt, falls sie böse auf mich ist. Ich möchte mich nicht mit ihr streiten, das könnte ich noch viel weniger ertragen. Das Mädchen erhebt sich und beginnt wortlos das Spiel wegzuräumen. Dann geht sie zu den Schränken auf der anderen Seite des Raumes und kramt darin herum. Ein Impuls steigt in mir auf, sie anzufahren, sie zu einer Erklärung zu zwingen, doch ich unterdrücke ihn, sobald er mir auffällt, schockiert über meine plötzliche Wut. Das hier sollte eigentlich ein friedvoller Raum sein, nur jetzt habe ich ihn mir selber zerstört. Was, wenn ich jetzt nicht mehr hierher zurückkehren darf? Bisher hatte ich auch keine Gewalt darüber, wann ich herkommen darf. Wenn ich sie nun niemals wiedersehen darf, weiß ich nicht, was ich tun soll. „Hör auf damit.“ Überrascht blicke ich auf. Das Mädchen steht neben mir, beugt sich gerade vor, um ein Glas vor mir auf dem Tisch abzustellen. Eine weiße, trübe Flüssigkeit. Milch. Das kenne ich auch aus meiner Realität, nur hier auf der Insel schmeckt sie süßer. Sie stellt ein zweites Glas daneben, gefolgt von einer flachen Schale, auf der sich etwas zu essen befindet. Dann lässt sie sich neben mich fallen und schiebt mir die Schale unter die Nase. „Hier, Kekse. Nimm dir einen, dann reden wir. Zuhause werden ernste Themen immer bei Milch und Keksen besprochen.“ Automatisch greife ich nach dem angebotenen Keks - was für ein merkwürdiges Wort - und runzele die Stirn. Auch wenn ich verwirrt bin, habe ich noch nicht die vorherige Bemerkung vergessen. „Womit soll ich aufhören?“ „Du sollst aufhören, so viel nachzudenken. Ich sehe es dir an, in deinem Kopf drehen sich die Denkräder. Bald steigt dir Rauch aus den Ohren, wart’s nur ab.“ Sie greift nach meinem Gesicht, legt ihre Fingerspitzen auf meine Stirn und ahmt ein merkwürdiges, brummendes Geräusch nach. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. „So ist es besser.“ Das Mädchen nickt zufrieden, widmet ihre Aufmerksamkeit dann der Milch und nimmt sich ebenfalls etwas zu essen. Mehr um ihr einen Gefallen zu tun denn aus wirklichem Interesse, beiße ich in den Keks. Krümelig, trocken, viel zu süß. Mit dem Trinken zusammen kann ich ihn aber runterschlucken. Einen kurzen Moment herrscht Schweigen, diesmal nicht so unangenehm wie zuvor. Auch meine kreisenden Gedanken kommen zur Ruhe. „Es ist wirklich schön hier“, beginnt sie nach einiger Zeit leise. „Jedes Mal, wenn ich einschlafe, wünsche ich mir, hier wieder die Augen zu öffnen. Es passiert nicht sehr oft, deswegen freue ich mich umso mehr, wenn ich wieder hierhin kommen darf. Es fühlt sich ein wenig so an, wie Urlaub zu machen, nur dass ich dafür nicht weit wegfahren muss. Ich muss nur die Augen schließen und hoffen, wieder hier zu sein.“ Ich frage sie nicht danach, was Urlaub ist, wage es nicht, sie zu unterbrechen. Gebannt höre ich zu, wie sie mich ein kleines Stück in ihren Kopf lässt. „Die meiste Zeit über schlafe ich nicht sehr gut. Ich träume von wirklich schrecklichen Dingen. Deswegen bedeutet mir das hier“, sie macht eine ausladende Armbewegung, welche die gesamte Hütte umfasst, „umso mehr. So schön es auch ist, manchmal habe ich Angst, nicht mehr den Weg hierher zurückzufinden. Und das hier zu verlieren, könnte ich nicht ertragen.“ Sie sieht mich fest an, lächelt fast schon ein wenig verlegen. Ein warmes Kribbeln steigt in meiner Brust auf, denn ihr Blick ist sehr fokussiert, fast schon zu intensiv. Dennoch wage ich es nicht, wegzusehen. „Es ist nicht nur die Insel. Ich freue mich auch jedes Mal dich zu sehen. So viel Spaß wie hier hatte ich schon lange nicht mehr. Ich verbringe gerne Zeit mit dir. Vielleicht sogar zu gerne.“ Sie stockt. Ich wage es kaum zu atmen, will sie auf keinen Fall unterbrechen. Dann fängt sie sich wieder. „Realität oder Traum? Manchmal fühlen sich unsere Treffen realer an als das, was ich im wachen Zustand erlebe. Das kann gefährlich werden. Ich muss versuchen, beides voneinander zu trennen. Deswegen weiß ich nicht, wie viel ich dir erzählen soll.“ Ihre Worte treffen mich tief an einer Stelle, um die ich mich bisher nie viel gekümmert habe. Das gibt mir den nötigen Mut, den ich brauche, um ihre Hand zu ergreifen, ihr stumm ein bisschen Trost zu spenden. Dieses Geständnis ist ihr nicht leicht gefallen, das sehe ich ihr deutlich an. Ich will ihr etwas zurückgeben, damit sie sich deswegen nicht schlecht fühlen muss. Meine Sorge um sie ist größer als die Feigheit, die mich sonst davor bewahrt, etwas Derartiges einem anderen Menschen zu sagen. Ich hole tief Luft und fange dann an zu sprechen. „Mir geht es ähnlich. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir uns treffen können, auch wenn das ein denkbar ungewöhnlicher Ort ist.“ Sie lacht leise, was mir Mut gibt, fortzufahren. „Mein Leben ist nicht sehr schön und wird vermutlich auch nicht allzu lange andauern. Doch am Ende des Tages, auch wenn viele schlimme Dinge passiert sind, weiß ich, dass mich im Traum noch ein zweites Leben erwartet. Das hier“, ich wiederhole ihre Geste von eben, „ist ein Geschenk. Du bist ein Geschenk. Ich weiß was du meinst, wenn du sagst, dass hier fühlt sich realer an als das, was tagsüber passiert. Aber ist das wirklich so schlimm? Diese Träume sind für mich ein Lichtblick und ich danke dir mit allem was ich bin, dass du hier bei mir bist.“ Die Worte kamen viel zu schnell und ungeschickt aus meinem Mund hervor, auch wenn sie überraschend wohl gewählt waren für jemanden wie mich. Das Mädchen sieht mich mit großen Augen an, aber obwohl ich spüre, wie Blut in meine Wangen schießt, hält der Mut von eben an und ich wende mich nicht ab. Vielleicht war das doch ein bisschen zu viel, aber für Bedauern ist es nun zu spät. Ich habe mich ihr offenbart, wie niemals einem anderen Menschen zuvor. Was sie daraus macht, bleibt ihr überlassen. Stille. Dann ein leises Pfeifen, das ich zunächst für den Wind halte, bis mein Verstand einsetzt und diese Vermutung vernichtet. Unsere gemeinsame Zeit ist abgelaufen. Das Mädchen blinzelt, scheint das Geräusch ebenfalls zu hören. Die Welt um mich herum verschwimmt langsam, doch ich halte noch immer ihre Hand fest umklammert. Soll der erste Versuch, die Barriere zu zerstören, die uns umgibt, so enden? Ich spüre, wie ihre Hand mir entrissen wird und ein lautes Tosen einsetzt. Vorher jedoch meine ich, noch einmal ihre Stimme zu hören, die mir leise etwas ins Ohr flüstert. Ich schließe die Worte in mein Herz, denn es ist zu spät, noch etwas zu erwidern und lasse mich von dem Sturm fortragen. In meinem Kopf jedoch höre ich sie immer und immer wieder, das bisher größte Geschenk, das sie mir bereitet hat. „Ich heiße Pauline.“ +++ Ende +++ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)