Knochenschmetterling von Lianait (Grau in Grau) ================================================================================ Kapitel 1: Alltägliche Pflichten -------------------------------- Als die Pausenglocke endlich klingelte, musste Clara einen erleichterten Seufzer unterdrücken; sie wäre ein schlechtes Vorbild, wenn sie sich so einfach gehen lassen würde. Dennoch ließ sie sich auch nicht unbedingt übermäßig viel Zeit damit, ihre Sachen zusammenzupacken. Diese Geschichtsstunde hatte ihr rein gar nichts gebracht. Natürlich war es wichtig, die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, aber sie hatte eben zum gefühlten tausendsten Mal gehört, wie sich die Delegationen der Engel und Dämonen mit den britischen Truppen zusammen getan hatten und so die noch immer aktuelle britisch-deutsche Grenze außerhalb des damaligen Militärlagers Thilon etablieren konnten. Und wenn sie in der nächsten Unterrichtsstunde schon wieder hörte, wie die Schweiz von Lichtenstein annektiert wurde, würde sie wahrscheinlich laut aufschreien. Vorbild hin oder her. Als sie ihrem Geschichtslehrer, Herr Morrison, zum Abschied freundlich zunickte, versuchte sie sich ihren inneren Unmut jedoch nicht anmerken zu lassen. Außerhalb des Klassenraumes korrigierte Clara noch einmal ihre Haltung und ging raschen Schrittes durch die Gänge des Schulgebäudes, ohne zu rennen, bis sie endlich in einem leeren Korridor ankam. Als sie sich wirklich sicher war, alleine zu sein, zückte sie ihr Handy. Wieder nichts. Auch wenn Jonathan sie vorgewarnt hatte, hatte Clara irgendwie nicht vollständig daran geglaubt, dass er sich nicht melden würde. Selbst wenn sein Handy kaputt war. Aber es war jetzt schon über eine Woche her, dass sie sich von ihm im Stadtpark verabschiedet hatte und er hatte sich immer noch nicht bei ihr gemeldet. Noch nicht einmal nach dem großen Sturm, der die ganze Stadt mitgenommen hatte. Ihm war doch nichts passiert, oder? Nein. Wenn ihm etwas passiert war, dann hätten die Medien längst darüber berichtet. Keine Nachrichten waren also gute Nachrichten. Zumindest redete sie sich das ein. Aber auch wenn Jonathan jemand war, der die Einsamkeit bevorzugte, war er nie vollständig alleine und so langsam begann Clara sich doch ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Jonathan und sein Vater hatten sich nie sonderlich nahe gestanden, doch der Mord an ihm vor ein paar Wochen hatte Jonathan sichtlich mitgenommen. Wie um das Handy zu einer Antwort zu zwingen, starrte sie auf das leere Display, von dem ihr nur die Uhrzeit entgegenblinkte. Natürlich brachte es nichts, denn Jonathans Handy war nach seiner eigenen Aussage nur noch ein klägliches Häufchen seiner Einzelteile. Mit einem Seufzen klappte sie ihr Handy wieder zu. „Ich dachte, der Gebrauch von Handys sei auf dem Schulgelände verboten?“, ertönte urplötzlich eine männliche Stimme sehr dicht an ihrem Ohr, sodass Clara den Atem des Sprechers im Nacken fühlen konnte. Einen Augenblick lang blieb ihr Herz stehen und sie fror regelrecht ein, ehe sie endlich herumwirbelte. Vor ihr stand niemand anderes als Gareth Fairburn, die Geißel ihres Komiteevorsitzes, und grinste sie so breit an, dass seine grünen Augen dabei schalkhaft funkelten. „Oder sollte ich mich dabei irren, werte Frau Disziplinarkomitee?“ Mit einem weiteren Seufzen ließ sie ihr Handy in der Rocktasche ihrer Schuluniform verschwinden. Sein Grinsen sollte verboten werden, dachte sich Clara. Wäre sie jetzt nicht Clara Mors, Vorsitzende des Disziplinarkomitees ihrer Schule und Tochter von Willfried Mors, wäre alles so viel einfacher. Sie könnte ihm einfach einen gezielten Schlag in die Magengegend verpassen und die ganze Sache wäre gegessen… er würde ihr nie wieder auf die Nerven gehen… Aber leider war sie Clara Mors. „Nein“, erwiderte sie so gelassen wie möglich, „aber geh ruhig zu einem Lehrer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mir diesen einen Fehltritt in diesem einen Fall nachsieht – besonders da ich das Handy nicht benutzt habe – schließlich bin ich ja auch nicht diejenige, die sich bei der Lieferfirma als Schuldirektor ausgegeben und behauptet hat, wir bräuchten keinen neuen Lehrbücher für Biotechnik.“ „Schade. Wer auch immer das war, wäre mein persönlicher Held“, konterte er und sein Gesicht nahm einen versonnenen Ausdruck an. Clara erlaubte sich an dieser Stelle ein entnervtes Rollen mit ihren Augen; schließlich wussten sie beide, dass er es gewesen war, auch wenn Clara nach wie vor stichhaltige Beweise fehlten. Als unerwartet aus einem der anliegenden Korridore Geräusche laut wurden, wandte sie den Kopf in die entsprechende Richtung und runzelte leicht die Stirn. Das klingt verdächtig nach einer Schlägerei oder einem gewalttätigen Mobbingversuch… Killian wird noch nicht schon wieder in eine Schlägerei verwickelt sein… Oder? Ehe sie allerdings ihren dringenderen Pflichten nach- und der Ursache dieser ungewöhnlichen Geräusche auf den Grund gehen konnte, musste sie sich erst um das großgewachsene Problem in Schuluniform vor sich kümmern. Fairburn stand gelassen nicht einmal einen Meter von ihr entfernt und seine Augenbrauen waren erwartungsvoll gehoben, als sie ihren Blick wieder auf ihn richtete. Dass er es zermürbender Weise auch noch schaffte, dabei gut auszusehen, störte Clara mehr, als sie eigentlich zugeben wollte. Was sie allerdings am meisten störte, war die Tatsache, dass es ihm bewusst war. „Ehrlich gesagt, ist es mir egal, was du machst, Fairburn. Ob du zu einem Lehrer gehst oder nicht, aber ich habe noch andere Dinge zu erledigen.“ Sie versuchte sich an ihm vorbeizuschieben, doch er stand ihr immer noch im Weg und ihr blieb nur die Möglichkeit auf seine schlampig gebundene Krawatte zu starren. „Die da wären? Vielleicht einen Anruf tätigen? Wer der Glückliche wohl sein mag?“, fragte er sich versonnen. Clara war den ganzen Tag schon außerordentlich schlecht gelaunt und nun platzte es aus ihr heraus. Ihre Familie, Jonathans spurloses Verschwinden, die Sache mit Moira und sogar der verdammte Geschichtsunterricht, der sich jedes Jahr wiederholte. „Mein seit fast vier Wochen verschwundener Verlobter, wenn du es unbedingt wissen musst! Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest; ich habe da hinten eine Schlägerei zu schlichten.“ Sie ließ sich gar keine Zeit sein eingefrorenes Lächeln zu bewundern, sondern nutzte die Gelegenheit sich an ihm vorbei zu drängen. Sie drehte sich nur noch einmal zu ihm um und rief ihm im Gehen über ihre Schulter hinweg zu: „Und binde deine Krawatte richtig!“ Seine Miene wirkte geschockt , als er sich die Krawatte richtete, doch sie achtete nicht weiter auf ihn. Jedoch als sie um die Ecke in den angrenzenden Korridor bog, aus dem die ungewöhnlichen Laute kamen, besserte sich ihre Laune kein Stück. Killian konnte doch. Die Lincoln School besaß unterschwellig mittlerweile schon den den Tatsachen entsprechenden Ruf, dass die reichen Schüler nicht gerade zimperlich mit den Stipendiaten umgingen, doch Killian Limmers hatte es auf eine den meisten noch immer vollkommen unbekannte Art und Weise geschafft, in der ganzen Schule – also auch in anderen Jahrgängen – als allgemeingültige Zielscheibe anerkannt zu werden. Erst diesen Morgen hatte Clara ihn wieder einmal davor bewahrt, seinen Tisch von Bioabfällen befreien zu müssen. Doch jetzt, keine vier Stunden später, standen schon wieder drei ältere Schüler in einem Halbkreis um ihn herum, während einer von ihnen Killian gegen die Wand drückte. Clara versuchte, nicht schon wieder in kürzester Zeit zu seufzen, doch verlor leider auch diesen Kampf. Heute war wohl einfach nicht ihr Tag. „Hey!“, rief sie, um sich ihre Aufmerksamkeit zu verschaffen, als sie auf die Gruppe zutrat. „Was?!“, wollte einer der älteren Schüler ungehalten wissen, und drehte sich mit einem entnervten Blick zu Clara um. Als er sie allerdings erkannte, gefror zuerst seine Miene, ehe sich seine Augen überrascht weiteten. Solche Reaktionen waren viel eher nach Claras Geschmack. „Würdet ihr mir bitte erklären, was ihr hier veranstaltet?“, fragte sie und machte einmal keinen Hehl daraus ihre ausgesprochen schlechte Laune zu verstecken, sondern funkelte die drei Schüler wütend an. Die drei warfen sich unsichere Blicke zu und Clara wusste, dass sie sich schon unter gewöhnlichen Umständen ungern mit ihr angelegt hätten, doch wenn sie jetzt auch noch richtig wütend war… „Wir-“, begann einer der drei, ein großer schlaksiger Kerl, „ihm ist ein Buch runtergefallen und wir wollten es ihm nur zurückgeben…“, schloss er kleinlaut. „Mit drei Leuten?“, kam es ironisch von Clara. „Muss ja ein mächtig schweres Buch sein.“ „Also – wir wollen keinen Ärger, okay?“, ergriff der Mopsige der Drei - schließlich gab es immer einen - das Wort. „Hier, sieh mal“, meinte er und hielt ein lädiertes Mathebuch aus zweiter Hand hoch und reichte es Kilian, der immer noch an der Wand lehnte und das Buch mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht entgegennahm. „Ist doch alles wieder in Ordnung, nicht?“, fragte der Dritte, ein nichtssagender Kerl mit Pferdeschwanz, und die Drei bemühten sich augenblicklich aus Claras Reichweite zu gelangen; sie flohen regelrecht den Korridor hinunter. Clara sah ihnen mit zusammengekniffenen Augen hinterher, ehe sie sich Killian zuwandte. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. Er nickte und atmete geschlagen aus, während er die Wand hinunterrutschte. Allerdings waren sie nicht allein. Schaulustige Schüler standen noch immer im Gang und beobachteten sie, einige sogar mit offenem Mund. Da sie endlich ihre Ruhe haben wollte, stemmte sie ihre Hände in die Hüften und fasste den restlichen Korridor in ihr Blickfeld. Die Geste hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, denn die anwesenden Schüler bemühten sich möglichst beschäftigt auszusehen, während sie rasch den Korridor räumten. Als die letzten Schüler aus dem Korridor verschwanden, stellte sich Clara an eins der Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie auf den Hof hinunterblickte. Keine drei Minuten später bemerkte sie, wie sich Killian zu ihr stellte, sich zwar mit seinem Hinterteil an die Fensterbank lehnte, aber ansonsten dieselbe Position einnahm, wie sie, sodass ihr klar war, dass sie alleine im Gang waren. „Will ich es wissen?“, fragte sie. „Nein, ich denke nicht“, antworte er ihr mit einem Grinsen, das er allein ihr in der ganzen Schule zeigte, und warf ein Portemonnaie hoch, das ganz sicher nicht ihm gehörte. Nun, sie war nicht mehr ganz alleine; Moira Grimoxley wusste mittlerweile etwas mehr als der Rest der Schüler. Clara mochte Moira, wirklich, aber sie war nicht sonderlich glücklich mit dieser Entwicklung. Als sie nicht reagierte, verschwand langsam das Grinsen aus seinem Gesicht und er runzelte die Stirn. „Was ist los, Boss? Heute warst du ein bisschen… nicht so kühl wie sonst“, wollte er wissen. Clara gab einen unbestimmten Laut von sich. „Jonathan?“, hakte er weiter in einem sanfteren Tonfall nach. „Und Fairburn“, antwortete widerstrebend mit einem Grummeln. „Eine ganz beschissene Kombi, sag ich dir.“ Während sie weiter finster aus dem Fenster starrte, versuchte sie Fairburns blasses und geschocktes Gesicht aus ihren Gedanken zu vertreiben, dass sich aus unerfindlichen Gründen dort eingenistet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)