Harmonie von Seraphin ================================================================================ Kapitel 38: Leben lernen ------------------------ Kapitel 38: Leben lernen „Das ist das Allerletzte. Das ist einfach eine Frechheit, mich so zu behandeln. Was denken Sie denn, wer ich bin? Ich komme heim und werde von diesem… diesem…diesem Straftribunal empfangen, als wenn ich ein Verbrecher wäre. Ich komm nur ins Zimmer rein und schon geht das Theater los und alle heulen und schreien mich an. Ja, und dann werde ich… von wegen Respekt im Umgang miteinander! Meine Mutter hat mir ein paar runtergehauen und Hermine hat mich angeschrieen, geschlagen und beleidigt… und dann werde ich von Vater, ja, ausgerechnet von dem, hierher verschleppt und muss mir Gewalt antun lassen und…“ „Draco! Sie übertreiben.“ Draco rieb sich den Hals, der nach dem recht unsanften Magenauspumpen in der Nacht immer noch brannte und zog die Knie an die Brust. Er hatte den armen Harvey an den Ohren und ließ ihn ständig Kopfüberschlag machen. „Das ist lächerlich! Und für was? Es ist absolut nichts passiert, ich werde hier wie ein Kleinkind behandelt. Das lasse ich mir nicht gefallen.“ Sayer saß in einem Sessel ihm gegenüber, rollte genervt die Augen und trippelte mit den Fingern auf der Armlehne des Sessels. „Niemand wusste, wo Sie waren und dann kommen Sie mitten in der Nacht betrunken nach Hause und…“ „Das stimmt doch gar nicht! Ich war nicht betrunken! Nicht richtig.“ Draco wusste, dass er sich wie ein trotziges Kleinkind anhörte, dennoch wollte er diese maßlose Übertreibung nicht auf sich sitzen lassen. „Ich hatte ein paar Drinks und war vielleicht etwas… angeheitert. Na und? Ich habe nicht besoffen in der Ecke gelegen wie mein Vater, der war…“ „Das interessiert uns jetzt im Moment überhaupt nicht. Hören Sie damit auf ständig auf Ihren Vater auszuweichen, wenn man Ihnen Vorwürfe macht. Wir reden jetzt nur über Sie und Ihr gestriges Verhalten.“ Meihun Chang, die kerzengerade auf einem Stuhl neben Sayer saß, verschränkte die Arme und bedachte ihn mit dem ihr typischen, strengen Kindermädchenblick. „Nochmal“, Draco schleuderte Harvey zu Boden und trat nach ihm, „ich habe nicht viel getrunken. Ich war brav, ich hab sogar daran gedacht zu essen und hab die Drinks gut über den Abend verteilt. Ich hatte mich absolut unter Kontrolle. Wir haben alte Freunde getroffen und… wissen Sie, wann wir das letzte Mal richtig miteinander geredet haben? Das ist ewig her und es war einfach gut, mit diesen Leuten zusammenzusitzen. Merlin, ich… ich bin doch kein kleines Kind mehr. Ich habe gewusst, wann Schluss war und bin gegangen, bevor ich richtig besoffen war. Ich wollte nur ein bisschen Spaß haben und dann komme ich heim und werde von… argh… vom Aushilfs-Zaubergamott empfangen und hierher verschleppt.“ Er verschränkte trotzig die Arme und runzelte verärgert die Stirn. „Das ist absoluter Schwachsinn. Ich verlange, dass sie sich bei mir entschuldigen. Das ist so dermaßen dämlich…“ „Und es war natürlich eine ausgenommen reife, kluge Idee, die halbe Nacht wegzubleiben und niemandem zu sagen, wo Sie sind. Sie halten es für übertrieben, dass man sich Sorgen macht, wenn Sie nicht zu finden sind, obwohl man Sie, als Sie das letzte Mal einfach verschwunden sind, von der Decke einer Besenkammer baumelnd gefunden hat?“ Sayers Stimme war ruhig und bedächtig wie immer. „Ja, was hätte ich denn machen sollen? Ich wusste ja nicht, wie lange es dauern würde und… es wäre mir ziemlich peinlich gewesen, mitten im Gespräch aufzustehen, um meine Mami zu fragen, ob ich noch ein bisschen bleiben kann. Das können Sie nicht mit der Besenkammer vergleichen. Ich wollte doch nur mal wieder was anderes sehen und… also, ich sehe nicht ein, mich hier wie einen Komasäufer behandeln zu lassen!“ Der Heiler verzog das Gesicht. Er fuhr mit dem Finger über den Krankenhausbericht, der verfasst worden war, während man den Alkohol aus Draco herausgeholt hatte. „Hmm, 1,1 Promille“ sagte er und reichte die Akte an seine Kollegin weiter. „Ja, bitte, das ist nichts…“ „Naja, nichts ist das nicht. Sagen wir so, es wäre unter anderen Umständen okay, für einen jungen Mann wie Sie.“ „Ja, eben, ich bin erwachsen…“ „Das haben Sie schon mal gesagt. Nur frage ich mich, wie erwachsen und reif es ist, mehrere Flaschen von diesen Party-Drinks zu trinken, nachdem man Ihnen doch gesagt hat, dass bereits geringe Mengen Alkohol einen Gehirnschlag auslösen könnten?“ Ein Gefühl, als ob man ihn gerade mit einer harten Faust in den Bauch geboxt hätte. Deswegen also das Magenauspumpen. Draco beugte sich vor, um Harvey wieder aufzuheben. Er schob die Unterlippe vor und zog den Hasen ganz dicht an sich, um ihm die Ohren zu kraulen. „Daran hab ich nicht gedacht. Ich wollte doch nicht… Ich wollte einfach nur mal ein bisschen rauskommen und Spaß haben. Das ist doch normal, das will doch jeder mal“, murmelte er betreten. Seine Wangen brannten und erneut schmerzte sein Hals. Nicht wie vorhin, als er die Nachwirkungen des Auspump-Zaubers gespürt hatte. Es waren eher die Halsschmerzen rings um seinen Hals, die er immer noch hatte, wenn man ihn auf die Besenkammer ansprach. „Es geht mir doch besser, in letzter Zeit. Das haben Sie doch selbst gesagt. Ich will einfach nicht dauerbewacht werden und wie ein Kleinkind leben. Es nervt mich… Ich meine, ich bin…“ „Und warum haben Sie dann nicht doch eine Eule geschickt, wo Sie sind? Sie hätten Hermine doch fragen können, ob sie mitgehen würde? Sie hätten diese ganze Aufregung einfach vermeiden können, indem Sie Hermine mitgenommen hätten. Haben Sie nicht selbst gesagt, dass Sie gerne öfter mit ihr alleine wären?“ Heilerin Chang zog die Augenbrauen hoch und sah aus, als ob sie diesen Vorschlag tatsächlich ernst meinte. „Aber… aber Sie sagten doch, dass man uns nicht… und… Hermine ist manchmal schlimmer als meine Mutter. Sie ist so überkorrekt. Sie hätte mich nicht einen Schluck trinken lassen und um zehn hätte sie mich ins Bett geschickt.“ „Sie wollen also“, fuhr Sayer statt Chang weiter fort, „das man Ihnen mehr Freiheiten lässt und Ihrer Familie sagt, dass sie die Dauerbewachung einstellen sollen?“ Harvey fiel aus Dracos Fingern. Er sah von Chang zu Sayer und von Sayer zu Chang. Konnten sie das wirklich ernst meinen? „Aber… aber Sie sagten doch, dass ich… nicht alleine bleiben soll.“ „Das haben wir früher gesagt, Draco“, erklärte Chang ruhig. „ Sie sagten selbst, dass es Ihnen jetzt besser geht. Eine ganze Weile schon besuchen Sie hier den Kurs, um sich auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Wie ich gehört habe, sind Sie mittlerweile recht fit. Warum keine Nägel mit Köpfen machen? Wir melden Sie für die Nachprüfung im Ministerium an und reduzieren Ihre Klinikstunden. Wenn Sie gleich eine Stelle finden, können Sie auch nur noch halbtags herkommen. Vielleicht sind Sie ja wirklich so weit, dass wir die Therapie langsam zurückfahren können.“ Draco wurde gleichzeitig heiß und kalt. Sein Mund staubtrocken, seine Zunge lahm und schwer. „Aber, aber…“ Heilerin Chang nickte nachdrücklich. „Im Grunde haben Sie ja recht. Sie sind alt genug, um mit Ihren Freunden auf eine Party zu gehen. Sie haben sich nicht kopflos betrunken und es kam auch zu keinen anderen Ausschreitungen. Sie sagten selbst, Sie wollten nur einen netten Abend mit Freunden haben und den hatten Sie. Sie hätten sagen sollen, wo Sie sind, aber ansonsten… Gut, das mit den Medikamenten hätte bei Ihnen und Pucey böse ins Auge gehen können, wir nehmen Ihnen aber ab, dass Sie das tatsächlich nicht bedacht haben. Wir sind sogar ein wenig beeindruckt davon, dass Sie sich dazu überwunden haben auszugehen, wo Sie sich doch sonst so gerne vor Ihren Mitmenschen verstecken. Das ist ein gutes Zeichen, dass Sie von sich aus den Wunsch hatten, mit Ihren Freunden zusammen zu sein. Ich denke auch, wir sollten langsam beginnen, die Therapie herunterzufahren.“ Draco biss sich auf die Lippen. Er wurde unruhig. Natürlich wollte er das. Natürlich verfluchte er täglich der Reihe nach Lucius, dann Hermine und zuletzt Narzissa für ihre Überfürsorge, doch andererseits… die Idee, dass man ihn nicht nur wie einen Erwachsenen behandelte, sondern von ihm auch erwartete, sich genauso zu benehmen, hatte etwas Erschreckendes. „Ich weiß nicht.“ Sein Hals zog sich zusammen. Der Narbenring schmerzte heftiger. Er rieb sich unwillkürlich den Hals, doch ließ er die Hand wieder sinken als er sah, wie sich Sayer und Chang daraufhin bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. „Absolut, Draco. Sie sind ein erwachsener Mann, Sie sollten Ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Wir müssen uns wegen der Medikamente zusammensetzen, aber warum sollten Sie nicht öfter ausgehen dürfen? Oh, und warum fangen Sie nicht damit an, ein paar Bewerbungen zu schreiben? Wenn Sie die Prüfung im März ablegen, könnte es danach doch gleich losgehen.“ „Ich will schon. Sie wissen, dass ich schon lange wieder… ich weiß nicht so recht. Aber…“ Der Widerspruch entzündete fast so etwas wie Hoffnung auf Schutz in seinem Herzen. „Sie würden nicht mitmachen. Also zuhause. Sie halten mich nach wie vor für eine Gefahr und… also, wenn sie mir ein paar Freiheiten mehr lassen würden, aber ich weiß nicht…“ Sayer lächelte freundlich, doch schüttelte er auf diese vernünftige Art den Kopf, die Draco jedes Mal wütend mache, da er sich selbst dann wieder besonders albern vorkam. „Es wird langsam Zeit, dass sie sich selbst dazu entscheiden, gesund werden zu wollen. Sie können nicht darauf hoffen, dass man Ihnen Narrenfreiheit lässt, ohne dann auch Verantwortung zu übernehmen. Wenn Sie wie ein Erwachsener behandelt werden wollen, müssen Sie sich auch so benehmen können.“ Chang räusperte sich, schenkte ihm einen prüfenden Blick und mutmaßte treffsicher: „Es verletzt Sie doch schon lange, dass ihre Freundin im Ministerium arbeitet und Sie keinen Schulabschluss haben. Oder? Dann machen Sie ihn! Wir haben darüber bereits gesprochen. Sie haben gelernt und können sich für die Prüfung noch nachmelden. Wenn Sie sich heute noch anmelden…“ „Wie? Ich selbst?“ „Natürlich Sie selbst, wer sonst? Sie müssen sich allerdings darüber im Klaren sein, dass Sie nach der Prüfung eine Stelle suchen müssen und nicht mehr den ganzen Tag hier oder im Manor sein können.“ Sein Hals schmerzte schlimmer. Natürlich hatte er die ganzen letzten Monate immer wieder gesagt, dass er genau das wollte. Dass er ebenso erwachsen sein wollte wie Hermine, aber dass man genau das nun von ihm verlange, machte ihm doch etwas Angst. Er drückte Harvey an sich und warf ihm einen ängstlichen Blick zu. „Ich weiß nicht. Ich… aber… ähm. Ich kann aber immer noch nicht… die halten mich zuhause für… Es gibt immer mal wieder Tage, wo…“ „Wollen Sie immer noch sterben, Draco? Denken Sie in diesem Moment immer noch, dass Sie es nicht verdient haben zu leben und alles viel einfacher wäre, wenn Sie tot wären?“ Draco warf Sayer einen scheuen Blick zu, wandte sich sofort wieder Harvey zu und schluckte hart. Er schloss die Augen und ging einen Moment in sich. Die Frage war gar nicht so leicht. „Ich… im Moment eher nicht. Aber… aber trotzdem ist immer…“ „Sie sollten sich diesbezüglich keine Illusionen machen, Draco“, belehrte Chang weiter. „Es kann noch Jahre dauern, bis Sie sich wirklich wieder richtig gut fühlen. Ich will Ihnen wirklich keine Angst machen oder Sie entmutigen, aber es wird nie wieder so sein wie vorher. Das ist eine Zeit in Ihrem Leben, die nicht zu leugnen ist. Sie müssen sich damit abfinden, dass das noch eine ganze Zeit sehr anstrengend für Sie sein wird. Dennoch denken wir, dass Sie sich seit einigen Wochen etwas hinter Ihrer Krankheit verstecken, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Sehen Sie…. Wir wissen, dass Sie sich in dieser Todesserzeit sehr alleine gefühlt haben und dass niemand auf Sie Rücksicht genommen hat. Jetzt hingegen bekommen Sie von allen Seiten uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Zuneigung. Das mag Ihnen zwar auf die Nerven gehen, aber ich glaube, es fühlt sich vielleicht gar nicht so schlecht an. Oder?“ Dracos Wangen brannten immer heißer. Das war peinlich, wirklich peinlich. Dennoch nickte er. „Meine Eltern waren immer… also, sie hatten sehr viel mit sich selbst zu tun und seitdem. Sie sind jetzt ganz anders als vorher. Also auch anders, als vor der Rückkehr von… sie geben sich richtig Mühe. Und ich…“ Er schluckte und atmete tief durch. „Hermine macht mir keine Vorwürfe, dass Ron Weasley tot ist. Ich, ehrlich gesagt habe ich Angst, dass sie wieder wütend auf mich ist, wenn Sie ihr sagen, dass sie mich normal behandeln soll. Ich habe Angst, dass sie dann Schluss macht.“ „Sie ist sogar sehr wütend auf Sie. Immer noch.“ Chang atmete tief durch, überlegte einen Moment, dann nickte sie zu sich selbst und formulierte diesen für Draco äußerst erschreckenden Satz neu. „Sie ist wütend und sie vermisst Ron sehr. Aber sie hasst Sie nicht. Und selbst wenn sie es täte, sie hat ein Recht darauf, das zu fühlen, was sie fühlt. Sie können nicht alles bestimmen, auch wenn Sie sich dann sicherer fühlen. Ich denke, Sie sollten Ihrer Familie die Chance geben, Ihnen zu beweisen, dass sie Sie nicht nur deswegen lieben, weil sie es müssen. Das, was in den letzten Monaten war, waren recht verzweifelte und heftige Versuche, Ihre Familie dazu zu zwingen, sich liebevoll um Sie zu kümmern. Das ist auf Dauer aber für alle anstrengend. Auch für Sie selbst. Es würde allen gut tun, wenn wir ein Stück Normalität wagen würden. Verstehen Sie mich richtig. Sie sind noch nicht so weit, die Therapie abzusetzen. Sie sollten auch nicht vollkommen alleine wohnen und eine Vollzeitstelle wäre sicher eine Überforderung. Aber dennoch sollten wir Änderungen angehen. Wir haben alle drei, Ihre Eltern und Hermine für heute Mittag eingeladen, weil wir über den Vorfall gestern Abend reden wollten. Sie sollten die Größe haben, sich dafür zu entschuldigen. Es war einfach nur unsensibel, bis spät in die Nacht wegzubleiben, während Ihre Familie Todesängste ausstehen muss. Zeigen Sie, dass Sie ein Erwachsener sind und dazu stehen können, dass Sie Mist gebaut haben. Dann wird man Ihnen auch zuhören, wenn Sie sagen, dass Sie mehr Freiraum brauchten, von Ihrer Freundin nicht ständig bemuttert werden wollen und dass es Ihnen besser geht. Wir werden dann gemeinsam über die Medikamente reden. Wir werden über die Abschlussprüfung reden und über einen möglichen Berufseinstieg.“ Sayer hob die Hand, um zu zeigen, dass er auch noch etwas sagen wollte. „Ich sehe, dass Sie nervös werden. Sie sind etwas blasser geworden und wirken unruhig. Dennoch kommen Sie damit zurecht. Sie schreien nicht herum, schlagen nicht um sich, wollen nicht wegrennen, sondern können hier weiter sitzen und zuhören, wie wir über Dinge reden, von denen uns bewusst ist, dass sie sehr bedrohlich sein müssen. Sehen Sie, es gibt große Fortschritte und Sie sagen selbst, dass Sie diese komplette Fürsorge nicht mehr für nötig halten. Sie sagen, dass es Ihnen besser geht. Auch wenn da ganz viel Magengrummeln dabei ist, geben Sie sich selbst die Chance, ein Stück weiter in Richtung Normalität zu gehen. Niemand erwartet von Ihnen, dass das problemlos und über Nacht geht. Sie müssen nicht ab morgen perfekt und ohne Hilfe funktionieren. Aber wagen Sie es, überhaupt zu funktionieren. Solche Aktionen wie gestern, das haben Sie doch gar nicht nötig. Wir haben das Gefühl, dass Sie solche Dinge unbewusst tun, um die anderen dazu zu drängen, sich um Sie zu sorgen.“ Er lächelte, biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. „Wissen Sie, als Sie hierher kamen, waren Sie ein zorniges, uneinsichtiges Kind, das den ganzen Tag übelste Anschuldigungen gegen sich selbst und alle anderen in der Welt ausgestoßen hat. Das ist schon eine ganze Zeit lang nicht mehr so. Ich habe viel eher das Gefühl, dass Sie es heimlich richtig genießen, von allen Seiten so viel Fürsorge zu bekommen. Aber, wie Sie selbst sagen, Sie sind kein kleines Kind mehr. Riskieren Sie Normalität, Sie können dabei nur gewinnen.“ Draco fühlte sich langsam aber sicher in die Enge getrieben. Das klang ja, als ob diese Leute ihn heute Mittag hinauswerfen wollten. Aber seine Eltern bezahlten das doch alles hier, da konnte man ihn nicht einfach rausschmeißen. „Wenn irgendwas passiert, also mit mir, weil Sie mich hier langsam hängen lassen wollen, dann wird mein Vater Sie verklagen und Sie müssen bis an Ihr Lebensende zahlen. Sie werden diese ganze Klinik verkaufen müssen. Ihr Lebenswerk!“ Draco überlegte fieberhaft, womit er den beiden Heilern noch alles drohen konnte. Es musste doch irgendetwas geben, damit sie einsahen, dass er nicht… nicht sofort… das ging zu schnell. „Was ist eigentlich mit den anderen beiden? Warum werde immer ich zu Gesprächen hergerufen und die anderen lässt man in Ruhe? Adrian war genauso lange weg und Marcus hat uns in der Winkelgasse einfach sitzen gelassen.“ Heilerin Chang sog scharf Luft ein. Sie warf dem Heiler einen bestürzten Blick zu. Draco konnte sehen, wie die Feder zwischen Sayers Fingern zu wackeln begann und hässliche Tintenkleckse auf seiner Hose verteilte. „Wissen Sie das denn nicht?“, fragte Heilerin Chang vorsichtig. „Wissen Sie nicht, warum sich Ihre Familie so große Sorgen gemacht hat?“ Draco zuckte mit den Achseln. „Ja, weil ich weg war und…“ Er verstummte. Die Stimmung im Raum war innerhalb von Sekunden von belehrend zu… nun, bedrückt, besorgt umgeschlagen. „Was… was war den gestern?“, wagte er die zaghafte Frage obwohl er bereits ahnte, dass die Antwort ihn nicht ruhiger stimmen würde. „War noch etwas mit Pucey? Wo ist eigentlich Flint, den habe ich heut Morgen noch gar nicht gesehen.“ Eine Frage, mit der er ins Schwarze getroffen zu haben schien… wenn er auch nicht wusste, was das Schwarze sein sollte. Der Heiler atmete tief durch, nahm die Brille vom Gesicht und schürzte die Lippen. „Sie… Sie haben heute Morgen keine Zeitung gelesen?“ „Er ist heute Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus gewesen“, hörte Draco Heilerin Chang mit tonloser Stimme über ihn reden, als wäre er gar nicht anwesend. „Er hat geschmollt, bis er eingeschlafen ist. Wollte mit niemandem reden. Am Morgen ist er nochmal untersucht worden, dann haben sie ihn gleich hier ins Therapiezimmer gebracht.“ „Hmm…“ „Was, hmm? Was soll das? Wovon reden Sie denn eigentlich?“ Er sprach schnell, höher als gewöhnlich und offenbarte, wie sehr ihn ihre besorgten Gesichter verunsicherten. Heiler und Heilerin wirkten steif und verspannt. Selten, vielleicht nie, hatte er sie so gesehen. „Wir haben auch mit der Gruppe noch nicht darüber geredet, weil wir uns ja zuerst mit ihm“, ein nachdenklicher Blick ruhte auf Draco „und Adrian unterhalten wollten. Aber, sie werden Fragen stellen. Wir sollten hier vielleicht Schluss machen und zuerst mit der Gruppe reden, bevor wir das Gespräch mit Adrian führen.“ Innerlich stimmte Draco den Heilern zwar unbedingt zu, dass, was immer sie auch so Bedrückendes zu sagen hatten, so schnell wie möglich gesagt werden sollte - dennoch, als die Heiler mit ihm den Raum verließen, um die tägliche Morgenrunde abzuhalten, wünschte er sich ein wenig, dass die zwei ihren Mund halten würden. Sie taten ihm den Gefallen nicht. Sie redeten und alles, was Draco nach dem Bericht über Flints Tod noch fähig war zu denken, war Erleichterung, dass Hermine nichts passiert war. Immerhin erklärte das die überschäumende Wut, die Erleichterung und die Besorgnis, der er in der vergangenen Nacht begegnet war, als er so gut gelaunt nach Hause gekommen war. Er war zu spät, viel zu spät gewesen, natürlich, und wenn er jetzt daran dachte, was seine Familie befürchtet haben musste, dann schämte er sich doch aufrichtig dafür, so sprunghaft gewesen zu sein. Mit Schaudern und ehrlich schlechtem Gewissen hörte er, wie Marcus seinen letzten Nachmittag verbracht hatte. Nachdem Marcus, Adrian, Draco und noch einige andere die Klinik nach der Mittagspause verlassen hatten, waren sie zunächst gemeinsam in Richtung Winkelgasse aufgebrochen. Marcus war zwar zunächst mit Adrian und Draco gelaufen, irgendwann war er aber, wie Draco ja bereits vermutet hatte, mit ein paar anderen zurück zur Klinik gegangen. Während die anderen hoch auf die Station gefahren waren, hatte Flint sich mit der Ausrede verabschiedet, dass er noch kurz auf die Toilette gehen würde. Nun, Flint war den anderen nicht mehr auf die Station gefolgt, er hatte sich stattdessen auf zum Ministerium gemacht, um dort das einzige zu tun, was ihm in diesem Leben noch wichtig war. Er wollte sich dafür rächen, dass man seine Zukunft gestohlen hatte. Xxx Draco fand die Unterhaltung mit seiner Familie sehr unangenehm. Nun, da er wusste, was am Tag zuvor vorgefallen war, schaffte er es nicht mehr, sich richtig über die Strafpredigt und die Anschuldigungen des gestrigen Abends zu ärgern. Die Entschuldigung fiel ihm schwer. Schwerer noch, Hermine in die Augen zu sehen, die gestern einen absolut grauenhaften Tag gehabt haben musste. Die in Todesgefahr geschwebt hatte, während er… nein, das hatte er ja nicht wissen können, dennoch. Statt für sie da zu sein, war er mit seiner Ex-Freundin ausgegangen. All diese Dinge wären doch ein Grund gewesen, um ihn noch weiter auszuschimpfen, ihm zu sagen, dass man sich nicht auf ihn verlassen konnte und dass er mit den Freiheiten, die man ihm in letzter Zeit zugestanden hatte, offenbar überfordert war. Stattdessen erklärten die Heiler, dass die Schonzeit für Draco langsam vorbei gehen sollte. Er würde sich viel zu sehr auf seiner Diagnose ausruhen. Er wäre eben nicht Marcus und hätte in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt, dass er mehr und mehr willens war, die Welt um sich herum wieder positiv anzunehmen. Er könnte ein geregeltes Leben haben, wenn er nur wollte. Draco hätte aber herausgefunden, wie er seine Familie emotional mit seinen Schwächen erpressen könnte und dass sie, die Heiler, aber den Eindruck hätten, dass Draco soweit sei, um ihn langsam wieder an die Welt um ihn herum zu gewöhnen. Er solle endlich seine Abschlussprüfung ablegen und man redete darüber, wie und ob eine Stelle möglich wäre, und wie lange er noch mit Hermine im Manor wohnen sollte. Das war der Punkt, an dem Draco zu hyperventilieren begann und – sobald er wieder Luft dafür hatte - schimpfend den Raum verließ, um sich zu Sam zu flüchten. Dem jammerte er dann vor, dass ihn alle hängenlassen wollten. Eine Stelle suchen, ausziehen… das war doch absoluter Unsinn, weil er sich immer noch sehr, sehr, sehr unsicher fühlte und man doch an Marcus Flint sehen würde, wie gefährlich diese Freiheiten seien. Sam hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ihn gefragt, wie lange er denn noch vorhabe, sich an seinem Leiden zu erfreuen? Draco hatte das nicht verstanden, doch er kam nicht mehr dazu, die Sache ausführlicher zu klären, denn schon stand einer der Heiler neben ihm und erklärte, dass Draco jetzt nach Hause gehen sollte. Man hätte seine Stunden gekürzt, also raus hier. xxx Draco saß auf seinem Bett, starrte ins Leere und hing seinen Gedanken nach. Den so lange Zeit entbehrten Zauberstab hatte er achtlos neben sich auf den Boden geworfen. Unfähig seine Zeit selbst unterhaltsam zu gestalten, war ihm nichts Besseres eingefallen, als sein Zimmer umzuräumen. Er erinnerte sich dunkel an dieses Weihnachten vor über zwei Jahren, als er sich hier vor dieses Bett gekauert hatte, auf dem er auch jetzt saß. Damals hatte er sich gefühlt, als ob er von einem riesigen Fremdkörper verschluckt worden wäre und in diesem Zimmer langsam und zäh verdaut werden sollte. Am Mittag hatte man ihm offiziell seinen Zauberstab zurück gegeben. Zauberstab… Flint hatte auch einen Zauberstab gehabt, nicht wahr? Es war ein Vertrauensbeweis, ein Zeichen dafür, dass man ihn respektierte. Nun durfte er nicht nur ab und zu üben, oder abends heimlich, wenn er Hermine dazu überreden konnte, er konnte immer und überall zaubern. Marcus nicht mehr, der war ja nun auch tot. Soviel man wusste, war er problemlos ins Ministerium hineingelangt. Laut Hermine, die vom Kampf mit den Todessern in der Mysteriumsabteilung erzählt hatte, war es sowieso nicht schwer, ins Ministerium hinein zu kommen. Ein kleines, gruseliges Detail, das man bisher vor der Presse hatte geheim halten können, dass Lucius jedoch durch seine zahlreichen Quellen in Erfahrung gebracht hatte: Auf Flints Besucherplakette, die man ihm beim Betreten des Ministeriums ausgestellt hatte, war tatsächlich „Marcus Flint. Amoklauf“ abgedruckt. Die Leute, bei denen er mit zwei anderen Männern untergebracht gewesen war, hatten ein Labor in ihrem Keller eingerichtet gehabt. Eigentlich durfte Flint da nicht rein und eigentlich war alles sicher verschlossen gewesen, uneigentlich war er aber doch hineingekommen und hatte gefunden, was er brauchte. Was er mit diesem fünften Muggel, der gar nicht erst zur Versammlung erschienen war, gemacht hatte, wusste Draco bereits. William Blake, der echte, war tot in einer Toilette aufgefunden worden. Frisch mit Vielsafttrank verwandelt war Flint dann losgegangen, hatte sich in die Versammlungshalle gesetzt und… einfach so. Hatte einfach so die Leute angegriffen. Keiner hatte ihm etwas getan, er war nicht bedroht worden und Draco sah auch keinen Sinn dahinter. Rache war es wohl gewesen, Frust über sein zerstörtes Leben, für das er keine Chancen auf Besserung mehr gesehen hatte… aber das war doch nicht die Schuld der Leute in dieser Versammlungshalle. Noch nicht einmal Fudge selbst konnte man Flints Probleme anlasten. Fudge, der schwer verletzt überlebt hatte, im Gegensatz zu zwölf anderen Leuten, die für Flint vollkommen unbedeutend gewesen waren und die noch viel weniger mit seinem verkorksten Schicksal zu tun hatten. Aber ihm war es egal gewesen, er hatte nur zeigen wollen, dass er bei diesen neuen Zeiten nicht dabei sein wollte. Ein ewig gestriger, in jeder Hinsicht. Ebenso wild und durcheinander wie Dracos Gedanken waren, sah es nun auch in seinem Zimmer aus. Ein „Alles-raus“-Zauber bewirkte, dass alles, wirklich alles, was in seinem Zimmer war, aus den Ecken, Ritzen, Schränken und Schubläden herausgeflogen war, und nun frei in einer Wolke aus Staub, toten Fliegen und gebrauchten Taschentüchern in der Luft schwebte. Draco würde den Elfen, der für sein Zimmer zuständig, war nachher bestrafen. Zu oberflächlich hatte der gereinigt. Hatte nicht oft genug die Schränke vorgerückt, um nachzusehen, ob dahinter geputzt werden musste. Aber vielleicht doch nicht, denn selbst die Aussicht darauf, einen Elfen leiden zu sehen, verursachte Draco Unbehagen. Schreie… er hatte zu viele gehört, damit musste Schluss sein. Schluss, wie mit Marcus Flint jetzt Schluss war. Ebenso tot, wie fast alle von Dracos Freunden, während er zurückgeblieben war. Es war nicht so, dass er zu Marcus in der letzten Zeit ein besonders gutes Verhältnis gehabt hatte. Eher im Gegenteil, sie waren sich im fremder geworden. Doch immerhin war er da gewesen. Ein letztes Andenken an seine Vortodesserzeit. Nun waren sie fast alle tot, die ihm damals wichtig gewesen waren. Nott, Crabbe und Goyle und alle anderen. Vielleicht bedeutete es ja, dass es nun für Draco Zeit war, ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht, oder es sagte ihm, dass er auch gehen sollte. Der Vollständigkeit halber. Er erhob sich von seinem Bett, ergriff den zu seinen Füßen liegenden Zauberstab und vollführte damit eine knappe Zick-Zack-Bewegung. All die Bücher, Bilder, Notenhefte und alles, was sonst noch um ihn herum schwirrte, sank sanft zu Boden und stapelte sich auf einem kniehohen Gerümpelberg zusammen. Draco kniete sich und griff nach einem Bild, das ganz oben lag. Ein wehmütiges Lächeln huschte über seine Lippen, als er sein eigenes zwölfjähriges Selbst triumphierend in die Kamera grinsen sah. Eine Aufnahme seiner ehemaligen Quidditch-Mannschaft. Er wusste noch genau, wann dieses Foto gemacht worden war. Es war zu Beginn seines zweiten Hogwarts-Jahres gewesen. Sie hatten sich aufgestellt und stolz die nagelneuen Rennbesen präsentiert, die Lucius großzügigerweise gespendet hatte. Hermine hatte behauptet, dass er sich damit in die Mannschaft eingekauft hatte. Damals hatte ihn das wütend gemacht. So wütend, dass er sie zum ersten Mal Schlammblut genannt hatte, aber natürlich hatte sie recht gehabt. Er war ein guter Sucher gewesen und hatte ja auch schon vorher auf dem Besen geübt. Trotzdem wäre er ohne Vaters Hilfe höchstens Ersatzspieler geworden. Vielleicht weil man abwarten wollte, wie er sich entwickelte, weil er den anderen zu klein und zu jung war oder weil man auf Lucius‘ Spende gehofft hatte. Tatsache war, aus eigener Kraft hätte er es nicht geschafft. Wie er auch heute nichts ohne seine Familie schaffen würde. Und nun würden sie es merken. Sie wollten, dass er seinen Schulabschluss nachholte und arbeitete und… versagte. Weil es ganz ausgeschlossen war, dass er sich in dieser Welt zurechtfinden würde. Wenn er ehrlich war, dann beneidete er Flint. Natürlich nicht wegen des Amoklaufes, sondern weil dieser mutig gewesen war. Er hatte den Mut besessen, diesem Land ins Gesicht zu sagen, wie verlogen und falsch es doch war. Marcus hatte den Mut besessen, die Konsequenzen daraus zu ziehen, dass ihn in der Zukunft nichts erwartete. Draco sah versonnen auf das Bild in seinen Händen. Wie klein er im Vergleich zu den anderen gewesen war. Draco lächelte beim Anblick der Frisuren von Flint und Pucey. Beide hatten sie ihn um Haupteslänge überragt, wie sie so mit verschränkten Armen und bärbeißigen Gesichtern hinter ihm gestanden hatten. Natürlich war er ganz vorne, nicht nur, weil er der Wichtigste, sondern auch, weil er der Kleinste gewesen war. Als Draco Flint das letzte Mal lebend gesehen hatte, gestern, zusammen mit Adrian in der Winkelgasse, war er der Größte der drei gewesen. Dieser Tag auf dem Foto war siebeneinhalb Jahre her. Ein Foto seines alten Lebens. Keine dreizehn war er gewesen, ein dummes, glückliches Kind. Als Voldemort nur ein ehrfurchtgebietender Name war, er selber ein naives, arrogantes Kind und die Welt um ihn herum herrlich logisch in Schwarz-weiß eingeteilt war. Alles war logisch, richtig und sicher gewesen… Während Lucius versucht hatte, Schlammblutkinder in Hogwarts auszulöschen. Kalte Schauer liefen ihm bei diesem Gedanken den Rücken hinunter. Er schnaubte angeekelt und warf das Bild von sich weg. Beiläufig beobachtete er es bei seiner Landung auf einem Holzkästchen. Neugierig überlegte Draco, was das wohl für ein Kästchen sein mochte. So lange wohnten sie doch noch gar nicht in diesem Haus, er müsste sich doch daran erinnern, diesen Kasten irgendwann bekommen und verstaut zu haben. Dunkel kam es ihm bekannt vor. Er hatte diesen Kasten in seinen Weihnachtsferien vor zwei Jahren im Keller gefunden und irgendetwas darin verpackt. Und dann… hatte er den Kasten irgendwo in seinem Zimmer verstaut, weil er etwas verstecken wollte… Eine elektrisierende Ahnung bemächtigte sich seiner. Es gab Dinge, die er schon damals unbedingt verstecken wollte und die niemand finden durfte. Er hatte den Kasten unsichtbar gemacht und ihn dann versteckt. Einmal hatte er ihn herausgeholt… das musste nach einer der abendlichen Besprechungen gewesen sein, als er sich aus der Schule geschlichen hatte. Er erinnerte sich daran, dass es kalt gewesen war. Und dann hatte er den Kasten wieder weggepackt und unsichtbar gezaubert. Deswegen hatte er ihn solange nicht finden können, wieso hatte er das nur vergessen? Aber jetzt hatte er wieder einen Zauberstab und durch den „Alles-raus“-Zauber war er sichtbar geworden. Mit zitternden Fingern fischte er das Kästchen unter dem Quidditchbild und zwischen einigen Umhängen heraus, legte es auf seine bebenden Knie und verharrte, dieses unheimlichste all seiner Besitztümer still ansehend. Doch dann: „Alohomora.“ Der Verschluss öffnete sich und der Deckel klappte mit leisem Quietschen auf. Xxx Draco saß seit einer Stunde schon zwischen diesem Gerümpel. Das leere Kästchen hatte er achtlos zurück auf den Gerümpelberg hinter sich geworfen, wo sein Hab und Gut immer noch darauf wartete, entweder ausgemustert oder neu in die Schränke einsortiert zu werden. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und so zogen sich lange, dunkle Schatten durch sein Zimmer. „Draco?“, rief ihn eine Stimme aus dem Irgendwo. Draco antwortete nicht. Nur am Rande seines Bewusstseins hatte er ein Klopfen, sowie das Öffnen seiner Zimmertür mitbekommen. Jemand war hereingekommen und hatte sich vor ihn gekniet. Er war sich dessen gewahr, schenkte diesem Umstand jedoch keine Beachtung. Jemand berührte ihn an der Schulter und erreichte ihn dennoch nicht. Statt aufzublicken und Lucius zu antworten, fand er noch nicht einmal die Kraft, den Arm zu heben, um träge abzuwinken oder zu sagen, dass er allein sein wollte. Seine Hände hielten ein anderes Bild fest. Aber vielleicht hielt das Bild auch ihn? Es musste wohl so sein, denn er war unfähig, seine Finger davon zu lösen, als wären sie daran festgeklebt worden. Ebenso wie dieser andere Gegenstand an seinen Händen klebte. Er konnte nicht loslassen, war gefesselt von sich selbst. „Draco, hörst du mich?“ Draco hörte ihn, konnte aber dennoch nicht antworten. Fast wünschte er sich, dass der Draco auf dem Bild für ihn antworten würde. Aber das war ja nur ein Bild und sicher hätte der Draco dort nichts zu sagen gehabt, was hörenswert gewesen wäre. „Was hast du denn da?“ Seine Hände waren wohl doch nicht mit der Fotografie verwachsen, wie sonst hätte ihm Lucius das Bild einfach so aus den Fingern ziehen können? Statt dieses speziellen Bildes, sah er nun den Stapel der Bilder auf seinem Schoss, die er sich zuvor angesehen hatte. Die Szenen, die darauf abgebildet waren ähnelten sich alle und so war es egal, ob Lucius ihm nun dieses oder ein anders Bild abgenommen hatte. Immer sah man darauf einen jüngeren, dünnen, blassen Draco, der tiefe Ringe unter den leblosen Augen hatte und mit drogenumnebeltem Grinsen triumphierend in die Kamera winkte. Diverse Tote um ihn herum. Sie hatten Bilder gemacht, das hatte er ganz vergessen. In manchen Nächten waren sie auf die Idee gekommen, ihre glorreichen Taten optisch für die Nachwelt aufzubewahren. So saß, stand oder kniete Draco mit einigen anderen jungen Männern auf diesen Bildern und präsentierte seinen blutigen Sieg über die eigene Menschlichkeit. Auf dem Bild, das Lucius ihm abgenommen hatte, sah man Draco neben einem nackten, ängstlichen Karkaroff sitzen. Draco hatte ihm den Arm um die Schultern gelegt, das Messer an seiner Kehle. Und Draco hatte gelächelt. Entsetzlich gelächelt. Was, wenn nicht diese Bilder, konnte beweisen, wie unvorstellbar es war, in die Welt der normalen Menschen zurückzukehren? Seine Arme hingen schlaff an ihm herab. Er wehrte sich nicht, als Lucius ihm auch die anderen Bilder abnahm, sie sorgsam übereinander stapelte und sie umgedreht, die bildlose Rückseite nach oben, beiseite legte. „Draco…“ Katatonisch, er kannte das Wort bereits. Das passende Wort für einen unnahbaren Zustand. Obwohl er nicht ganz weg war, ein kleiner Teil von ihm war noch in diesem Zimmer. Der Teil, der sich der Dose in seiner Hand bewusst war. „Ich wollte mein Zimmer ausmisten... Alte Dinge loswerden, da hab ich die Bilder gefunden“, leierte er mit tonloser Stimme, ohne die Welt um sich herum zu beachten. „Die Bilder da, hatte ich in eine Schachtel gepackt und weggeräumt… Aber jetzt hab ich sie wieder gefunden. Da war noch was anderes drin, guck mal.“ Mechanisch hob er die Hand und zeigte die kleine Dose darin vor. Als Lucius danach greifen wollte, zog er sie schneller weg, als er es selbst für möglich gehalten hätte. Seine Finger waren taub, als er das Döschen öffnete und wie er es geschafft hatte, mit diesen tauben Klumpen die kleine, schwarze Kapsel herauszuziehen, wusste er nicht. „Sieh mal, ein Weihnachtsgeschenk von Snape.“ Er drehte sich Lucius zu, legte den Kopf leicht schief und hielt seinem überraschend fahlgesichtigen Vater die Pille unter die Nase. „Was ist das?“, hörte er ihn unsicher fragen. „Zyankalikapseln“, antworte Draco so ungerührt, als stünde er immer noch unter Drogen. „Snape hat sie mir geschenkt. Ich glaube, das sind die, die er dann selbst genommen hat. Er kam an Weihnachten vor zwei Jahren zu mir und hat sie mir gegeben. Er hat gesagt, ich soll sie nehmen, wenn ich es nicht mehr aushalte.“ Draco seufzte so wehmütig, als sei dies eine besonders nette Erinnerung. Dennoch war seine Stimme immer noch träge, matt und bar jeder Emotion. Er leierte wie ein Roboter. „Ich hab sie nicht mehr gefunden. Ich hab sie so oft gesucht, seit ich wieder hier bin, aber ich hab sie nie gefunden, weil ich den Kasten doch unsichtbar gezaubert habe. Die sind tödlich, weißt du?“ Draco machte ein bedeutungsvolles Gesicht, weil er jetzt etwas erklären musste. „Die töten innerhalb einer Millisekunde, hat er mir gesagt.“ Draco nickte, um dem eben gesagten mehr Gewicht zu verleihen und zog die Kapsel vor Lucius‘ Augen weg. Da lag also die Lösung all seiner Probleme. Wenn er die nehmen würde, wäre alles vorbei. Die Alpträume, die blutigen Hände, die er immer noch nicht reinwaschen konnte, die Blicke, die die Leute im draußen zuwarfen, die Dinge, die er zu sich selbst sagte… Und all der Ärger, den seine Familie seinetwegen hatte. Wenn er diese Kapseln nehmen würde, - er müsste sie nur in den Mund stecken und darauf beißen - dann hätte er Ruhe, wäre frei. Keine Zukunft, für die er sich nicht gewachsen fühlte. Keine Enttäuschungen mehr für sich und andere… Nie wieder Draco, nie wieder Unruhe, nur Frieden. „Ich würde sie wirklich gerne nehmen“, verriet er seinem Vater, der, wie Draco bei einem Seitenblick bemerkte, wachsweiß geworden war. Ganz komisch sah Lucius aus, sein Gesicht glänzte. Warum nur wirkte er so nervös, wenn Draco doch hier etwas hatte, das ihm so viel Frieden schenken konnte? „Man muss nur drauf beißen, dann ist alles vorbei. Keine Schmerzen…“, erklärte er mit dem Eifer eines Kindes, doch immer noch mit dieser seltsamen Schlafwandlerstimme. Er griff in das Döschen, holte auch die anderen drei Kapseln heraus und legte sie sich auf die Handinnenfläche. Sie fühlten sich weich und glatt an, als er mit den Fingerkuppen darüber strich. „Ich muss sie nur nehmen, dann geht alles ganz schnell. Das war ein wirklich gutes Geschenk.“ Lucius atmete so laut, dass Draco ihm überrascht den Kopf zuwandte. „Wann… wann hat er sie dir gegeben?“ Draco überlegte einen Moment – Lucius rutschte etwas näher zu ihm heran, worauf Draco für alle Fälle aufstand und sich einige Schritte weiter nach hinten auf das Bett setzte – schloss die Pillen sicher in seiner Hand ein und antwortete: „Ich sagte doch, vorletztes, nein, vorvorletztes Weihnachten.“ Lucius‘ Blick hatte sich an Dracos Faust festgesaugt. Draco schloss seine Finger noch enger um die Kapseln, als Lucius seinerseits auch aufstand und vorsichtig auf ihn zutrat. Er setzte sich eine Armlänge entfernt von Draco ebenfalls auf das Bett. „Siehst du, wie lange du es ohne diese Pillen ausgehalten hast? Fast zweieinhalb Jahre. Dann brauchst du sie doch gar nicht. Wenn du sie jetzt nicht gefunden hättest…“ Draco zuckte gleichmütig mit den Achseln. Sein Blick fiel auf den Stapel umgedrehter Kriegsfotos. „Jetzt hab ich sie aber“, kommentierte er lapidar, während seine Gedanken wieder zu dem zurückkehrten, was er auf den Bildern gesehen hatte. Eine Weile war es ruhig. Lucius rutschte unbehaglich auf dem Bett herum, knetete seine Hände, wirkte nervös. Draco war das egal, weil er nicht erwartete, dass aus dieser Richtung irgendetwas kommen würde, was Bedeutung für ihn haben könnte. „Ich… ich wollte dich eigentlich holen. Rodolphus und seine Freundin kommen bald. Er wollte sie uns vorstellen. Her… Hermine und Mutter sind auch unten… sie warten schon.“ „Aber ich kann doch jetzt nicht. Sieh doch!“, protestierte er lahm und öffnete die Faust, um die Kapseln zu zeigen. Lucius machte Anstalten aufzustehen, was Draco dazu veranlasste, sich noch etwas weiter weg von ihm zu schieben. Wieder herrschte Stille im Zimmer. „Ist sie wirklich schwanger?“, brach Draco schließlich das Schweigen. „Ja, ist sie.“ „Komische Vorstellung“, murmelte Draco mehr zu sich selbst als zu Lucius. „Wie Mutter es wohl aufnimmt… Da hat er nicht nur eine andere als Bella, sondern auch noch das.“ Lucius räusperte sich, seine Stimme klang rau und gepresst, doch er schien sich Mühe zu geben, dennoch weiterzusprechen. Wie Dumbledore, dachte Draco, als er ihn auf dem Astronomieturm auch in ein Gespräch verwickeln wollte. „Es hat sie schon verletzt, aber… es ist kein Geheimnis, dass die Ehe von Bellatrix und Rodolphus nicht sehr gut war und nun ist Bella tot und Rod will eben auch etwas Wärme in seinem Leben, nicht? Mutter hat sich wohl damit abgefunden…“ „Wo wohnen sie denn dann? Hier?“ Draco erhob seinen Kopf und wagte Lucius ins aschfahle Gesicht zu sehen. Seine Hand verkrampfte sich augenblicklich. Er war nicht bereit, seinen Schatz so einfach herzugeben. Lucius versuchte seinem Blick standzuhalten, doch immer wieder huschten seine Augen für einen Sekundenbruchteil zu Dracos Hand. „Ich… ich weiß es nicht. Möglicherweise werden dann beide hier wohnen, aber Rodolphus ist schließlich selbst ein recht vermögender Mann und nun, da Bellatrix tot ist, eigentlich auch kein Mitglied unserer Familie mehr. Wir sind gute Freunde, aber… ich schätze, er will nun doch seine eigene Familie für sich alleine haben. Er wird wohl ausziehen…“ „Ich will nicht ausziehen“, platzte es aus Draco heraus. „Selbst wenn ich die Abschlussprüfungen bestehe - was nicht sicher ist - mich stellt doch eh niemand ein. Und was mache ich dann? Aber selbst wenn, dann sitze ich den ganzen Tag unter Leuten die mich hassen und komisch ansehen. Ihr sagt, dass das nur Einbildung ist, aber das stimmt nicht. Gestern, zum Beispiel, waren wir in einem Laden und… da waren ein paar Kinder neben uns. Wir wollten uns nur die Auslage ansehen, aber als die Eltern gesehen haben, wer wir sind, haben sie die da sofort weggeholt. So ist das oft… die Leute werden mich hassen. Ich will das nicht mehr… Und schau dir doch die Bilder an. Die Leute haben doch recht. Ich gehörte nicht mehr hierher und woanders schon gar nicht hin!“ „Draco…“ Lucius benetzte sich die Lippen, holte tief Luft, schien sich die Worte erst sorgsam zurecht zu legen, denn er sprach zu Beginn gedehnt und schaffte es erst mit der Weile, flüssiger zu klingen. „Du… du… wir werden dich doch nicht rausschmeißen, aber… Draco, glaub mir, ich weiß doch, wie das ist und wie die Leute dich ansehen, denkst du, mich sehen sie anders an? Aber du kannst dich nicht bis an dein Lebensende in deinem Zimmer verstecken. Du willst das auch gar nicht. Gestern… also ich gebe zu, wir haben und alle sehr über dich geärgert, aber… wenn du ehrlich bist, du willst doch raus. Du willst doch wieder ein normales Leben führen. Und… Hermine will doch auch nicht ewig hier bei uns herumsitzen müssen. Du bist doch gar nicht alleine und wir setzen dich auch nicht über Nacht auf die Straße. Aber… aber es wird wirklich Zeit, sich dazu entschließen, endlich weiterzuleben. Du willst doch gar nicht mehr sterben. Du hast Angst vor dem, was du sonst machen sollst, das verstehe ich. Aber du willst nicht sterben…“ Draco senkte die Augen auf Lucius‘ Hand, die sich ihm entgegenstreckte. „Gib mir die Kapseln, damit ich sie für dich aufbewahre.“ Dracos Bauch kribbelte. Eigentlich fühlte sich sein ganzer Körper an, als wäre er eingeschlafen und würde nun mit unangenehmem Kribbeln erwachen. Er verzog den Mund, als er sah, wie sein Vater vorsichtig die Hände um seine Faust legte. „Gibst du sie mir?“, bat er vorsichtig. Vorsichtig, doch nur oberflächlich, denn selbst der immer noch etwas geistesabwesende Draco hörte das Flehen, die Angst und Panik, die nur Millimeter darunter verborgen lag, heraus. Automatisch schlossen sich seine Finger wieder beschützend um seinen Besitz, er wandte sich leicht ab. „Ich weiß nicht, sie gehören mir. Sie sind wichtig!“ „Ja, aber… wir warten unten auf dich. Die wollen dich sehen… Komm schon, Draco. Ich fürchte deine… Hermine ist immer noch böse wegen gestern. Wenn du jetzt nicht runterkommst, dann wird sie richtig wütend werden.“ „Meinst du?“ „Ganz sicher. Und… also deine Mutter ist sehr nervös, wegen dieser fremden Frau. Wir sollten nach unten gehen und ihr beistehen.“ Das Herz war Draco sehr schwer. Sein Brustkorb sank leicht nach vorne herab, er fühlte sich matt und kraftlos. Vielleicht wehrte er sich deswegen nicht dagegen, als Lucius seine geballte Faust ergriff, seine Finger öffnete und ihm die Pillen einfach herausstrich. „Hier“, murmelte Draco und gab Lucius die Dose. „Aber das heißt nicht, dass ich es nicht mehr will. Das heißt nur… nicht jetzt.“ „Natürlich, natürlich“, murmelte Lucius, erhob sich behände vom Bett und kippte die Kapseln in das Döschen. Er atmete schnell, konnte die Aufregung nicht länger verbergen. „Wir… wir… komm, gehen wir runter.“ Draco wehrte seine Hand ab, die ihn am Arm packte und nach oben ziehen wollte. „Ich brauch noch einen Moment. Ich will nur noch kurz hier sitzen.“ „Ja gut, aber lass dir nicht zu viel Zeit!“ Lucius schien es mit einem Mal sehr eilig zu haben. Er bückte sich, hob die Fotos auf und machte sich auf zur Tür. „Zehn Minuten, wenn du dann nicht da bist, schicke ich Hermine und die wird ganz sicher sauer sein, wenn du uns wieder warten lässt“, sprach er und knallte die Tür hinter sich zu. Zurück blieb Draco, der versuchte, aus der Betäubung zu erwachen, die ihn überfallen hatte, als er das erste Bild gesehen hatte. Xxx Hermine saß im Salon der Malfoys neben Narzissa und war in der Tat nicht sonderlich gut gelaunt. Narzissa, die elegant gekleidet wie eh und je neben ihr saß, paffte gelassen an ihrer langstieligen Zigarette und erklärte ihr nun schon seit einer geschlagenen Viertelstunde, was sie alles nicht machen sollte, wenn diese unbekannte Frau herein käme. „Also, Kind, denk dran“, erklärte Narzissa, strich sich elegant eine Strähne hinter ihr perlenbehangenes Ohr und paffte an ihrer Zigarette. „Du solltest nicht sofort erwähnen, dass du ein Schlammblut bist. Überhaupt solltest du sehr wortkarg sein. Es ziemt sich für jemanden wie dich nicht, sich bei einer solchen Begegnung in den Vordergrund zu spielen. Wir kennen diese Frau ja nicht, aber… sie ist Reinblüterin und wir müssen es ihr schonend beibringen, dass… dass du, nun ja…“ Hermine knurrte unwillig, schlug ihre Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. „Würde es Ihnen helfen, wenn ich alles, was ich den Nachmittag über sagen könnte, zuerst aufschreibe und es Ihnen zur Durchsicht rüberschiebe?“ „Ach was, das wäre zu offensichtlich“, wehrte Narzissa nervös ab, die gar nicht zu begreifen schien, dass Hermine sich eben in Ironie versucht hatte. „Es würde schon helfen, wenn du in der ersten Stunde nichts sagst. Aber wenn es dir hilft, kannst du mir oder Lucius bei schwierigen Äußerungen zuerst zuflüstern, was du sagen willst.“ Hermine schnaubte. „Vergessen Sie‘s, soweit kommt‘s noch. Finden Sie sich endlich damit ab, dass ich auch hier bin!“ „Mein liebes Kind!“ Narzissa lächelte ein abgrundtief böses Haifischgrinsen und tätschelte ihr freundlich, doch gleichzeitig auch unübersehbar herablassend das Knie. „Du interpretierst das falsch. Es geht doch gar nicht um uns, also meinen Mann und mich… Aber diese Frau entstammt einer reinblütigen Familie und ja, auch wenn du das nach wie vor bezweifelst, du hast kein Gespür für unsere Kreise, weil du gänzlich anders aufgewachsen bist.“ „In der elektronischen Höhle zwischen all den anderen ungebildeten Neandertalern mit Universitätsabschluss, während Sie in Ihrem Palast wie im Mittelalter hausten und sich etwas darauf einbilden, kaum das Einmaleins gelernt zu haben!“ „Ach du!“, lächelte Narzissa milde, wie man nur ein widerspenstiges, ziemlich dummes Kind anlächeln würde, paffte an ihrer Zigarette und schüttelte nachsichtig ihren hübschen Kopf. „Kein Gespür für unsere Welt, immer noch nicht. Aber wir werden das schon schaffen, dass du uns nicht komplett blamierst. Sei einfach ruhig, höflich und… also es könnte nicht schaden, wenn du darauf achtest, dass auch Draco nicht allzu viel sagt.“ Sie nickte bedächtig, wischte sich mit dem Zeigfinger etwas Lippenstift vom Rand ihrer Lippen und zog erneut an ihrer Zigarette. „Er ist ja wirklich vorzeigbarer geworden, aber… wenn er mal wieder seine speziellen Minuten hat. Wir wollen das Unglück ja nicht beschreien, aber… es ist nun mal enorm wichtig, dass wir diese Frau nicht vergraulen. Die Lestranges sind eine der älteste, und nebenbei, reichsten Familien der magischen Welt!“ Narzissa lächelte affektiert und fügte mit leisem Triumph hinzu: „Natürlich nicht so alt wie die Blacks oder so reich wie die Malfoys, dennoch… Es ist schon gut, wenn es nun einen Erben geben wird. Es werden ja immer weniger reinblütige Kinder geboren…“ Sie seufzte und bedachte Hermine mit einem zutiefst wehmütigen Blick. „Geben Sie die Hoffnung nicht auf“, konterte Hermine, die sich bemühte, ihre Häme nicht allzu offensichtlich herausklingen zu lassen. „Sie sind ja erst… wie alt... vierundvierzig, fünfundvierzig? Wunder gibt es vielleicht auch in der magischen Welt, und Sie kriegen noch ein blütenreines Reinblüterkind, wenn Sie schon von Draco in dieser Beziehung nur Mangelware zu erwarten haben.“ Narzissa schloss die Augen und wirkte sehr würdevoll bei dem Versuch, die Beleidigung an sich abperlen zu lassen. „Dracos Kinder werden nie… wir werden immer stolz auf Dracos Kinder sein, selbst wenn sie dich zur Mutter haben.“ „Wie beruhigend“, grummelte Hermine und knurrte einmal mehr in sich hinein. Sie beide zuckten zusammen, als die Salontür unvermittelt kraftvoll aufgerissen wurde und Lucius in den Raum stürmte, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihm her. Beide Frauen sahen ihn fragend an, während er sich ungeschickt in einen Sessel fallen ließ und heftig atmend die Hände vors Gesicht legte. „Lucius, was ist denn los?“ Er stöhnte gequält und ließ sich nach hinten in den Sessel sinken, als wäre er am Ende seiner Kräfte. „Hier, seht.“, sagte er und zog eine pflaumengroße Blechdose aus seiner Hand. „Das hatte er bei sich im Zimmer.“ „Ja und?“, fragte Hermine und streckte die Hand aus, um es ihm abzunehmen. „Finger weg, Mädchen!“ Mit einem Ruck zog er das Döschen vor Hermines neugierig ausgestreckten Fingern zurück. „Ich mach es schon nicht kaputt!“, konterte Hermine genervt und verdrehte die Augen. „Ja, ja“, murmelte er und winkte fahrig ab. Doch immerhin schien er sich dazu entschlossen zu haben, es nicht bei vagen Andeutungen zu belassen. Er nestelte ungeschickt am Verschluss der Dose herum und Hermine konnte nicht umhin zu bemerken, wie durcheinander und nervös er dabei wirkte. „Was ist denn eigentlich los?“, drängte Narzissa und nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. „Du siehst aus, als ob du einen Dementor gesehen hättest.“ „Das hier ist los“, erklärte er und kippte den Inhalt des Döschens seitlich auf seine Hand, so dass Hermine vier kleine, schwarze Kapseln sehen konnten, die heraus kullerten. „Die hatte er oben in seinem Zimmer versteckt!“ Narzissa und Hermine beugten sich gleichzeitig vor, um die Kapseln besser in Augenschein nehmen zu können. Ihren ratlosen Blicken nach war wohl offensichtlich, dass sie nun nicht viel klüger waren als zuvor. „Zyankalikapseln“ erklärte er mit bebender Stimme. Hermine sog scharf die Luft ein und wich einige Zentimeter zurück als fürchte sie, dass er sie mit dem Gift bewerfen würde. Narzissa legte sich die Hände vors Gesicht und stöhnte. „Da denkt man, es ist endlich mal gut und dann…“ „Er hat sie von Severus“, erklärte Lucius düster. „Diese Kapseln, Severus hat sie ihm doch tatsächlich geschenkt, damit er problemlosen Selbstmord begehen kann.“ Er schnaubte und fügte bitter hinzu: „Das sind die gleichen, die er genommen hat. Und die schenkt er meinem Sohn… Ich schwöre dir, Narzissa, wenn er nicht schon gestorben wäre, dann würde ich jetzt auf der Stelle zu ihm gehen und ihn eigenhändig totschlagen.“ „Was hast du denn jetzt damit vor?“, fragte Narzissa, die Hände noch immer vor dem Gesicht. „Ich werfe sie natürlich weg. Er hat sie mir vorhin gegeben zum… zum Aufbewahren. Aber, also ich werde bestimmt nicht darauf warten, dass er sie zurückverlangt!“ Er kippte die Kapseln zurück in die Dose und erhob sich. „Also ihr entschuldigt mich…“ „Und die hat er Ihnen einfach so gegeben?“, fragte Hermine zweifelnd. „Natürlich, wie käme ich sonst dran?“ „Das ist doch ein gutes Zeichen.“ „Das ist… also… was soll denn daran ein gutes Zeichen sein, dass Draco…“ „Nein, nein. Hören Sie zu. Er… er hat die Pillen gefunden und sie nicht gleich genommen.“ „Aber er wollte… er hätte ganz sicher…“ „Aber er hat nicht, oder?“, beharrte Hermine, zuckte unschlüssig mit den Achseln und gab sich Mühe, ihren neuen, in diesem Moment entstandenen Gedanken verständlich Ausdruck zu verleihen. „Sehen Sie, er hat sie hergegeben. Das ist… das ist ein gutes Zeichen, finde ich. Na… sonst hätte er doch gar nichts davon gesagt und sie einfach sofort genommen oder sie wieder versteckt. Wie… Pro… Snape es offensichtlich getan hat.“ „Severus hat uns vieles nicht gesagt und offensichtlich hat er Draco beigebracht, ihm alles nachzumachen.“ Wie ein beleidigtes, gekränktes Kind hatte Lucius eben geklungen. Seine Miene war aber die eines erwachsenen Mannes, er sah verletzt aus. „Lucius“, begann Narzissa zaghaft, nahm die Hände vom Gesicht und blickte zu ihrem Mann auf. „Ich weiß, dass dir Severus‘ Tod immer noch zu schaffen macht. Diese Kapseln… Severus hat sie Draco doch nicht zufällig oder aus Bosheit geschenkt. Er wollte Draco doch beschützen. Er… ich denke, er war ein zutiefst unglücklicher Mann, der für sich keine Zukunft mehr gesehen hat. Und dann sieht er Draco und erkennt, im Gegensatz zu uns, dass der genauso unglücklich war wie er selbst. Wir…“ Narzissa brach ab, ihre Stimme zitterte und wenn Hermine sich nicht irrte, überzogen sich ihre Augen mit einem verräterischen, feuchten Glanz. „Wir haben es nur nie gemerkt. Ich weiß nicht, ob wir es hätten verhindern können, aber Tatsache ist, dass er uns nie gesagt hat, wie unglücklich er war. In diesem Abschiedsbrief haben wir von so vielen Dingen zum ersten Mal gehört und… Er hat sich eingeschlossen, diesen Brief geschrieben und dann diese Kapseln genommen… Aber, ja… es stimmt doch. Draco hat sie dir gegeben. Das ist doch immerhin etwas, zu dem Severus zu seinen Lebzeiten nie imstande war… Sagen, wenn es ihm schlecht geht und worüber er nachdenkt. Du… du musst ihn nicht hassen. Er hat sicher das getan, was er für das Beste für Draco hielt, aber… nun ja… ein unglücklicher Mensch wie er, konnte wohl einfach auf keine bessere Idee kommen, als Draco das zu schenken, was für ihn selbst ein Trost war.“ Lucius‘ Gesicht war während Narzissa Worten ohne jede Reaktion geblieben. „Wie du meinst“, erwiderte er gepresst, wog die Dose nachdenklich in seiner Hand, dann drehte er sich auf dem Absatz um und stolzierte zurück zur Tür. „Ich werde sie nun aber trotzdem in die Toilette kippen. Und…“, sein Blick glitt auf ein paar Papiere, die aus der Tasche seines Umhanges herausragten, „anderen Müll entsorgen. Ich bin gleich wieder da, wenn Draco in fünf Minuten nicht da ist, dann holt ihn. Er hat heute für genug Unruhe gesorgt, er soll sich langsam mal daran gewöhnen, dass sich die Welt nicht nur um ihn drehen kann.“ Als Draco kam, vier Minuten nachdem Lucius das Zimmer verlassen hatte, und zwei Minuten, bevor ein Elf herein tapste, um Rodolphus nebst Freundin hereinzuführen, war er sehr blass und still. Er wirkte nachdenklich, war geistesabwesend. Er machte innerlich etwas mit sich aus, was ihn so beschäftigte, dass er den ganzen Nachmittag über sehr schweigsam war und sich überraschend höflich benahm. Er äußerte sich nicht dazu, dass diese Frau mit den feuerroten Haaren eine Verwandte der Weasleys war. Im Gegensatz zu seinen Eltern, die beträchtlich geschockter aussahen. Er kommentierte nicht ihren Namen, der tatsächlich „Milly Weasley“ lautete, äußerte sich nicht dazu, dass ihr runder Bauch bei weitem nicht das einzig dicke an ihr war und schaffte es, abermals im Gegensatz zu seinen leicht indignierten Eltern, nichts dazu zu sagen, dass „Milly Weasley“ schon immer eine große Familie wollte und sich mit Mitte dreißig noch nicht zu alt dazu fühlte, noch einen ganzen Schwarm Kinder zu bekommen. Milly Weasley war zweifellos das größtmögliche, reinblütige Gegenteil zu Bellatrix, dass Rodolphus hätte finden können. Sie war fröhlich, hatte einen ausgesprochen gesunden Appetit, beglückwünschte Draco zu seiner netten Freundin, war in ein kunterbuntes Zelt gehüllt, das nicht einmal Hermine als Kleid zu bezeichnen wagte, hatte bis vor kurzem ihr Geld als „Nanny“ in einer reichen Familie verdient und zu alledem bedachte sie den vor Stolz himbeerroten Rodolphus mit allerlei Kosenamen wie „Häschen“, „Mausi“ oder „Bärchen“. „Weißt du“, hörte Hermine Narzissa am Abend zu Lucius sagen, als der Besuch gegangen war und sie zu viert im Salon zurückblieben, „ich bin wirklich froh, dass wir nicht mit ihm verwandt sind. Stell dir mal vor, wir hätten jetzt so etwas in der Familie.“ „Naja“, erwiderte Lucius mit deutlichem Zweifel, beugte sich leicht nach vorne und warf Hermine, die sich neben den Klavier spielenden Draco an den Flügel gesetzt hatte, einen scheelen Blick zu. „Wenn man aber bedenkt, was wir stattdessen haben.“ „Immerhin hat sie keine roten Haare. Stell dir vor, wir würden ein Dutzend rothaariger Enkel bekommen“, wandte Narzissa schicksalsergeben ein. „Mag sein, Narzissa. Immerhin ist sie halbwegs intelligent und isst nicht mit den Fingern. Vielleicht… also… vielleicht kann man ja was an der Haarfarbe der Kinder machen, nicht?“ Draco kicherte verhalten. „Hörst du, sie können sich sogar Schlimmeres als dich vorstellen! Wir müssen unsere Kinder nur bei Zeiten blondieren, dann finden sie sich damit ab.“ Hermine zog ein Gesicht und seufzte. Immerhin galt sie nicht mehr als das schlimmstmögliche Übel, das über Draco hätte hereinbrechen können. Außerdem schien es Draco zumindest in diesem Moment für möglich zu halten, dass sie diese gemeinsame Zukunft wirklich haben könnten und das war doch eigentlich ein sehr ermutigender Gedanke. xxx Draco war nicht dumm, ihm war klar, dass Lucius die Kapseln nicht wirklich in einen Schrank gelegt hatte, um sie für Draco so lange aufzubewahren, bis er danach verlangen würde. Draco wusste nicht, was sein Vater stattdessen damit gemacht hatte und er hütete sich davor, genau nachzufragen. Es hatte etwas Beruhigendes, zumindest glauben zu können, dass es diese Kapseln noch gab. Sie waren nur gerade nicht greifbar, aber es gab sie. Somit waren seine Pläne auch nicht gestorben, sondern nur auf Eis gelegt. Immer mal wieder ein paar Tage nach hinten verschoben, denn bevor er starb, wollte er zum Beispiel noch von Lucius dieses Tisch-Quidditch-Feld haben. Es wäre doch ein Jammer, nie herauszufinden, ob man die Veelas nicht tatsächlich ausziehen konnte. Dummerweise war Lucius gerissen. Der erklärte nämlich, dass er das Spiel nicht eher herausrücken würde, bis Draco seine Abschlussprüfungen absolviert hatte. „Na gut“, dachte Draco, „dann eben danach.“ Wenn er eh nie einen Beruf ausüben würde, dann konnte er die ganze Sache doch gelassen angehen. Er durfte nur nicht zu schlecht sein, denn immerhin würden die Leute dann sicher denken, dass er aus Frust über sein mangelndes, magisches Talent sterben wollte. So etwas würde er nach seinem Tod nicht auf sich sitzen lassen wollen. Er war nicht dumm, absolut nicht. Dass Hermine in der Schule bessere Noten gehabt hatte als er, war… reines Mitleid. Ganz sicher war es reines Mitleid der Lehrer gewesen und weil Hermine so gut wie kein Sozialleben in der Schule gehabt hatte. „So wie ich jetzt“, dachte er wehmütig und beschloss, dann zumindest nicht in Schimpf und Schande, sondern mit allen Ehren zu sterben. So willigte er ein, in der freien Zeit, die er wegen der Reduzierung der Therapiestunden hatte, einen Hauslehrer zu ertragen, der ihn für die Prüfung fit machen sollte. Er ertrug auch Hermines allabendliche Bemühungen, sein Gehirn mit zusätzlichem Wissen zu füllen und spielte sogar dabei mit, wenn die Heiler im Krankenhaus ihn auf Bewerbungen und einen Auszug aus dem Manor ansprachen. Die Prüfungen kamen und gingen und Draco lebte immer noch. Was für einen Sinn hätte es, jetzt zu sterben, wenn er nicht einmal seine Noten kannte? Wenn das ganze einen Sinn haben sollte, musste er doch zumindest wissen, ob er bestanden hatte oder nicht. Das Dumme war nur, dass er jetzt nicht mehr wusste, was er mit sich anfangen sollte. Das, was er noch vorgehabt hatte, war erledigt. So saß er eines Tages mit Sam im künstlichen Krankenhauspark auf der Wiese, ertrug dessen Gefasel von der Meermenschen-Mafia, die Luna Lovegood im Grund des Sees von Hogwarts vermutete und fragte sich, wie es möglich war, dass jemand mit einer normalen Intelligenz wie Sam, einen solchen Quatsch mit Begeisterung las. Und fragte ihn. „Nun“, antwortete Sam lächelnd. „Es ist eine nette Ablenkung zu dem, was ich sonst so den Tag über höre. Wenn du ständig vor Augen geführt bekommst, zu welchen Grausamkeiten die Menschen doch fähig sind, dann wirst du den Klitterer lieben. Nette, unschuldige Unterhaltung.“ Er führte es nicht näher aus, tätschelte Draco nur den Rücken und machte sich daran, Draco den nächsten Klittererartikel darzulegen. „Aber die Leute halten dich doch für bescheuert, wenn du ständig von diesem Kram erzählst“, protestierte Draco. „Dich nimmt doch niemand ernst, wenn sie denken, dass du diesen Unsinn glaubst.“ „Ach was“, winkte Sam gelassen ab. „Was interessiert mich das? Ich habe ein Hobby, mit dem ich zuhause entspannen und auf andere Gedanken kommen kann. Was interessiert es mich da, was die anderen von mir denken.“ „Es ist immer wichtig, was die anderen von dir denken“, konterte Draco im Brustton der Überzeugung. Sam verzog den Mund, kratzte sich am Ohr und warf den Klitterer weg. „Zumindest dich scheint sowas ja sehr zu beschäftigen…“ Draco zuckte mit den Achseln. „Natürlich. Wenn dich alle Leute so ansehen würden wie mich, dann wäre dir das auch wichtig. Sie… sie halten mich für wer weiß was. Jemand, der mit einem Makel behaftet ist, aber sie verstehen nicht, wie es dazu kam.“ „Wieso sagst du es ihnen dann nicht?“ „Wie denn?“ „Naja, also… Du hast doch für die Heiler deine Todessergeschichte aufgeschrieben, nicht? Überarbeite es und… du könntest ein Buch daraus machen oder zumindest einen Zeitungsartikel. Das würde sicher viele Leute interessieren.“ Draco wehrte den Gedanken zunächst ab. Wieder und wieder beschloss er, wie absolut unsinnig er diese Idee fand. Lucius und Narzissa gaben ihm recht, dass machte die Sache dann allerdings um einiges interessanter. Hermine fand die Idee wunderbar, weil sie einfach alles wunderbar fand, was mit zusätzlicher Arbeit zu tun hatte. Draco selbst beschloss, dass er, wenn er nun doch sterben sollte, zumindest nicht unverstanden sterben wollte. Er schwamm doch zuhause geradezu in Berichten, die er für den Heiler hatte schreiben müssen. Wenn er das alles etwas umformulieren und ins Reine schreiben würde… Und es war eine Beschäftigung, die ihm die Wartezeit auf die Prüfungsergebnisse verkürzte. Lucius‘ Geburtstag kam und ging und Draco stellte erstaunt fest, dass man Hermine zum ersten Mal nicht ausdrücklich aufforderte, sich vor den Gästen zu verstecken. Neben Milly Weasley konnte wohl selbst Hermine nicht mehr schocken. Es war nicht so, dass er das mit dem Sterben aufgegeben hatte. Im Gegenteil, immer noch erklärte er den Heilern, so oft sie ihn ließen, dass das immer noch in seinem Kopf wäre. Nicht schlimm, meinten sie, solange er zuließ, dass auch andere Gedanken in ihm Platz fänden. Seine Prüfungsnoten kamen im März. Erstaunlicherweise war er ziemlich gut. So gut, dass Hermine drei Tage lang nicht mehr mit ihm redete und als sie es tat, gab sie nur kurze Sätze wie: „Du hattest Jahre zum Üben“ oder „Ich hatte damals viel zu viel am Hals“ von sich. Er hätte jetzt sterben können, eigentlich. Aber dann hätte er ja mitten in seiner Todessergeschichte aufhören müssen und dieser Urlaub, den seine Eltern ihnen aufdrängten, musste auch noch absolviert werden, sonst würde Hermine böse sein. Eigentlich, so dachte er sich, hatte er es mit dem Sterben gar nicht mehr so eilig. Xxx Draco verachtete Hermine für das, wozu sie ihn hier zwang. Sie war eine bösartige Sadistin und das würde er ihr nachher auch sagen. Sollte sie jemals behaupten, dass er ihr nicht seine Liebe zeigte, würde, würde er sie auf der Stelle mit dem nächst greifbaren, schweren Gegenstand erschlagen. Er ging hier durch die Hölle, nur für sie. Es war in seinem persönlichen Albtraum gelandet und es könnte ihm dabei nicht schlechter gehen. Er schwitzte, er atmete hart und doch rollte ihm ein kalter Schauer nachdem anderen über den Rücken. Ihm war übel, ihm war schwindelig und seine Finger waren so schwitzig und ungelenk, dass sie eigentlich unbrauchbar waren. Er musste schlucken, doch sein trockener Mund schien keinen Speichel mehr aufbringen zu können, um dieser Aufgabe nachzukommen, so dass es bei einem Versuch blieb, der ihn unbefriedigt zurückließ. Er atmete tief durch und schloss die Augen. Er fühlte sich elend und absolut ausgeliefert. Mit bebenden Händen griff er nach der vor ihm stehenden Teetasse, nahm einen Schluck und versuchte, sich nicht darüber aufzuregen, dass ihm ein Teetropfen über das Kinn lief. Behutsam stellte er die Teetasse wieder ab, wischte sich das Kinn mit einer Serviette und lächelte scheu zu Hermines Eltern hinüber. Hermines Vater, der ihm an dem für den Tee adrett gedeckten, runden Tisch gegenübersaß, hatte die Arme verschränkt und begutachtete ihn wie ein Warenstück, das eigentlich schon ausgemustert war und für dessen Abweisung man nur noch einen Grund finden musste. „Kuchen?“, schnarrte er und schob Draco ein Tablett mit mehreren Sorten Rührkuchen so heftig hinüber, dass es außer Frage stand, dass er das Tablett viel lieber dazu genutzt hätte, um es Draco auf den Kopf zu schlagen. Dennoch lächelte Draco. Er zwang sich dazu. Er zwang sich dazu, dankbar zu nicken, artig „ja, gerne“ zu sagen und versuchte, seine Hände ruhig zu halten, als er sich ein Stück Sandkuchen auf seinen Teller legte. Hermines Mutter hatte vorhin noch recht harmlos gewirkt, als sie bei der Begrüßung fröhlich mit ihrer Tochter geschwatzt hatte, doch jetzt bedachte sie ihn mit einem Blick, der Draco sehr intensiv nachfühlen ließ, wie sich ihre Patienten fühlen mussten, wenn sie auf dem Zahnarztstuhl saßen und auf ihre Wurzelbehandlung warteten. „Sie sehen so anders aus, wenn Sie nüchtern sind“, stellte sie kühl fest und nahm einen Schluck Tee. Sie wirkte ehrlich verblüfft und überrascht, als hätte sie nicht erwartet, dass dies überhaupt möglich war. Draco warf Hermine, die ihre Eltern daraufhin gefährlich anfunkelte, einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie legte ihm ihre Hand aufs Knie und tätschelte ihn beruhigend. Unwillkürlich kam in ihm der Wunsch auf, diese beruhigende Hand zu packen und mit Hermine gemeinsam aus dem Haus zu flüchten. Aber nein, das war das erste Mal seit diesem schrecklichen Tag in den Osterferien, dass Hermine in ihrem Elternhaus war. Sie war sehr aufgewühlt gewesen, als sie die Einladung erhalten hatte. Es hatte nervtötend lange gedauert, bevor sie Draco gestanden hatte, dass sie schon eine ganze Weile wieder Briefkontakt mit ihren Eltern hatte und dass die nun darauf bestanden hätten, Hermine wieder einmal zuhause zu haben. Hermine hatte insistiert, dass sie nur mit Draco kommen würde. Dieser Drohung zum Trotz und zu Dracos grenzenlosem Entsetzen, willigten sie ein. Draco hatte sich gewunden, geschrien, gebettelt, gejammert und gedroht… es half alles nichts, entweder er würde Hermine zu ihren Eltern begleiten oder ab jetzt alleine bei seinen bleiben. „Naja“, antwortete er deshalb Hermines Mutter verlegen und versuchte seine glühenden Wangen zu ignorieren. „Das, das war das letzte Mal sicher… also ich. Das ist mir ziemlich unangenehm. Hermine hat mir ja erzählt, dass ich mich das letzte Mal wohl nicht so gut benommen habe.“ „Das wissen Sie also selbst nicht mehr? Hatten wir wohl einen Filmriss?“, bellte Hermines Vater und umklammerte die Gabel in seiner Hand so kriegerisch, dass Draco sich eingeschüchtert auf seinem Stuhl nach hinten lehnte. „Ähm… ja.“ „Ist Ihnen bewusst, welche nachhaltigen Gesundheitsschäden exzessiver Alkohol- und Drogenkonsum haben kann? Ihr Gehirn wird in Mitleidenschaft gezogen und wissen Sie, dass Sie dadurch ihr Erbgut beeinflussen?“ Draco wäre nun ganz sicher weggerannt, wenn Hermine den Druck auf sein Knie nicht verstärkt hätte, um ihn festzubannen. „… ich habe mit solchen Leuten gearbeitet. Hermine ist nicht so, sie achtet auf ihre Gesundheit. Aber Sie offenbar…“ „Dad, jetzt hör doch mal auf. Wir wissen, was bei seinem letzten Besuch passiert ist. Das hatte seinen Grund und er hat sich ja schon bei der Begrüßung dafür entschuldigt. Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“ Mr. Granger schien die Bitte seiner Tochter zu missfallen. Allzu deutlich hätte er Draco noch gerne weiter ausgeschimpft. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust, lehnte sich zurück und hob auf dieselbe Art wie Hermine das Kinn, wenn sie jemandem die Meinung sagen wollte. „So, junger Mann. Sie wohnen nun also mit meiner Tochter zusammen?“ Draco hustete, da er sich an seinem Tee verschluckt hatte. Er nickte, wischte sich das Kinn und stellte die Teetasse etwas ungelenk auf dem Unterteller ab. „Ja, richtig. Also nicht direkt mit mir. Wir wohnen gemeinsam im Haus meiner Familie.“ „So? Und funktioniert das? Haben Sie denn genug Platz?“, forschte Mrs. Granger, die es stark zu bezweifeln schien, dass jemand wie Draco woanders als in einem möblierten Wohnklo hausen konnte. Dracos Mund klappte auf, er drehte sich vollkommen perplex zu Hermine um und flehte sie mit seinen Augen an, irgendetwas dazu zu sagen. Hermine lächelte überraschend gelassen und nickte. „Aber natürlich. Habe ich das noch nicht erwähnt? Dracos Familie gehört zu den reichsten Familien der magischen Welt. Sie sind Milliardäre und wohnen in einem Schloss.“ Hermine legte den Kopf schief und grinste. Ihre Eltern tauschten fragende Blicke, dann legte ihre Mutter den Kopf ebenso zur Seite wie Hermine und fragte gelassen: „Sagten Sie nicht, dass Ihr Vater Alkoholiker ist und gemeinsam mit Ihrer Mutter Jagd auf nichtmagische Menschen macht? Oder war es“, sie schüttelte den Kopf, als sei ihr das eben entfallen, „oder war das gemeinsam mit Ihnen?“ Die eben noch unsicher gehaltene Teetasse glitt Draco aus den Händen und zerschellte am Boden. Warmer Tee spritzte auf seine Hosen und floss über seine Schuhe. Ehe er sich rühren konnte, hatte Hermine schon ihren Zauberstab gezückt, den Tee verschwinden lassen und die Tasse heil zurück auf den Tisch gezaubert. Draco nutzte den Moment, in dem Mr. und Mrs. Granger ihre Tochter mit großen Augen bewunderten, um zu einem Verteidigungsschlag anzusetzen. „Das war doch während des Krieges. Wir lebten damals ganz anders und der Dunkle Lord hat uns… Ich wurde doch gezwungen und…“ „Hör sofort auf, dich zu rechtfertigen!“, zischte Hermine, die, wie Draco nach einem dankbaren Seitenblick feststellte, ihre Eltern wütend über den Rand ihrer Teetasse hinweg anfunkelte. „Man hat die ganze Familie massiv bedroht. Dracos Leben wurde von den Leuten in der Schule und von der eigenen Seite ständig bedroht. Er wurde teilweise misshandelt und gefoltert.“ Hermine atmete tief durch, stellte den Tee etwas zu heftig auf den Tisch, so dass dieser links und rechts an beiden Seiten überschwappte, und legte ihre Hand auf seine. „Man hat ihnen diese Drogen doch ständig aufgedrängt, weil man verhindern wollte, dass die Leute zu sehr darüber nachdenken, was sie tun. Das war eine großangelegte Gehirnwäsche. Als er in den Osterferien bei uns war, kam er doch nicht von einer Party. Man hatte seine besten Freunde vor seinen Augen getötet. Draco hatte zu dem Zeitpunkt wirklich viel durchgemacht und ihr habt nicht das leiseste Recht, ihm irgendetwas vorzuwerfen.“ Draco spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Seine Hand umschloss Hermines Finger und drückte sie leicht. „Ich will dazu aber auch etwas sagen“, protestierte er leise, die Augen starr auf seinen Teller gerichtet. So sehr er ihr auch dankbar für ihre Hilfe war, wollte er sich trotzdem nicht weiter bei jedem Problem hinter anderen verstecken. „Es ging mir damals nicht gut“, erklärte er mit mechanischer, doch schon etwas lauterer Stimme, presste Hermines Hand noch einmal und schaffte es letztendlich, Hermines Eltern wieder offen ins Gesicht zu sehen. „Meiner ganzen Familie ging es damals nicht gut, wir arbeiten jetzt aber daran. Ich war… ich bin in Therapie. Mir ist klar, dass das bei meinem letzten Besuch alles recht erschreckend gewesen sein muss, aber ich war nicht ich selbst. Die Zeiten waren wirklich sehr brutal und schwer, das geht an kaum jemandem spurlos vorbei. Auch an meiner Familie nicht. Sie haben mich ja auf meinen Vater angesprochen... Meine Eltern und ich haben sehr viel durchgemacht und hatten danach entsprechend hart mit den Folgen zu kämpfen. Wir kämpfen immer noch, um ehrlich zu sein. Aber wir können jetzt wieder ein ziemlich normales Leben führen. Ich werde mich bemühen, es nicht zu ruinieren. Ich werde wohl noch eine ganze Weile weiter in Behandlung bleiben, meine Eltern helfen sehr. Also… es tut mir leid, wie es das letzte Mal gelaufen ist, aber… ich denke nicht, dass sie verstehen können, wie es uns damals ging und was wir getan haben. Ich will es nicht rechtfertigen, das kann ich nicht. Das sind Dinge, mit denen ich bis zu meinem Lebensende kämpfen muss, aber… es ist vorbei und ich bin sehr froh darüber. Ich bin froh, dass dieser Teil meines Lebens vorbei ist und hoffe, dass jetzt ein neuer beginnen kann, wenn man mir die Chance dazu gibt.“ Hermines Vater zog die Augenbrauen hoch, angelte nach einer Kristallschale die mit Schokoladenkeksen gefüllt war und fischte ein paar Cookies heraus, die er sich gleich darauf bröselnd in den Mund stopfte. Seine Frau bedachte ihn mit einem mahnenden Blick und entzog ihm die Schale mit einem energischen Ruck, um sie wieder für alle greifbar in der Mitte des Tisches zu platzieren. „Und was haben sie jetzt mit ihrem Leben vor?”, fragte Mrs. Granger abschätzend. Draco hatte sich auf diese Frage vorbereitet. Gestern Nacht, als er im Bett gelegen und bei dem Gedanken an dieses Treffen nicht hatte schlafen können, hatte er sich Antworten auf Fragen wie diese zurechtgelegt. Er atmete noch einmal durch, setzte sich aufrecht und versuchte, so selbstbewusst wie möglich auszusehen. „Nun ja, ich… ich habe meinen Schulabschluss nachgeholt und, die Noten waren eigentlich ganz gut. Ich habe nun ein paar Bewerbungen an magische Pharmazieunternehmen und an Ministeriumsabteilungen geschrieben. Es ist aber nicht einfach, da ich per Gesetz in der Bewerbung erwähnen muss, dass ich ein… Todesser war und Drogen genommen habe. Also, ja… aber da muss ich nun durchhalten… Tja, ähm, jetzt… jetzt werden wir erstmal zwei Wochen verreisen. Meine Eltern haben uns einen Urlaub geschenkt, das wird ganz nett, hoffe ich zumindest.“ „Und Sie sind immer noch in Therapie?“ Mr. Granger angelte sich, einen prüfenden Blick zu seiner offensichtlich abgelenkten Frau, einen weiteren Keks aus der Schale und steckte sich seine Beute mit einem befriedigten Ausdruck in den Mund. „Nun… ja. Das wird auch wohl noch eine ganze Zeit dauern… Aber… äh… ja, also es hat ja auch geholfen.“ Er räusperte sich verlegen und überlegte, wie er das Thema elegant in eine andere Richtung lenken könnte. Zu den Haushaltsgeräten wollte er lieber nichts sagen. Das hatte er vorhin schon probiert und daraufhin Blicke geerntet, die darauf deuten ließen, dass sie ihn immer noch für betrunken gehalten hatten. „Tja, das… ähm… ist seine sehr schöne Couch dahinten“, versuchte er es und nickte zu der Sitzgruppe im angrenzenden Zimmer hinüber. „Ja… die ist neu.“ Mr. Grangers Augenbrauen verengten sich gefährlich, seine Mundwinkel sanken übellaunig nach unten. „Die alte war nicht mehr zu säubern…“ Draco zuckte zusammen, als ihm Hermine unter dem Tisch ans Bein trat. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er auf dieses Thema nicht näher eingehen sollte. Vielleicht sollte er erstmal überhaupt nichts sagen und einfach nur höflich lächeln und zuhören? Hermine hatte Draco erklärt, was Zahnärzte waren und was sie taten. So saß er da, lauschte Hermines seiner Meinung nach viel zu beschönigenden Darstellung ihrer unterbezahlten Stelle und fragte sich, womit er den schlechteren Eindruck machen würde. Wenn er Kuchen und Kekse aß, oder wenn er jedes Mal, wenn man ihn fragte, dankend ablehnte. Draco beschloss einen Mittelweg. Er aß besagtes Stück Sandkuchen und nahm sich danach einen ihm angebotenen Keks. Für den Rest des Nachmittages wehrte er weitere Angebote jedes Mal mit der Erklärung ab, dass er auf seine Zähne achten müsse. Auf Mrs. Grangers verwirrten Blick hin setzte er noch zaghaft hinzu, dass er leider seine Zahnbürste zuhause vergessen hätte. Mrs. Grangers Lippen kräuselten sich zu etwas, das einem Lächeln recht nahe kam. Nach dem dritten Angebot, noch mehr Kuchen zu essen, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie das absichtlich tat, weil sie an seiner Antwort irgendetwas belustigte. Davon abgesehen, verlief der Mittag einigermaßen erträglich. Er wollte schon erleichtert aufatmen, als er und Hermine sich an der Tür von den Grangers verabschiedeten. Doch leider, leider kam es anders. Nachdem ihn Mrs. Granger kühl, aber nicht unfreundlich verabschiedet hatte, packte Mr. Granger seine Schulter und erklärte in einem Ton, der absolut keinen Widerspruch zuließ: „Nun, junger Mann, ich hoffe doch, dass wir demnächst auch einmal Ihre Eltern kennen lernen. Immerhin wohnt unsere Tochter nun schon seit fast zwei Jahren bei Ihnen, da ist es uns schon wichtig, diese Leute kennenzulernen.“ Draco grinste unglücklich, Hermine ächzte, als habe sie Bauchschmerzen. „Sicher, Dad, sobald es geht. Aber… die Malfoys sind ziemlich beschäftigt, also es kann noch ein Weilchen dauern.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)