Harmonie von Seraphin ================================================================================ Kapitel 15: Bist du einsam? --------------------------- Kapitel 15 : Bist du einsam? Am 31. Dezember überlegte Hermine ernsthaft, ob sie das neue Jahr erreichen wollte. Das heutige Datum erschien ihr geradezu schicksalsträchtig und wie gemacht, um mit alten Dingen, alten Gewohnheiten – in ihrem Falle wären da Atmung und Herzschlag zu nennen - abzuschließen. Sie hatte ein Jahr hinter sich, das in ihr jeden Wunsch gelöscht zu haben schien, mit ihrer bisherigen Angewohnheit zu leben fortzufahren. Geradezu heiter und gelassen stimmte sie die Vorstellung, dass dies ein Ende haben könnte. Sie müsste diesen letzten Schritt gehen, der sie seit Rons Tod von ihm getrennt hatte und alle ihre Probleme wären gelöst. Eine Vorstellung, die beruhigend war und die ihr dabei half, die Tage zwischen ihrer Ankunft in Hogwarts und dem Silvestertag durchzustehen. Hermine hatte die freien Tage seit ihrer Rückkehr nach Hogwarts vor allem in der Bibliothek verbracht. Wie gewünscht, hatte sie einige Gedächtniszauber herausgesucht, hatte Kampftaktiken gegen Inferi nachgeschlagen, Bannkreise für Wohnhäuser recherchiert und nicht zuletzt in Büchern über Orte gebrütet, in denen Tom Riddle einmal gelebt hatte. All dies hatte sie notiert, kommentiert und in Reinform in einem Brief an Harry aufgeschrieben, der im Moment auf ihrem Bett lag. Neben Briefen für ihre Eltern, den Weasleys, ihre Freunde… sie hatte an alle gedacht. Wenn man sich schon umbringen wollte, dann sollte man die Sache auch richtig und gut durchdacht angehen. Hermine hatte sich Mühe gegeben, alle offenen Baustellen zu bedenken, die sie zurücklassen wollte. Sie hatte an alles gedacht. Sicher, sie hatte nicht alle Probleme lösen können, doch sie war sicher, dass das, was sie herausgefunden hatte, diejenigen, die zurückbleiben würden, weiterbringen würde. Ihren Eltern zum Beispiel hatte sie ihr Exemplar von „Eine Geschichte von Hogwarts“ hinterlassen. Sie würde sich nicht die Pulsadern aufschneiden. Nicht nur, weil das Verbluten sehr lange dauerte und man sie in dieser Zeit eventuell retten würde, sie hatte auch Angst vor den Schmerzen. Sie hatte darüber nachgedacht, ob es möglich war, einen „Avada Kedavra“ gegen sich selbst zu sprechen, fand jedoch während ihrer Studien heraus, dass dies nicht funktionierte. Sich zu erhängen schied ebenfalls aus, da sie sich den Tod durch Ersticken qualvoll vorstellte und sie außerdem gelesen hatte, dass die erhängten Personen sich nach dem Erschlaffen der Muskeln in die Hosen machten. Lieber nicht. Vergiften schien dagegen die bessere Alternative. Es war nicht schwer gewesen, ein tödliches Gift zu finden. Weder in den Büchern, noch in Slughorns Büro. Der Lehrer für Zaubertränke war in den Ferien verreist und die Banne, die er über seine Vorräte gelegt hatte, waren, gelinde gesagt, ein Witz. Wahrscheinlich würde es nicht ganz so schnell gehen, wie sie hoffte, doch da sie sich hier in der Heulenden Hütte und nicht in ihrem Schlafsaal in Hogwarts befand, war es erstmal unwahrscheinlich, dass man sie finden würde, solange noch Rettung - welch ein makaberes Wort in diesem Zusammenhang - möglich war. Wenn sie tatsächlich Selbstmord begehen würde. Sie war hier, um eben dies zu entscheiden. Doch irgendetwas stimmte nicht. Schon als sie die Hütte betrat hatte sie es gehört. Über ihr bewegte sich etwas und wenn sie still stand und lauschte, konnte sie ein leises Raunen über sich hören. Vielleicht ein Tier, überlegte sie. Möglich, dennoch war es besser, der Ursache des Geräusches auf den Grund zu gehen. Es musste über ihr sein. Da! Schon wieder hörte sie ein schabendes Geräusch über sich. Ein Aufspürungszauber würde ihr zwar verraten, ob hier weitere Menschen waren, doch Hermine war nicht ganz sicher, ob dies auch für Werwölfe, Vampire oder andere Mischwesen galt. Warum auch immer sich dort oben jemand verstecken sollte, sie hatte keine Lust auf Publikum bei ihrer bevorstehenden Show. So leise und vorsichtig wie möglich schlich sie die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. Schon wieder! Fast klang es, als ob sich jemand die Nase geputzt hätte. Dort, sie drehte den Kopf zum anderen Ende des Korridors, dort hinten in dem Zimmer, in dem sie damals auch Sirius Black gefunden hatten. Wieder dieses seltsame Schaben und ein Klirren. Sie war nun fast sicher, dass irgendjemand, oder irgendetwas, darin herum kroch und dabei etwas umgestoßen hatte. Sie spähte durch die angelehnte Tür, konnte jedoch nichts erkennen. Einen Moment zögerte sie, beschloss aber, dass sie eh nichts zu verlieren hatte und stieß die Tür auf. Hermine lehnte sich gegen den Türrahmen, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und versuchte zu entscheiden, was sie als nächstes tun sollte. Einfach hineingehen wollte sie nicht. Nicht nur, weil sie diesen Ort aufgesucht hatte, um alleine zu sein, sondern auch, weil dort vorne, zusammengekauert wie ein Häufchen Elend, der Grund für ihr eigenes Leiden saß. Draco Malfoy saß im Schneidersitz vor dem großen, staubigen Bett, auf dem sie vor ein paar Jahren einst erfahren hatten, dass Rons Ratte ein Animagus war. Und dort, in diesem Zimmer, war nun ein weiterer von Voldemorts Männern. Sein Kopf drehte sich langsam in ihre Richtung. Die grauen, schweren Augen fingen kurz ihren Blick auf, dann verzogen sich seine Mundwinkel nach unten und er drehte sich langsam, fast wie in Zeitlupe, wieder weg, um weiterhin stumpf ins Nichts zu starren. Der Oberkörper war ihm schwer geworden, mit hängenden Schultern stützte er die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab, schluckte, und Hermine wäre am liebsten davongerannt, als ihr klar wurde, dass das leise Wimmern, das sie vorhin von unten albernerweise für Gespensterheulen gehalten hatte, Malfoy gewesen war, der dort an seinem Platz leise weinte. Er hatte sie gesehen, reagierte aber nicht auf sie. Überhaupt wirkte er nicht wirklich wach, nicht wirklich da, im Hier und Jetzt. Zumindest einen Grund dafür konnte Hermine riechen. Der scharfe Gestank hochprozentigen Feuerwhiskys lag über dem Zimmer. Er nahm einen tiefen Zug aus der Flasche in seiner Hand und verzog das Gesicht, als der Alkohol auf seiner Zunge brannte. Er war betrunken, bestimmt war er das, sonst wäre er doch schon längst wütend und beschämt aufgesprungen, um sie mit einem Fluch zu vertreiben. So wie damals, als Harry ihn im Klo der Maulenden Myrte gefunden hatte. Stattdessen nahm er nur noch einen Schluck Whisky, stellte die Flasche ungeschickt neben sich wieder ab und ließ den schweren Kopf nach unten hängen. „Was machst du hier, Schlammblut?“ Seine Stimme war schwer, zäh. Jedes Wort schien ihm Mühe zu bereiten. Vermutlich war vorhin, als sie das Klirren gehört hatte, die Flasche umgekippt. Dennoch, verglich man die Füllmenge der Flasche mit Malfoys Grad an Trunkenheit konnte nicht allzu viel Whisky ausgelaufen sein. Ein Großteil der goldbraunen Flüssigkeit befand sich zweifellos in ihm und nicht auf dem Boden. Hermine richtete sich auf und trat zögerlich erst ein, dann zwei Schritte näher. Er hatte sie gesehen, sie etwas gefragt, sie konnte nun nicht mehr so tun, als wäre sie nicht hier. „Ich wollte alleine sein um nachzudenken. Ich hab jemanden gehört, als ich hier reinkam und hab nachgesehen.“ Er schwankte leicht im Sitzen, als er ihr den Oberkörper ganz zudrehte, betrachtete sie eine Weile mit ausdrucksloser Miene, dann zog er die Augenbrauen hoch und wendete sich wieder um. Er hatte aufgehört zu weinen, doch glänzte sein Gesicht immer noch feucht. Ungeschickt wischte er sich mit dem Ärmel seines Pullovers die Tränen weg und sackte wieder in sich zusammen. „Bist du einsam, Granger?“ fragte er mit hohler Stimme. Hermine wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Ihn nur zu sehen verursachte ihr Bauchschmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen… praktisch einen ganzen Migräneanfall. An jedem anderen Ort, an dem sie sich hätten treffen können, wäre sie schreiend auf ihn losgerannt und hätte wieder auf ihn eingeprügelt, ihn beschimpft und verflucht. Doch hier… es ging nicht. Er verzog das Gesicht und murmelte mit trübsinnig-betrunkener Stimme mehr zu sich als zu ihr: „Ich bin sehr einsam. “ Hier fühlte sie sich ebenso leer und heruntergekommen wie dieser kahle Raum, in dem sie zusammengetroffen waren. Nichts war hier drinnen außer schäbigem Müll. Sie trat noch einen Schritt näher an ihn heran. Eine unsichtbare Hand drückte ihr auf die Kehle, ließ sie hart schlucken und dennoch, trotz der Tränen, die in ihr aufstiegen, fühlte sie sich so hohl, leer und ratlos wie nie zuvor. Statt Beschimpfungen kam nur ein leises „Ich denke darüber nach zu sterben, Malfoy“ über ihre Lippen. Der Junge wandte sich um, verzog das Gesicht, als würde er sie bewundern, und nickte ihr anerkennend zu. „Glückwunsch.“ „Machst du dich über mich lustig?“ „Nein“, er schüttelte den Kopf, stellte die Whiskyflasche neben sich ab und presste die Handflächen auf sein von Alkohol und Tränen gerötetes Gesicht. „Ich beneide dich, weil du sterben kannst und ich nicht.“ Wieder grinste er sie an. Humorlos und verbittert sah er aus, so gar nicht mehr wie der junge Mann, der er vor vielleicht einem Jahr noch gewesen war. Wie ein Zombie wirkte er nun. Blass, eingefallen und immer umgeben von der morbiden Aura eines Untoten der eigentlich schon längst gestorben war, doch dessen Körper sich unerklärlicherweise immer noch bewegte. „Warum denkst du denn darüber nach zu sterben, Granger?“ Er hob eine Hand und patschte damit hinter sich auf das Bett. Dichte Staubwolken erhoben sich, wie schwere Wolken schwebten sie im Licht der einfallenden Wintersonne durch den Raum und verblassten wieder. Dort, wo er hingeschlagen hatte, war eine Vertiefung von der Form seiner Hand zurückgeblieben, in der man schmutzigen, verblassten blauen Stoff sehen konnte. Hermine sprach die Formel und der Staub und der Schmutz erhoben sich leicht, wallten zu eine watteartigen Wolke auf, bevor sie durch einen Strudel inmitten des Bettes ins Nichts hinuntergesogen wurden. Das Bett wirkte zwar nun nicht mehr dreckig, doch immer noch alt, verfallen und wenig einladend. Ein weißer Holzrahmen, von dem große Teile der Farbe abgeblättert waren, und den Blick auf morsches, schmutzig braunes Holz durchließ. Die Decke mochte früher,vielleicht vor über hundert Jahren, als noch Menschen hier gelebt hatten, ein Prachtstück gewesen sein, doch jetzt war sie übersät mit Mottenlöchern, das Blumenmuster war verblasst und die darin eingewirkten Silberfäden wirkten stumpf. Ohne vorherigen Reinigungszauber hätte sie wohl nicht gewagt, sich dorthin zu setzen. Sie sank tief hinab, als sie sich auf die durchgelegene, modrig riechende Matratze setzte. Malfoy neben ihr würdigte sie keines Blickes, widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz der Flasche in seinen Händen. Der Whisky darin war bereits zu zwei Dritteln geleert. Über seine Schulter hinweg konnte sie einen Blick auf seinen linken Unterarm erhaschen, als er die Flasche erneut ansetzte, den Kopf in den Nacken legte und sich erneut eine Dosis Vergessen verabreichte. Einen kurzen Moment sah sie den unteren Teil des schwarzen Mals, als sein an den Ärmelenden hoch gekrempeltes Hemd verrutschte. Malfoy der Todesser. Nicht, dass sie das nicht gewusst hätte. Er hatte es ihr ja sogar schon gezeigt. Dennoch, das Mal hier an ihm zu sehen, verursachte ihr Unbehagen. Ein wenig rutschte sie auf dem Bett von ihm weg, dann sank auch sie in sich zusammen und stützte die Ellenbogen auf den vor ihr angewinkelten Knien ab. „Was denkst du wohl, warum ich über den Tod nachdenke? Ron ist tot. Die Liebe meines Lebens starb bei einem Anschlag, den du hättest verhindern können.“ Sie schluckte und wischte sich die Tränen weg, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. „Nichts hätte ich verhindern können, gar nichts.“ Seine Stimme klang immer schwerer, doch nicht nur das, auch so… sie konnte an kein anderes Wort als leblos denken. Leblos und resigniert. Bar jeder Energie. „Du hättest uns warnen können. Du hättest etwas sagen können.“ Hermine schluchzte. Wieder dieses Bild von Ron. Der tote Ron, den sie nur ein einziges Mal sehen durfte. Ein paar Minuten mit diesem kalten, leblosen Körper war alles, was man ihr noch erlaubt hatte. Und nun war selbst das Vergangenheit, nichts war ihr mehr geblieben. „Hast du ihn denn so gehasst?“ Ohne ihr Gesicht zu verbergen weinte sie offen, schluchzte und schrie: „Warum?“ Statt einer Antwort zuckte er nur erneut mit den Schultern, sackte etwas weiter nach vorne und zeichnete mit seinen Fingern abstrakte Formen im Staub. Hermine machte es sich auf dem Bett bequem so gut es ging, zog die Knie hoch, presste den Kopf auf ihre Kniescheiben und umschlang ihre Unterschenkel mit den Armen. „Alles, alles ist weg. Ihr habt mir alles genommen.“ Sie wimmerte nicht mehr, es war eine Feststellung. Eine Tatsache, sie klang kalt, düster und wahrhaftig. „Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, denke ich, er lebt noch. Die ersten Momente, wenn ich die Augen öffne sind die einzigen, die nicht schrecklich sind, weil ich dann denke, es war alles nur ein Traum. Aber,“ sie seufzte und strich sich eine Haarsträhne über ihr Ohr, dann sprach sie mit gepresster, bemüht ruhiger Stimme weiter, denn schon wieder spürte sie Tränen in sich aufsteigen. „Dann werde ich wach und weiß, dass alles wahr ist. Dass er wirklich tot ist und dann, dann ist alles nur noch schrecklich.“ Sie schluchzte, konnte nicht weitersprechen und erst, als sie ihre Nase geputzt hatte, war sie ruhig genug um fortzufahren. „Ich vermisse ihn, immer. Immer, alles ist nur noch dunkel, freudlos und sinnlos, weil es niemanden gibt, für den ich überhaupt noch am Leben bin. Ihr habt mir alles genommen, mein Leben. Ihr habt mich mit umgebracht und du“, wütend schlug sie ihm mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf, woraufhin er beinahe wie ein nasser Sack nach vorne geplumpst wäre, „du Arschloch fragst mich, ob ich einsam bin!“ Malfoy, nun auf allen Vieren, schnaubte verärgert. „Ach, halt doch die Fresse. Da wird einem ja schlecht.“ Er wandte sich zu ihr um und schnarrte krächzend: „Heul hier nicht rum, du blöde Kuh. Du bist Jahrgangsbeste, du hast immer noch Dutzende von Freunden, die zu dir halten. Alle bedauern dich und nehmen Rücksicht auf dich. In ein paar Monaten bist du drüber weg. Dann machst du einen spitzen Schulabschluss, nimmst einen tollen Job an, findest einen neuen Schlammblutkerl und kriegst ein Dutzend Schlammblutkinder.“ Er kippte leicht nach vorne, nieste, ohne sich die Hand vors Gesicht zu halten und wischte sich dann angewidert mit dem Ärmel über das Gesicht. „Ich könnte kotzen, wenn ich dich heulen sehe.“ Schwerfällig, immer noch die Flasche in der Hand, krabbelte er auf allen Vieren um die Ecke des Bettes, stemmte seine Arme neben sie, zog sich mit einiger Mühe auf die Matratze und plumpste recht unbeholfen mit rundem Rücken neben sie. Schwere, graue Augen, voll Bitterkeit und Hass, bohrten sich in ihre braunen. „Du hast wenigstens die Wahl.“ „Also wenn du sterben willst, dann bin ich dir gerne behilflich, wenn du zu blöd dazu bist.“ Hermine rutschte angeekelt von ihm weg, da er gefährlich schwankend erst die Hände neben ihr abgestützt hatte, nun aber das Gleichgewicht verlor und nach hinten umkippte. „Ich kann nicht sterben, ich darf nicht“, murmelte er. Hermine kreuzte die Beine und sah ihm über die Schulter hinweg voll Ekel in das fahle, fast schon leblos, seelenlos wirkende Gesicht. Er rutschte ein wenig nach oben, drehte sich zur Seite und sah statt zu ihr auf seine neben ihm ruhende Hand, in der er immer noch die fast leer getrunkene Flasche hielt. „Denkst du, ich will weiterleben. Schlammblut? Denkst du, das macht mir Spaß?“ Schwach, kraftlos hob er den Kopf, um sie anzusehen, doch fiel er schon wenige Sekunden später wieder nach hinten. „Du hast mich doch gesehen… bei der Hochzeit. Du hast doch gehört, was er meinen Eltern angedroht hat. Denkst du, ich will das?“ Hermine biss die Zähne zusammen und versuchte krampfhaft, die in ihr aufsteigende Erinnerung daran zu unterdrücken, wie dreckig, verängstigt und unglücklich er an diesem Tag ausgesehen hatte. Wie hilflos, in jeder Beziehung. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie wollte wütend sein, weil Wut etwas war, was sie kontrollieren konnte und das sie beherrschte. „Hör auf zu jammern, du Schlappschwanz! Dann geh halt weg!“, keifte sie nicht ganz so wütend, wie ihr eben noch zumute gewesen war. Ihn so zu sehen ließ sie leiser werden. Schwer in Worte zu fassen, doch diese leblosen Augen, die tonlose, hohle Stimme und der entkräftete Körper entzogen selbst ihr, die nur neben ihm saß, die Energie, die sie gebraucht hätte, um aufrichtig wütend oder auch traurig zu sein. Zumindest, in diesem Moment. „Ich kann nicht gehen. Ich kann nirgendwo hingehen. Sonst sterbe ich, sonst stirbt meine Familie. Ich muss machen, was er mit befiehlt. Immer und immer wieder.“ Er drehte sich halb auf den Bauch, presste seine feuchten Augen gegen den Unterarm, der die Flasche hielt und flüsterte: „Ich bin schon tot. Seit Dumbledore tot ist, bin ich in der Hölle und ich komme da nicht mehr raus, nie wieder.“ „Dumbledore hat euch Schutz angeboten. Du kannst aussteigen.“ Seltsam. Für sie selbst kaum nachvollziehbar, klang ihre Stimme nun wieder weicher. Er schüttelte die blonden Haare in noch größerer Verzweiflung. „Nein, kann ich nicht. Denkst du, die würden uns helfen?“ Mit überraschender Energie richtete er sich in einer einzigen, fließenden Bewegung wieder zum Sitzen auf. „Was denkst du denn, was der Orden und das Ministerium mit mir machen, wenn ich zu ihnen gehe? Hast du vergessen, was ich dir über Wurmschwanz gesagt habe?“ Hermine zuckte die Achseln. „Ich bin ein Todesser, Schlammblut. Jemand von Voldemorts Leuten, der andere Menschen umbringt. Weißt du das?“ Er rückte etwas näher, griff nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf zu ihm. Er beugte sich weiter nach vorne zu ihr, fast berührte seine Stirn ihre. Er hielt sie so fest, dass sie sich nicht abwenden konnte, als ihr der nach Whisky stinkende Atem entgegenschlug. „Du weißt nicht, wie viele Menschen es schon waren und wen ich alles umgebracht habe. Glaub mir, sie werden sich rächen wollen, wenn sie es herausfinden.“ Nun flüsterte er, fast sanft. Er hob einen Zeigefinger, wackelte vor ihren Augen damit herum und stach ihn dann wie ein Messer gegen seine eigene Brust. „Wurmschwanz wurde die Zunge rausgeschnitten, weil er ein Verräter war. Was werden sie wohl mit mir machen?“ Malfoy sah auf seine Hände. Er lehnte sich etwas zurück und hielt ihr seine Hände mit den abgeknabberten Fingernägeln unter die Nase. „Die Fingernägel haben sie ihm auch rausgezogen…“ Hermine würgte und wandte sich ab, kniff ihre Augen zusammen und versuchte, das in ihr aufsteigende Bild zu verdrängen. „Soll ich auch ohne Zunge und Fingernägel dastehen, Schlammblut. Willst du das?“ Zumindest jetzt, jetzt klang seine Stimme wieder lebendig. Doch die einzige Emotion, die sie wahrnehmen konnte, war Bitterkeit. „Sie werden mich foltern und nach Askaban stecken. Oder sie bringen mich an Ort und Stelle um und dann bestraft Voldemort meine Familie und meine Freunde noch dazu.“ Er ließ von ihr ab, rutschte ein wenig weg und ließ sich mit ausgebreiteten Armen nach hinten fallen. „Ich kann nirgendwo hingehen. Nirgends… ich kann nur lernen, es zu ertragen. Wenn ich mir Mühe gebe, dann komme ich weiter beim Dunklen Lord. Dann muss ich zumindest nicht mehr jeden Tag davor Angst haben, dass er jemanden wegen mir umbringt.“ Er schluckte schwer und presste sich die Fäuste auf die Augen. „Ich muss durchhalten. Zumindest so lange, bis das, was ich tun soll, beendet ist. Dann sind zumindest meine Eltern in Sicherheit.“ Unvermittelt begann er zu schluchzen, sein schmaler Körper begann zu zittern, er drehte sich zur Seite und rollte sich wie ein Embryo zusammen. „Ich will sterben, Hermine. Ich kann doch nicht den Rest meines Lebens so weitermachen. Ich will das alles nicht, es ist furchtbar. Ich sehe sie. Immer, ich werde diese Bilder einfach nicht mehr los.“ Er wimmerte und zog die Knie noch enger an seine Brust, schluchzte laut, verzweifelt und so hoffnungslos, dass sich Hermines Magen zusammenzog. „Ich kann nicht mehr, ich weiß, ich werde verrückt, aber ich kann nichts mehr dagegen machen.“ Er wandte ihr sein tränenverschmiertes Gesicht zu und flüsterte mit bebender, heiserer Stimme. „Und es wird immer schlimmer. Ich kann es nicht stoppen. Ich habe Angst vor mir selbst, aber ich kann nichts tun. Gar nichts kann ich machen und es wird nie aufhören.“ Unbeholfen grapschte er nach der Flasche, setzte sie an und versuchte wie ein Verdurstender, den letzten Tropfen auszusaugen, bevor sie ihm aus der Hand glitt und er wie ein kleines, verängstigtes Kind wimmerte: „So wird es immer sein. Für mich gibt es in diesem Leben nichts mehr. Es wird nichts wieder gut werden, nie mehr. Ich kann damit nicht leben, aber was soll ich denn machen?“ Er wälzte sich herum, von ihr weg, presste die Arme um seinen Kopf und weinte, weinte, weinte. „Ich will nicht mehr leben, ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Wie denn? Aber egal was ich mache, es kann immer nur noch schlimmer werden.“ Es war kein wirkliches Mitleid, das sie bewog, ihre Hand auszustrecken und sie ihm auf die Schulter zu legen. Mitleid, das würde bedeuten, dass er ihr wahrhaftig leid täte. Doch dafür war es zu viel, was er gesagt hatte. Zu viele Informationen, zu viele schreckliche Details, um sie aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verstehen. Nein, eher ein Impuls, der sie näher an ihn heranrutschen ließ, der sie dazu bewog, sich neben ihn sinken zu lassen, die Hand über seine Schultern bis zum Nacken wandernd, wo sie ihn kaum merklich streichelte. „Wenn ich mich stelle, bringt mich der Orden um. Die werden uns nicht beschützen, die wollten uns foltern und töten. Wenn ich mich nicht stelle, dann muss ich weitermachen und… ich will es nicht, ich will nicht, ich will nicht.“ Er presste die Hände gegen seine Ohren und schrie: „Ich will nicht mehr! Ich will gar nichts mehr außer tot sein! Aber nicht mal das darf ich, weil Voldemort meine Familie hinrichtet, wenn ich mich umbringe, bevor mein Auftrag erledigt ist!“ Was sollte sie dazu sagen? Was konnte irgendjemand dazu sagen? Nichts, gar nichts. So rückte sie nur noch etwas näher und lehnte ihren Kopf gegen seinen Nacken. Sie spürte, wie sein Körper bebte und zitterte. Bestimmt, nein ganz sicher, hatte sie noch nie einen so unglücklichen, verzweifelten Menschen gesehen. Sich selbst eingeschlossen. „Niemand versteht das“, schluchzte er. „Niemand. Diese verdammten Trottel aus Slytherin. Die bewundern mich. Die kapieren nichts und sie wollen es auch gar nicht. Die wissen ja nicht, wie das ist.“ Unbeholfen hob er seine Hand, tastete über seinen Rücken, bis er ihre Hand zu fassen bekam und zog sie über seine Brust nach vorne, bis sie an seinen Rücken geschmiegt hinter ihm lag. „Willst du sterben, Granger?“, flüsterte er. „Willst du sterben? Dann mach es. Du kannst es wenigstens… ich darf es nicht. Noch nicht… ich muss hier in der Hölle bleiben und durchhalten“, die letzten Worte waren nur noch geflüstert, so leise, wie ein Windhauch, „bis ich wahnsinnig werde und es mir nichts mehr ausmacht.“ Er schluckte, dann hob er den Kopf und drehte sich wieder halb zu ihr, um sie anzusehen. „Kannst du mit mir schlafen, Hermine?“ „Was?“ Sie wollte ihren Arm wegziehen, doch er hielt sie fest umklammert. „Nicht so.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Ich will keinen Sex. Ich will hier nur mit dir liegen und im Arm gehalten werden, bis ich einschlafe. Kannst du das tun? Hältst du mich?“ Sie lächelte unglücklich, seufzte und nickte. Plump und unbeholfen ließ er sich wieder zur Seite fallen und drückte seinen Rücken nach hinten, machte sich rund, bis er sich vollkommen an sie gekuschelt hatte. Hermine ließ ihren Kopf neben ihn auf die Kissen sinken, betrachtete stumm die vor ihr ausgebreiteten silberblonden Haare, die im Licht der Dämmerung rötlich schimmerten. Sie schluckte, presste die Augen zusammen und drückte sich gegen ihn. Nicht daran denken, nicht an rote Haare denken. Es war nur das Licht. Hier in diesem Raum war gar nichts. Hier war die Erinnerung an Ron verboten. Hermine strampelte die Decke, auf der sie lagen, mit den Füßen nach unten, hob den Oberkörper an, angelte mit einem Arm, den sie aus Dracos Klammergriff befreit hatte und zog den blauen Stoff über ihrer beider Schultern, bevor sie sich wieder an ihn presste. Hermine schlief ein, bevor das neue Jahr begann. Auf eine eigenartige Weise fühlte sie sich hier drinnen fast wohl. Die Dinge, die er gesagt hatte, waren so erschreckend präsent, dass sie zumindest eine Nacht lang vergaß, wegen Ron zu weinen. Xxx Als Hermine erwachte, war es draußen noch dunkel. Draco neben ihr schlief wie ein Stein. Sein Gesicht lag in einer Lache Erbrochenem, das so widerwärtig stank, dass Hermine meinte, sich selbst übergeben zu müssen. Eilig kletterte sie aus dem Bett, in dem sie gemeinsam geschlafen hatten und öffnete eines der morschen, zugestaubten Fenster, dass offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden war. Es quietschte entsetzlich, als sie es mit einem kräftigen Ruck aufstieß, um frische Luft herein zu lassen. Ein vorsichtiger Blick hinüber zum Bett. Draco lag immer noch reglos da und war, wenn sie ihn so betrachtete, leichenblass. Wie viel konnte er getrunken haben? Die ganze Flasche? Hermine war nicht ganz sicher, ob der Körper, den sie beim Aufwachen neben sich wahrgenommen hatte, warm gewesen war. Sie kam zögerlich etwas näher und zog die Schultern hoch. Merkwürdigerweise schien er jetzt, wo kühle, frische Luft hereinwehte, noch schlimmer zu stinken als eben, wo sie dicht an ihn geschmiegt gewesen war. Trotzdem war es etwas anderes als Ekel, das sie fühlte, als sie sich neben ihn auf die Bettkante setzte (in sicherer Entfernung von der durchweichten Matratzenstelle neben seinem Gesicht). Zaghaft streckte sie ihre Hand aus und berührte zuerst seine glühende Stirn – er lebte also noch - und danach seinen Hals, um den Pulsschlag zu fühlen, der, soweit sie das beurteilen konnte, normal wirkte. Dennoch zog sie ihre Hand nicht zurück, sondern ließ ihren Handrücken noch eine ganze Weile zuerst auf seinem Hals, dann auf seiner Wange ruhen. Jetzt konnte sie die Wärme seiner Haut fühlen, das schwache Pulsieren der Adern unter ihrer Hand und sie spürte, wie sein Brustkorb, gegen den sie lehnte, sich bei jedem Einatmen gegen sie, bei jedem Ausatmen von ihr weg bewegte. Hermine überlegte, ob sie vielleicht bleiben sollte. Ob sie ihn aufwecken sollte oder sich irgendwie sonst kümmern müsste. Sie entschied sie sich dagegen, da ihr klar war, dass er das nicht wollen würde. Wenn er sich überhaupt daran erinnern würde, dass er hier mit ihr „geschlafen“ hatte, dann würde er doch sicher alles daran setzen, um seine Würde wieder herzustellen und sie aus vollen Kräften tyrannisieren. Oder töten. Nein, eigentlich glaubte sie das nicht. Hermine seufzte und ließ ihre Hand von seinem Gesicht weg, über seine Schulter gleiten. Wahrscheinlich nicht. Er mochte betrunken gewesen sein, aber er hatte nicht gelogen. Was immer er auch als Todesser zu tun hatte belastete ihn sehr. Es machte ihm keinen Spaß und sie, speziell sie, würde er nicht verletzen wollen. Warum auch immer. Aber dennoch, er würde nicht wollen, dass sie bei ihm blieb. Vielleicht sollte sie ihm etwas aufschreiben? Ja, aber was? Besser nicht. Genau wie sie ihn auch nicht auf diese Nacht ansprechen sollte, wenn er es nicht zuerst tat. Hermine hatte nach ihrer verwirrenden Nacht mit einem betrunkenen Malfoy beschlossen, dass der Tod etwas war, was ihr nicht weglaufen würde und sie die Sache mit dem sofortigen Ableben vielleicht doch noch einmal überdenken sollte. So eigenartig es war, jemanden zu treffen, der noch nicht einmal sterben konnte (oder durfte), hatte ihren eigenen Wunsch zu sterben etwas abgemildert. Immerhin, sie hatte die Wahl. Draco nicht. Vielleicht weil es die Möglichkeit „Tod: Ja oder Nein?“ für Malfoy gar nicht gab? Er durfte es nicht selbst entscheiden. Er war dazu verurteilt worden abzuwarten, bis irgendein anderer es tun würde. Vermutlich grausam. Ihre eigenen Wahlmöglichkeiten - ob sie sterben sollte, wann, wie und durch wessen Hand - waren demgegenüber so offen und frei, dass sie bei dem Gedanken daran fast so etwas wie Freude, oder zumindest Zufriedenheit fühlte. Sie konnte tun und lassen was sie wollte, er nicht. Zumal es noch etwas anderes gab, über das sie bei dem Gedanken an Draco nachdenken musste. Er hatte gesagt, er wolle sterben. Er wollte das Leben, zu dem er gezwungen war, nicht mehr, da es keine Aussicht auf Besserung gab. Hermine gab ihm in diesem Punkt vollkommen recht. Gleichzeitig dachte sie auch daran, dass er gut daran tat, sich sein eigenes Ende zu ersehnen. Wegen Ron, auch wenn er ihn nicht mit eigenen Händen getötet hatte. Dennoch wegen Ron und allen anderen, die weiterleben wollten, und es nicht durften. Wenn sie darüber nachdachte, dann schien es das Einfachste und Beste ihm zu sagen, dass der Orden ihn sowieso vermutlich noch vor Ablauf seiner Schulzeit auslöschen würde. Immerhin. Er hatte einen absehbaren Zeitraum. Er wusste, wer es tun würde und wenn man einmal von der rein theoretischen Möglichkeit absah, dass er vorher gefoltert werden würde, boten Hermines Freunde ihm doch genau das an, wonach es ihn verlangte. Wenn er getötet werden würde, würde man seine Eltern nicht länger mit seinem Wohlergehen erpressen können. Oder umgekehrt. Dann wäre doch alles gut. Jeder würde bekommen, was er wollte, oder? Und dennoch, und dennoch war dies einer der weiteren Gründe, warum Hermine sich selbst nicht töten wollte. Weil es einfach falsch klang, einen Siebzehnjährigen damit zu trösten, dass er doch sowieso bald getötet werden würde. Weil es einfach zu wenig war. Weil das doch noch nicht alles gewesen sein konnte, was man mit siebzehn oder achtzehn erreichen konnte. Monate voller Qualen, die durch einen einsamen Tod beendet werden würden. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Auch wenn er es sich selbst wünschte. Auch wenn sie seinen Wunsch verstand. Auch wenn er vielleicht nichts anderes verdient hatte. Das war nicht genug. Xxx Draco stellte am Neujahrsmorgen fest, dass er am vorigen Abend eindeutig nicht betrunken genug gewesen war. Er fühlte sich scheußlich, hatte Kopfschmerzen, ihm war speiübel, schwindelig und die Januarsonne strahlte verboten hell, doch bedauerlicherweise erinnerte er sich, würgend und stöhnend, über der heruntergekommenen Toilette der Heulenden Hütte hängend recht gut daran, dass er gestern nicht alleine gewesen war. Es war etwas unklar und manche Details trieben wirr durch seinen Geist, doch er wusste, dass er sich in die Heulende Hütte zurückgezogen hatte, um allein zu sein, da er keine Lust auf fröhliches Silvestertreiben hatte. Und irgendwann, gegen Nachmittag wohl, stand Granger in der Tür. Vermutlich, wenn er es richtig wusste, weil sie auch alleine sein wollte. Statt zu gehen war sie aber geblieben, hatte seine Lage schonungslos ausgenutzt und ihn nicht daran gehindert, seine intimsten Geheimnisse vor ihr auszuplaudern. Und er erinnerte sich auch – erneut beugte er sich über die Toilette, da sein Magen in dem Moment rebellierte - dass er sie gebeten hatte, bei ihm zu bleiben und ihn nicht allein zu lassen. Wirklich schlimm war nicht nur, dass sie das auch tatsächlich gemacht hatte, sondern dass er sich noch genau darin erinnern konnte, wie gut es sich angefühlt hatte, von ihr gehalten zu werden. So peinlich, so schlimm, dass er zu der Strategie griff, die ihm in diesem Moment am sinnvollsten erschien. Er würde sie von jetzt ab komplett ignorieren. So tun, als könne er sich an nichts mehr erinnern und so schnell wie möglich die Richtung wechseln, falls er sie irgendwann im Schloss herumlaufen sah. Xxx Es war nicht so, dass er Granger auflauerte. So etwas Peinliches würde er nie tun. Er war nur ganz zufällig in ihrer Nähe und schlich seit Stunden in den Gängen um das Zimmer herum, in dem sie sich befand. Die Tatsache, dass er wusste, dass sie dort drinnen war und sicher bald herauskommen würde, hatte in keinster Weise etwas mit Auflauern zu tun. Es stimmte auch nicht, dass er sie in den letzten Tagen ausspioniert hatte. Wie wäre das möglich gewesen, wo er doch so viel Mühe darauf verwendet hatte, nie und nirgendwo von ihr gesehen zu werden. Es war definitiv nicht beabsichtigt, dass er wusste, dass sie die verbleibenden Tage ohne ihre Freunde entweder in der Bibliothek oder in der Nähe dieses bescheuerten Klassenzimmers verbracht hatte, wo sie neben ihren lächerlichen Belfer-Stickern nun auch noch Plakate mit der Aufschrift „Mugglekunde – die wahre Wahrheit“ aufgehängt hatte. Granger schrieb nämlich ein Buch. Stundenlang saß sie in diesem leeren Klassenzimmer, füllte Pergamentrolle um Pergamentrolle mit etwas, das sie offensichtlich für einen Enthüllungs-Insiderbericht hielt. Um den Gerüchten und Schmähungen entgegenzuwirken, die über Muggel derzeit im Umlauf waren, wollte sie wohl einen Selbsterfahrungsbericht über die Vorurteile, Schwierigkeiten und Nachteile berichten, die sie als „Schlammblut“ in Hogwarts erfahren hatte. Na gut, dann hatte er ihr eben doch nachspioniert. Ja und? Das war doch seine Aufgabe hier, oder? Und wenn Granger stundenlang einsam in einem leeren Klassenzimmer Sachen schrieb, dann konnte das alles Mögliche sein. Es war nur vernünftig, ab und zu einfach mal in der Nähe dieses Zimmers zu sein und darauf zu warten, dass sie auf die Toilette musste. Was er zu lesen bekommen hatte, war ausgesprochen amüsant gewesen. Zumal sie zwischen Stapeln von Büchern auch einen sehr kurzen Entwurf für ein weiteres Buch dabei gehabt hatte. Das Sklavenleben der Elfen betreffend. Draco hatte gegrinst, alles wieder hübsch so zurückgelegt, wie er es vorgefunden hatte und beschlossen, sich diese Bücher zu kaufen, sollte irgendjemand sie wirklich veröffentlichen. Er hatte sich gefragt, ob ihr klar war, dass sie Voldemort damit vermutlich in die Hände spielen würde. Frustrierte Schlammblüter waren doch genau das, was er als Gefahr darstellen wollte. Waren sie das? Voldemort hatte ihnen gesagt, dass sie mit ihren Aktionen die Augen der magischen Gemeinschaft öffnen wollten. Dass er sie vor einer zweiten Inquisition beschützen wollte und dass die Dinge nur etwas überdramatisiert wurden, um das Problem zu verdeutlichen. Das Problem, dass Muggel schlecht und unfähig waren und magische Menschen mit ihrer Ignoranz und ihrer Unfähigkeit unterdrückten. Draco dachte an die Gerüchte, die über Potters Verwandte im Umlauf waren und gab Voldemort recht. Draco öffnete die Tür einen Spalt, um Granger über ihrem Pergament gebeugt schreiben zu sehen, und bekam Zweifel. Ein leichtes Lächeln schlich sich über seine Lippen, als sie ihren Rücken nach hinten durchbog, ihre Arme hinter den Kopf legte und ihren ganzen Körper streckte. Es musste ja wahnsinnig anstrengend sein, was sie da tat. Eine Sekunde Ruhe gönnte sie sich, dann tauchte sie ihre Feder erneut in das Tintenfass und fuhr damit fort, sicherlich höchst dramatische Enthüllungen auf Pergament zu bringen. Er sah sie gerne an. Wenn er ehrlich war, beobachtete er sie wirklich gerne. Es musste ja niemand wissen. Er würde nie jemandem von der Neujahrsnacht mit ihr erzählen und es gab genug Gründe für sie, das ebenso zu vermeiden. Dennoch, wenn er ehrlich war, dann waren die Erinnerung an die Wärme ihres Körpers, das Gefühl der Ruhe, als er sie hinter sich gespürt hatte und das Wissen, nicht alleine zu sein... …schön. Aber heute war er nicht hier, um sie heimlich anzusehen. Er hatte ein Problem und war entgegen seinem Neujahrsvorsatz gezwungen, mit ihr zu sprechen. Dummerweise hatte sie heute den ganzen Vormittag in der Bibliothek verbracht. Vermutlich recherchierte sie, um ihren Freunden zu helfen. Dort beobachtete er sie weit weniger gern und weit weniger oft. Seit diesem Vorfall in der Winkelgasse… er fühlte sich in Bibliotheken unwohl. An einem Tag wie heute hatte er sogar panische Angst davor, dort hineinzugehen. Deswegen wartete er jetzt hier auf sie. Nun, nicht genau hier. Immer nur einige Minuten lang blieb er in diesem Gang, dann hörte er… etwas. Wenn er es hörte, wenn er die Schatten sah, die ihre Körper warfen oder wenn er, und sei es nur für einen Sekundenbruchteil, ihre wutverzerrten Gesichter am Ende des Korridors sah, dann ging er weg. Sie folgten ihm. Er wusste es, denn er wurde sie nicht los. Er hörte ihren rasselnden Atem. Er hörte ihre Schritte. Das dumpfe Gemurmel ihrer toten Stimmen. Aber wenn er wegging, dann konnte er sie manchmal abhängen. Wenn er das Gefühl hatte, dass es ihm fürs Erste gelungen war, ging er wieder zurück zu dem leer stehenden Muggelkundeklassenzimmer und versuchte den Mut aufzubringen hineinzugehen. Sobald er jedoch dachte, dass er es tun könnte, dass er die Tür öffnen könnte, um mit Granger zu reden, roch er sie wieder. Widerlich, faulig, übel. Und ging wieder weg… genauer gesagt, ergriff die Flucht. Im Moment roch er sie noch nicht. Also blieb er hier. Nicht gerne. Draco schlang die Arme um sich und ging ein paar zögerliche Schritte in die andere Richtung, dort, wo er hergekommen war. Nicht, weil er es aufgegeben hatte und wieder weg wollte. Einfach nur, um sich zu bewegen. Ein hastiger Blick über die Schulter nach hinten – die Tür des Klassenzimmers war immer noch zu – und er ging weiter. In Bewegung bleiben, das war das Wichtigste. Er musste sich von hier weg bewegen, aber nicht zu weit. Nur so weit um… sie zu verwirren. Man beobachtete ihn. Draco blieb stehen, legte eine Hand auf seine Brust, um sein heftig pochendes Herz zu spüren und senkte für eine Sekunde den Blick. Das Engegefühl in seiner Brust verstärkte sich, schien seinen Körper emporzukriechen und legte sich wie eine eiserne Hand um seine Kehle. Er hörte Schritte. Die schweren Schritte toter Körper, die leblos über kalten Stein schlurften… Einatmen – Ausatmen … auf der Suche nach ihm. Er musste von hier weg. Sie waren wütend, er wusste es. Er eilte einige Schritte weiter, bis der Schwindel stärker wurde und er seitlich gegen die Wand taumelte. „Draco?“ Er schrie… in Panik. Ein scharfer Stich mitten ins Herz. Alles in ihm schrie auf vor Entsetzen, wurde kalt wie der Tod und dann taub. Sie hatten ihn. Und doch schaffte er es, nach seinem Zauberstab zu greifen, trotz des Schwindels, der Taubheit seiner Glieder, konnte er herumwirbeln den Arm heben und zielte in Richtung derer, die ihn schon den ganzen Tag verfolgten… „Sectum…“ Eine Kraft traf ihn und verbrannte seine Finger wie ein elektrischer Schlag. Schmerzen, unaushaltbar. Die Kraft riss ihm seine Waffe aus der Hand, krümmte seine Finger von einer fremden Macht beherrscht nach außen. Ein Blitz. Krach. Um ihn herum wurde es Nacht und er fiel. Obwohl er am Boden saß, fiel er tiefer und tiefer. Es war Nacht, um ihn herum Feuer und grüne Blitze und dann… Ein Schlag. „Draco!“ Jemand riss an ihm, zerrte ihn. Zu spät, sie hatten ihn. Zwei Hände schlangen sich um seine Kehle. „Draco!“ Noch ein Schlag. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, stieß gegen die harte Steinwand und… „Draco. Kannst du mich hören?“ Draco hörte… und nun sah er auch. Er fand sich am Boden kauernd, hyperventilierend, triefend nass von kaltem Schweiß, zitternd und mit schützend über dem Kopf gehaltenen Armen… Auge in Auge mit Granger. Das Mädchen kniete vor ihm, hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt und die andere Hand spürte er auf seiner, mit einem Mal, brennend heißen Wange. Sie sah besorgt aus. Besorgt, verwirrt… und Draco wäre bei ihrem Anblick am liebsten vor Scham gestorben. Rings um sie herum kullerten Stifte, Pergamentrollen, Tintenfässer und auch sein Zauberstab auf dem Boden herum. Das Stechen in seiner Brust ließ etwas nach, er zitterte nicht mehr so heftig und ihm war auch nicht mehr kalt. Vielmehr brennend heiß vor Scham. „Dra…“ „Lass mich sofort los!“ Er wischte ihre Hand von seiner Wange und sah sie etwas zurückweichen, bevor er ihre andere Hand von seiner Schulter schlagen konnte. Ihr Mund verzog sich, er sah sie tief durchatmen und nachdenklich die Stirn runzeln. „Du… du hast geschrien und ich dachte…“ „Ja, ja.“ Er konnte es sich schon denken, aber er wollte es nicht hören. Er ließ sich nach vorne auf Hände und Knie sinken, verharrte einen Moment, um zu spüren, ob sein Gleichgewichtssinn wieder funktionierte, dann krabbelte er an ihr vorbei, um seinen Zauberstab zu finden. Natürlich auch damit sie sein vermutlich feuerrotes Gesicht nicht länger sehen konnte. „Bist du okay?“ Ihre Stimme war unangenehm nahe. Ebenso das Tapsen ihrer Hände. Ein schabendes Geräusch auf dem Boden ließ ihn zusammenzucken. Sein Körper verspannte sich erneut. „Ich sammle nur meine Sachen ein. Alles okay.“ Er hätte sie dafür schlagen können, dass ihn das tatsächlich beruhigte. Statt einer Antwort oder eines Kommentars grunzte er nur irgendetwas Unverständliches, schnappte seinen Zauberstab und beobachtete ihn eingehend von allen Seiten, als wolle er sich von dessen Unversehrtheit überzeugen. Das Mädchen häufte ihre heruntergefallenen Schätze zu einem praktisch zu tragenden Paket zusammen, murmelte irgendetwas und beschwor silbern funkelnde Schnüre, die Pergament, Bücher und alles andere tatsächlich verbanden und, falls Draco sich nicht irrte, auch schrumpften. Er hörte ihre Hände auf dem Stein. Langsam wurde ihm übel. Eine Gänsehaut breitete sich über seinem ganzen Körper aus, die den Stoff seiner Kleider rau und schmerzhaft über seine Haut rieb. Zögerlich hob er den Kopf und wagte ein paar vorsichtige Blicke nach links und nach rechts um zu sehen, ob „sie“ immer noch da waren. Warmer Atem blies ihm ins Gesicht. Erschrocken fuhr sein Kopf herum und sah Granger, die ihn verlegen anlächelte. „Ich kam gerade den Gang entlang und hab dich gegen die Wand taumeln sehen. Ich dachte“, sie brach ab und zuckte mit hochgezogenen Augenbrauen die Schultern, „ich dachte, ich seh' mal nach.“ Eine kurze Pause, in der sie sich auf die Lippen biss und leicht den Kopf zur Seite neigte, so dass ihre Locken über ihre Schultern fielen. Dann erklärte sie weiter: „Könnte ja sein, dass du Hilfe brauchst.“ Draco drehte sich wieder zu dem Mädchen um, das nun auf einmal direkt vor ihm kniete und sich leicht nach vorne beugte. Näher, viel näher… Eine ihrer Locken strich vorwitzig über die empfindliche Haut auf seinen Lippen. Einen irrwitzigen Moment lang dachte Draco, sie wollte ihn küssen. Sie musste sich mit einer Hand nach vorne abstützen, um nicht umzukippen. Er spürte ihren Arm vor seinem Knie, als er leicht zögerlich den Kopf in Richtung ihrer Lippen drehte. Erneut spürte er die Hitze in sich hochsteigen, doch bevor zu einer anderen Reaktion als einem entsetzten Blick fähig war, hörte er, wie sie durch die Nase Luft einsog. „Ich bin nicht betrunken“, protestierte er beleidigt. Verärgert über seine eigene Enttäuschung wurde ihm klar, dass sie ihm lediglich so nahe gekommen war, weil sie feststellen wollte, ob er schon wieder nach Alkohol roch. Empört schubste er sie von sich weg, legte seine Hand auf den Boden und stand, bedauerlicherweise leicht taumelnd, auf. Das Mädchen wurde innerhalb von Sekunden genauso rot, wie er es sicher schon wieder war. „Oh, entschuldige. Ich dachte ja nur. Ich meine, es hätte ja sein können.“ Draco biss sich auf die Lippen und verzog wütend das Gesicht. Es hätte ja sein können… Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war ihr Verdacht nicht unbegründet nach den letzten Monaten. Dennoch… Statt einer weiteren Erklärung zuckte sie nur leicht gelangweilt wirkend mit den Schultern, erhob sich (um einiges sicherer als er) und ging zu ihrem immer noch magisch verschnürten Arbeitspaket zurück, das sie im Vorbeigehen geschickt vom Boden angelte. Sie würde gehen, aber… er musste doch mit ihr sprechen! „Warte mal!“ Allen Stolz, den er noch besaß, bitter und hart hinunterschluckend, folgte er ihr, bis sie einige Meter weiter stehen blieb und sich ihm mit verwirrter Miene zudrehte. „Ja?“ „Ich…“, er holte tief Luft, biss sich auf die Lippen und verzog sein Gesicht zu einer gequälten Miene. Er spürte wie die Hitze wieder auf seinen Wangen und Ohren zu brennen begann und wie sein Mund von Sekunde zu Sekunde trockener wurde. „Ich wollte mit dir reden.“ „Oh!“ Sie zog die Augenbrauen hoch und lächelte verständnisvoll. „Also wegen Silvester. Ja ich wollte eigentlich auch noch etwas dazu sagen. Weißt du… vergessen wir es doch einfach, das war doch nur…“ „Nein!“ Viel schärfer und vor allem viel lauter als beabsichtigt, kam seine Antwort. Weitere angstvolle Blicke über seine Schulter. Er sah sie nicht, doch langsam, wenn er sich nicht irrte, nahm er einen leicht fauligen Geruch in der Luft wahr. „Nicht hier.“ Kaum noch ein Flüstern, viel eher gehaucht waren seine Worte. Er glühte, ganz sicher würde er gleich anfangen zu dampfen, so heiß war sein Gesicht. Sie würde ihn sicher für komplett wahnsinnig halten, denn schon jetzt runzelte sie misstrauisch die Stirn und sah aus, als ob sie am liebsten vor ihm wegrennen würde. Das durfte sie aber nicht. Nicht, bevor er mit ihr geredet hatte. „Komm!“ Energisch packte er ihren Arm, deutete in Richtung des leer stehenden Klassenzimmers und zog sie mit sich. „Wir gehen da wieder rein. Dort drinnen sollte es erstmal sicher sein.“ „Wieso sicher?“ Ihre Stimme klang gepresst. Sie kam zögerlich nach, zu langsam. Er ließ von ihrem Arm ab und ergriff stattdessen ihre freie Hand, um sie besser mit sich ziehen zu können. Er stieß die Tür auf, schubste sie hinein und schlüpfte ebenfalls in den Raum. Ein letzter Sicherheitsblick hinter sich, einmal tief Luft holen, schon fiel die Tür krachend ins Schloss. Peinlich, demütigend, entwürdigend. Dennoch… er musste mit ihr reden. „Granger, du… du musst mir helfen.“ Immer noch stand er mit dem Gesicht zur Tür. Wandte ihr den Rücken zu, weil er ihr Gesicht nicht sehen wollte. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe und vergrub beide Hände in den blonden Haaren, während er angestrengt darüber nachdachte, wie er sein Anliegen vorbringen konnte, ohne danach als komplett irre zu gelten. Etwas Schweres fiel zu Boden. Draco zuckte zusammen und schämte sich Sekunden später als sein Gehirn mit etwas Zeitverzögerung feststellte, dass es nur Grangers schwerer Rucksack gewesen sein musste. Irgendetwas quietschte, ein Stuhl und dann ein dumpfes Geräusch. Stoff, der sich über Holz schob. Sie hatte sich auf eine der Bänke gesetzt. „Was gibt es denn?“ Gut, sie klang ruhig und beinahe neugierig. Immerhin nicht eingeschüchtert, verängstigt oder gar genervt. „Tja, weißt du. Es ist nicht so leicht zu erklären.“ Draco drehte sich zögerlich um. Nicht langsam genug, denn sicher hatte sie noch einen Blick auf das verschämte Lächeln erhascht, das seine Lippen umspielte, als er mit leiser, eindringlicher Stimme zu erklären begann. „Ich bin nicht allein. Jemand folgt mir. Mehrere Personen…“ Er stöhnte und kippte mit dem Rücken gegen die Wand. Das Gesicht in den Händen verborgen. Der Blick, mit dem sie ihn eben angesehen hatte… Sie hielt ihn doch für verrückt. Er holte tief Luft und ließ die Hände von seinen Augen weg, durch seine Haare gleiten. „Pass mal auf, ich weiß, dass du mich jetzt sicher für einen komplett Irren halten wirst aber… Nymphadora Tonks und andere verfolgen mich.“ Das Mädchen wurde blass, Draco schauderte, leichenblass. Die Augen vor Schreck weit aufgerissen starrte sie ihn an. „Aber…. Sie…Warum…!“ Er zitterte, erst jetzt, als er seine Arme um sich selbst schlang, um sich etwas Halt zu geben, spürte er, wie sehr sein Körper doch zitterte. „Du weißt doch, die Winkelgasse….“ Die Augen des Mädchens wurden riesengroß vor Entsetzen, sie schlug sich die Hände vor den Mund und ihre Augen füllten sich mit Tränen. In diesem Moment wäre er eigentlich doch gerne gestorben. Seine Kehle wurde wieder enger und ihm war kalt. Seine Stimme war brüchig, leise und doch flehend: „Es war keine Absicht. Es war ein… Unfall. Sie war… es war keine Absicht.“ Er brach ab und rieb sich mit den Händen über sein feuchtes Gesicht. Seine Knie trugen ihn nicht mehr, er knickte ein und sank langsam gegen die Wand gelehnt zu Boden, bis er so weit unten war, dass seine Stirn seine Knie berührten. „Ich wollte es doch nicht.“ Er schluckte, legte die Hände hinter den Kopf und fuhr mit kleiner Stimme fort. „Sie ist nicht allein. Es sind andere dabei und sie sind wütend. Ich habe sie gesehen. Sie… sie sind nicht wie Geister, weißt du?“ Er musste abbrechen, um nach den richtigen Worten zu suchen. Lange genug um tief Luft zu holen und den ekelhaft fauligen Geruch wahrzunehmen, der durch die Tür ins Zimmer hereinwaberte. Schritte. Er hörte schlurfende Schritte. Von Panik gepackt sprang er auf, hastete mit zwei großen Sprüngen hinüber zu dem Mädchen auf der Schulbank und klammerte seine Hände um ihre Schultern. „Bitte, ich wollte das doch alles nicht. Ich hatte keine Wahl. Du kennst Nymphadora doch, oder?“ Er schüttelte sie, viel heftiger als er wollte, doch die Angst ließ seine Bewegungen fahrig und unkontrolliert werden. „Du kennst sie, nicht? Du musst es ihr sagen, du musst ihr sagen, dass ich das alles nicht wollte.“ Das Mädchen wich vor ihm zurück und betrachtete ihn voll stummem Entsetzen. Sie hatte Angst vor ihm. Wieder schüttelte er sie, sie musste, sie musste einwilligen. „Du musst es ihnen sagen! Sie sind wütend. Sie kommen, um mich zu holen, ich weiß es. Sie wollen… sie wollen irgendetwas mit mir machen, um sich zu rächen.“ Sein eigenes, vor Angst und Panik verzerrtes Gesicht spiegelte sich in ihren Augen. „Bitte! Sie kennt dich. Du musst mir ihr reden. Dir wird sie glauben. Sie soll es dann den anderen sagen.“ Etwas krachte. Irgendetwas war vor der Tür. Jemand hatte dagegen geschlagen. Draco fuhr mit einem ängstlichen Schrei herum und klammerte sich an das Mädchen. Wie ein verängstigtes Kind schlang er seine Arme um sie und presste sie so fest an sich, als wolle er in sie hineinkriechen. „Bitte!“ Das Mädchen holte tief Luft und drückte ihn von sich weg, doch sie ließ ihn nicht los. Ihre Augen flackerten nervös zur Tür, dann zurück zu ihm und wieder zur Tür. „Also gut…“ Ihre Stimme war langsam, schleppend, als müsste sie in diesem Moment, wo sie sprach, noch darüber nachdenken, welche Worte und welche Entscheidung nun folgen sollten. „Komm!“ Das Mädchen sprang vom Tisch und führte ihn mit sich hinüber zur anderen Seite des Raumes, die der Tür gegenüber lag. Dort ging sie gemeinsam mit ihm in die Knie und lehnte sich gegen die Wand. „Pass auf, Draco, wir bleiben jetzt einfach hier und warten, ja?“ Poltern. Irgendetwas polterte vor der Tür und nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er presste die Arme um seine angezogenen Knie und kauerte sich vollkommen zusammen. Ihre Hände glitten über seine Haare. Zuerst strichen sie nur über seinen Kopf, dann auch über seine Arme. „Mach die Augen zu, Draco. Dann siehst du sie nicht. Okay?“ Er nickte und ließ es zu, dass sie einen Arm um seine Schulter legte und ihn zu sich zog, bis er kippte und zusammengerollt mit dem Kopf in ihrem Schoss lag. Etwas krachte und wieder zuckte er vor Schreck zusammen. Die Augen zusammengepresst, so fest er konnte. Weiche Hände strichen ihm über die Stirn. „Wir bleiben jetzt hier sitzen und warten. Wenn sie reinkommen, dann rede ich mit ihr. Keine Angst. Ich hab mich mit Tonks immer gut verstanden. Ich erklär ihr das einfach alles. Mach dir keine Sorgen.“ Draco wusste nicht genau, wie lange sie so da saßen. Sie, mit ausgestreckten Beinen gegen die Wand gelehnt. Er, den Kopf auf ihrem Schoss, zusammengekauert am Boden liegend, die Augen fest zusammengepresst und darum bemüht, nichts in der Welt außer ihrer Hand auf seiner Stirn wahrzunehmen. Aber irgendwann wurde es besser. So viel besser, dass er sich fragte, ob er Nymphadora, Travers und die anderen wirklich gesehen hatte. Genau genommen lag er die letzte halbe Stunde nur noch bei ihr, weil es ihm zu peinlich war, die Augen wieder aufzumachen. Er hörte Papier über sich rascheln und spürte, wie sie ab und zu ihr Gewicht verlagerte. Offensichtlich nutzte sie die Zeit zum Lesen. Je mehr er darüber nachdachte, dass sie das nicht tun würde, wenn sie wirklich von mörderischen Zombies belagert würden, desto mehr schämte er sich. Irgendwann, schon längst hatte er die Augen wieder offen, als das helle Sonnenlicht schon längst dem Abendrot gewichen war und das Zimmer, in dem sie saßen, mehr und mehr in Dunkelheit gehüllt wurde, drückte sie ihn langsam von sich weg. „Du musst aufstehen. Es ist gleich Abendessen und sie werden nach dir suchen, wenn du nicht hingehst.“ Draco setzte sich langsam auf und nickte. Er war nun wieder klar genug, um zu wissen, dass sie die Lehrer, nicht seine toten Verfolger gemeint hatte, die es vermutlich gar nicht gab. Er vermied ihren Blick, während er seine verstrubbelten Haare halbwegs in Ordnung brachte und ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Xxx Dieser Nachmittag mit Draco war… seltsam gewesen. Ihrem Instinkt folgend hatte Hermine beschlossen, bei Dracos Halluzinationen einfach mitzuspielen. Vermutlich hatte es ja auch geholfen. Irgendwann war seine Atmung ruhiger geworden und er hatte aufgehört zu zittern. Sie hätte ihn schon eher weggeschickt, wenn ihr irgendein Grund oder eine Erwiderung eingefallen wäre, die weder für ihn noch für sie peinlich gewesen wäre. Den ganzen Nachmittag über, als er auf ihren zeitweise eingeschlafenen Beinen gelegen hatte, hatte sie so dringend zur Toilette gemusst, dass sie manchmal schon knapp davor gewesen war, ihn von sich herunterzuschubsen und aus dem Zimmer zu stürmen. Dennoch, sie hatte tapfer ausgehalten und war sogar ein klein wenig stolz darauf, wie sie mit einem offensichtlich komplett durchgedrehten Malfoy zurechtkam. Abends im Bett war sie nicht mehr ganz so stolz, sondern eher nachdenklich. Malfoy, Draco, tat ihr im Grunde genommen leid. Er schien furchtbar unter seinen Erlebnissen zu leiden und ganz sicher hatte er sich das alles nicht wirklich gewünscht. Egal wie großspurig seine Sprüche auch immer gewesen sein mochten, das alles hatte er nicht gewollt. Vermutlich verfolgte ihn nun sein eigenes schlechtes Gewissen in Gestalt seiner Opfer. Wirklich, er tat ihr leid und sie verstand es. Trotzdem, sie sollte sich von ihm fernhalten. Es mochte eine gewisse Erleichterung für sie selbst sein, wenn sie mit Malfoy zusammen war. Zeit, die sie nicht mit ihren eigenen Problemen verbrachte. Dennoch, Dracos Situation war ausweglos, das hatte er absolut richtig erkannt und wenn sie sich nicht von ihm fernhalten würde, würde er sie mit sich nach unten ziehen. Tiefer, als sie ohnehin schon war, weil Hermine wusste, dass sie nicht würde wegsehen können, nachdem sie einmal damit begonnen hatte, wirklich hinzusehen. Aber sie hatte doch schon genug eigene Probleme. Ron, der Orden, Greyback… vielleicht sogar ihre Eltern. Prüfungen, Harry, der Schulabschluss. Das war alles schon mehr als genug, wenn sie sich nun auch noch einen geisteskranken Malfoy auflud, würde sie zusammenbrechen. Es ging nicht anders, sie sollte sich von ihm fernhalten und nicht weiter darüber nachdenken. Sie konnte ja doch nichts tun und vielleicht musste man sich einfach damit abfinden, dass es Dinge gab, die man nicht ändern konnte. Zumal, wenn diese Dinge eine Person betrafen, die im Grunde genommen kein Mitleid verdiente. Xxx Einige Tage später. Ein Samstag beim Mittagessen in der großen Halle. Draco war Hermine, Merlin oder Gott sei dank, aus dem Weg gegangen. Wie er allen Menschen aus dem Weg ging, wenn er nicht gerade im Unterricht war oder nachsitzen musste. Hermine drehte ihren Kopf in Richtung Lehrerpult und lehnte sich nach hinten. Sie seufzte, als sie Lupins verhärmtes Gesicht in Richtung Slytherintisch funkeln sah. Sicher, Lupin war ein fähiger Zauberer und ein einfühlsamer Pädagoge, dennoch hätte sie sich einen anderen Lehrer als ihn als McGonagalls Ersatz gewünscht. Einen, der nicht so viel Grund hatte, die Slytherins wegen ihrer Todesserverwandtschaft zu hassen. Allen, wirklich allen Ordensmitgliedern war klar, dass es einen Grund dafür gab, dass man nicht gegen seine Ernennung protestiert hatte. Einen Grund, warum Snape noch nicht hier war und warum Kingsley die Schule unbehelligt leiten durfte. Vermutlich planten sie wieder etwas. Sie hatte mit Harry und den anderen darüber gesprochen. Die toten Schüler in Hogsmeade waren der perfekte Weg gewesen, um McGonagall aus dem Weg zu räumen und sie noch dazu in Misskredit zu bringen. Keine Märtyrer. Die Leute, die von Voldemort beseitigt wurden, hasste man danach. Er wollte irgendetwas provozieren, was noch mehr Hass erzeugen würde und was die Unfähigkeit und Gefährlichkeit der Lehrer, und wahrscheinlich auch Schlammblüter, ein für alle mal außer Frage stellen würde. Man hatte darüber diskutiert, Draco zu befragen. Per Cruciatus, Veritaserum oder Imperius, kam allerdings zum Schluss, dass Voldemort wohl nicht im Traum daran denken würde, irgendwelche Pläne mit Draco Malfoy abzustimmen. Hermine fuhr zusammen, als sie etwas Spitzes in die Stirn pickte. Urplötzlich aus ihren Tagträumen aufgeschreckt blickte sie sich hektisch nach allen Seiten um. Wer oder was…? Ein großer Uhu war direkt vor ihr, IN ihrem Suppenteller gelandet und pickte ihr ungeduldig mit seinem Schnabel gegen die Finger. An seinem Bein hing eine Nachricht. Hermine kannte diesen Vogel, wie auch alle anderen Gryffindors, den misstrauischen Blicken in Richtung Malfoy zu schließen. Der Uhu war der größte, vermutlich auch teuerste Vogel, der zur Zeit in der Schule hauste. Hermine hatte irgendwann einmal mitbekommen, dass Malfoy ihn „Pure“ genannt hatte. Wie passend. Harry, der zu ihrer Rechten saß, war eben noch tief in einer Diskussion mit Ginny versunken gewesen. Jetzt aber, als Pure in seinem Suppenbad das Bein hob und gefährlich hin und herzuwanken begann, als Hermine ihm vorsichtig das Pergament vom Bein löste, war er still und musterte sie aufmerksam. „Was will er denn?“ Unnötig zu fragen, wer gemeint war. Draco hätte nicht auffälliger Aufmerksamkeit erlangen können. Ob es Absicht war? Vielleicht hatte er ja gemerkt, dass Hermine ihn im Moment ebenso dezent mied, wie er sie. Statt einer Antwort zuckte sie nur mit den Achseln, machte eine abwiegelnde Geste mit der Hand und entfaltete das Pergament. [style type="italic"]Komm nach dem Essen in den Besenschrank neben der Bibliothek. D.M.[/style] Hermine runzelte verständnislos die Stirn und drehte sich in Richtung Slytherintisch um, wo Draco ihren Blick mit eisiger Miene erwiderte. Rechts und links von ihm rutschten einige seiner Hauskameraden etwas näher an ihn heran (die wohl vorher wohl sicherheitshalber Abstand gehalten hatten) und senkten ihre Köpfe zu ihm. Der Ausdruck in Malfoys Augen war kalt, abweisend und ein wenig spöttisch. Wie immer. Er nickte in ihre Richtung und grinste, als er den Fragenden eine Antwort zuraunte. Hermine, zutiefst verwirrt, drehte sich wieder um und las eine weitere Zeile, die sich eben erst auf ihrem Pergament zu formen begann. [style type="italic"]PS: Sieh wütend aus. [/style] Hermine verdrehte innerlich die Augen, faltete die Nachricht wieder zusammen und steckte sie mit einem finsteren Blick in Richtung Slytherintisch, in ihre Umhangtasche. „Was war denn das?“ Hermine drehte sich zu Harry um und winkte gelangweilt ab: „Ach nichts. Malfoy denkt mal wieder, dass er witzig ist.“ Sie verdrehte vielsagend die Augen und schüttelte den Kopf. „Unwichtig.“ Harry seufzte und wandte, ebenso wie Hermine, den Kopf zu den Slytherins, wo Draco mit dem Finger in Richtung Gryffindortisch zeigte und gemeinsam mit Crabbe und Goyle in höhnisches Gelächter ausbrach. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Augen. Hermine nickte ihm knapp zu, dann drehte sie sich wieder um und zog Harry mit sich. „Beachte sie nicht. Das spornt ihn doch nur an. Jedes Wort ist zu viel und ich habe keine Lust, ihn während des Essens ausrasten zu sehen.“ Harry nickte und wandte sich wieder Ginny zu. Hermine seufzte und dachte daran, dass sie normalerweise neben Ron, und nicht neben Harry gesessen hatte. Die Bitterkeit darüber, dass sie nun ebenso vertraulich tuscheln sollte wich Sekunden später, als sie noch einmal ihren eigenen letzten Satz im Geiste wiederholte. Sie hatte wirklich keine Lust, Malfoy schon wieder ausrasten zu sehen, doch diesmal aus einem anderen Grund. Weil ihr langsam klar wurde, wie schlimm diese Dinge für ihn selbst waren. Xxx Die Tür zur Besenkammer war bereits offen. Sie fand Draco, wie erwartet, in der Kammer. Er saß zusammengekauert auf einem umgedrehten Putzeimer, inmitten einer Armee aus Besen, Schaufeln und Reinigungsmitteln. Er hatte seine gefalteten Hände auf seinen Knien liegen, presste die Lippen zusammen und richtete seinen leeren Blick auf ein Regal neben der Tür. Hermine lächelte scheu als sie die Kammer betrat. „Hallo.“ „Mach die Tür zu“, erwiderte er statt einer Begrüßung. Hermine überlegte, ob sie gegen diese Unfreundlichkeit protestieren sollte, beschloss aber, dass es wohl doch sinnvoller war, zunächst das zu tun, was er gesagt hatte. Die Tür fiel ins Schloss und Dunkelheit umhüllte sie. Draco rührte sich, soweit sie hören konnte, nicht. Nur seinen Atem hörte sie und ein nervöses Husten. Sie entzündete ihren Zauberstab und blickte gespenstisch weiß leuchtendes Gesicht, das sie verlegen anlächelte. „Hier.“ Zuerst wusste sie nicht was er meinte, doch dann bemerkte sie, dass er seinen Arm ausgestreckt hatte und ihr etwas entgegenhielt. Etwas… sie senkte den Zauberstab… einen Eimer. „Zum Sitzen“, kommentierte er leicht verlegen wirkend. „Öh… danke.“ Sie nahm den Eimer, drehte sich um und setzte sich. Ein wenig zu nahe, denn sie fühlte eines seiner Knie an ihrem. Mit den Füßen schob sie sich samt Eimer etwas weiter nach hinten, bis sie einen Besenstiel in ihrem Rücken fühlte und Draco, obwohl sie die Füße ausstreckte, nicht berührte. „Was machen wir denn, wenn Filch plötzlich reinkommt?“ „Wird er nicht. Um diese Uhrzeit kommt er nie. Immer erst gegen Abend. Dann holt er hier seine Sachen für die Flure und die Bibliothek.“ Hermines Mund kräuselte sich spöttisch. „Sag mal, wie oft sitzt du eigentlich hier drin, dass du das so genau weißt?“ Es sollte ein Scherz sein, doch Hermine sah voll Unbehagen, dass sich Malfoys blasses Gesicht im matten Licht ihres Zauberstabes rot verfärbte. „Tja..“ Hermine seufzte und löschte ihren Zauberstab, da Malfoys verlegenes Gesicht ein zu befremdlicher Anblick war, um sich so mit ihm unterhalten zu können. „Was gibt es?“ „Nichts.“ Malfoy hustete trocken und rutschte, dem quietschenden Eimer nach, auf seiner Sitzunterlage herum. „Du hast mich also hier her in eine Besenkammer geschickt, weil du mir nichts zu sagen hast?“ Hermine hörte, wie Draco tief Luft holte und wohl zu einer Erwiderung ansetzte, doch die kam nicht. Stattdessen hörte sie ihn etwas lauter atmen als zuvor und hörte ebenso, wie er mit den Schuhsohlen nervös auf dem Boden herumtrippelte. „Hast du wieder etwas gesehen?“, fragte sie schließlich, so neutral und sachlich wie möglich. Seine Füße rutschten weiter üben den Boden, er seufzte und erwiderte immer noch nichts. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie glaubte zu sehen, wie sich die schwach von der Dunkelheit abzeichnenden blonden Haare hin und her bewegten. Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist…“, er brach ab, seufzte und sprach erst einige Sekunden mit tonloser Stimme weiter: „Ich will einfach nicht alleine sein.“ Hermine kräuselte die Lippen und überlegte. „Naja… also, ich wollte eigentlich für Arithmantik lernen. Ich habe heute Morgen ein Buch über theoretische Grundlagen gefunden und denke, das könnte…“ „Bitte… ich bin auch still und lasse dich lesen.“ Dracos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch das verzweifelte Flehen darin war so intensiv, dass Hermine eiskalte Schauer über den Rücken liefen. „ Ich will jetzt einfach nicht… ich kann nicht…“ Er seufzte und bettelte weiter: „Bitte! Du musst gar nichts machen. Es ist nur…“ „Ist etwas passiert?“ Statt einer Antwort, sah sie den weißen Fleck, der sein Kopf war, auf und ab nicken. Sie wartete, ob er das ganze irgendwie ausführen würde und ging dabei im Geiste sämtliche Artikel durch, die sie heute im Tagespropheten gelesen hatte. Es war so finster hier drinnen. Sie konnte nur sehr vage die Konturen seines bleichen Gesichtes und seiner Haare erkennen. Der Rest von ihm, der in den schwarzen Slytherinumhang gehüllt war, verschmolz mit der Dunkelheit. „Ich war heute Nacht weg“, flüsterte er so leise, dass Hermine unwillkürlich einige Zentimeter näher an ihn heranrutschte, um ihn besser hören zu können. Sie hörte ihn atmen, auffällig laut. Hörte, wie er hart schluckte und sah die graue Silhouette seiner Hand über sein Gesicht wischen. „Ich erinnere mich nicht mehr, was passiert ist.“ Er schluckte wieder, schüttelte den Kopf und fuhr mit leiser, zitternder Stimme fort. „Ich weiß, dass ich gestern Abend früh ins Bett gegangen bin, um zu lesen. Ich musste dann irgendwann aufs Klo und dann hat das Mal gebrannt.“ Er brach wieder ab und Hermine meinte zu sehen, dass er nervös seine Finger knetete. „Ich weiß, dass ich….ich habe… es ist eine Illusion. Ich habe eine Illusion erzeugt, die so aussah, als würde ich in meinem Bett liegen, wenn jemand nachsehen würde. Man würde es merken, wenn man die Illusion anfasst, aber…“ Er schluckte und Hermine hörte ihn atmen. Nicht ruhig, zittrig, zitternder Atem. „Ist ja auch egal.“ Der Eimer unter ihm wackelte. Entweder hatte er sein Gewicht verlagert oder seine Beine zitterten von alleine so sehr, dass sie den Eimer zum Wackeln brachten. Einige Sekunden später hörte das leise Klappern auf und er sprach mit bebender, schneller werdender Stimme weiter: „Ich werde manchmal nachts gerufen. Das kam schon öfter vor. Diesmal aber… ich kann mich einfach nicht mehr erinnern, wo ich war. Das nächste, das ich weiß, ist, dass ich aufgewacht bin, als Goyle mir kaltes Wasser übergeschüttet hat. Ich war nackt und meine Kleider lagen ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl neben mir.“ Er atmete tief durch und gestand: „Mir fehlt die ganze Nacht.“ Hermine benetzte sich die Lippen, verzog den Mund und überlegte einen Moment. „Ist es nicht möglich, dass du einfach nur geträumt hast, dass das Mal brannte? Du warst in deinem Bett, hast gelesen und bist in deinem Bett wieder aufgewacht. Also es klingt schon so…“ „Nein!“ Scharf, viel lauter als zuvor und empört klang Dracos Stimme, als er ihr das Wort abschnitt, doch sofort wurde sie wieder zu dem zitternden Wispern, dass ihn wie ein verängstigtes Kind klingen ließ. Verängstigt, doch beschwörend, so drang seine Stimme zu ihr: „Ich habe nicht geträumt. Ich… ich habe ja auch überlegt, ob ich nur geträumt habe und… also meine Kleider waren sauber, aber meine Schuhe… die Sohlen waren feucht. Als ich mir meine Schuhe angezogen habe, waren meine ganzen Füße nass. Alles war noch feucht.“ Er brach ab, holte tief Luft und sprach weiter. „Ich habe nachgesehen. Ich habe meine Schuhe wieder ausgezogen und ich hatte ganz…ganz…“ Die Stimme war kaum noch wahrzunehmen und doch, der Ekel, der deutlich daraus hervor klang, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Blut… die ganzen Schuhe trieften immer noch vor Blut.“ Hermine wimmerte und schlug sich die Hand vor den Mund. Er hatte es sicher gehört, doch reagierte er nicht darauf, sondern putzte sich stattdessen die Nase. Wahrscheinlich, dem Beben seiner Stimme nach, die vielen Pausen, die er machte, das Schneuzen… wahrscheinlich weinte er. Seine Stimme war etwas höher, schneller und nun hörte sie ihn ganz deutlich schluchzen. „Ich habe… ich…“ Er brach ab, atmete schwer aus und sprach sehr schnell, als wolle etwas Lästiges vertreiben. „Also… also ich habe einen Zauberstab. Ich weiss… ich sollte keinen haben aber… ist ja auch egal. Es war halt notwendig!“ Hermine machte „Hmm!“ und nickte, obwohl er sie nicht sehen konnte. Sie rieb sich die heftig pochenden Schläfen und überlegte, wann und ob sie diese Sache mit dem Zauberstab an die anderen weitergeben sollte. Schwierig, denn wie sollte sie erklären, woher sie davon wusste? Sie beschloss diese Überlegung auf später zu verschieben und erstmal Draco zuzuhören, der mit gepresster Stimme fortfuhr: „Ich habe einen Reinigungszauber über die Schuhe gesprochen und… die braunen Flecken unter dem Bett weggewischt. Ich habe denn ganzen Slytherinkerker abgesucht, aber ich konnte keine anderen Flecken mehr sehen. Die Elfen hatten schon alles weggewischt.“ Er hob seine Hände und wischte sich über die Augen. Dunkelgraue Silhouetten, die sich nur schwach von dem ein wenig helleren Grau seines Gesichtes und dem weißen Schimmer seines Haares abzeichneten. Hermine rückte nun ganz bewusst etwas näher zu ihm. Unsicher, was sie tun sollte, unsicher, was helfen könnte und ob sie überhaupt helfen wollte, hörte sie voll sprachlosem Entsetzen stumm weiter zu, wie er schniefend weitersprach. „Ich war heute Nacht weg und ich glaube, dass wir irgendjemanden umgebracht haben. Ich meine, meine Schuhe haben getrieft vor Blut. Meine Kleider wurden gesäubert, aber an die Schuhe haben sie nicht gedacht. Aber…aber…“ Er schluchzte und vergrub seine Hände in seinen Haaren. „Ich habe einen Umkehrzauber über meinen Zauberstab gesprochen aber irgendjemand, wahrscheinlich ich, hat alle Zauber, die ich gestern vollführt habe, gelöscht. Also auch Dinge, von denen ich ganz sicher weiß, dass ich sie gestern Abend getan habe.“ Hermine streckte ihre Hand aus, tastete etwas im Dunkeln herum, bis sie zuerst seinen Arm fühlte und mit den Fingern daran entlang glitt, bis ihre Fingerkuppen seine Hände unter den ihren spürten. Langsam sanken ihre Finger nach unten, legten sich um seine viel größere Hand und drückten sie. Er zitterte sehr stark, doch als er weitersprach, als er den Druck ihrer Finger erwiderte, klang die Stimme ein kleines bischen weniger verzweifelt: „Ich habe den ganzen Morgen überlegt und… alles was ich…irgendwie… also es ist sehr undeutlich, aber manchmal schießen mit für einen Sekundenbruchteil ganz komische Bilder durch den Kopf. Irgendetwas Rotes… ich kann es nicht erkennen. Und manchmal glaube ich, dass irgendjemand schreit. Wenn ich mich dann aber umdrehe, ist niemand da.“ Er atmete tief durch und Hermine fühlte, wie ein zitternder Finger über ihre Hand strich. „Das ist nicht das erste Mal. Es gab schon öfter solche… Lücken. Ich glaube an Weihnachten ist auch irgendetwas passiert, es fühlt sich so an, aber ich weiß es nicht.“ Hermine fuhr sich mit ihrer freien Hand über ihr Gesicht und dachte darüber nach wie lange es wohl dauern würde, bis man sie hier in dieser Besenkammer finden würde, falls irgendetwas…passieren würde. Eiskalte Schauer liefen ihr bei dem Gedanken über den Rücken, dass sie hier alleine mit einem offensichtlich komplett Irren war. Sie sollte gehen, es wäre besser für sie. Sie hatte genug eigene Probleme und wenn sie jetzt nicht ginge, dann würde er sie zu tief in seine Welt hineinziehen, um einfach wieder daraus verschwinden zu können. „Ich habe Angst davor, dass es mir wieder einfällt. Bitte, Hermine, ich will heute einfach nicht alleine sein. Ich habe doch niemand, zu dem ich gehen kann. Ich kann das doch niemandem sagen…“ Kaum lauter als ein Flüstern und doch… … … … Der Moment war vorbei, sie hielt immer noch Dracos Hand und saß immer noch hier. Und blieb. „Redest du nicht mit den anderen? Ich meine, vielleicht Pansy oder zumindest Crabbe und Goyle. Die wissen doch sicher, was… was du bist?“ Es hörte sich an wie ein bitteres Lachen. Warmer Atem blies ihr gegen die Stirn, ließ eine Haaresträhne, die ihr über die Stirn gerutscht war, leicht fliegen. Er musste ihr näher sein als sie gedacht hatte. „Sie finden es toll. Egal was ich ihnen sage, sie finden alles cool.“ Er seufzte und jetzt spürte sie zu seiner Hand in ihrer auch noch sein Knie, das sich gegen ihres lehnte. „Aber sie hören auch kaum noch zu. Ich bin ihnen unheimlich. Wir reden, wenn es hochkommt, zwei bis drei Sätze am Tag miteinander. Ich bin ihnen peinlich, glaube ich. Sie hören sich abends im Gemeinschaftsraum ab und zu was an, finden es toll, aber abgesehen davon gehen mir doch alle aus dem Weg.“ Hermine ließ ihn los und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Eine Minute vielleicht saß sie so da und zerbrach sich den Kopf darüber, warum sie überhaupt gekommen war. Warum sie ihrem eigenen Rat nicht gefolgt war und sich fern von Draco und seinen irren Problemen gehalten hatte. „Aber warum denn hier drin? Warum in einer Besenkammer?“, fragte sie schließlich. Ihre Handflächen schienen mit einem mal rot zu glühen. Sie glühten natürlich nicht wirklich. Draco hatte nur seinen Zauberstab entzündet, so dass die dunklen Schatten, die ihre Hände waren, vor ihren eigenen Augen sichtbar wurden. „Weil wir hier alleine sind. Außerdem glaube ich, dass die Ausgänge bewacht werden. Sie würden merken, wenn ich das Schloss verlasse. Hier suchen sie uns nicht.“ Hermine nahm die Hände vom Gesicht, versuchte nicht genervt die Augen zu verdrehen und stöhnte. „Du schaffst mich. Weißt du das?“ Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht als sie bemerkte, wie blass Draco auf ihre Erwiderung geworden war. Wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte. So sah er aus. „Ist schon okay“ Hermine tätschelte ihm wohlwollend die Schulter und stand auf. „Aber etwas gemütlicher könnte es schon sein. Ich will nicht den ganzen Mittag auf einem Eimer hocken.“ Sie zog ihren Zauberstab und zielte zwischen Dracos Beine, der daraufhin ein entsetztes Quietschen von sich gab. Zutiefst erschüttert sah er aus, als sich das Blech unter seinem Hintern ausbreitete, um seinen Rücken herum nach allen Seiten floss und weich und samtig wurde. Sein ganzer Körper wurde empor gehoben. Der Ausdruck in seinem Gesicht, als er bemerkte, dass der Eimer zu einem etwas abgewetzt wirkenden Sofa geworden war, entlockte Hermine ein äußerst selbstgerechtes Grinsen. „Nun ja, wir wollen es ja bequem haben. Nicht? Entschuldige die Malfoy-unwürdige Aufmachung. Hier drinnen ist es dunkel, ich konnte es mit nicht besser vorstellen. Deswegen…“, sie zielte auf eine Petroleumlampe, die klappernd von der Decke herunterhing. Die Lampe begann zu beben. Als würde das Metall schmelzen, als wäre es mit einem mal flüssig und nicht mehr massiv, warf es Blasen. Es erweiterte sich wie ein Luftballon, der von einer starken Lunge aufgeblasen wurde und platzte. Doch statt auf sie herabzuregnen, erstarrte das zerplatzte Metall wie zerflossenes Wachs, verhärtete sich und bot halt für eine Vielzahl von Kerzen, die aus den äußeren Enden emporwuchsen. Ein weiterer Wink ihres Zauberstabes und Hermine entzündete die Kerzen. „Tja, ich will es zum Lesen hell haben.“ Hermine lobte sich innerlich selbst, für diesen geschickten Zauber. Wenn sie es schon selbst spürte, wie musste es dann erst auf Draco wirken? Gar nicht. Statt ihr Wunderwerk zu beachten, hatte er sich seinen Rucksack geschnappt und wühlte mit beiden Händen darin herum. „Ich hab auch was mitgebracht“, murmelte er mit halb stolzer, halb verlegener Stimme. Sein Haar hing ihm weit über die Stirn, aber Hermine war sicher, dass er, wenn er schon nicht rot war, dennoch verlegen aussah. „Ah, da.“ Mit einem zufriedenen Laut zog und zerrte er etwas aus dem Rucksack, setzte sich aufrecht hin und hielt zwei Butterbierflaschen, in jeder Hand eine, nach oben. Er grinste ein recht angenehmes Kleinejungenlächeln und legte den Kopf zur Seite. „Ich war in der Küche“, berichtete er stolz. „Ich musste sie noch nicht mal anschreien. Die Elfen dort haben das Zeug richtiggehend nach mir geworfen.“ Sein Grinsen wurde breiter. War es nur das Flackern der Kerzen über ihm, das seine Augen zum Leuchten brachten, oder war er wirklich so stolz, so erleichtert, dass sein Plan gelungen war? Hermine biss sich auf die Lippen, um das Lächeln, das sich so beharrlich darauf offenbaren wollte, zurückzuhalten. „Na dann gib mal her.“ Malfoy nickte zustimmend, stellte eine der Butterbierflaschen auf den Boden und klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben sich, den er für sie auf der Couch vorgesehen hatte. Er ruckte mit dem Kopf in Richtung seines Rucksacks und fügte verheißungsvoll hinzu: „Ich habe auch Kürbissaft und Milch, wenn du willst.“ Draco rutschte etwas weiter weg, bis er ganz eng in die Ecke der Couch gedrückt war, als sie sich neben ihn gesetzt hatte. „Ich bin ganz still.“ Er zog die Knie hoch und legte sie, viel zu eng um gemütlich zu sitzen, auf die Couch. „Ich versuche, ein bischen zu schlafen. Falls… also falls das für dich zu eng sein sollte…“ Es war unangenehm zu wissen, woran er dachte. Dass er um dieses Problem von ihr wusste, und es ansprach. Das traute sich normalerweise niemand. Allerdings, so musste sie zugeben, kam sie ja mit Ginny, Harry oder sonst jemandem auch nie in die Situation, stundenlang in einem Besenschrank verbringen zu müssen. „Es ist schon okay. Du kannst deine Beine auch ruhig ausstrecken.“ Sie tätschelte mit ihrer Hand auf ihre Oberschenkel. „Besser, du legst dich mit dem Kopf hier drauf. Sonst hab ich deine Füße im Gesicht.“ Sie grinste und verzog das Gesicht, als ob sie gerade etwas Unangenehmes gerochen hätte. „Es ist okay, wenn du dich hier hinlegst. Wirklich… aber fass mich nicht an, ja? Leg dich einigermaßen bequem hin und lass mich lesen. Ansonsten darfst du nichts von mir anfassen. Ja?“ Draco nickte. Ohne irgendwelche Einwände oder Zwischenfragen. Er hatte die Bedingungen verstanden und akzeptiert. Fast… Er zog seine Beine weg, drehte sich um und ließ sich langsam auf ihren Schoss sinken. „Kannst du“, begann er zögerlich und drehte sich zur Seite, als wolle er ihr bei dieser Bitte nicht in die Augen sehen. „Kannst du mich anfassen? Meine Stirn, oder meine Haare. Das find' ich schön. Ich kann dann besser schlafen.“ Es war bizarr. Die ganze Situation war bizarr. Hermine, mit Malfoy auf einem zu einer Couch verwandelten Putzeimer. Malfoy, der dieses Treffen offenbar vorbereitet hatte und sie nun anbettelte, ihm das Gesicht zu streicheln, damit er besser einschlafen konnte. „Okay!“, willigte sie vorsichtig ein. Es war...grotesk. Die ganze Situation war so grotesk wie der Gruselfilm, als den sie zur Zeit ihr Leben empfand. Andererseits… wenn das Leben verrückt war, konnte etwas mehr Verrücktheit auch nicht mehr schaden. Ohne weiter über diese Kammer, die Situation oder Malfoy nachzudenken, angelte Hermine nach ihrem eigenen Rucksack, zog ihr Buch heraus und legte es neben sich auf die Lehne. Sie nahm eine der von Malfoy mitgebrachten Butterbierflaschen und trank einen tiefen Zug. Eine Hand auf dem Buch, eine Hand auf seiner Wange beschloss sie, dass selbst ein Nachmittag im Besenschrank mit Malfoy besser war als einsam sterben zu wollen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)