Soul Cry von Psychopath ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Nicht die Vollkommenen, sondern die Unvollkommenen brauchen unsere Liebe. Oscar Wilde Ich wusste nie, wie es eigentlich dazu kam, doch irgendwie distanzierte ich mich gefühlsmäßig immer weiter von den Menschen in meiner Umgebung. Ich war höflich und freundlich, setzte häufig ein falsches Lächeln auf, weil ich einfach kein Lachen herausbrachte, hatte aber immer das Gefühl, dass ich nicht zu den Menschen passte. Einige hatte ich gern, doch zeigte und sagte ich es ihnen nicht. Wenn irgendwelche pseudosozialen Klassenkameraden oder Lehrer, die meinten, riechen zu können, wenn jemand Probleme hatte, sich gezwungen fühlten, mir irgendwas zu sagen, was mich aufbauen würde, z. B. nach einer guten Klassenarbeit, fühlte ich mich eher ziemlich verarscht. „Das hast du ja wieder toll gemacht.“ „Klasse!“ „Du bist wirklich klug!“ Alles Sätze, die sie sagten ohne sie ernst zu meinen, weil sie in ihrem Zeugnis einen Satz über ihre soziale Kompetenz stehen haben wollten oder einen guten Ruf begehrten. Wieso sollte man da diese Lobe auch ernst nehmen? Verdient hatte ich sie nicht. Zumindest war ich nie der Meinung, dass meine Leistungen besonders gewertschätzt werden mussten. Gute Noten und gewonnene Spiele im Sport waren nicht gerade meine eigene tolle Leistung und daher auch nicht bemerkenswert. Mannschaftssport. Also mehrere gute Spieler und ich. Der Sieg war nicht mir zu verdanken, sondern den anderen, die gut spielten. Gute Noten waren keine besondere Leistung, da es nur um herumsitzen, zuhören und ein bisschen lernen ging. Keine große Leistung, sondern Fleiß. Wenn mir jemand ein Kompliment machte, wusste ich nie, wie ich darauf reagieren sollte. Mehr als ein „Danke“ kam dabei nicht heraus. Nicht ehrlich gemeinte und nicht verdiente Komplimente waren die einzigen, die ich bekam. Zwei oder drei Freunde hatte ich tatsächlich. Doch waren beide sehr beliebt und hatten nahezu immer etwas vor, sodass es sich für mich überhaupt nicht lohnte, zu fragen, ob sie einen Tag für mich Zeit hatten. Sie würden nicht mit dem langweiligen, dürren und eher weniger sportlichen Jungen zu Hause sitzen, wenn sie die Möglichkeit hatten, einen spannenden und lustigen Tag zu erleben. Eines Tages kam es tatsächlich dazu, dass sich einer meiner Freunde bei mir meldete und sich „unbedingt mal wieder“ mit mir treffen wollte. Grundsätzlich hatte ich nichts vor, außer PC und Konsolen, also sagte ich zu, obwohl ich im Grunde gar keine Lust hatte, etwas zu unternehmen. Allerdings war mir klar, dass ich die paar Freunde, die ich tatsächlich noch hatte, nicht einfach so fallen lassen konnte. So klingelte es eines Tages an der Wohnungstür, meine Mutter bat meinen Freund herein und schickte ihn direkt in mein Zimmer, in dem ich - wie sollte es auch anders sein - am PC saß. „Hey!“, rief Ray, als er mich sah. Er warf seine Tasche auf mein Bett. „Was machst du denn da schönes im Internet?“ „Nichts.“ „Geheim?“ „Nein…Ich mache nichts. Das Internet hat nichts Interessantes mehr zu bieten.“ „Ich aber schon, also mach die Kiste aus und hör dir an, was ich neulich erlebt habe!“. Gesagt, getan! Ich schaltete den Computer aus und Ray setzte sich auf mein Bett, da ich keine weiteren Sitzgelegenheiten hatte, und erzählte, was neulich alles in seinem aufregenden Leben passiert war. Er hatte erst abgenommen, dann zugenommen, dann Sport gemacht, davon Muskelkater bekommen und beschlossen, nie wieder Sport zu treiben. Er hatte sich mit Leuten getroffen, die völlig betrunken oder bekifft waren und kam sich dabei vor wie der einzige Gebildete im Raum, da er Auto fahren musste und daher nüchtern blieb. Er war auf Partys gewesen, auf denen sich die Menschen wie wild gewordene Tiere verhielten. Allgemein alles, was er erzählte, bestätigte meine Auffassung, dass der Großteil der Menschheit furchtbar ist, wenn man nicht bereit ist, wie sie zu sein. „Wieso gibst du dich überhaupt mit diesen Idioten ab?“, fragte ich, denn mir fiel kein guter Grund ein. Ray zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich schätze, ich bin einfach gut darin, über die Fehler hinwegzusehen. Es ist ja nicht so, als wären das alles Dauerzustände. Keiner meiner Freunde ist 24 Stunden täglich betrunken oder high. Niemand sucht dauernd Streit und lässt sich schnell provozieren. Sieh über die Macken hinweg und du merkst, dass sie gar nicht so schlechte Menschen sind.“ „Aber das sind unzumutbare Macken. Wenn du feiern willst, erwartest du einen guten Abend. Stattdessen bekommst du eine Schlägerei zu sehen, jeder lässt sich zulaufen und schläft in seiner eigenen Kotze ein.“ „Du bist zu kritisch. Und du hast einen falschen Eindruck. Es sind ja nicht meine Freunde, die sich danebenbenehmen.“ „Du siehst es trotzdem jedes Mal. Das verdirbt einem doch die Laune. Ich würde dort nicht hingehen.“ Ray, den ich von meinen Freunden am liebsten hatte, weil er sich ab und zu meldete und immer ehrlich war, sah mich ernst an und grinste dann. „Du bist echt klug, weißt du? Keine dummen Aktionen deinerseits, eine ehrliche Meinung gegen schlechtes Benehmen, keinerlei Toleranz für Kriminalität und Drogenmissbrauch. Das ist eine gute Einstellung. Verlier’ sie nicht. Von allen meinen Bekannten und Freunden bist du wohl der einzige, der mir sagt, ich sollte nicht mehr auf Partys gehen und mich nicht mit den so genannten coolen Kids treffen. Das ist gut! Du bist wirklich klug.“ Ein ehrliches Lob. Ein Lob, das ich mir verdient hatte, indem ich einfach sagte, was ich dachte. Kein Lob, um mich „aufzumuntern“ oder möglichen Depressionen, die alle außer mir sahen, die folglich also nicht vorhanden waren, vorzubeugen. Und vor allem, war es ein Lob, das ich annehmen konnte, weil es eine ehrliche Person gesagt hatte, die nicht davor zurückschreckte, auch mal negative Seiten anzusprechen. „Sag etwas!“, sagte Ray. „Was denn?“ „Keine Ahnung. Irgendwas. Deine Klugheit muss ich mir doch anhören, um ein besserer Mensch zu werden.“ „Du würdest nicht besser werden, wenn du wie ich wärst.“ „Wieso?“ „Dein Leben ist spannender, als meines.“ „Entschuldige die Wortwahl, aber Scheiß auf spannend. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es unspannend ist, Silent Hill oder ähnliche Spiele zu spielen, ohne Herzrasen zu bekommen und danach nachts nicht mehr einschlafen zu können. Wie kannst du das bloß stundenlang spielen ohne einen Herzkasper zu kriegen?!“ Das schrie förmlich nach einem solchen Spiel, mit dem wir uns noch den ganzen Abend beschäftigten. Ray mit ständigen Selbstgesprächen beim Spiel: „Da steht bestimmt einer, wenn ich die Tür aufmache…Wie krieg ich das Ding tot?! Oh Gott! Es steht auf!!! Jin!!! Hilf mir! Du hast das Spiel schon gespielt, mach es platt, mach es PLATT!!!...Yay! Es steht nicht mehr auf. Ich hab das ganz alleine hinbekommen!... War da ein Schatten?! Oh nein, ich werde sterben!!!“ Egal, wie häufig er meinte, ich solle den Controller nehmen und für ihn weiterspielen, schlussendlich neigte er sich zwar in meine Richtung, behielt ihn aber fest in den Händen. Seine Reaktionen auf ein Spiel, das ich eigentlich schon häufiger gespielt hatte und bei mir bloß eine Gänsehaut hervorrief, rangen mit ein echtes Kichern ab, auf das Ray nicht einging, weil er genau erkannt hatte, dass die meisten Komplimente keinen positiven Effekt auf mich hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)