Stray von Ouroboros ================================================================================ Kapitel 10: Mit lautlosem Flügelschlag -------------------------------------- Vorwort: Das Jubiläumskapitel 10, das erste zweistellige! *Flasche Sekt köpf* :D Mit besonderem Dank an Lisa für „öhm“ Unmarkierte Zitate stammen von Albert Camus (den ich absolut glühend verehre! Oh ja. Ich würde ganze Werke zitieren lassen, wäre es möglich! Zum Glück mag Karasu ihn genauso sehr wie ich). Dieses Kapitel enthält als Abschluss aus der Handlung herausgegriffen die Wunschszene für die wunderbare Lisa, die meine Jungs mal ins Grüne picknicken schicken wollte ;) (haben sie sich ja auch verdient! :D) Spielt im Sommer, ehe Sakuya Antti kennenlernte, kurz bevor die Zwillinge und Yuki aufgefunden wurden. Stray vol.10: Mit lautlosem Flügelschlag Fuchs: Kalte Tränen Um meine Augen zieht die Nacht sich Wie ein Ring zusammen. Mein Puls verwandelte das Blut in Flammen Und doch war alles grau und kalt um mich. O Gott und bei lebendigem Tage, Träum ich vom Tod. Im Wasser trink ich ihn und würge ihn im Brot. Für meine Traurigkeit gibt es kein Maß auf deiner Waage. Gott hör ... In deiner blauen Lieblingsfarbe Sang ich das Lied von deines Himmels Dach - Und weckte doch in deinem ewigen Hauche nicht den Tag. Mein Herz schämt sich vor dir fast seiner tauben Narbe. Wo ende ich? - O Gott!! Denn in die Sterne, Auch in den Mond sah ich, in alle deiner Früchte Tal. Der rote Wein wird schon in seiner Beere schal ... Und überall - die Bitternis - in jedem Kerne. Else Lasker-Schüler: Gott hör... Ich schwang vorsichtig die Beine aus dem Bett; ich erschrak, als ich merkte, wie zittrig meine Knie waren; die Decke um meine Schultern geschlungen stand ich eine Weile, bis die dunklen Flecken vor meinen Augen verschwanden. Gott, ich war so schwach; ich konnte kaum aufrecht stehen, fast hatte ich das Gefühl, ich würde ohnmächtig. Und mein Kopf pochte noch vom Alkoholkonsum der vergangenen Nacht. Mein Kreislauf wankte, und ich machte einige unsichere Schritte, bald war ich ruhiger, und mein Atem ging stetig. Karasu wandte sich mit einem Ruck um. “Wo willst du hin?” “Duschen...” Ich versuchte zu verbergen, dass meine Stimmbänder krampften, als ich zu ihm sprach. Ich war einfach noch zu durcheinander von eben. Karasu kam zu mir und sah mit diesem hellen Blick zu mir auf, sah mir direkt in die Augen, ohne zu blinzeln, und seine blauen Augen funkelten so durchdringend, dass ich den Blick abwenden musste, seine Hand legte sich sanft auf meine Schulter. “Ich...ich will wirklich nur duschen, Karasu...” Mein Blick war zu Boden gerichtet, ich konnte sein gnadenloses Starren nicht ertragen, nicht etwa, weil ich gelogen hätte, sondern eher, weil es mich plötzlich so schmerzte, ich fühlte mich so von ihm bloßgestellt. “Schließ die Tür aber nicht ab”, sagte er leise; ich erwiderte nun doch seinen Blick und nickte leicht. Ich hatte nicht vor, mir etwas anzutun, aber wenn er mich noch länger so besorgt angesehen hätte, dann hätte ich vielleicht etwas getan, was ich später bereut hätte. Für einen Moment war der Drang, ihn wieder zu küssen, seine weichen zusammengepressten Lippen, fast übermächtig, aber ich wandte mich zur Seite, in das angrenzende kleine Bad, und schloss die Tür hinter mir, ohne den Schlüssel umzudrehen. Ich musste mich neben der Tür an die Wand lehnen und tief durchatmen, ein Schluchzen stieg mir in die Kehle, meine Knie zitterten schon wieder, und ich musste mich an den Kacheln festhalten, um nicht umzufallen, mir war etwas schwindlig geworden nach den wenigen Schritten. Die Decke glitt mir sanft von den Schultern auf den kalten Boden. Ich schlang einen Arm um den Körper, presste ihn an mich, spürte meinen Herzschlag unter den Rippenbögen; mit der Hand des freien Armes bedeckte ich meinen Mund, so dass man mich draußen nicht hören konnte, sollte Karasu noch da sein. Aber andererseits, wieso sollte er? Er würde schlafen gegangen sein. Auf dem Sofa. Oder bei Antti. Seine Hilfe bei mir war ja nun nicht mehr nötig. War ich nicht dumm? Mich wegen Sakuya zu betrinken, um jetzt nach Karasu zu winseln? Er hatte recht, ich war ein Idiot, ich hatte nichts gelernt in meinem kriegerischen Leben. Die Haut unter dem Verband pochte leicht, nicht schmerzhaft, doch erinnerte mich überdeutlich daran, dass ich eigentlich nicht mehr hier sein sollte; dass ich verloren war, dass ich vor den Trümmern meiner Gefühle stand und nicht mehr wusste, wohin damit. Verflucht, oh verflucht, oh verflucht... Ich wünschte, er wäre bei mir, ich wünschte, er würde mich noch einmal in den Arm nehmen und trösten, denn das brauchte ich gerade in diesem Moment wirklich; mir war so kalt an den glatten Fliesen, und ich glaube, ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so von allen verlassen gefühlt, verlassen von Sakuya, durch unsichtbare Mauern getrennt von meinen Freunden, die in einer anderen, einer lichten Welt lebten; und seit Sakuyas Weggang hatte mich nichts so kalt mitten in den Magen getroffen wie Karasus Kühle eben, nachdem er doch zuvor so zärtlich gewesen war. Mit jedem Mal, mit dem ich um mich schlug und versuchte, die Flucht zu ergreifen vor meiner Vergangenheit, schien ich etwas mehr von allem abzudriften, das mir im Leben etwas bedeutete. Ich verstand Karasu nicht. War es denn so ein Unding, mich zu küssen? War nicht ich derjenige, der sich abwenden sollte? War nicht ich das Unding? Ich stieß mich von den Wand ab, tappte auf bloßen Füßen unter die Dusche. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Ich wollte überhaupt nicht mehr denken. Mein ganzes Leben lang hatte ich gedacht, geplant, organisiert; jeder meiner Schritte war überlegt, jedes meiner Worte durchdacht. Jetzt, mit einem Mal, ließ mich mein Verstand im Stich. Ich brauchte eine Dusche. Und sei es nur, um irgendetwas zu tun. Und sei es nur, um von Karasu wegzukommen. Ich wollte das Wasser über meinen Körper laufen lassen, bis alle meine Gedanken abgewaschen waren und mich leer und schlafend zurückließen - seelenlos vielleicht, denn immerhin wäre es besser, ohne Seele zu leben, als immer diese Schuld zu spüren, immer den Drang, zu schreien, oder nicht? Wozu sollte ich denn auch noch eine Seele haben, wenn der, für den ich am Leben geblieben war, weiter von mir entfernt war als je Schritte bemessen könnten, und mich nur mit einem verdorbenen Herzen und einem schwachen Körper zurückgelassen hatte. Das Wasser war eiskalt, als es meine Haut traf und an meinem Körper, meinem Bauch, meinen Beinen hinablief, ich keuchte auf, als mich die Kälte traf, aber sie betäubte auch, und nach einer Weile hieß ich sie willkommen, streckte das Gesicht dem Wasserstrahl entgegen, öffnete den Mund, bis mir das kalte Wasser zwischen die aufgesprungenen Lippen lief und meinen stummen Aufschrei mit sich schwemmte. Das Wasser lief an mir hinab, schlug hart auf meine weiche Haut, und ich musste die Augen öffnen, an mir herabsehen, um mich zittrig zu vergewissern, dass es klares Wasser war, das in Strömen über meine Arme rann und meinen weißen Verband durchtränkte, unter dem es noch immer schwach pochte und schmerzte - als wollte etwas Heißes darunter hervorbrechen und meinen nackten Körper mit grausamen Klauen umfassen und zu Boden reißen, mich wieder in diesen schrecklichen Albtraum ziehen, in dem ich nur von Tod umgeben war. Mir war kalt, so kalt, und ich merkte plötzlich, wie allein ich war, wie das Rauschen des Eiswassers zwischen den leeren gefliesten Wänden widerhallte - gefliest wie in einer Tötungskammer, als sollte mich die Kälte und die Einsamkeit in meinem Herzen von innen heraus zerreißen, die letzten Spuren meiner Existenz von den glatten Wänden abgespült werden...als wäre nie ein Mensch namens Mikael hier gewesen. Könnte ich doch nur wieder der liebe, lächelnde Fuchs werden, der ich jahrelang gewesen war...nur einmal....nur einmal wieder für jemanden da sein können.... aber ich war zu schwach. Ich dachte an die Nachmittage mit meinen Freunden im Karfunkel, an Weihnachten gemeinsam, an Bogenschießen im Wald, an Konzerte, an Sommerabende auf dem Dach; das alles war so weit entfernt, wie ein Traum; als sei die einzige Realität Moskau, mein Fluch; und wie ein heißes rotes Band aus Blut verband meine Schuld mich untrennbar mit meiner Vergangenheit, der ich naiverweise davonlaufen zu können gedacht hatte, bis ich in Sakuyas Augen diese Leere gesehen hatte, vor der ich mich mein Leben lang gefürchtet hatte. Jetzt war sie hier und hatte uns eingeholt. Jetzt hatte sie uns gefunden. Mir war so kalt, und in meiner Brust tat alles weh; ich hatte Angst, aber ich konnte nichts dagegen tun; ich schlang die Arme um meinen Körper, wie um mich selbst aufzufangen, als ich unter dem kalten Wasserstrahl an der Wand hinabsank, zusammengekauert wie ein kleiner Junge, fast erstickte unter dem Wasser, das mir ins Gesicht fiel - - und ich schrie. Ich schrie einmal laut auf, schrie meinen Schmerz hinaus, aber es genügte nicht, es genügte nicht; und mein Schrei wurde erstickt durch die Tränen hinter meiner Kehle, die mir mit dem Wasser zusammen unbemerkt über die blassen Wangen rannen. Mein Körper krampfte sich zusammen unter den Schluchzern, ich schlang meine Arme fest um mich und wiegte mich selber, während die Tränen mir heiß aus den Augen schossen, als stünden sie in Flammen, entzündet von all der Raserei in mir, die mir solche Angst machte. Ich weinte, kauerte mich unter das kalte Wasser, das meinen Schmerz erstickte mit seinem nassen Rauschen, und spürte, wie die Tropfen hart auf meinen tätowierten Rücken schlugen, während die noch ungeweinten Tränen hinter meiner Stirn drückten. Ich hörte gar nicht, wie die Tür aufgerissen wurde; erst als der Duschvorhang mit einem Ruck zur Seite glitt, hob ich den Blick und sah zitternd durch einen Tränenschleier wieder in Karasus Gesicht, der angespannt neben der Dusche stand und aus hell leuchtenden Augen zu mir hinabsah. Ich muss ein erbärmliches Bild abgegeben haben; nass, schluchzend, zusammengekauert. Ich dachte, er wäre wütend auf mich, aber er trat barfuß in die Kabine, in Jeans und weißem T-Shirt, und hockte sich neben mich, das Wasser drang sofort in seine Kleidung. “Was ist passiert, Mika?”, fragte er ruhig, und ich wusste für eine Weile nicht, was ich ihm antworten sollte. “I...ich...” Mein Mund bewegte sich, aber keine Laute drangen heraus, mir war nur so kalt, und ich konnte ihm bloß verzweifelt in die Augen sehen. Ich wusste es nicht. Karasu schlang wortlos die Arme um mich und zog mich an sich, und nach dem ersten Zögern schmiegte ich mich an ihn, zitterte noch mehr, weil er so warm war, und fing wieder an zu weinen; vor Erleichterung, weil es plötzlich nicht mehr so wehtat. Wenn er da war, konnte mir nichts passieren. Ich war größer als er, und ich war stärker als er, ich war ein meisterhafter Schütze mit Bogen, Armbrust und Gewehr, ein guter Kletterer, und ein ausdauernder Läufer, aber in diesem Moment fühlte ich mich nur schwach. Karasu streichelte mich sanft und gleichmäßig, meinen Oberarm, fuhr mit der anderen Hand behutsam durch mein klatschnasses Haar, und langsam beruhigte ich mich unter seinen streichelnden Händen. Sein Körper war so unglaublich warm, er griff nach oben und drehte das Wasser ab, und ich drückte mich an ihn. Ich atmete heiser auf, als er mein Gesicht leicht anhob und meine Wangen küsste, meine Lider, meine Stirn, ohne etwas zu sagen; ich hatte die Augen geschlossen und ließ mich gegen ihn sinken, es tat so gut, so wahnsinnig gut, von ihm geküsst zu werden, und seine Gegenwart war so tröstlich. „Nicht weinen, Mika“, hörte ich ihn sanft in mein Ohr flüstern. „Hör bitte auf zu weinen. Ich bin ja hier. Es ist vorbei.“ „Karasu“, wisperte ich erstickt, mich an seinem Arm festhaltend, und er löste meine Hand sanft, verschränkte meine Finger mit seinen. „Timo.“ „Was?“ „Timo. Keine Abkürzung. Einfach nur Timo. - Und wenn das jemals diese Dusche verlässt, wirst du leider doch sterben müssen.“ Ich lachte erstickt; es schien alles so absurd in diesem Moment. Er drückte meine Hand fester. „Es wird alles gut. Nimm meine Hand, okay? Es kann dir nichts mehr passieren, das Schlimmste hast du hinter dir, ich versprech’s dir. Du darfst dich nicht so fertig machen. Du wirst sehen, dass alles nicht so furchtbar ist, wie du gerade denkst. Halte nur ein bisschen durch.“ Ich nickte stumm, an ihn gekuschelt. Ich wusste nicht, dass er so tröstlich sein konnte. Aber seine Worte drangen wie warme Milch in meinen Körper und beruhigten mich, und ich hörte irgendwann auf zu zittern, hatte die Augen geschlossen und lauschte seiner Stimme, die mir versicherte, dass alles wieder gut werden würde. Und seltsamerweise glaubte ich ihm. Ich wollte ja wieder lächeln, ich wollte es wirklich. Aber manchmal könnte ich eher schreien. „Ich weiß“, murmelte er sanft, und ich merkte, dass ich laut gesprochen hatte. „'Das Leben verlieren ist keine grosse Sache; aber zusehen, wie der Sinn des Lebens aufgelöst wird, das ist unerträglich'. Wenn du mich brauchst, dann sag es mir. Ich bin immer hier.“ Jamie: Lost and Found Auf deinen Wangen liegen Goldene Tauben. Aber dein Herz ist ein Wirbelwind, Dein Blut rauscht, wie mein Blut - Süß An Himbeersträuchern vorbei. O, ich denke an dich - - Die Nacht frage nur. Niemand kann so schön Mit deinen Händen spielen, Schlösser bauen, wie ich Aus Goldfingern; Burgen mit hohen Türmen! Strandräuber sind wir dann. Wenn du da bist, Bin ich immer reich. Du nimmst mich so zu dir, Ich sehe dein Herz sternen. Schillernde Eidechsen Sind deine Geweide. Du bist ganz aus Gold - Alle Lippen halten den Atem an. Else Lasker-Schüler Als ich erwachte, schien Licht auf mein Gesicht; ich konnte mich erinnern, dass es gewittert hatte, doch die Wolken schienen sich verzogen zu haben, und ich blinzelte, sah feine Tropfen an der Wohnzimmerscheibe perlen. Es war still im Zimmer, und ich brauchte eine Weile, mich zurechtzufinden; jemand hatte eine Decke über mich gebreitet; ich hörte leise Stimmen in der Küche. Wie lange hatte ich geschlafen? Ich war mir nicht sicher; ich hatte in der Nacht zu Freitag kaum ein Auge zutun können, immer hatte ich halb erwartet, die Haustür zu hören und Fuchs, der heimkam. Am Freitag dann hatte ich mit meinen Freunden im Wohnzimmer einen Film gesehen, und dann musste ich eingeschlafen sein. Als ich den Kopf hob, spürte ich den Abdruck des Sofapolsters förmlich auf meiner Wange. Jemand hatte ein Fenster im Erdgeschoss geöffnet, und es roch leicht nach Regen, und aus der Küche nach Kaffee. Ich erschrak fast, als ich eine leichte Berührung in meinem Haar spürte; dann sah ich Junya, der sich vor dem Sofa niederließ und mir ins Gesicht lächelte. „Willkommen zurück, Schlafmütze.“ Ich wurde ein wenig rot. „....hab heut Nacht nicht schlafen können...“, murmelte ich leise und hob die Hand, um mir den Schlaf aus den Augen zu wischen; Jun ergriff sanft mein Handgelenk und beugte sich zu mir, ich spürte seine weichen Lippen auf meinen, die Berührung kribbelte federleicht. „Ist doch in Ordnung, wir wollten dich auch nicht wecken“, wisperte er. „Du sahst so süß aus.“ Und ich errötete etwas tiefer. Er saß so nahe vor mir, ich konnte seinen Atem spüren, er roch nach Kaffee und sauberer Kleidung und Zimt, ich mochte den Geruch wahnsinnig gern. „Wie spät ist es?“, murmelte ich und richtete mich etwas auf. „Schon nachmittags, drei oder vier Uhr glaube ich.“ „Ist Fuchs wieder da?“ Junya schüttelte den Kopf, ich seufzte. „Hey, Jamie....mach dir keine Sorgen. Er kommt wieder, bestimmt.“ Ich sah, wie er mich ermutigend anlächelte, und ich konnte nicht anders als ihm tatsächlich zu glauben, auch wenn ich mir inzwischen schreckliche Sorgen machte. Das waren nun zwei volle Tage, achtundvierzig Stunden, seit jemand von uns Fuchs gesehen hatte, Sakuya ausgenommen, der ihm ja am Morgen des Vortages auf der Straße begegnet war. Wie ein Geist hatte er ausgesehen, meinte er. Sakuya tat mir so leid. Er machte sich Vorwürfe, nun, zu recht, dass er eher mit Fuchs hätte reden sollen. Aber obwohl das natürlich stimmte, wollte ich nicht, dass er so deprimiert war. Ich wusste nicht, ob er sich noch immer solche Sorgen machte wie zuvor, er war auf jeden Fall sehr ruhig geworden, und neigte dazu, öfter als gewohnt aus dem Fenster zu sehen. Am Morgen war er lange mit dem Motorrad weggewesen, aber als er zurückkam, hatte er kein Wort gesagt, nur stumm mit uns den Film gesehen, aber ich war nicht sicher, ob er in Gedanken der Handlung gefolgt war. „Jamie?“ Junya sprach leise, und ich merkte erschrocken, dass ich schon wieder abgedriftet war. „Hmm, oh, entschuldige, tut mir leid!“ Ich setzte mich vollends auf und verzog das Gesicht, als meine Wirbel knackten. Junya setzte sich neben mich, ich wollte mich zu ihm wenden, merkte dann wie mir heiß wurde, als ich sanfte Arme spürte, die sich von hinten um mich schlangen und an einen schmalen warmen Körper zogen; ich hatte die Hände auf seine Arme gelegt und mein Herz schlug schneller, ich spürte seinen zarten Atem an meinem Ohr, ehe er einen sachten Kuss auf meine Wange hauchte. „Junya...“ „Du musst dich nicht immer für alles entschuldigen“, murmelte er leise, und ich fühlte sanfte Finger in meinem Nacken, die mich leicht streichelten, während Junya einen weiteren sachten Kuss auf meine Wange setzte. Seine Berührung war angenehm, ich merkte erst wie unbequem ich auf dem Sofa gelegen hatte, und ich konnte nicht umhin als wohlig den Kopf nach vorn zu legen, aus den Augenwinkeln sah ich Junya leicht lächeln, und seine Augen glitzerten kurz dunkel und seelenvoll unter dem wirren blauen Haar hervor. Ich merkte, wie jedes einzelne Nackenhaar sich bei mir aufstellte unter den langen schmalen Fingern, die mich sanft kraulten, ganz zart nur, ich hätte mich am liebsten wie eine Katze schnurrend zusammengerollt, meine Augenlider senkten sich halb und ich hielt ganz still, damit er bloß nicht aufhörte. „Hast du gut geschlafen?“, flüsterte er, kraulte mich weiter. Ich nickte ganz minimal, um ihn nicht zu stören in seinem Tun. „Hmmm.“ Junya hauchte einen Kuss auf meinen Nacken, was einen kleinen Schauer durch meinen Körper jagte. „Du bist so wunderschön, wenn du schläfst....ich hätte mich am liebsten dazugelegt.“ Ich merkte wie mir warm wurde, spürte seinen Körper an meinem Rücken, seine Lippen in meinem Nacken. „Warum hast du's nicht gemacht?“ Die Worte waren mir so rausgerutscht ehe ich darüber nachgedacht hatte, und ich lief knallrot an. Junya legte kurz den Kopf auf meine Schulter und antwortete nicht sofort, und ich wurde vor der Peinlichkeit bewahrt, als Schritte auf der Treppe zu hören waren. Wir wandten den Kopf und wurden Valentins gewahr, den ich den ganzen Tag über noch nicht gesehen hatte. Er sah nicht so gut aus, war etwas blass und hatte sich einen Schal um das halbe Gesicht gewickelt, trug seine gewohnte schwarze Kleidung und hatte etwas glasige Augen. Junya hatte mich losgelassen, und ich stand auf. „Was ist denn mit dir los?“ „Ah, komm mir nicht so nahe.“ Der Blonde hob abwehrend die Hände. „Ich glaube ich bin krank, ich hätte gestern nicht im Regen rumlaufen sollen; nicht dass du dich ansteckst.“ Er klang auch etwas verschnupft. Valentin ging zur Tür und griff nach seiner Jacke. „Aber du willst doch jetzt nicht raus?“ „Doch, ich geh zur Apotheke. Ich brauch irgendwas um mich mal für ein paar Stunden in Ruhe hinlegen zu können, ich hab solche Kopfschmerzen. Sag deinem Bruder, dass ich ein bisschen Geld aus der Kasse genommen habe.“ „Wenn du verschnupft bist und Kopfschmerzen hast, liegt das wahrscheinlich nicht an deinem Kopf, sondern an deinen Nebenhöhlen, und dann solltest du inhalieren.“ „Das ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal woran es liegt, ich will Tabletten...“ „Wir können auch für dich gehen. Oder?“ Ich wandte mich zu Junya um, der nickte. „Klar. Ich weiß, wo die Apotheke ist.“ „Das ist lieb von euch, aber lasst nur...ich wollte euch auch gar nicht unterbrechen.“ Junya stand jetzt auch auf. „Jamie hat aber recht, setz dich lieber in die Küche und mach dir einen Tee.“ Valentin grinste plötzlich matt. „Aha, wollt ihr flüchten?“ Ich stand peinlich berührt im Wohnzimmer, Junya wirkte ganz unbekümmert. „Hier im Haus hat man nicht wirklich viel Privatsphäre.“ „Nee, wem sagst du das. Na gut, okay.“ Er nestelte ein paar Münzen aus der Tasche und ließ sie mir in die ausgestreckte Hand fallen. „Danke euch.“ Wir hatten Teufel mitgenommen, der fröhlich neben uns hersprang, begeistert von dem unerwarteten Spaziergang auf den regennassen Straßen. Die Sonne kam ein wenig hinter den Wolken hervor, und ich vergaß für einen Moment ganz, dass ich mir Sorgen um Fuchs machte; Teufel an der Leine in der Rechten und Junya an meiner Linken, der ganz sanft meine Hand in seinen kühlen schmalen Fingern hielt. „Riechst du das?“, fragte er mich leise. „Hm?“ „Es wird endlich Frühling.“ Ich sah zum Himmel, die Wolken waren dabei, sich zu verziehen; vielleicht würde der ewige Regen bald ein Ende haben. Wie zitternde Spiegel warfen die Pfützen das Bild der flüchtig dahinziehenden Wolkenberge zurück, hie und da von einem Kopfstein unterbrochen; ich beugte den Kopf und betrachtete mein Spiegelbild darin im Vorbeigehen, es wirkte dunkel vor dem blauen Himmel im Hintergrund. Über uns strich ein Schwarm Vögel hinweg. Ich quietschte auf, als Teufel auf einmal an der Leine ruckte, versuchte nach den Vögeln zu haschen, seltsam unbeholfen mit den langen Beinen, doch ziemlich kräftig bereits für sein Alter, er war ja gerade erst ein Jahr jung. Ich zog an der Leine und er hielt irgendwann an, wahrscheinlich aber eher weil er das Interesse verloren hatte, und ich stand mitten in einer Pfütze, die mir die Stoffschuhe durchnässte und auch den Saum meiner Jeans. „Iiiiih....“ Junya kicherte. Ich sah beleidigt zu ihm. „Das ist überhaupt nicht lustig.“ „Findest du nicht?“ „Nein! Ich hab nasse Füße.“ Junya machte einen Satz und landete neben mir in der Pfütze, das Wasser spritzte ein wenig auf unter seinen Sneakers. Er lachte mich an, stand jetzt neben mir, seine Haare so blau vor dem fahlen Blassblau des Himmels, seine dunklen Mandelaugen glitzerten, wenn er lachte; und er lachte so selten. Seine schmale, hagere Gestalt stand direkt neben mir in der grauen Fliegerjacke, blass, mit kalten Fingern, mit denen er jetzt meine Hände griff. „Jetzt haben wir beide nasse Füße.“ Ich lächelte ihn unwillkürlich an, mein Herz schlug schnell, als er so dicht neben mir stand, nichts zwischen uns als der leichte kühle Frühlingswind, der mit unseren Haaren spielte. Er sah so wunderschön aus, wenn er lachte, wenn seine Augen leuchteten wie jetzt, so unbeschwert, und ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen. Er stand da und sah mich aus großen Augen an, und es war mir etwas peinlich; doch ehe ich etwas sagen konnte, spürte ich eine schmale Hand an meinem Gesicht, und ich sah seine Augen, so tief wie bodenlose Seen, ich spürte seinen Atem, als er sich zu mir neigte, mein Gesicht sanft zu sich anhob und den Kuss erwiderte, ganz zart nur, bis ich mich gegen ihn sinken ließ. Junya legte einen Arm um mich und hielt mich fest an sich gezogen, ich konnte kaum atmen, vor meinen Augen tanzten Funken, als ich spürte, wie sich seine Lippen leicht bewegten, wie seine Zungenspitze gegen meine Lippen stupste, ganz kurz nur, wie ein winziger elektrischer Schauer auf meiner Haut. Ich öffnete meine Lippen leicht, fast ohne nachzudenken, und er strich mit der Zungenspitze dazwischen, nippte ein wenig an meiner Lippe, mit dem Daumen streichelte er mein Gesicht. Irgendwann löste er sich von mir, ich hatte die Augen noch immer halb geschlossen, als er „Ich liebe dich“, an meinen halbgeöffneten Lippen murmelte. Und wieder zogen die Vögel über uns hinweg und warfen ihre anmutigen Spiegelbilder in das unter unseren Füßen leicht erzitternde Wasser der Pfütze. Wir gingen Hand in Hand zur Apotheke und Hand in Hand wieder hinaus; ich hatte darauf bestanden, Valentin keine Kopfschmerztabletten zu kaufen, sondern etwas um seine Erkältung zu bekämpfen; dafür würde er mir sicher im Nachhinein dankbar sein. Die Apothekerin schien eine nette Dame, sie hatte so breit gelächelt als sie uns sah. Sie mochte Junya ja schon vom Sehen kennen, ich meinte mich zu erinnern dass er mit Rose bereits einmal gegangen war, seine Medizin nachzukaufen; die teurere Medizin gab es nicht in dem kleinen Apothekergeschäft näher an der Innenstadt, so dass wir das Flüsschen hatten überqueren müssen, näher zur Residenz der Zacharias' hin, soweit konnte ich mich noch erinnern. Teufel hatte sich etwas beruhigt und trottete friedlich wie ein Lamm neben uns her; ich mochte den Hund inzwischen ganz gern, eigentlich war ich nicht gerade begeistert von Hunden, gerade nicht von großen Hunden, aber eigentlich war Teufel eher ein großes Kalb unter Menschen, die er kannte. Wahrscheinlich hatte Ilja ihn wirklich ziemlich verzogen, der Russe war einfach zu gutmütig. Aber ich sah trotzdem, dass Teufel sich immer wachsam hielt, wenn Fremde auf uns zukamen, und das beruhigte mich sehr. Es war ein gutes Gefühl, in dieser Stadt ein so großes Tier bei sich zu haben. Immerhin reichte er mir bis zur Hüfte. Ich spürte, wie sich Junyas Finger mit meinen verschränkten, als wir durch die Gassen schlenderten und leise sprachen; es war inzwischen richtig angenehm geworden, und wir hatten beide unsere Jacken ausgezogen und über den Arm gehängt. „Rose fragt, ob wir mit ihm und Valentin einen Film sehen wollen in seinem Zimmer, heut Abend oder so.“ „In seinem Zimmer? Ich wusste nicht, dass er einen Fernseher hat.“ „Nein, hat er nicht, auf seinem Laptop.“ Ich merkte wieder, dass Junya Rose doch etwas besser kannte als ich; aber diesmal schaffte ich es, nicht eifersüchtig zu werden, als ich das leichte Streicheln seiner Finger spürte. Und ich hatte Rose ja auch gern. „Was für einen Film?“ „Weiß ich nicht, wohl irgendeinen Zombiefilm. Yuki will nicht mitsehen, der mag keine Horrorfilme. Magst du welche?“ Ich zuckte die Schultern, wir blieben kurz stehen, auf das Geländer am Fluss gestützt, und beobachteten das Wasser schäumend über die Steine schnellen. „Weiß ich gar nicht so genau, ich denke schon. Also ich habe keine Angst oder so. Saku kennt viele Horrofilme.“ „Ja, das kann sein, dass das eine von seinen Dvds ist; Rose sagt, die hat er von Antti bekommen, der hat ihm viele Filme geschenkt.“ „Das wusste ich gar nicht.“ „Mhm.“ Junya sah neben mir ins Wasser, das Gesicht ruhig, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, als er mich ansah. „Aber fast nur Horrorfilme, Antti sammelt die, Sakuya hat die doppelten bekommen.“ „Echt?“ Jetzt war ich doch erstaunt. „Bist du sicher? - Und woher weißt du das?“ „Hat mir Rose ezählt, wir hatten über Filme gesprochen.“ „Hmm.“ Ich sah wieder ins Wasser. „Würde ich gar nicht von Antti vermuten.“ „Nein, ich auch nicht.“ Wir schwiegen wieder eine Weile. „Jun...“ „Hmm?“ „Du kennst Rose ziemlich gut, oder?“ Anstatt sofort zu antworten, trat er einen Schritt hinter mich, schloss die Arme um mich; ich spürte seinen Atem, er legte den Kopf sanft auf meine Schulter, nahm meine Hände in seine, die Finger mit meinen verschränkt. „Ich mag Rose gern, weil er der einzige war, der mir geholfen hat, den Mut zu finden, dich nicht aufzugeben, auch als ich dachte, dass wir nie zusammen sein würden. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich vielleicht keine Woche lang geblieben.“ Ich wurde rot. „Ich wollte nicht sagen, dass...ich meine...ich mag Rose. Wirklich.“ „Sei bitte nicht eifersüchtig.“ „Ich bin nicht eifersüchtig....“ Das dachte ich auch wirklich. „Du bist in Gedanken soviel bei deinem Bruder“, murmelte Junya leise an meinem Ohr. „Das finde ich gut, weißt du....es ist gut, für seine Familie da zu sein. Und Valentin hat erzählt, dass du manchmal abends vorm Schlafengehen zu ihm gekommen bist um ein bisschen zu reden, und mit Rose warst du ja im Eden. Aber, du weißt glaube ich gar nicht, dass ein paar von den anderen total neidisch sind.“ „Wieso das?“ Ich wandte mich nicht um, um ihm ins Gesicht zu sehen, aber ich spürte, dass er leise lachte. „Weil alle hier dich wahnsinnig gern haben, Jamie. Wahrscheinlich jeder in der ganzen Stadt, der dich kennt. Lieber als mich. Lieber als deinen Bruder.“ Ich wurde jetzt doch rot. „Das stimmt doch gar nicht.“ „Naja, schon. Es wurde mir ja so gesagt.“ „Von wem?“ „Von Rose, dem Yuki es gesagt hat. Die Zwillinge mögen dich gern, vor allem Yuen, und die mögen nicht viele. Fuchs hat dich auch unheimlich gern. Eigentlich jeder im Haus. Valentin sagt, Antti hat sich auch sehr gefreut, dich kennenzulernen. Und Mari möchte dich am liebsten adoptieren, sagt Yuki.“ Jetzt wurde ich doch vollends rot. „Adoptieren...ich bin sechzehn...!“ Ich brach ab, ich wusste nicht was ich noch sagen sollte, meine Wangen brannten. „...ich wusste gar nicht, dass du so viel mit allen redest.“ „Ich habe mich bei allen bedankt für die Hilfe. Daher.“ „Ah so.“ Ich merkte, wie er sich leicht von mir löste, so dass wir jetzt nebeneinander standen, er hatte noch immer die Arme um mich gelegt, hob jetzt einen, um mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen; für einen Moment sah er wieder so traurig aus, wie ich ihn kennengelernt hatte, die dunklen Augen voller Schatten, aber dann war es wieder vorbei, und er lächelte mich wieder an, neigte sich zu mir, legte seine Stirn an meine. „Ich bin so unsagbar glücklich, dass du bei mir bist....“ Ehe ich wiederum rot werden konnte, küsste er mich, zärtlich, inniger dieses Mal, mir schwindelte leicht. „Ich liebe dich“, hauchte er dann an meinem Ohr, und ich merkte, dass ich mich unwillkürlich in seinen Pullover gekrallt hatte bei dem Kuss. Er neigte den Kopf an mein Ohr. „Jamie...“ „Hmm?“ „Ich wollte dir noch was sagen.“ „Was denn?“ Ich hob erstaunt den Kopf, er wich aber meinem Blick kurz aus, ehe er mich wieder anlächelte, ich meinte für einen Moment die alte Traurigkeit wieder zu sehen. „Nicht hier, lass uns ein Stück gehen.“ Er ging los, und ich musste fast ein paar Schritte rennen, um zu ihm aufzuschließen. „Junya? Was willst du mir denn – oh! Entschuldigung!“ Wir waren an einem Gässchen vorbeigekommen, und ich war fast in einen Mann gerannt, der daraus hervorgekommen war; Teufel knurrte, so dass der Fremde einen Schritt zurückmachte, allerdings die Hand nach mir ausgestreckt hatte, so dass ich ihn im ersten Moment nur erschrocken musterte. Er war sehr groß und zugleich sehr dünn, seine Kleidung war ziemlich schmutzig, es sah so aus, als sei er damit einen langen Weg gegangen, zerrissen und fleckig; kaputt auch seine Schuhe, mehrfach mit Stoff umwickelt, um die Sohlen zu halten. Er hatte keine Tasche oder etwas in der Art dabei; um den Hals trug er eine Art Halsband, seine Haare waren an den Seiten abrasiert, der Rest, der einmal längs bis in den Nacken noch stand, war wohl einmal grün gewesen, doch jetzt nur noch grünbräunlich. Er hatte zwei kleine Ringe in der Nase, die beide leicht entzündet schienen; seine Augen waren gerötet und etwas glasig, er war bartlos, doch sein Gesicht war entsetzlich schmutzig. Auf einer Wange sah ich etwas wie einen tiefen Kratzer. Er stank nach Alkohol. Die Hand, die er mit entgegenstreckte, war mit einer dreckigen Mullbinde umwickelt; die Nägel waren ungepflegt. „Bitte....“ Junya nahm meinen Arm und zog mich an sich, von dem Mann weg, zu Teufel hin; der Fremde wich etwas zurück, bis er die Mauer im Rücken hatte; immer wieder den Blick zum Hund schnellen lassend, streckte noch immer die Hand aus. Seine Stimme war heiser, er klang viel jünger, als er aussah, vielleicht war er Mitte zwanzig. „Hey, hey, schon gut, nimm den Hund weg....“ Er drückte sich mit dem Rücken an der Wand entlang, Junya hielt mich immer noch. „Ich tu euch nichts, Jungs, keine Waffen, sehr ihr?“ Er breitete beide Hände aus. Wie er leicht geduckt dastand, hatte er etwas Flehendes. „Ich bin tagelang gewandert, ich hab kein Geld, nichts zu essen, keine Leute, die schmeißen mich aus der Stadt wenn sie mich sehen, ich will mir nur was zu essen kaufen; bitte, ihr habt doch sicher was über, nur ein paar Cent, dann bin ich weg. Bitte! Du!“ Er zeigte auf mich, ich schob mich etwas an Junya. „Du siehst doch lieb aus.... Komm, ich bitte dich! Ich habe nur Hunger, ich suche jemanden, ich habe kein Geld! Hab doch Mitleid mit einem armen Rumtreiber, eh?“ „Wir haben nichts“, fauchte Junya neben mir. „Verschwinde, oder ich lasse den Hund los!“ Der Fremde drückte sich etwas zurück in den Schatten, den Blick immer halb auf Teufel. „Nur ein paar Cent! Bitte!“ „Ich hab dir gesagt, wir haben nichts! Scher dich weg!“ Junya legte den Arm um mich und zog mich weg; der Fremde schien einzusehen dass er uns besser nicht folgte, uns und dem knurrenden Teufel, den Junya in langsam gelockerter Leine hielt, und senkte kurz den Kopf; er sah so mutlos aus, ich hatte nicht das Gefühl, dass er wirklich gedacht hatte, Erfolg zu haben. Wir waren sicher nicht die ersten heute gewesen; und in Zeiten wie diesen hatte niemand etwas übrig, vor allem kein Geld. Wer wusste auch, warum er bettelte, oder wofür. Er sah aus wie eine geradewegs aus dem Kanalrohr gekrochene Ratte. Ich machte mich von Junya los. „Warte mal, geh nicht weg!“ „Jamie - !“ Ich ignorierte meinen Freund und trat einen Schritt auf den Fremden zu, der mehr instinktiv einen Schritt zurückwich; das tat mir so leid zu sehen, er war größer und älter und wahrscheinlich auch stärker als ich, trotzdem wich er vor mir zurück, einfach so, einfach nur weil ich besser dran war. Ich kramte in meiner Hose; irgendwo hatte ich noch Kleingeld gehabt, mein eigenes Kleingeld, nicht das aus der Haushaltskasse. „Ich hab aber nicht viel....“ Der Fremde kam etwas zurück, stand jetzt dichter vor mir; er roch wirklich ungewaschen, von Nahem funkelten seine Augen so verschlagen. Ich merkte dass meine Hand etwas zitterte, bis sich meine Finger um das Gesuchte schlossen. „Also, äh, das sind.... drei Euro zehn...und ein Hustenbonbon...“ Ich hob die Hand mit der Beute und seine Hand schnellte seinerseits vor, nahm mich bei der Hand, nicht fest, aber mit sicherem Griff, und ich fiepte fast erschrocken auf, als er mich an sich zog und fest drückte. „Oh mann, danke, ernsthaft, danke! Du hast was gut bei mir!“ Er ließ mich los und schloss die Finger fest um seine Beute, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie Junya angesprungen kam und mich schnell wieder zu sich zog. Es schien den Bettler nicht zu stören, er verstaute das Geld tief in seiner Hosentasche. „Ich mein's ernst! Ich merk mir dein Gesicht! Und du – guck nicht so böse!“ Mit einem letzten Blick auf Junya verschwand er in der Gasse zurück, schnell, als hätte er Angst, dass ich es mir anders überlegte. Junya sah mich lange zwischen seinen blauen Haarsträhnen hindurch an, und ich merkte, dass ich angefangen hatte zu lächeln wie ein Bekloppter. „Jamie, du bist wirklich komisch.“ Wir gingen danach noch ein Stück weiter am Fluss entlang, Junya hatte einen Arm beschützend um mich gelegt und führte Teufel an der Leine; ich genoss seine Nähe, den warmen Körper neben mir, den ich durch die Jacken so dicht spüren konnte, und ich fühlte mich ein bisschen geschmeichelt, dass er sich Sorgen um mich machte. Wir kletterten über die Reste eines eingestürzten Hauses, die im Fluss lagen; an der Stelle gab es keine Brücke, doch die Mauertrümmer stauten das Flüsschen so an, dass das Wasser sprudelnd und schäumend daran brach, und bildete so eine durchaus gangbare Passage auf die andere Seite; Junya ließ Teufels Leine vorsichtshalber los und den Hund alleine fröhlich hinüberspringen und reichte mir dann die Hand, ich schwankte auf dem ersten schiefen Mauerteil und ruderte wild mit den Armen ehe er mich festhielt, so dass ich kichern musste. „Wenn du jetzt ins Wasser fällst, spring ich dir aber nicht hinterher“, lachte Junya, einen Arm um meine Hüfte. Ich grinste ihn etwas schief an. „Du würdest mich nicht retten?“ „Ich würde dich wieder rausziehen, glaube ich.“ „Du glaubst? Das heißt -“ Ich kam nicht weiter, denn er hatte den zweiten Arm um mich gelegt, so dass seine Hände unter meiner Jacke auf meinem Rücken lagen, und gab mir einen sanften Kuss, unterbrach mich damit mitten im Satz. Ich merkte, dass ich ein wenig rutschte auf dem schrägen Beton und hielt mich unwillkürlich an seinen Schultern fest, spürte wie er an meinen Lippen lächelte. Teufel bellte, und ich sah zur anderen Seite; merkte wie ich langsam festeren Stand fand. „Hey, guck mal, ein Garten!“ Junya folgte meinem Blick; auf der gegenüberliegenden Seite wo der Hund schon schnüffelte, sah es aus, als sei dort ein Garten gewesen; auch das angrenzende Haus war nicht mehr intakt, stand aber dennoch noch; ich sah umgestürzte steinerne Blumenkübel und einen verwitterten kleinen Baum, der die Äste bereits durch ein leeres Fenster gesteckt hatte; im dachlosen Haus sah ich Birkenschößlinge wachsen, und auch in der dünnen Erdschicht vor dem Haus zeigten hie und da Frühlingsblumen in blassen Farben ihr Gesicht. Junya nahm meine Hand. „Komm.“ Wir kletterten über die restlichen Trümmer; der kleine Baum war karg und blätterlos, aber es blühten winzige Stiefmütterchen in der Erde des verlassenen Gartens, und ich sah auch Maiglöckchen. „Oh, wie hübsch, schau mal!“ Ich kniete mich nieder und stupste mit dem Finger eins der Blümchen an, der winzige weiße Schirm erzitterte leicht unter der Berührung. „Ob der Garten jemandem gehört, was meinst du?“ „Ich weiß nicht, ich denke nicht.“ Junya stand mit den Händen in den Jackentaschen neben mir, ließ sich mit dem Rücken jetzt gegen den kleinen Baum sinken, blinzelte ein wenig gegen die Sonne und beschirmte das Gesicht mit einer schmalen weißen Hand. „Das ist wirklich schön hier.“ „Hmm.“ Ich ging zu den Fenstern des Hauses und sah hinein; es war leer, keine Möbel oder ähnliches waren mehr zu sehen, nur ein leeres Gerippe eines Gebäudes, in dem hier und da Schößlinge aus den Wänden wuchsen, auf dem Boden zeigten sich vereinzelte Grashalme, die Fuß gefasst hatten auf winzigen Flecken hineingetragener Erde; Moos wucherte auf von Wasser aufgequollenem Parkett wie ein weicher grüner Teppich. „Wow, das ist total toll!“ Junya trat hinter mich und ich spürte, wie er die Arme um mich legte; ich lehnte mich schnurrend an ihn und genoss das Gefühl, gehalten zu werden. Dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich um. „Was wolltest du mir vorhin sagen?“ Junya öffnete kurz den Mund, zögerte dann, ich sah wie er kurz die Lider senkte. „Weißt du, Jamie, ich....“ Sein Griff lockerte sich etwas; die Sonne schien auf sein Gesicht und er kniff etwas die Augen zusammen, seine blauen Haare leuchteten im Licht, seine blasse Haut schien strahlend, fast durchscheinend. „Hm?“ Ich sah, wie er sich auf die Lippe biss, die Hände von mir nahm und in die Taschen steckte, kurz auf den Fluss sah. „Ach, weißt du, ich war nicht ganz ehrlich zu dir.“ „Was? Wann? Was meinst du?“ Ich drehte mich vollends um und sah ihn verwirrt an. Ich war so erstaunt, dass ich mich nicht einmal unwohl fühlte; ich weiß, ich hätte mir bei diesen Worten Sorgen machen sollen, aber das tat ich nicht. Ich sah, dass er mir nicht in die Augen gesehen hatte, und dass er sich mit den Händen an seinen Jackentaschen festhielt, aber auch das verwunderte mich nicht; hätte es vielleicht - doch ich denke, ich schob es damals auf die tieferstehende Sonne, die ihn blendete, so dass er mich nicht ansehen konnte aus seinen schönen dunklen Augen; und ich dachte nicht daran, dass er mir wiederum nur auswich. „Na ja, ich hatte dir gesagt, ich wäre aus meinem Internat fortgelaufen; das stimmt zwar, aber das ist schon länger her. Ich bin älter als du denkst; es tut mir total leid, ich hätte dir das eher sagen sollen, ich habe dich von Anfang an glauben lassen, wir wären gleich alt.“ Jetzt erst sah er mich langsam wieder an, ich trat zu ihm und nahm ihn bei der Schulter. „Naja, das ist ja nicht so schlimm....“ Ich biss mir seinerseits auf die Lippe; natürlich war ich verletzt! Ich empfand es zwar wirklich nicht als so schlimm, wenn er zwei, drei Jahre älter war als ich, aber dass er mich absichtlich angelogen hatte, das tat mir schon weh. Wobei. Er hatte nie gesagt, er wäre so alt wie ich, ich hatte es nur angenommen. Hatte er nicht gesagt, sein Geburtstag läge einen Monat vor meinem? „Wieso hast du das denn gemacht?“ „Ich wollte, dass du mich magst.“ Ich sah ihn empört an. „Also, ich mag dich doch, egal wie alt du bist; das hat doch damit nichts zu tun!“ „Ja...jetzt....aber am Anfang!“ „Klar!“ Ich dachte kurz nach und korrigierte mich. „Ich denke schon.“ Hätte es etwas geändert? Wahrscheinlich nicht, oder? Junya lächelte mich schwach an. „Wieso, wie alt bist du?“ „Ich bin einundzwanzig.“ Jetzt stand ich doch mit offenem Mund da. Junya senkte wieder den Kopf. „Entschuldige“, murmelte er. „Einundzwanzig?“ „Ja.“ Ich schluckte. Da kam er alterstechnisch Sakuya näher als mir. Aber er sah so jung aus! Nun ja, sicher, er war noch immer asiatisch, und er wirkte sehr zierlich, aber.... ich hätte ihn niemals auf über achtzehn geschätzt. „Jamie...ist das okay jetzt? Ich meine...“ Er scharrte ein wenig mit dem Fuß, die Hände noch immer in den Jackentaschen, die Sonne im Gesicht. „Ich meine, stört dich das jetzt, dass ich älter bin, als du gedacht hattest? Weil -“ Diesmal war ich es, der wortlos auf ihn zugetreten war und meine Lippen auf seine gesenkt hatte; ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, es erschien mir in diesem Moment die richtige Tat, richtiger als alles mögliche, was ich hätte sagen können, um meine Gleichgültigkeit zu beteuern. Ich merkte, wie Junya kurz zusammenzuckte vor Überraschung, dann schlossen sich seine Arme um mich, sanft, hielten mich leicht; er bewegte kaum die Lippen, gerade genug, um meinen Kuss zu erwidern, und ließ sich seinerseits ganz in meinen Kuss fallen; das war das erste Mal, dass ich die Führung übernahm und ich blinzelte ein wenig, sah seine geschlossenen Augen, sein entspanntes Gesicht, und küsste zärtlich seine weichen blassen Lippen, die so süß schmeckten; seine Haare strichen mit einem kleinen Windstoß leicht über meine Stirn. Ich hatte mich an seiner Jacke festgehalten und den Kopf leicht zu ihm emporgeneigt, als ich ihn küsste; wir verharrten lange so, dann spürte ich ganz sacht wie sich seine Lippen öffneten und seine Zungenspitze hervorstrich, sacht gegen meine Lippen stupste, sich dann zurückzog, ehe ich ihm mit meiner Zunge entgegenkommen konnte; und ich merkte, wie ich rot wurde, als ich mich vorsichtig vorwagte, den Geschmack seiner Lippen, die weiche Haut an meiner Zunge spürte, mit der ich scheu millimeterweise nur vortastete, fast erleichtert, als sich seine weichen Lippen kurz um meine Zungenspitze schlossen und er an meiner Unterlippe nippte, ehe er sich löste. Seine Augen glänzten so stark, fast hätte ich gedacht, er weinte halb, aber ich hatte keine Zeit, es zu betrachten, denn er schloss mich in die Arme, zog mich an sich, mein Gesicht lag an seiner schmalen Schulter, und ich spürte seinen Atem in meinem Nacken, fest in seine Umarmung gekuschelt, während der Wind die Maiglöckchen zu unseren Füßen zittern ließ. „Ich liebe dich.“ Und ich konnte vor Glück nichts erwidern über den lauten, heißen Schlag meines Herzens. Als wir auf dem Rückweg waren, hielt ich Junyas Hand; ich war etwas nachdenklich geworden, aber auf der anderen Seite: der Junge, nein, der Mann, in den ich mich verliebt hatte, war die ganze Zeit über derselbe, völlig gleich wie alt er war. Dennoch war es etwas unheimlich; nach einer Weile kam mir der Gedanke, dass ich mich vielleicht verunsichert fühlte, weil er mir jetzt in so vielem auf einmal so weit voraus schien. Er hatte mir gesagt, ja, dass er schon mehrere Beziehungen hinter sich hatte, aber nun... Ich fühlte mich wahnsinnig eingeschüchtert. Ich hatte Sorge, seine Erwartungen nicht erfüllen zu können. Es war doch nur ich; das kleine, junge, dumme Ich, das ich war. Er sagte zwar immer, dass er mich liebte, wie ich war – mich gerade dafür liebte; aber wenn es irgendwann...sollte es irgendwann zu...an dieser Stelle brach ich den Gedanken ab und wurde etwas rot. Wir waren inzwischen fast wieder am Marktplatz angekommen, und ich schrak aus meinen Gedanken hoch, als mich ein feiner Regentropfen im Gesicht traf. Der Himmel hatte sich leicht bezogen, ohne dass ich es gemerkt hatte, wenn auch von Flecken von Blau durchbrochen. Ich spürte, wie Junya sanft meine Hand drückte. „Sollen wir uns unterstellen? Das ist sicher nur ein Schauer.“ Ich nickte, dankbar für die Ablenkung. Wir standen im gleichen Torbogen, in dem wir auch mit Rose schon einmal den Regen abgewartet hatten; Teufel zog und wollte nach Hause, aber es fing langsam wirklich an zu schauern, und Junya zog mich an sich, die Arme unter meiner Jacke um mich gelegt, und küsste sanft meine Schläfe. Ich schloss die Augen und lehnte mich an ihn, es war mir auf einmal alles völlig egal, und wenn er hundert Jahre alt wäre; es fühlte sich so wahnsinnig gut an, bei ihm zu sein. Teufel hatte das Ziehen aufgegeben und schnüffelte neben uns am Boden, ich kicherte und beugte mich hinab, um ihm den Kopf zu kraulen, als mir etwas am Boden auffiel, und ich ging in die Hocke. „Was ist denn?“ Ich griff danach und schüttelte ein wenig den Dreck ab. „Guck mal...“ „Das ist nur ein Band, ich verstehe nicht was du meinst?“ Junya runzelte die Stirn. Ich hielt in meinen Händen ein schmales Lederband, entwirrte es ein wenig, es war sicher vierzig oder fünfzig Zentimeter lang und aus dunkelbraunem Leder, schmutzig vom Liegen auf dem Boden, meinte ich, dazu hart und etwas spröde. Es war lang genug, um mehrfach um einen Arm gewickelt zu werden, und auch leicht in sich gedreht, als wäre es lange nicht mehr auseinandergewickelt gewesen; an einer Stelle sah ich auch einen festen Knoten; das Band selber schien gerissen, war auf jeden Fall unsauber durchtrennt und kaputt. „Fuchs hat so ein Band getragen.“ „Bist du sicher?“ Ich erinnerte mich genau daran, wie ich mit Fuchs im Karfunkel gewesen war, er in seinem engen schwarzen T-Shirt, wie er sich lächelnd die rotblonden Haare hinter die Ohren strich, ich sah seine gelenkigen Finger vor mir, seine durch das Bogenschießen geformten Arme, und das braune Lederband um sein linkes Handgelenk, mehrfach darumgewickelt und mit einem Knoten verschlossen. „Ich bin mir absolut sicher. Das ist seins.“ „Vielleicht hat er es verloren; ist es gerissen?“ Ich hob ein Ende an. „Ich bin nicht sicher, sieht fast so aus. Oder er hat es zerschnitten, aber warum sollte er das tun?“ Junya sah sich um. „Wohnt hier nicht der Exfreund von Sakuya? Hat Valentin ihn gestern auch gefragt, ob er Fuchs gesehen hat?“ „Schon,hat er, ja, aber...“ Ich umschloss das Band mit der Hand und nahm Junya am Arm. „Lass uns gehen und Antti fragen, ob er etwas weiß.“ „Meinst du nicht, er wäre zu uns gekommen, wenn er ihn inzwischen gesehen hätte?“ „Vielleicht wollte Fuchs das nicht.“ Ein Gedanke baute sich in meinem Kopf auf und ließ mich nicht mehr los. „Dass Antti uns Bescheid sagt.“ „...wie kommst du darauf?“ Junya sah mich verblüfft an. „Ich weiß nicht. Ist nur so ein Gefühl. Fuchs' Armband liegt hier, und es ist zerschnitten. Das ist doch komisch, oder? Warum tut man sowas?“ „Aber warum würde er dann gerade zu Antti gehen?“ Ich hielt wieder inne. „Ich weiß nicht. - Lass uns trotzdem fragen. Bitte!“ Ich zog Junya mit mir die kleine Treppe hinauf; es gab keine Klingel oder ähnliches, wie auch bei uns nicht, aber Anttis Wohnung hatte einen altmodischen Türklopfer in Gestalt eines Löwenkopfes, den ich einmal vorsichtig und einmal etwas fester gegen das Holz schlagen ließ. Ich war nicht sicher, ob mich jemand gehört hatte, und wandte mich kurz zu Junya um, der meine Hand fester genommen hatte und sich gerade die Haare aus dem Gesicht strich, als ich leise Schritte zu hören glaubte, und dann drehte sich ein Schlüssel und ein bekanntes Gesicht spähte heraus. Antti war in eine schlichte graue, enge Jeans und einen weißen Pullover gekleidet, seine Haare fielen ihm in gewohnt gewollt-zerzauster Art auf die Schultern, und er lächelte, als sein Blick auf uns fiel, aus seinen ehrlichen blaugrünen Augen; er sah jedoch aus, als hätte er nicht gut geschlafen, trug seine Brille statt Kontaktlinsen und nur wenig Makeup. „Haben wir dich geweckt?“, fragte Junya leise. Antti lachte leise, nahm erst mich und dann ihn kurz in den Arm. Er roch nach Tee. „Nein, nein. Kommt rein.“ Wir folgten ihm ins Haus; ich sah mich neugierig um; es war sehr sauber, der Boden war gefliest, aber eine Wand war verhängt, als sei sie etwas baufällig, und die Treppe in den ersten Stock war aus Holz gezimmert, wenn auch fachmännisch. Vor uns öffnete sich ein Wohnzimmer mit schwarzen Ledersofas und einem großen Fernseher, davor ein Couchtisch. Antti ging einmal durchs Zimmer, um die Jalousien vor den Fenstern aufzuziehen und etwas Tageslicht in den Raum zu lassen; aus dem zerknautschten Kissen am Sofaende schloss ich, dass er doch geschlafen oder es zumindest versucht hatte; auf dem Wohnzimmertisch stand eine leere Tasse. Ich schloss die Finger fester um das kaputte Lederband und konnte nicht wirklich warten mit meiner Frage. „Antti, hast du Fuchs gesehen?“ „Öhm...“ Er wandte sich etwas überrascht um, lehnte sich gegen das Sofa. „Valentin war gestern hier und hat das gleiche gefragt.“ „Ja, ich weiß. Es ist nur, weißt du...“ Es tat mir etwas leid; Antti sah so müde und so bedrückt aus, ich wusste nicht wieso, aber ich hatte ihn wirklich gern, und ich hatte ehrlich nicht stören wollen. Ich war mir relativ sicher, dass er jetzt nicht schlafen würde, wenn er sich Sorgen um Fuchs machte; ich wusste zwar nicht genau, ob die beiden befreundet waren, aber letztendlich schien Antti doch immer geradezu peinlich genau darauf bedacht, dass es anderen Menschen gut ging, ohne dabei immer an sich selbst zu denken – sonst hätte er ja Saku nicht verlassen, oder? Das bewunderte ich sehr an ihm, und gleichzeitig machte ich mir Sorgen um ihn, weil ich fand, dass Antti es verdient hätte, auch mal ein wenig an sich zu denken. Er wirkte nach außen hin so leuchtend und stark, aber ich konnte mir nur vorstellen, wie traurig er wegen Sakuya war, und ich war mir sicher, er nahm es sich sehr zu Herzen, ohne es zeigen zu wollen. Ich würde es nie schaffen, Junya aufzugeben; in dem Glauben zu leben, ich hätte eine Familie zerstört - und dann noch zu singen, von allen Dingen - und auch noch so wunderschön zu singen. Er schien so sensibel, selbst sein kleines ehrliches Lächeln wirkte verletzlich, wenn er müde war. Nicht, dass ich ihn für berechenbar hielt, bestimmt nicht; allein die Horrorfilmsammlung hatte mich überrascht, und der Finne blieb für mich als jemanden, der ihn kaum kannte, ein Mysterium. Und doch konnte ich ahnen, dass er sich Sorgen um Fuchs machen würde, einfach nur, weil er Antti war, und nicht anders konnte, als sich zu kümmern. Antti sah mich so sanft an, und ich seufzte. „Weißt du, wir kamen grad vorbei, und wir hatten das hier auf der Straße vor deinem Haus gefunden...“ Ich streckte die Hand aus und zeigte ihm das Band. „Und ich weiß, dass Fuchs genauso eins trägt. Das ist kaputtgeschnitten, glaube ich, schau, da.... Ich dachte nur...es ist vielleicht dumm, und bitte sei mir nicht böse, aber vielleicht hast du doch von ihm gehört, oder kannst uns wenigstens sagen, ob es ihm gut geht? Mehr will ja niemand wissen, nur ob es ihm gut geht.“ Ich sah ihn an und wurde rot; es musste doch glatt so klingen, als beschuldigte ich ihn, Valentin angelogen zu haben... Antti sah mich eine Weile an, fuhr sich mit einer feingliedrigen Hand über das Gesicht, stützte dann kurz die Stirn in die Hand. „Jamie...“ Seine weiche Stimme klang ein wenig heiser. Er seufzte und hob dann das Gesicht. „Ich kann dir leider immer noch nichts über Fuchs sagen...nur das, was ich Valentin auch schon gesagt habe. Ich kann euch nicht sagen, wo er ist, so gerne ich es möchte. Wirklich.“ Ich senkte den Kopf. „Schon gut“, murmelte ich. „Tut mir leid...“ „Wartet ihr bitte einen Moment?“ „Hm?“ Ich sah auf. „Bitte, nur ein paar Minuten; ich muss kurz mit jemandem reden.“ „Öhm...okay.“ Antti verschwand aus dem Wohnzimmer, und ich hörte ihn die Treppe hinaufgehen; ich sah mich um und Junya ratlos an. „Meinst du, er fragt seinen Mitbewohner?“ „Ich weiß nicht, ich hoffe nicht. Der scheint nicht der Hilfsbereiteste zu sein. - Ich glaube, Antti weiß, wo Fuchs ist.“ „Warum?“ „Er verhält sich so komisch. Ich glaube, er weiß es, und kann nur nicht gut lügen.“ „Hm.“ Ich setzte mich auf die Sofakante; Junya stellte sich vor mich und fuhr mir mit einer Hand leicht durchs Haar; ich ließ mich leise ausatmend gegen ihn fallen. Teufel lag schnaufend neben uns auf dem Boden. Armer Antti. Junya kraulte leicht meinen Nacken, und ich sah auf, als Antti wieder in den Raum kam. Er sah irgendwie weniger bedrückt aus, wenn auch immer noch müde, und sein Lächeln war weiter geworden. „Tut mir leid, dass ihr warten musstet... Wollt ihr kurz mit hochkommen? Fuchs möchte mit euch reden.“ Ich stolperte mehr die Treppe hoch, als dass ich ging, Junya an der Hand ungeduldig mit mir ziehend und Antti und Teufel unten zurücklassend; Fuchs war hier? Warum hatte er nichts gesagt? - Ich machte Antti keinen Vorwurf, bestimmt nicht; ich machte mir Sorgen. Ich hatte Angst um Fuchs. Warum war er hier? Warum wollte er nicht, dass Valentin es erfuhr, als er herkam? Ich stieß die uns genannte Tür auf; ich stand in einem mittelgroßen Raum, der ziemlich klein wirkte durch die Regale an den Wänden und die Instrumente in den Ständern davor, ich sah drei oder vier, achtete aber nicht weiter darauf, denn was meinen Blick zu sich zog, war die schlanke Gestalt am Fenster, die sich jetzt zu uns umwandte, uns einen müden Blick aus grünen Augen schenkte, aufrecht, und doch mit gesenktem Kopf, wie ein aus schwerer Schlacht Heimgekehrter. „FUCHS!“ Ich konnte nicht anders, ich ließ Junyas Hand los und stürzte auf ihn zu und ihm in die Arme; ich weiß nicht, ob er überrascht war, ich glaube er zuckte kurz, dann spürte ich aber seine Arme um mich. „...Hey.“ Ich ließ ihn los und sah zu ihm auf, er lächelte mich an, etwas unsicher, als hätte er vergessen, wie es ginge. „Wir hatten solche Angst, dass dir was passiert ist! ….Was ist mit deinem Arm?“ Ich sah nur kurz, dass sein linker Arm verbunden war, ordentlich und fest; der Rothaarige versteckte ihn hinter seinem Rücken und hielt sich mit der Hand an der Fensterbank hinter sich fest. „...Nichts.“ Ich nahm seine andere Hand und versuchte ihm in die Augen zu sehen, nach einer Weile wich er meinem Blick nicht mehr aus. Ich machte mir ein wenig Sorgen; er sah so erschöpft aus, seine Augen schimmerten, er brachte kaum dieses immer aufmunternde Lächeln zustande; nach einer Weile merkte ich, sein Gesichtsausdruck war genau derselbe, den er immer gezeigt hatte, wenn Sakuya wortlos an ihm vorbeigegangen war; und auch wegen seines Arms konnte ich nur raten. Er erwiderte meinen Blick wortlos, und ich merkte nach einer Weile, wie sich seine rauen Finger ganz leicht um meine Hand schlossen. „Kommst du wieder nach Hause?“, fragte ich leise. „Bitte.“ „Jamie...ich...“ Hinter uns schlug die Tür zu. „Er bleibt hier.“ Ich zuckte zusammen und sah mich am, auch Junya, der einen Schritt hinter mir gestanden hatte, hatte sich umgedreht. Neben der Tür stand, eine Zigarette drehend, ein junger Mann, nicht viel größer als ich, aber muskulöser; er trug einen schwarzen Kapuzenpullover und eine schwarze Hose, deren Enden um seine bloßen Füße auf dem Boden schleiften. Er war wohl etwa in Fuchs' Alter, seine Haare waren wild zerzaust und schwarz und rot gefärbt; er trug mehrere Ringe, die blitzten beim Drehen, und hatte seine Nägel schwarz lackiert; und als er die Kippe in den Mund steckte, sah ich die Ringe in seiner Unterlippe funkeln; er sah ausdruckslos zurück aus rauchig geschminkten Augen, und ich wandte unwillkürlich den Blick ab unter dem eisigen Starren; er trug Kontaktlinsen, die seine Augen fast weiß erschienen ließen. Es war mir überaus unangenehm, wie er mir entgegenstarrte; er sah so hasserfüllt aus. Junya stellte sich einen Schritt näher zu mir. „Und wer sagt das?“ Der Fremde musterte ihn einige Sekunden lang ausdruckslos, grinste dann höhnisch, ein Feuerzeug aus seiner Tasche ziehend. „Das ist Karasu, Anttis bester Freund“, erwiderte Fuchs an seiner Stelle leise. „Karasu, das sind Sakus Bruder und sein Freund.“ „Ich bin nicht sein bester Freund“, knurrte jener Karasu, den ich jetzt erst als den Bassisten aus den Erzählungen erkannte, zwischen zusammengepressten Lippen hervor, während er seine Zigarette anzündete. „Doch, das bist du.“ Karasu schnaubte und stieß den Rauch zwischen den Zähnen hervor. Ich trat einen Schritt vor. „Das kann er doch selber entscheiden, ob er mitkommt oder nicht, oder?“ Ich hatte unwillkürlich die Hände zur Faust geballt, was jener amüsiert beobachtete beim Rauchen. „...Wie niedlich. Zwergenaufstand? - Natürlich kann er, ich hab ein eigenes Leben, um das ich mich kümmern muss; solltest du dir auch mal zulegen. - Fuchs, was sagst du dazu?“ Er sah an mir vorbei und zog in aller Seelenruhe an der Kippe; ich drehte mich um und folgte seinem Blick zu Fuchs, der ein wenig schmerzerfüllt den Blick abwandte. Ich war verstört. „Aber...warum nicht?“ Ich sah ihn verzweifelt an. „Alle machen sich schreckliche Sorgen!“ „Ich.... Jamie, ich.... Das ist nicht so leicht zu erklären. Bitte sag allen, dass es mir gut geht, und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Aber ich... Ich muss über ein paar Sachen nachdenken.“ „Das kannst du doch, wenn du wieder zuhause bist!“ Ich ging wieder zu ihm. „Komm doch mit, bitte, wir vermissen dich.“ Fuchs setzte sich auf die Fensterbank; kaute eine kurze Weile an seinen Nägeln, mir nur einen schwachen Blick schenkend; er hatte den verbundenen Arm um den Körper gelegt, fast wie um sich zu schützen, seine Augen waren dunkel vor schweren Gedanken. Ich stand vor ihm, eine Hand auf seinen Arm gelegt, ich wollte ihn jetzt nicht einfach so davonkommen lassen, nicht nach allem was er und mein Bruder durchgemacht hatten. „Dann, bitte, versuch wenigstens, es mir zu erklären, auch wenn es lange dauert. Ich möchte das verstehen. Vielleicht kann ich dir helfen. Vielleicht auch nicht, aber lass es mich bitte versuchen.“ Fuchs sah auf und entschuldigend zu Karasu. „Lässt du uns kurz allein?“ Der knurrte unwillig, an der Kippe ziehend. „Keine Sorge, ich hatte nicht vor mir dein Gejammer anzuhören.“ Fuchs' Augen blitzten kurz. „'Es gibt keine Freiheit ohne gegenseitiges Verständnis', Karasu.“ Jener wandte sich um. „'Die Wahrheit ist keine Tugend, sondern eine Leidenschaft. Deshalb ist sie niemals barmherzig.'“ Und verschwand aus der Tür. Ich guckte. „Was war denn das?“ „Ah. Wir lesen Camus.“ Fuchs seufzte und strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare hinter die Ohren. „Ich wusste gar nicht, dass du Philosophie magst.“ „'Die Philosophie ist eine Art Rache an der Wirklichkeit'.“ „Nietzsche.“ Fuchs lächelte, es wirkte ein wenig ehrlicher. „Ganz wie dein Bruder.“ Ich wandte mich kurz zu Junya um, der sich neben dem Bett an die Wand gelehnt hatte und uns aus einigem Abstand zuhörte; er nickte mir leicht zu, schien es vorzuziehen, mir das Reden zu überlassen, und ich schluckte ein wenig; Fuchs war viel älter als ich, fast zehn Jahre, und ich war nicht sicher, ob ich der Richtige war, ihn zum Mitkommen zu überreden. Aber ich wollte es so gern! Ich war unendlich glücklich und erleichtert, ihn wohlauf zu sehen, und dass Ilja mit seiner Vermutung anscheinend recht gehabt hatte; und doch machte ich mir auch Sorgen um ihn, denn ich fürchtete, wenn er Sakuya jetzt aus dem Weg ging, würde er damit seine letzte Chance verspielen, zu ihm zurückzufinden. Mir wurde die Suche nach der nächsten Frage abgenommen, als Fuchs von sich aus anfing zu reden. „Ich möchte nicht, dass jemand zuhause weiß, wo ich bin, weil sie sonst kämen, mich zu sehen...und ich will nicht, dass sie wissen von....davon.“ Er hob kurz den linken Arm, sah mich dabei nicht an. Ich war vielleicht naiv, aber nicht dumm, und allein die Art, wie er das hervorbrachte, sagte mir genug, um zu wissen, was er meinte. Ich griff nach seiner Hand, ehe er den Arm wieder fortziehen konnte, und hielt sie fest. „Warum hast du das gemacht?“ Ich hatte Mühe, meine Stimme ruhig zu halten; mir drehte sich der Magen um, als mir so freimütig präsentiert wurde, was Fuchs sich fast angetan hätte; er schien so ruhig beim Reden, schaffte es aber nicht, mich dabei anzusehen; erst als er meine Hand fester griff, merkte ich, dass meine Finger etwas zitterten. „Ist schon gut, Jamie, ich lebe noch.“ „Warum?“, fragte ich wieder, sehr leise. „Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich selber es verstehe, wenn ich ehrlich bin.“ Er lachte humorlos. „Versuch bitte, es zu erklären. Vielleicht verstehe ich es ja.“ „Warum möchtest du das so gern wissen? Jeder fragt mich, und keiner versteht, warum ich versprechen kann, dass ich es nicht wieder tun werde.“ Fuchs sprach so leise mit mir; so ruhig, wie ich ihn kannte, allerdings ohne dieses Lächeln an ihm, bei dem ich mich immer so vertraut gefühlt hatte. „Aber natürlich, Fuchs; alle fragen dich, weil wir dich lieben, und weil wir dich nicht allein lassen wollen. Aber wenn du fortgehst, ohne jemandem etwas zu sagen, dann bist du allein, und davor haben wir Angst. Ich glaube auch nicht, dass ich es verstehen kann. Und ich will es auch gar nicht verstehen können. Aber ich möchte es gern mit deinen Worten hören, denn dann verstehe ich vielleicht zumindest, wie es dir jetzt geht.“ „Das möchtest du?“ „'Es gibt keine Freiheit ohne gegenseitiges Verständnis'“, erwiderte ich prompt, was Fuchs tatsächlich zum Lachen brachte, wenn auch nur kurz und leise, aber ich musste lächeln, und ich war unsagbar erleichert, dass sein Lachen noch da war. Ich wollte nicht, dass er sich veränderte. Ich mochte ihn genau so, wie er war. So wie Sakuya es auch tat. „Ich weiß nicht, ob ihr es gemerkt habt“, setzte Fuchs mit leiser samtiger Stimme an. „Seit Sakuya wieder da war, hatte ich das Gefühl, ich würde jeden Tag ein Stück mehr zerbrechen. In den sechs Monaten davor kam ich irgendwie zurecht, aber zu merken, dass alles so anders war zwischen uns, konnte ich nicht ertragen. Ich hatte versucht, das nicht zu zeigen, weil ich nicht wollte, dass sich alle noch schlechter fühlten, und weil ich weiß, dass sich alle auf mich verlassen. Und ich dachte auch, dass ich das überstehen kann, das erschien mir nur logisch und vernünftig. Also habe ich versucht, stark zu sein. Aber ich kann das nicht; Sakuya kann mit emotionalen Tiefschlägen umgehen, immer schon; die Leute glauben immer, er wäre derjenige, der sich alles so sehr zu Herzen nimmt, aber ich glaube, er kann seine Gefühle weit besser aufarbeiten, als ich je konnte. Als unsere Väter gestorben waren, war er derjenige, der jede Nacht geweint hat wie ein Baby. Aber er war auch derjenige, der dafür gesorgt hat, dass ich etwas aß, sonst wäre ich vielleicht verhungert. Er war immer derjenige, der getobt und geschrien hat, wenn wir wieder jemanden verloren, der uns etwas bedeutet hat. Und dann nahm er meine Hand und führte mich weiter, während ich selber noch in stummem Entsetzen vor der Welt stand und vergeblich versuchte, zu begreifen, was um mich herum vor sich ging. Auf diese Art habe ich nie gelernt, mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, das glaube ich jetzt; ich hatte immer Sakuya, der mich vor meiner Panik beschützte. Und Sakuya hat sich immer so viele Gedanken gemacht, hatte so viel Angst vor so vielen unmöglichen Dingen, vor Gott, vor der Hölle, vor den Menschen, sind wir gute Personen, sind wir schlechte Personen, sollten wir leben, sollten wir tot sein, warum musste dieser und jener Mensch sterben, wie lange können wir noch so weitermachen, werden wir je hier fortkommen, wann werden wir sterben, wer von uns wird zuerst sterben... So viele Gedanken. Ich war immer da, um ihm diese Sorgen zu nehmen; verstehst du, das waren alles Sachen, über die ich nie nachgedacht hatte, jedenfalls nicht auf emotionaler Ebene; ich glaube nicht an Gott, habe ich noch nie, und Gedanken über das Sterben und über Gut und Böse fand ich auf eine gewisse Weise interessant, als ich älter wurde, aber ich nahm es nie so persönlich wie er. Ich wusste, dass er mich brauchte, so sehr wie ich ihn, und das hat mich immer stark gemacht; mir ist klar, dass keiner von uns alleine überlebt hätte, und erst recht nicht so viele lange Jahre lang. Als wir dann langsam den Krieg hinter uns ließen, war ich glücklich; ich dachte, es wäre alles für immer vorbei, wovor er sich gefürchtet hatte; und ich war noch glücklicher, als ich merkte, dass er mich nach wie vor brauchte, dass uns etwas verband, was stärker war als Blut, vielleicht, dass ich ihn in all den Jahren, in denen er seine Gedanken mit mir geteilt hatte – und du weißt, es sind viele – besser kennengelernt hatte als mich selbst. Mehr als zwanzig Jahre lang kenne ich ihn jetzt, und davon waren wir bis zum vergangenen Jahr nie länger getrennt als eine handvoll Tage hintereinander. Ich war immer überzeugt, dass wir zusammengehörten, nicht als Paar, sondern als Seelengefährten; das dachte er auch, das weiß ich, denn von ihm stammt dieses schöne Wort. Und dieses Wissen hat mir immer den Mut zum Leben gegeben; Jamie, du musst verstehen, ich bin kein religiöser Mensch, aber ich habe trotzdem eine Vorstellung von Schuld, ich hatte vielleicht eine ziemlich harte und verdrehte Kindheit, aber wir beide haben viel gelesen, wir haben viel geredet, viel nachgedacht, um Sakuyas Willen waren wir in vielen Gottesdiensten als Kinder, hatten Unterricht bei Priestern, und so haben wir trotz allem eine gewisse Vorstellung von Moral entwickelt; und dadurch, dass wir uns gegenseitig zusprachen, schafften wir es, trotz des Bewusstseins, dass wir uns schuldig an der Menschheit machten, weiterzumachen. Man kann sagen, es waren alles nur Ausreden, die wir uns erfanden; es spielt keine Rolle. Ob wir nun gute oder schlechte Menschen sind, weiß ich nach wie vor nicht; ich glaube auch nicht, dass ich es je erfahren werden. In meinem Gefühl allerdings sind wir schlechte Menschen. Ich höre allerdings meistens lieber auf meinen Verstand, und daher war es in Ordnung, solange ich dafür sorgen konnte, dass Sakuya ebenfalls beruhigt war.“ Er sah mich an, hatte bemerkt, dass ich protestieren wollte. „Ihr seid aber keine schlechten Menschen“, sagte ich leise. „Ihr habt so viel Gutes getan, schaut euch doch eure Familie an; ihr könnt unmöglich schlecht sein. Und ich kenne auch Sakuya; er hat mich gerettet und beschützt, er liebt Musik und Gedichte, und er ist so lieb; und du auch. Du bist so ein sanfter und kluger Mensch. Wie könnt ihr schlecht sein? Ihr hattet keine Wahl.“ „Wenn du in unserer Situation wärst – wenn du einen Menschen töten müsstest, um dir etwas zu essen kaufen zu können – einfach nur, weil du es gut könntest – würdest du es tun?“ Er wartete eine Weile mein Schweigen ab. „Man hat immer eine Wahl, Jamie. Wie ich bereits sagte, ich halte mich für einen schlechten Menschen, aus genau diesem Grund. Aber ich glaube nicht an Himmel oder Hölle, und so musste ich mir nur Sorgen um Sakuya machen. Jetzt, in diesen letzten Tagen, seit er wieder da war, hatte ich gemerkt, dass ich die Trennung von ihm nicht ertragen konnte. Alles, woran ich immer geglaubt hatte, und was mir immer Kraft gegeben hatte, zu glauben, dass ich alles hinter mir lassen kann, war fort. Und ich konnte nicht mehr in Ruhe nachdenken; ich konnte nicht schlafen, und ich war immer so müde, dass ich nicht fähig war, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, und zu überlegen, was ich tun sollte; vielleicht hatte ich auch einfach Angst. Ich war wie starr vor Angst, dass er nie mehr zurückkommen würde, dass es endgültig vorbei war. Und dann fing ich langsam an, zu verstehen, dass ich dumm war, dass es selbstverständlich nicht mehr werden würde wie vorher, das ist der normale Gang der Welt, nicht? Und es ist unglaublich lächerlich, wenn ein erwachsener Mann wie ich sich von etwas so lähmen lässt, was doch fast jeder Mensch mindestens einmal im Leben durchmacht: seinen besten Freund zu verlieren. Wir leben ja doch recht friedlich hier, paradiesisch im Vergleich zu früher, und wir sind nicht mehr aufeinander angewiesen; so zu klammern, ist kindisch und etwas lachhaft. Daher hatte ich überlegt, die Stadt zu verlassen, nur für eine Weile, um in Ruhe nachdenken zu können, wie ich nun weitermachen wollte. Wofür ich überhaupt weitermachen wollte. Wisst ihr, ich hatte ja nun meinen Sinn im Leben verloren, und ich dachte, ich brauchte etwas Zeit, um mich wieder neu zu finden. Antti hat es mir allerdings ausgeredet; es war natürlich eine dumme Idee, das hätte ich sicher auch selber gemerkt. Also bin ich einfach nur ein wenig rausgegangen; ich wollte mit niemandem reden, ich war so unruhig. Ich wollte eigentlich nur endlich wieder den Kopf von Sakuya freibekommen und in Ruhe nachdenken können, so wie ich es gewohnt war. Als ich dann nach Hause zurückkehren wollte, es war irgendwann am Donnerstagmorgen, bin ich Sakuya begegnet.“ „Er sagte, du hast ausgesehen wie ein Geist“, sagte ich leise. Fuchs stieß die Luft aus. „Das war, was ich auch von ihm dachte.“ Er legte wieder einen Arm um den Körper, sah neben sich aus dem Fenster. „Ich weiß, was er getan hatte an diesem Morgen, er hat fast danach gestunken. Ich kenne ihn so gut. Aber etwas war anders, er hat nichtmal reagiert, als er an mir vorbeiging, aber seine Augen...“ Fuchs schloss kurz die Augen, ich meinte fast, ihn erschauern zu sehen. „Ich kenne diesen Ausdruck in den Augen, ich habe ihn oft gesehen, früher. Und Sakuya auch. Es war das, wovor er sich gefürchtet hatte. Irgendwann diese Moral, das Gewissen zu verlieren, nicht mehr zu reden, nicht mehr zu fragen, nicht mehr nachzudenken; das, wogegen ich mein ganzes Leben lang gekämpft hatte, weil ich ihn nicht an diese Leere verlieren wollte, weil ich immer wusste, dass er so viel mehr ist als das; er ist ein guter Mensch, ein wertvoller Mensch, ein Mensch der lieben und geliebt werden will...“ Fuchs presste die Hand auf die Augen und atmete tief durch, ich griff schnell seine Hand fester. „Ist schon okay, es geht schon...“ Er entzog mir schnell die Finger, als wäre ihm sein Ausbruch unangenehm; ich wartete, bis er seinen Atem beruhigt hatte, hilflos eine Hand auf seine Schulter gelegt. „Fuchs...du musst dir keine Sorgen machen. Er war ganz komisch, als er nach Hause kam, und er hat mich sogar angeschrien und auf den Boden gestoßen, aber ich glaube, Rose hat ihm ziemlich den Kopf gewaschen; er kam danach zu mir, und er war völlig fertig, es tat ihm alles total leid, und er war so lieb und sanft, genauso wie ich ihn auch kennengelernt hatte. Du musst keine Angst haben, es ist alles in Ordnung mit ihm.“ „Das ist gut“, flüsterte Fuchs, seine Augen waren dunkel und sahen an mir vorbei. Er atmete leicht aus. „Das ist sehr gut.“ „Er sagt, es tut ihm leid, und er will dich sehen.“ Fuchs schüttelte den Kopf, einige Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. „Nein, ich weiß nicht, ob ich das kann. Es gibt so vieles, über das ich noch nachdenken muss.“ „Meinst du wegen deines...wegen deines Arms?“ Er biss sich auf die Lippe. „Auch. Ich möchte nicht, dass er das sieht. Ich war betrunken, als ich das getan habe; ich war in Panik nachdem ich ihn so gesehen hatte, ich dachte, ich hätte meine Existenzberechtigung verloren. Der Sinn meines Lebens hatte sich vor meinen Augen aufgelöst, verstehst du, und ich habe angefangen zu trinken, um nicht darüber nachdenken zu müssen, weil ich solche Angst davor hatte. Ich begreife schon, dass ich überreagiert habe; aber in diesem Moment, an diesem Tag, konnte ich nicht mehr weiter. Ich kann es nicht erklären. Ich dachte, ich hätte meine Vergangenheit hinter mir gelassen; aber es war, als hätte ich die ganze Zeit nach vorne gesehen, und ich hatte das Gefühl, dass ich erst jetzt, als ich niemanden mehr an meiner Seite hatte, der mit mir gemeinsam nach vorne sah, tat, was ich die ganzen Jahre vermieden hatte, und zurückblickte, und merkte: meine Vergangenheit war nicht weit entfernt, sondern stand mit gebleckten Zähnen direkt in meinem Rücken. Ich habe so viele Dinge getan, die mir das Recht nehmen, noch auf dieser Welt zu leben, in den Augen jedes objektiven Beobachters; und ich meinte, nur die logische Konsequenz ziehen zu müssen und mich aus dieser Welt zu entfernen, die mich nicht mehr brauchte, indem Sakuya mich nicht mehr brauchte. Es war wie ein Lichtblitz in meinen Gedanken; ich hatte dieses Band zerschnitten, das er mir geschenkt hatte; er hatte es selber um meinen Arm geknotet, und es kam mir so vor, als sei es das letzte, was mich noch mit ihm verband, und weil ich es nicht ertragen konnte, hatte ich es durchtrennt. Und dann saß ich dort, und ich hatte ein Messer, und keine Ausrede mehr, noch davonzulaufen vor meiner Vergangenheit, und da...“ Er war immer leiser geworden und brach ab. „Ich habe dein Band draußen gefunden“, sagte ich leise. Fuchs sah mich stumm aus traurigen Augen an. „Möchtest du es wieder haben?“ Er schwieg eine Weile, nickte dann stumm. Ich fischte es aus meiner Tasche und drückte es ihm in die Hand, seine Finger schlossen sich fest darum. „Wie geht es ihm jetzt?“ „Es geht. Er macht sich schreckliche Vorwürfe deinetwegen. Er hat seit Donnerstag das Gefühl, dass dir etwas passiert ist. Die anderen versuchen ihn ein bisschen abzulenken, aber heute Vormittag war er lange alleine mit dem Motorrad weg. Er sitzt immer bei uns, aber er ist in Gedanken ganz woanders.“ „Sagst du ihm bitte, dass es mir gut geht? Und dass es nicht seine Schuld ist?“ Ich nickte. „Fuchs...“ „Ich komme nicht mit.“ „Bitte!“ „Bitte sag Sakuya nur, dass er sich keine Sorgen machen muss. Ich bleibe hier. Vorerst.“ „Und danach?“ „Ich weiß noch nicht.“ „Bitte geh nicht fort.“ Ich hielt mich an seinem Arm fest, unwillkürlich. „Bitte nicht.“ Er sah aus traurigen grünen Augen auf den Boden, an mir vorbei. Seine Stimme war fast unhörbar, als er sprach, eine Hand auf meinen Arm gelegt. „Momentan habe ich gar nicht die Kraft, irgendwohin zu gehen.“ Fuchs: Immer nur an dich In den Tiefen des Winters erfuhr ich schliesslich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt. - Albert Camus Ich lag auf dem Bett, nachdem die zwei gegangen waren, unter der Auflage, dass sie niemandem verrieten, wo sie mich gefunden hatten. Ich hatte ja gar nicht gewollt, dass jemand erfuhr, wo ich war, um genau solche Szenen zu vermeiden – jemanden mit meinem Anblick zu verletzen. Aber dann war Antti hochgekommen und hatte gesagt, dass die beiden unten waren, und es hatte mir so leid getan... Ich wollte nicht, dass sich jemand meinetwegen schlecht fühlte oder Sorgen machte, nicht noch mehr als bisher, zumindest. Und ich war mir ziemlich sicher, dass Jamie und Junya Menschen waren, denen ich vertrauen konnte; zumindest Jamie war eine freundliche Seele, die ihr Versprechen nicht brechen würde, und ich hoffte auf Junyas Kooperation. Ich wollte niemanden sehen. Ich musste nachdenken. Karasu war wortlos wieder ins Zimmer gekommen, nachdem die zwei sich verzogen hatten, und saß jetzt auf dem Boden, stimmte seine Lieblingsgitarre, Zigarette im Mund. Er sprach mich nicht an, und ich war dankbar dafür; seine Anwesenheit störte mich nicht, im Gegenteil, ich fühlte mich immer beruhigt, wenn er im Raum war. Man könnte meinen, dass er mich nervös machte, aufgrund der gemeinsam gemachten Erfahrungen, und weil ich ihn sexuell nach wie vor höchst anziehend fand, und weil uns wenig mehr verband als eben der Sex – aber dennoch, ich fühlte mich absurderweise wohl bei ihm, auch wenn er wirklich fies sein konnte, und das auch noch mit voller Absicht. Vielleicht gerade deswegen. Er wäre nicht hier, wäre es aus Mitleid. Es war gut, zu wissen, dass jemand, zu dessen Spielzeug ich mich freiwillig wieder und wieder gemacht hatte, mich dennoch als Mensch ernst nahm. Und ich war auch dankbar, dass er keine Notiz von mir nahm, weil ich Angst hatte vor dem, was mich dann noch mehr verwirren könnte. Zu gern hätte ich auch gewusst, was in Karasu vorging, aber ich hütete mich zu fragen – wahrscheinlich hätte er mir sowieso nicht geantwortet. Ich wurde nicht schlau aus seinem Verhalten, was mich wenig wunderte; ich kannte ihn so gut wie gar nicht, letztendlich. Ich musste fokussiert bleiben; ich wollte nie wieder in das Chaos abrutschen, aus dem ich gerade erst hervorgegangen war. Und doch musste ich die ganze Zeit an Sakuya denken, ich sah es genau vor mir, wie Jamie ihn beschrieben hatte. Ich kannte ihn zu gut, um nicht bis ins kleinste Detail zu wissen, wie er aussah, wenn er sich Vorwürfe machte. Ich sah seine scharfen grauen Augen, sah, wie er ganz leicht nur die Brauen zusammengezogen hatte, als sähe er in die Sonne. Ich sah seine verkrampften Hände, rau von jahrelangem Kämpfen, feine Narben auf dem Handrücken; sah den angespannten Körper, wie den eines Raubtieres, die Muskeln, die nie mehr ganz weich werden würden, sondern immer hart, immer, als hätte das Schicksal Stahl aus ihnen gemacht. Und der Drang, zu ihm zu gehen, wurde fast übermächtig; wenn es stimmte, was Jamie gesagt hatte, würde er sich freuen, mich zu sehen, oder wäre er genauso befangen wie an dem Tag, an dem er in unser altes Zimmer gekommen war? Er hatte mich an jenem Tag angesehen, als sei ich ein Fremder. Das hatte mich unglaublich verletzt; auch wenn es mich nicht hätte überraschen dürfen. Ich wünschte, er würde mich so ansehen wie früher. Ich wollte sein fröhliches Lachen hören, mehr als alles andere, wollte seinen Arm um meine Schulter spüren, seine leise Stimme hören, die mir vorlas. Ich wünschte mir nichts mehr als das. So viele kleine Dinge, die mir früher so selbstverständlich erschienen waren. Jetzt erst merkte ich, wie wichtig sie tatsächlich gewesen waren. Alle diese Dinge, die Sakuya ausmachten...seine sanfte Art seinen Freunden gegenüber, seine unglaubliche Sturheit, sein Drang seine Lieben zu beschützen, seine geschmeidigen, kontrollierten Bewegungen, sein haltloses Lachen wenn ich ihm etwas Komisches erzählte, wie er sich an mich kuschelte wenn er neben mir einschlief, sogar wie er mich genervt anknurrte wenn ich ihn aus dem Schlaf riss. Und ich merkte, dass mir die Vorstellung, Sakuya machte sich meinetwegen Vorwürfe, wehtat. Ich wollte das nicht. Ich hatte nie gewollt, dass es ihm schlecht ging. Ich hatte immer, mein ganzes Leben lang, nur gewollt, dass es ihm gut ging, dass er glücklich war, egal wie. Ich sah auf, als Karasu mich ansprach, und merkte dann erst, dass er aufgehört hatte zu spielen, und mich undeutbarem Ausdruck in den Augen musterte, im Schneidersitz, Instrument auf dem Schoß. „Winselst du immer noch diesem Volltrottel hinterher? Du musst ja wahnsinnig verliebt sein.“ „Das hat damit nichts zu tun“, murmelte ich. „Wirklich, Karasu, ob ich in ihn verliebt bin oder nicht, spielt schon lange keine Rolle mehr. Ich kann es einfach nicht ertragen, ohne ihn zu leben. Er bedeutet mir alles.“ I'm unclean, a libertine And every time you vent your spleen, I seem to lose the power of speech, You're slipping slowly from my reach. You grow me like an evergreen, You've never seen the lonely me at all Without you, I'm nothing. Take the plan, spin it sideways. Without you, I'm nothing at all. -aus: Placebo: Without You I'm Nothing Zwischenspiel: Fuchs: So etwas wie Frieden Wirklich gute Freunde sind Menschen, die uns ganz genau kennen, und trotzdem zu uns halten. Marie von Ebner-Eschenbach „Was hast du da?“ Sakuya spähte über meine Schulter; wir saßen in einem Seitenflügel einer kleinen lokalen Kirche am Tisch; hier gab es oft etwas zu essen für Kinder ohne Eltern, wir kamen öfters hierher, fast täglich. Die Priester kannten uns, einer von ihnen unterrichtete uns an Sonntagen. Es war voll gewesen, als wir kamen, und wir hatten uns unseren Platz am Tisch hart erstreiten müssen, aber das war eigentlich nie ein Problem für uns gewesen; schwierig wurde es erst, wenn kleine Banden von vier, fünf oder mehr Kindern gegen uns standen, dann zogen wir uns meist zurück. Wir konnten es uns nicht leisten, uns wegen eines lumpigen Eintopfes grün und blau schlagen zu lassen. Zu zweit allerdings kamen wir meist gut zurecht, wir hatten unsere Tricks. Uns gegenüber saß ein Junge, den wir vom Sehen kannten, und schaufelte sich Kartoffeln in den Mund, ansonsten waren wir inzwischen relativ abseits; Saku mochte es nicht, mitten in der Masse zu sitzen, und wir hatten keine Freunde unter den anderen Kindern, blieben lieber unter uns. Es war ohrenbetäubend laut im Raum trotz der Versuche der Betreuer, ein wenig Ruhe einkehren zu lassen, und von Ordnung keine Spur, weswegen Saku und ich beide unseren Teller mit einem Arm an uns gezogen hielten beim Essen. Es war nicht viel, was wir bekamen, aber es war warm, und es machte satt. Ich gab auch gerne vor, Christ zu sein, wenn die Leute hier das hören wollten. Ohne die Kirchen hätten wir vielleicht einige Winter nicht so gut überlebt. Die untergehende Sonne flackerte durch die milchigen Fensterscheiben und ließ verschütteten Eintopf auf dem abgewetzten Holztisch glänzen; Sakuya leckte den letzten Löffel ab und beugte sich zu mir. Er trug keine Waffen mehr, ich auch nicht, das war hier verboten, und leider wussten die Leute hier, wo Kinder wie wir üblicherweise auch unsere kleineren Waffen versteckten, und nahmen sie uns diskussionslos ab. Ich fühlte mich unwohl und nackt ohne meine Waffen, mein kostbares und wohlbehütetes Sturmgewehr, und meine Messer, die ich im Gegensatz zu ersterem meist eher als Werkzeug benutzte. Sakuya hatte eine alte Jacke an, der Schal, den er üblicherweise vorm Gesicht trug, hing ihm jetzt nur auf die Brust, so dass auch er seltsam schutzlos wirkte; mir gefiel das, ihn so zu sehen, es erinnerte mich an früher. Seine pechschwarzen Haare hatte er mit einem einfachen Band um die Stirn zurückgebunden, sie waren unordentlich im Nacken abgeschnitten, das hatte ich gemacht. Wenn sie zu lang waren, störten sie ungemein. Seine dunklen grauen Augen funkelten über dem schmalen Gesicht, das einzige an ihm, was nicht schmutzig war. „Was ist das?“ „Das hatte der Mann vorhin dabei, ich habs mitgenommen“, verteidigte ich mich, im Vorneherein wissend, dass das nicht gut ankäme. Ich hatte recht. „Bist du bescheuert, du sollst keine Leichen fleddern!“, zischte er mich an; einer der Priester sah zu uns, und Sakuya zwang sich zur Ruhe. Streit wurde hier nicht toleriert, zu viele schlechte Erfahrungen. „Na und, machst du auch oft genug“, giftete ich zurück. „Lass mich doch! Er brauchts ja nicht mehr!“ „Ja mach ich schon, aber nur Geld und Essen!“ „Das stimmt überhaupt nicht, ich hab genau gesehen wie du einem Mann das Taschenmesser weggenommen hast!“ „Das habe ich aber nicht mehr, das hab ich weggegeben!“ „Na und, vielleicht geb ich das hier auch weg!“ Ich hielt das Buch, denn ein Buch war es, an mich gedrückt. „Hör auf zu heucheln Saku! Ich habs gefunden und habs mitgenommen, ist ja nicht so dass wir ihn deswegen umgebracht hätten -“ Ich verstummte, als einer der Priester zu uns kam, und Sakuya fing schnell an, einen Löffel aus meiner Schüssel zu nehmen, die ich ihm hinschob, mich selber noch einmal bedienend. Wenn wir aufgegessen hatten, mussten wir nämlich gehen. „Lass mich mal sehen“, zischte Sakuya, als der Mann wieder außer Hörweite war. „Nein! Du wolltest es eben nicht haben!“ „Jetzt lass mich halt sehen, ich will das auch lesen!“ „Aber ICH habs gefunden -“ „ICH hab ihn aber erschossen, deswegen darf ich auch sein Buch lesen!“ „Lüg doch nicht, ICH hab ihn erschossen, du triffst doch die Christ-Erlöser-Kathedrale nicht wenn du davorstehst -“ „Jetzt zeig doch mal her!“ Er griff über mich und versuchte mir das Buch zu entwinden, ich hielt ihn mit einem Arm von mir gedrückt, mehr oder weniger erfolgreich. „Nein! Such dir selber eins!“ „Gib das her!“ Er stürzte sich halb über mich und schloss die Finger um das Buch, ich duckte mich von ihm weg und stieß ihm die Knie in die Seite um ihn von mir zu stoßen. „Das gehört MIR - !“ „Wenn, dann gehört es uns beiden, jetzt lass los!!“ Er riss mir das Buch aus der Hand, er war schon damals etwas stärker als ich. Ich spürte mich auf einmal am Kragen gepackt und hörte Saku fauchen wie eine getretene Katze, als wir von den Sitzen gerissen wurden; ich wand mich automatisch und versuchte, die Hand zu greifen, die mich fest im Griff hatte, doch ich konnte gar nicht so schnell ausschlagen, wie ich mich nach einem verhältnismäßig kurzen Flug auf dem Stein vor der Tür wiederfand, kühler Wind traf mein Gesicht, und ich gestehe, ich war völlig überrumpelt, starrte ein wenig dümmlich auf das Buch, das jetzt vor mir im Schmutz lag. Sakuya war schnell wieder auf den Beinen, trat aufschreiend gegen die Tür, die hinter uns zugeschlagen war, schnellte dann zu mir herum. „Das ist alles nur deine Schuld!“ „Meine Schuld?! Du hast doch angefangen -!“ Ich wich aus, als er auf mich zusprang, und packte ihn an der Jacke, um ihn auf den Boden zu werfen, er riss sich jedoch mit einer Drehung los und griff seinerseits meine Arme, stieß mich auf den Boden; ich bekam Schneematsch ins Gesicht und wurde langsam ernsthaft sauer. „Du blöder Idiot, wegen deines dummen Buchticks sitzen wir jetzt draußen!“ Ich griff eine Handvoll Schnee und warf sie ihm ins Gesicht; damit hatte er nicht gerechnet und spuckte, als ihn die Ladung traf; jetzt war er allerdings langsam wach und voll da, ein zweites Mal würde ich ihn nicht treffen. „Behalt doch dein Scheißbuch!“, brüllte er, breitbeinig und mit geballten Fäusten vor mir stehend, die Augen in seinem blassen schmutzigen Gesicht funkelten; ich suchte automatisch sicheren Stand auf dem vereisten Boden und mit den Augen nach einer Lücke in seiner Deckung; packte das Buch von Boden und schmiss es ihm mit voller Kraft entgegen. „Da hast du das Drecksding!!“ Saku duckte sich unter dem Wurfgeschoss weg und ich stürzte mich auf ihn, als er so zur Seite wich, packte ihn um die Mitte und riss ihn mit mir zu Boden; ich wusste sehr gut, dass ich nur eine Chance gegen ihn hatte, wenn ich ihn so schnell wie möglich angriff, ehe er eine Gelegenheit hatte mich seinerseits anzugehen, und seine Arme und Beine fixierte, und so klemmte ich seine Beine zwischen meine, er war allerdings schnell, stärker als ich, und gewandt genug, um sie mir zu entreißen und mir das Knie in den Bauch zu rammen, dass ich keuchend zurückwich, auf den Boden gekauert, ihm den Kopf in den Leib stoßend, als er mir entgegenkam; Saku griff mich kurzerhand und schleuderte mich auf den Boden, meine Hände hinter den Rücken haltend, Ellbogen in mein Kreuz gedrückt, ich hatte das Gefühl, als hätte mich ein Hammer getroffen, trat meinerseits aus, allerdings ohne ihn zu treffen; er hatte allerdings keinen festen Griff an meiner Jacke bekommen, so dass ich mich aus dem Kleidungsstück wand und ihn auf den Boden warf, meine Jacke um ihn wickelte, um ihn am Flüchten zu hindern; er biss mich in den Arm, als ich mich neben seinem Gesicht aufstützte, und ich riss den Arm hoch und drückte sein Gesicht in den Schnee, bis ich ihn prusten hörte; als ich ihn losließ, blitzte mich ein paar graue Augen wild an wie die einer tollwütigen Katze, und ich spürte den Biss an meinem Arm schmerzhaft, er hatte mich ziemlich erwischt, ich hörte ihn allerdings selber husten und sah dass seine Lippe aufgesprungen war, Saku leckte sich schmutzigen Schnee und Blut von den Lippen. Ich spürte plötzlich, wie sich sein schmaler Körper unter mir versteifte wie ein Brett, und ließ ihn los. „Was ist?“ „Die Waffen.“ Ich stand ruckartig auf. „Shit!“ Unsere Waffen waren noch drinnen. Wir ließen sie nie irgendwo zurück. Wir brauchten sie. Dringend. Sofort. Ohne sie waren wir Hundefutter. Ich griff ihn am Arm und zog ihn auf die Füße, er wischte sich den restlichen Schnee vom Gesicht. „Du blutest.“ „Weiß ich.“ Sakuya saugte an seiner Lippe und spuckte etwas Blut in den Schnee, hob dann das Buch auf und gab es mir. Ich steckte es in meinen Rucksack. „Wie kommen wir rein?“ „Kommen wir übers Dach?“ Ich sah zur Kirche, die vor uns aufragte, monumental, grau und kalt, die Fenster im Seitenflügel, in dem wir gesessen hatten, waren zu hoch, um hineinzusehen, und die Seitentür war verschlossen; zudem kämen wir dort nicht ungesehen hinein. Das Dach, mit grauen Schindeln gedeckt, fiel steil ab; ich sah einige wenige Dachfenster. Unsere Waffen lagerten in der Sakristei, auf der von uns nicht einsehbaren Seite der Kirche. „Nein. Keine Chance.“ „Vorne rein?“ „Wir müssen hinten rein.“ Sakuya griff meine Hand und zog mich mit sich, eng an der Wand der Kirche entlang; hier hinten sahen wir keine Fenster, allerdings war diese Stelle auch nicht einsehbar, so dass uns niemand bemerkte. Mir fiel eins der Kirchenfenster auf, in einer Ecke hinter dem Seitenschiff; die Kirchenmauer war dick, und das Glasfenster saß etwa in der Mitte. „Saku.“ Ich zeigte zum Fenster, er musterte es, runzelte ein wenig die Stirn, nickte dann. Ich machte ihm eine Räuberleiter, als er behände auf die äußere Fensterbank kletterte, zog mich dann an seinem ausgestreckten Arm nach oben und wartete, während er sicheren Stand suchte, sich irgendwann darauf festlegte, einen Fuß in eine Ecke zu klemmen, den anderen mit seinem Körpergewicht möglichst fest stehen lassend. Er faltete seine Hände und nickte mir zu. Ich stieg darauf, hielt mich eine Weile an seinen Schultern fest, wartend, bis er mein Gewicht ausgeglichen hatte. Nach unten sah ich gar nicht erst. Wir standen auf einer Fensterbank mit einer Breite von vielleicht vierzig Zentimetern, und das Dach war noch einmal zwei Meter über uns. Ich war gerade mal fast einen Meter sechzig groß, und Sakuya auch. Ich stützte mich mit einer Hand auf seine Schulter und stand langsam auf; ich hatte keine Angst, dass er mich fallen lassen könnte. Er hatte mich noch niemals fallen lassen. Ich wollte nur langsam machen, um sicherzugehen, dass er nicht wegrutschte. Irgendwann stand ich ganz, auf einem Bein auf seinen Händen, die Hände in den abgeschnittenen Handschuhen am eiskalten Buntglas. Sakuya sah zu mir auf. „Sag, wenn.“ Ich nickte, richtete den Blick nach oben, mich am Glas haltend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da war das Dach, etwa einen Meter über mir; wenn ich die Arme ausstreckte, einen halben. Ich fixierte die Dachkante und ließ mit einer Hand vom Glas ab, meinen ganzen Körper anspannend. Ich atmete tief aus. „Jetzt.“ Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde ich doch nach hinten wegkippen, als Sakuya die Arme anspannte und mich mit aller Kraft, die er hatte, nach oben drückte; ich spürte, wie sich mein Fuß von seinen Händen löste, meine Hand schnappte zu und erwischte die Dachrinne, die gefährlich ächzte, und ich quietschte erschrocken auf, als ich ein wenig abrutschte. „Hält!“, hörte ich Sakuya von unten rufen, und ich zog mich keuchend nach oben, fast keinen Halt findend auf den glatten Schindeln, aber Sakuya hatte recht, die Rinne hielt lange genug, dass ich meinen dünnen Körper auf das Dach ziehen konnte, wo ich erst einmal eine Weile flach auf dem Bauch liegen blieb, spürte wie meine Muskeln zogen in der kalten Luft. Es war sehr abschüssig, und aufstehen würde ich sowieso nicht können. Ich robbte auf dem Bauch ein wenig höher, bis ich eine einigermaßen sichere Stelle erwischte, wo ich mich gegen ein eingelassenen Dachfenster stemmen konnte. Ich trat etwas dagegen, um den Halt des Rahmens zu prüfen, er war aus Metall und stabil. Neben mir sah ich noch einen Haken, gegen den ich den anderen Fuß stemmte, bis ich mit dem Rücken auf dem Dach lag, beide Füße sicher abgestützt, und in meinen Rucksack greifen konnte, um Sakuya das Seil hinabzuwerfen. Ich schlang mir das andere Ende um den Oberkörper, dann um den Arm, suchte solange mit den Fingern, bis ich es sicher im Griff hatte; erst als ich „jetzt“, rief, spürte ich eine Bewegung am anderen Ende, und kurz darauf Sakuyas Gewicht; das Seil grub sich unangenehm in meine Haut, sogar durch die Kleidung, und ich biss die Zähne zusammen. Dass ich von hier an alleine weiterging, kam dennoch nicht im Traum in Frage. Wir taten nie etwas allein, wenn es sich vermeiden ließ. Daher waren wir noch immer am Leben. Er robbte neben mich, sah sich zufrieden um, während ich das Seil aufrollte. „Sag ich doch, übers Dach.“ Durch das Dachfenster hineinzukommen, war danach relativ einfach; niemand sah uns, als wir mit einem Stoßseufzer der Erleichterung unsere wichtigsten Besitztümer wieder an uns nehmen konnten. Wir verschwanden durch den Hinterausgang, von innen waren die Riegel relativ einfach zu öffnen, was mich erleichterte; ich hatte kein gesteigertes Interesse daran, vom Dach zu fallen und mir den Hals zu brechen. Mein Arm tat immer noch weh von Sakuyas Biss, ich spürte ihn ein wenig pochen, als wir in einer Seitenstraße verschwanden. „Saku.“ „Hm?“ Er wandte sich zu mir um, ich sah seine aufgesprungene Lippe, die Waffe geschultert. „Für vorhin wirst du noch büßen.“ „Du gibst also zu, dass ich gewonnen habe?“ Ich schnaubte. „Bestimmt nicht!“ „Warum muss ich dann büßen?“ Ich stieß ihn in den Rücken, so dass er einen Schritt vorstolperte, er kicherte und nahm mich um die Schulter, zog mich mit sich, den Arm um mich gelegt. „Ich hab gewonnen. Das Buch gehört mir.“ „Warts nur ab. Irgendwann liegst du unter mir und bettelst um Gnade.“ Ich lachte erstickt, als er mir mit einer Hand den Mund zuhielt; wir schwenkten in eine Nebenstraße ab, in der wir einen unserer Schlafplätze hatten, oben in einer Häuserruine. „Shhhht, Fuchsi, nichts da! Ich und betteln? Träum weiter.“ Er hatte mich das Buch behalten lassen. Ich ahnte damals noch nicht, dass es das erste von vielen, vielen Büchern sein würde; dass dieser Tag Sakuya packen und nicht mehr loslassen würde, in seiner ewigen Suche, in seinem Hunger nach Schönheit in Versen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass aus uns einmal Bibliophile werden würden, wie wir es später waren; Sakuya und seine Dichter, ich und meine Denker. Vielleicht, dachte ich mir irgendwann einmal rückblickend, wäre sonst alles ganz anders gekommen; vielleicht wären wir nie die Menschen geworden, die wir waren – mit Sicherheit nicht. Vielleicht wären wir gestorben. Vielleicht hätten wir sterben sollen. Vielleicht hätten wir nie so vielen Menschen neuen Lebensmut geben können, wenn ich nicht an diesem einen besonderen Tag nicht hätte widerstehen können und das Buch mitnahm, das der Tote in seiner Tasche mit sich getragen hatte. Wir konnte beide lesen und schreiben, wir taten es nur nicht; wozu sollten wir auch? Es wäre völlig absurd gewesen, in einer gewalttätigen Welt wie der unseren, in der wir jeden Tag um unser Leben fürchten mussten, in der wir nicht einmal davon ausgehen durften, erwachsen zu werden, zu sitzen, Bücher zu lesen. Doch genau das taten wir in dieser Nacht. Wir hatten unseren kindischen Streit um den Gedichtband völlig vergessen; es war nicht unser erster Streit gewesen und würde nicht unser letzter sein, wir waren trotz allem, was uns verband, nur zwei heranwachsende Jungen - aber wir hatten uns niemals ernsthaft zerstritten, ich wusste, ich konnte mich immer auf ihn verlassen, wenn es darauf ankam; nicht, weil wir aufeinander angewiesen waren, sondern einfach nur, weil wir Freunde waren, und weil ein gemeinsames Lachen jede blutige Lippe dreifach aufwog. Kein Streit der Welt würde uns jemals so weit treiben können, dass wir getrennte Wege gingen, meinte ich, und es waren solche unbedeutenden Kleinigkeiten, über die wir uns wirklich in die Haare bekommen konnten; bei den großen Dingen waren wir immer ein Herz und eine Seele. Ich war froh darüber, so froh, dass ich meist am Ende über unsere kleinen Kämpfe lachte. Selbst wenn ich an diesem Tag etwas säuerlich die Bissspuren an meinem Arm untersuchte - keine tiefen, aber dennoch - während Sakuya in einem winzigen Zimmerchen im vierten Stock, dessen Außenwand fehlte, unser Nachtlager herrichtete. Wir hatten eine Sammlung an Decken in dieses Haus gebracht, in dem wir seit einigen Nächten schliefen; mehrere solcher Orte hatten wir in der ganzen Stadt verteilt. Hier waren wir vor Wind und Schnee geschützt, es war schwer, hineinzukommen, wenn man nicht so klein und leicht war wie wir, und es war von außen uneinsehbar, was bedeutete, dass wir diesen Ort wirklich mochten, auch wenn nicht viel Platz war, doch wir brauchten nicht viel, wenn wir aneinandergelehnt einschliefen wie zwei streunende Hunde. Sakuya hatte in einer Nische der Wand eine Öllampe angezündet, türmte unsere Decken davor auf; er drehte die Lampe so, dass niemand von unten das Licht sehen konnte, ich sah zuckende Schatten über sein Gesicht tanzen, als er das Streichholz auspustete. Ich hatte mir selber bereits eine Decke genommen und um meine Schultern gelegt, rutschte jetzt nach hinten zu ihm und legte das Gewehr neben unser provisorisches Bett. Es war schnell dunkel geworden, und der Himmel war sternenklar; wir sahen sehr gut des Nachts, und die kleine Lampe spendete genug Licht, um die Kammer zu erhellen. An den Wänden waren Reste von Fliesen zu erkennen, zersprungen, mit einem blauen Muster; es war kein Bad gewesen, dafür war es zu klein, aber vielleicht eine Abstellkammer für eine Waschmaschine oder ähnliches. „Zeig mal deinen Arm.“ „Ist schon okay, du hast nicht fest zugebissen.“ Ich reichte ihm dennoch den Arm, den er sich ernst nahm; so nah aneinander, wie wir jetzt saßen, war es wärmer, und die kleine Flamme erweckte fast den Anschein von Gemütlichkeit, sie erinnerte mich an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit, als ich noch eine Familie hatte, als Sakuya einfach mein bester Freund gewesen war, und nicht alles, was ich noch hatte im Leben. Ich vermisste diese Zeit nicht einmal. Sie kam mir so unwirklich vor, als erinnerte ich mich an einen undeutlichen Traum, den ich vor Jahren geträumt hatte. Saku war jetzt meine Familie; dieses kleine Zimmer, mit den zerbrochenen Fliesen, den alten Lumpen die uns als Decken dienten, mit den Fledermäusen unter der Decke und den Sternen, die durch das klaffende Loch in der weggesprengten Wand schienen, war jetzt mein Zuhause. Zumindest für diese Nacht. Ich erinnere mich, wie gebannt ich an Sakuyas Lippen hing in dieser Nacht. Er saß an die Wand gelehnt, so dass der Schein der kleinen Lampe auf das Buch in seinen klammen Fingern fiel, im Schneidersitz; ich hatte den Kopf in seinem Schoß liegen, die Decken eng um mich geschlungen; wenn ich den Kopf ein wenig drehte, konnte ich sein schmales Gesicht sehen, die grauen Augen gefesselt, leuchtend auf die Seiten gerichtet, ich sah das Glitzern in ihnen, das mir so vertraut werden sollte in den Jahren darauf, spürte seine linke Hand auf meiner Schulter, die rechte hielt das Buch auf seinem anderen Bein. Wie er da saß, bis auf sein Gesicht schwarz vor der in der Nacht grauen Fliesenwand, die kleine Flamme in seinen ernsten Augen widergespiegelt, der schmale, sehnige Körper warm an meinem, sah er so viel älter aus, als er war, und zugleich soviel jünger; ich erinnere mich, dass ich dachte, er sah aus wie ein zeitloses Wesen, wie ein Geist, oder ein Engel. Unten in der Stadt konnte man kurz jemanden brüllen hören, in der Entfernung einen Motor, dann war es wieder ruhig, die Schatten der Fledermäuse, die hin und her huschten, zogen vor den Sternen vorbei, über dem kalten Himmel Moskaus. Sakuyas Stimme war leise, erst unsicher gewesen, aber dann kräftiger geworden; die Worte flogen wie Feuer von seinen Lippen, als sein Augen über das Papier huschten; ich schloss dann und wann die Augen und lauschte nur, fasziniert, erschüttert, glücklich, Sakus Hand leicht auf meiner Schulter ruhend, während er mir Seite um Seite vorlas, seine Stimme leise singend vor Glück, jeder Satz, jede Zeile ein kostbarer Schatz für uns beide, die so lange nur ineinander so etwas wie Frieden gefunden hatten. Ich hörte Sakuyas Worte über mich hinwegstreichen, Gedicht um Gedicht rezitierend, in die Mitternacht gehaucht von einer heiseren Jungenstimme; unbemerkt in den Trümmern der Stadt, aber ich lauschte auf jedes Wort, wie warme Milch schienen sie in meinen Körper zu dringend; selbst wenn dieser Moment, diese Worte, verschwindend gering waren in der Nacht der zerbombten Großstadt, vielleicht ein wenig lächerlich sogar angesichts der Welt, in der wir lebten, für uns waren sie magisch. Und sie änderten unsere Welt. Sakuya flüsterte fast, als er das letzte Gedicht, es war Kljuschnikow, dieses ersten mit Büchern verbrachten Abends verlas, ich spürte seine Finger über meine Schulter streicheln, die Augen halb geschlossen. „Ich begreife deinen leidenschaftlichen Blick, Ich verstehe den Sinn deiner Worte: Ich sehe alles .... Aber, mein schöner Freund, Ich bitte nicht um deine Liebe! Die Trauer meiner kalten Seele, Hat sie nicht die Kraft zu heilen: Ich kann nicht lieben, wie ich will, Ich kann nicht lieben, so wie du. Im Licht des Tages, in der Dunkelheit der Nacht, Sehe ich blasse Lippen, Und es schauen mich weinende Augen Mit reiner Liebe an.... Unbegreiflich, unwillkürlich Ist sie überall und immer bei mir Und auf deiner Brust, mein lieber Freund, würde ich anfangen an eine andere zu denken.“ Zwischenspiel: Sakuya, Fuchs, Ilja, Diego, Rose & Valentin: Raus! Sommer ist die Zeit, in der es zu heiß ist, um das zu tun, wozu es im Winter zu kalt war. Mark Twain Es war einer dieser Tage, in denen jede Bewegung zuviel ist. Es war erst Juli, und doch hatte sich eine stickige Hitze breitgemacht, die nicht einmal ein Gewitter ankündigt, sondern einfach nur knallendheißen Sonnenschein mitten durch die Fenster, die natürlich keine Vorhänge hatten; niemand hatte wirklich Appetit auf Mittagessen gehabt, und so saßen nun alle Bewohner des Hauses im Wohnzimmer, beziehungsweise lagen auf dem Sofa, wie Valentin, der die Beine langgemacht und das schwarze T-Shirt bis über den Bauch nach oben gekrempelt hatte, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. „So ein langweiliges Wetter hatte ich an meinem Geburtstag noch nie!“ Rose, der sich einmal längs auf den Sessel gelegt hatte, grinste. „Im Juli? Was sonst?“ „Gewitter, mein Freund!“ „Du hast doch Cds mit deiner schrecklichen Musik bekommen; schalt die ein, dreh den Bass auf, ist fast wie Gewitter.“ Er lachte, als der Blonde ihn mit einem Augenrollen ansah. Fuchs lag auf dem Boden, träge, in einem olivgrünen ärmellosen Top, den Kopf auf Sakuyas Bauch gebettet, welcher versonnen aus dem Fenster sah. Der Rothaarige sah auf. „Wir reiten aus.“ „Was?“ Vier Augenpaare sahen den schlanken Schützen konsterniert an, Sakuya lachte, so dass Fuchs den Kopf vom bebenden Bauch hob und sich aufsetzte. „Ernsthaft. Als Geschenk zu deinem Geburtstag. Wir reiten aus. An den Fluss. Abkühlen.“ Valentin wirkte ein wenig verlegen. „Ich hab doch schon von euch allen was bekommen.“ „Hör nicht auf ihn, er sucht nur eine Ausrede, sich wieder auf ein Pferd zu schwingen.“ Sakuya griff von hinten in Fuchs' Haar und strich es ihm einmal gegen den Strich in die Stirn, Fuchs fing Sakuyas Hand ein und schüttelte sich seine zerzausten Haare zurecht. „Dafür brauch ich keine Ausrede. - Val, hast du Lust?“ „Schon...“ Der zierliche Blonde setzte sich auf, drehte in Gedanken an einem seiner Piercings. „Habt ihr denn Lust?“ Diego, der noch nicht sehr lange im Haus lebte, zuckte etwas wortkarg die Schultern, Ilja nickte fröhlich. „Auf jeden Fall. Die? Das ist die Gelegenheit für den Test 'Motor gegen Tier'.“ Der Spanier fing nun doch ein wenig an zu grinsen. Valentin ließ den Blick über Sakuya und Fuchs schweifen, die sich am Boden kabbelten, zu Rose, der plötzlich aufrecht auf dem Sessel hockte und aussah, als habe ihm jemand gerade Weihnachten dreimal im Jahr in Aussicht gestellt. „Okay.“ Valentin stand auf, reckte die Arme in die Luft. „Raus mit uns!“ So kam es, dass nur zwei Stunden später das halbe Dutzend hoch zu Ross in die Berge ritt; die Tiere waren gemietet, Sakuya und Fuchs nutzten diese Möglichkeit sehr oft für die Jagd und konnten so den Preis um einiges drücken. Valentin, der noch nie zuvor auf einem Pferd gesessen hatte, zeigte sich etwas nervös und musste von Rose unter gutem Zureden auf das doch bei naher Betrachtung sehr hohe Tier überreden lassen; nachdem der Pinkhaarige ihn einige Runden auf dem kleinen Hof umhergeführt hatte, entspannte er sich aber merklich auf dem alten, unerschütterlich ruhigen Haflinger. Rose selber war die Glückseligkeit in Person auf seinem lebhaften Grauschimmel, ritt anfangs an Valentins Seite, konnte es aber nicht unterlassen, immer wieder vorzupreschen, gemeinsam mit Sakuya und Fuchs, die die Fortbewegungsmethode auf den starken Tierkörpern sichtlich genossen. Ilja und Diego waren mäßig gute Reiter, beide hatten bereits auf Pferden gesessen, doch beide waren ebenso zufrieden, nicht ganz solch temperamentvolle Tiere zugeteilt bekommen zu haben; Diego, der sich der Gruppe gegenüber nur langsam öffnete, wurde von Ilja immer wieder in Gespräche verwickelt, so dass er gar nicht merkte, wie er von Tag zu Tag offener und redseliger wurde, so auch an diesem. Valentin schmunzelte in sich hinein bei dem Gedanken. Saku und Fuchs waren ein ganzes Stück außer Sicht geraten, nachdem sie in vollem Galopp ihre Tiere an der Gruppe vorbeigetrieben hatten, in den Steigbügeln aufgerichtet beim Versuch, den anderen zu überholen, und nach einem gewagten Satz über einen Graben aus Valentins Blickfeld verschwunden, so dass Rose jetzt neben ihm an der Spitze ritt, beide schwiegen und genossen den leichten kühlen Wind, der von den Bergen her wehte. Es war nicht so, dass Valentin den Sommer grundsätzlich nicht leiden konnte. Als Kind, früher, hatte er es geliebt, in der Sonne zu sein, Picknicks zu machen, mit seinen Freunden Fußball zu spielen, ungeachtet der Hitze. Aber das war lange her, das war wie in einem anderen Leben gewesen, das war ein anderer Mensch; seitdem war viel zu viel passiert, als dass er sich jetzt noch so unschuldig über die helle Welt freuen könnte. Zu genau hatte er lernen müssen, dass nicht alles gut war, was gut aussah. Und doch... Das war vielleicht das erste Mal seit Langem, dass er seinen Geburtstag mit Freunden verbrachte, denen wirklich etwas daran lag, ihn glücklich zu sehen. Und er war glücklich. Zum ersten Mal seit Jahren meinte er, die Welt um sich herum vielleicht doch ein klein wenig lieben zu können. Einfach unmöglich - der leichte Sommerwind, den er auf seinem Bauch spürte, da er nach wie vor sein T-Shirt der Hitze wegen hochgeknotet hatte, der blaue Himmel, die Wärme der Sonne, das Summen der Insekten in der Luft und der Duft nach trockenem Gras, die brachliegenden Felder links und rechts des Weges und die sanften dunkelgrünen Rundungen der Berge vor ihm – dass ihm das gefiel, würde noch sein komplettes Weltbild zerstören. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. „Was ist denn so lustig?“ Rose grinste ihn von der Seite her an, die Sonne leuchtend auf seinem gefärbten Haar. Der Brite saß aufrecht zu Pferd, die Zügel locker in der Hand; das Tier war jung und lebhaft und Rose schien überglücklich auf seinem Platz, hatte seine Jacke um die Hüfte gebunden so dass Valentin ihn in einem hellen, anliegenden T-Shirt sah, ein seltener Anblick dieser Tage, ging Rose doch selbst im Sommer lieber hochgeschlossen, und nur, wenn er sich wirklich wohlfühlte, in kürzerer Kleidung. „Das fragst du mich? Du strahlst selber wie der helle Morgen. Hey, Rose, du bist mir unheimlich; wo ist die britische Zurückhaltung geblieben?“ „Auf dem Boden.“ Rose strich sich die Haare aus der Stirn und lachte. „Ich hab als Kind fast den ganzen Sommer zu Pferd verbracht.“ „Ja, ich weiß, du hast es erzählt.“ Valentin grinste Rose an, der schmunzelte zurück. Es war selten, Rose so emotional zu erleben, er war meist eher in sich gekehrt; Valentin mochte das, da er selber introvertiert war und lieber seine Ruhe hatte. Er glaubte nicht, dass er sich jemals mit jemandem anfreunden könnte, der seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Rose war sein bester Freund neben Sakuya, seit dem vergangenen Winter, seit sie sich getroffen hatten, er war ruhig, er war vernünftig, er war freundlich und verlässlich, Valentin könnte sich fast in ihn verlieben; fast. Dann war da Sakuya, der seinen Musikgeschmack teilte, mit dem man Tage und Nächte lang zusammensitzen konnte, redend oder schweigend, der Valentin verstand; und natürlich Fuchs, der Feuer und Flamme für Valentins Gitarrenspiel war; das tat gut, bisher hatte sich niemand wirklich für ihn und seine Hobbies interessiert. Ilja mochte er ebenfalls sehr, auch wenn sie nicht viel sprachen, aber das war nicht nötig; Ilja war einfach da wie ein Fels in der Brandung, Ilja hörte zu, wenn man reden wollte, und verstand, wenn man es nicht wollte. In den ersten Wochen von Valentins Anwesenheit im Haus hatte Ilja eine wahre therapeutische Meisterleistung vollbracht, indem er den Blonden dazu gebracht hatte, aus seinem Schneckenhaus hervorzukommen und den anderen eine Chance zu geben, sich mit ihm anzufreunden. Und siehe da, was es gebracht hatte. Nur zu Diego fand er keinen rechten Bezug; der Spanier war im vergangenen Monat zu dem kleinen Trupp gestoßen, er hatte um Essen und Unterkunft gebettelt, war einige Tage lang aufgepäppelt worden, seitdem war er geblieben, und wie es aussah, würde das auch weiterhin so sein, wie Ilja meinte. Fuchs mochte den ausgemergelten Tüftler, und Sakuya konnte sowieso niemandem etwas abschlagen; und so lebte Diego seitdem im Haus, der Himmel wusste, wieso. Nicht, dass Valentin etwas gegen ihn hatte. Er wusste nur so gut wie nichts über den schweigsamen jungen Mann; und dessen Zurückgezogenheit machte ihn misstrauisch, ohne dass ihm auffiel, dass er selbst sich im vergangenen Winter nicht anders verhalten hatte. „Träumst du?“ Rose neigte sich etwas zu ihm hinüber. „Ah, nein. Ich dachte nur gerade, das ist das erste Mal seit ich ein Kind war, dass ich meinen Geburtstag nicht alleine verbringe.“ „Absolut inakzeptabel. Du solltest sofort wieder nach Hause reiten und menschenverachtende Untergrundmusik hören.“ Valentin lachte. Es war so unglaublich warm in der Sonne. Warum lag er überhaupt in der Sonne? Er war gar nicht der Typ, mit seinen Freunden in der Sonne zu liegen. Ach, scheiß drauf. Valentin rollte sich auf die Seite, das Gras, auf dem er gelegen hatte, klebte an seinem Rücken und seinen Armen, und er wischte es ab, in die Sonne blinzelnd. Um ihn herum stand das Gras hoch, einige kleine Käfer krabbelten darin; am Horizont zogen ein paar Wolken auf, schienen aber noch sehr weit entfernt. Die Sonne schien Valentin direkt ins Gesicht, ließ ihn rot sehen, wenn er die Augen schloss, und er beschattete das Gesicht mit der Hand, als sich Rose neben ihn fallen ließ. „Hey.“ „ - Hey.“ „Hast du noch Hunger?“ Rose hob einen der mitgebrachten Äpfel. „Oh Gott, nein. Ich hab glaub ich eben mehr gegessen als sonst den ganzen Tag lang.“ Rose lachte, zeigte auf Valentins hervorstehende Hüftknochen. „Tut dir gut, ein bisschen mehr Fleisch auf den Hüften.“ „Kannst den Apfel behalten.“ Der Pinkhaarige zuckte die Schultern, biss vom Obst ab, neben Valentin sitzend, die Knie angezogen und beim Essen in den blauen Himmel sehend. „Und, wie gefällt dir dein Tag bisher?“ „Gut.“ „Trotz 'die heile Welt kann mich mal'?“ „Wann hab ich das gesagt?“ Valentin beschattete die Augen mit der Hand und setzt sich auf, die Arme streckend. „Letzte Woche erst.“ Valentin hob die Schultern. „Ausnahmen bestätigen die Regel, oder?“ „Gib einfach zu, dass du froh bist, wieder eine Familie zu haben.“ „Niemals!“ Valentin stieß Rose gespielt gegen die Schulter, der kicherte und den Rest des Apfels ins hohe Gras warf. „Das würde meinen Ruf ruinieren.“ „Ah was. Schau mal - Saku.“ Rose wies auf den Schwarzhaarigen, der sich eine Art Stockkampf mit seinem Busenfreund lieferte, während Ilja ihn anfeuerte. „Ich weiß von einigen Leuten, die sogar Angst vor ihm haben, und guck dir das Spielkind an.“ Valentin stützte das Kinn in die Hand und verfolgte ein wenig abwesend den gespielten Kampf. „Saku ist auch ganz anders als ich, viel....“ Er verstummte. „Viel was?“, lachte Rose. „...viel männlicher“, murmelte Valentin mit immer noch in die Hand gestütztem Kinn. Rose sah ihn eine Weile verblüfft an, lachte dann leise. „Oh, Val.“ Er beugte sich zu dem Blonden, der ein wenig verärgert über sich selbst auf den Boden sah und legte den Arm um ihn. „Du bist ein Mann, oder? Und ein unglaublicher dazu. Vergiss diesen männlich-unmännlich-Mist, der ist doch überholt.“ „Ja, das sagst du jetzt, um -“ „Shht.“ Valentin verstummte tatsächlich, als Rose seinen Kopf zu sich zog und ihm einen sanften Kuss auf den Mundwinkel gab. Der Blonde wandte das Gesicht ab, ein wenig rot angelaufen. Rose grinste und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. „Du bist schon gut so, wie du bist. Hey, Ilja will Fuchs und Saku gleich zeigen, wie man Fische mit der Hand fängt, willst du mit zusehen?“ „Nein, danke, ich bleib noch ein bisschen hier liegen.“ „In der Sonne? Hast du keine Angst, in Rauch aufzugehen?“ Rose lachte und stand auf, als Valentin ihn gespielt haute. „Okay. Es sind noch Äpfel da, wenn du noch Lust hast.“ Valentin nickte und ließ sich wieder ins Gras fallen, während sein Freund sich auf den Weg zurück zum Fluss machte, an dem die drei Älteren warteten, hatte allerdings kaum eine Minute die Augen geschlossen, als ein Schatten auf ihn fiel, und er blinzelte, setzte sich auf. Diego stand vor ihm, Arme verschränkt, wirkte etwas verlegen, was er zu überspielen versuchte, indem er über Val hinweg kurz in den Himmel sah, als suche er nach Wolken. „Hey. Kann ich mich zu dir setzen?“ „Äh...klar.“ Der Spanier ließ sich in etwa einem Meter Abstand zu ihm ins Gras fallen; er trug trotz der Hitze noch eine dünne Stoffjacke, ein Fortschritt allerdings im Vergleich zu seiner gewohnten Motorradjacke, wie Valentin fand. Seine dunklen Augen funkelten Val an, als er etwas hin- und herrutschte auf seinem Platz. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Hab dir gar nicht gratuliert.“ Sein Deutsch war gut, aber mit einem starken Akzent versehen, das schien er zu merken, kurz angebunden, wie er sprach. „Oh...“ Valentin dachte kurz nach. „Ist okay, wir kennen uns ja auch bisher so gut wie gar nicht.“ „Schon. Trotzdem. Alles Gute zum Geburtstag.“ Diego hielt ihm etwas steif die Hand hin, worauf der Blonde eine Weile überrascht starrte, irritiert ob der förmlichen Geste. Dann grinste er den Südländer schief an und ergriff seine Hand; sein Händedruck war fest, er ließ aber schnell los. „Hey, danke. Lieb von dir.“ „Wie alt bist du geworden?“ „Neunzehn.“ „Wow – erst?“ Valentin schaute beleidigt. „Was soll das denn -“ „Nein!“ Diego hob beschwichtigend die Hände. „Das habe ich nicht gemeint. Wann hast du angefangen, Gitarre zu spielen? Ich habe dich gehört. Du bist wirklich gut.“ „....echt? Findest du?“ „Ja! Auf jeden Fall. Ich habe allerdings nicht viel Ahnung von Rockmusik. Aber ich finde, ja.“ „Ja...danke. Ich weiß nicht, ich spiele seit sechs Jahren. Vielleicht suche ich mir mal eine Band oder sowas. Fuchs meinte das schon lange.“ Diego nickte und sah wieder nach vorn, wo die drei Größeren trotz ihres eigentlichen Vorhabens, weiter unten am Fluss Fische zu fangen, im fast hüfthohen, gemächlich fließenden Wasser standen, von den Zweigen einer Trauerweide beschattet, in deren Schatten Rose stand und sich stur weigerte, sich zu ihnen zu gesellen. „Sag mal, Diego...“ Der Schwarzhaarige sah auf; sein Gesicht sah eigentlich noch recht jung aus, doch es hatte einen permanent angespannten Zug in sich, der ihn weit älter wirken ließ, und etwas in seinen dunklen Augen blockte jeden fremden Blick ab, wie eine Wand. „Ist jetzt eine komische Frage, und versteh das bitte nicht falsch, aber ist dir nicht zu warm in der Jacke? Wir haben sicher über dreißig Grad.“ Diego hob die Schultern, schlang automatisch die Jacke enger um sich. „Okay...'tschuldige...hab ich was Falsches gesagt?“ Es dauerte eine Weile, bis der Spanier antwortete. „Nein....nein, du... Nein. - Ich habe Narben auf dem Rücken und den Oberarmen und die will ich nicht offen zeigen.“ „Hm. Ach so. Tut mir leid.“ „Muss es nicht, ist nicht deine Schuld.“ „Du bist auch ein Flüchtling, oder? Wie Ilja.“ Diego nickte. „Und wie gefällts dir in Deutschland?“ Mit der Frage hatte er nicht gerechnet. „Oh...es geht. Überall besser als zuhause, ehrlich gesagt. Und diese Stadt ist schön, fast als wäre gar nichts passiert, das tut verdammt gut. Keine Lust mehr, mich nur noch ausnutzen zu lassen.“ „Willkommen im Club.“ Valentin hielt Diego die Hand hin, jener ergriff sie und schüttelte sie, grinste dann langsam etwas schief, was Val erwiderte. „Also, wenn du mal drüber reden oder drüber schweigen willst, ich hab Bier oben.“ „Danke.“ „Kein Problem.“ Beide sahen auf, als ein lauter Aufschrei vom Fluss her kam; Fuchs hatte einen strampelnden Rose um den Bauch gefasst und hochgehoben und trug ihn langsam zum Fluss. „FUCHS! Was hast du – NEIN! Wag es nicht! WAG ES JA NICHT!“ Rose quiekte und zappelte erfolglos, man sah noch auf einige Meter Entfernung das breite Grinsen des Rothaarigen. „Ooooooooh doch!“ „Nein!! ILJA! Hilf mir! Rette mich!“ „Ich kann nicht! Rose, sorry!“ Ilja war von Sakuya von hinten umfasst und festgehalten worden, der über die Schulter des Russen hinweg Fuchs Mut zurief, welcher etwas Mühe hatte, den sich windenden jungen Mann festzuhalten. Ilja selber war klatschnass, ebenso wie Sakuya, als er mit ihm im Fluss rang um sich zu befreien, allerdings eher halbherzig, da er inzwischen nach vorne gebeugt stand, Sakuya halb auf seinem Rücken liegend, und sich schüttelte vor Lachen. „DU VERRÄTER! Fuchs, wenn du das tust, dann schwöre ich dir – NEIN!“ Fuchs hatte den Fluss erreicht und war stehengeblieben, hob Rose ein wenig an. „FUCHS! Ich hasse dich! Mach das nicht! MACH DAS NICHT! NeeeeiiiiIIIII -“ Und Rose landete im kalten Wasser, aus dem er sofort prustend wieder auftauchte und sich wie der weiße Hai auf Fuchs stürzte, der kichernd zu entkommen versuchte. „Du Arsch!“ Valentin sah auf, als er Diego neben sich lachen hörte, etwas heiser, aber ein Lachen. Der bemerkte Valentins Blick und verstummte wieder, den Blick nach wie vor auf die im Wasser Raufenden gerichtet, Rose schien ungeachtet seiner Schreie guter Dinge und nahm Rache an Fuchs, der gerade lernte, dass er nicht schwimmen konnte mit dem Jüngeren auf dem Rücken; Ilja und Saku hatten sich voneinander gelöst und Ilja zog sich am Ufer das klitschnasse Hemd aus, während Sakuya noch Spaß dabei hatte, seine beiden ältesten Freunde auszulachen. „Als wäre gar nichts passiert.“ Valentin ließ sich wieder ins Gras fallen, die Sommerhitze legte sich auf ihn und hüllte ihn ein mit dem Summen von Insekten und dem Geruch nach Gras und dem Rufen seiner Freunde am Wasser. Das war der beste Geburtstag seit Jahren. 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