Stray von Ouroboros ================================================================================ Kapitel 9: Am Ende des Lichts ----------------------------- Vorwort: Dieses Kapitel ist doch wieder recht dramatisch gehalten auf der einen Seite – das ist zum einen dem geschuldet, dass alles relativ plötzlich passiert, da man vor vol.8 nie Fuchs' Sicht der Dinge kannte – zum anderen dem, dass ich ein bisschen mit alten Erzählsträngen aufräumen musste nach Wiederaufnahme der Geschichte nach vol.7. Auf der anderen Seite ist es sehr dialoglastig, was mir persönlich gut gefällt, allerdings auch immer sehr hektisch wird, gerade im Vergleich. Wenn jemandem die Handlung übereilt erscheint, bitte nicht beschweren: ich habe mich mit Absicht dazu entschieden, zu bestimmten Sachen nur das für die Logik nötigste an Einleitung zu schreiben, da es sonst locker 3 Kapitel hätte füllen können. Ich hoffe, es gefällt :3 Hiernach kann sauber und frisch mit der Geschichte weitergemacht werden. Und – es darf kommentiert werden! Falls jemand bis hierher überhaupt mitliest....sagt doch mal bitte 'piep' >.< (Lisa, du bist vom Piepen befreit ;)) Stray vol.9: Am Ende des Lichts Fuchs: Trauma Wohin aber gehen wir ohne sorge sei ohne sorge wenn es dunkel und wenn es kalt wird sei ohne sorge aber mit musik was sollen wir tun heiter und mit musik angesichts eines Endes mit musik und wohin tragen wir am besten unsere Fragen und den Schauer aller Jahre in die traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge was aber geschieht am besten wenn Totenstille eintritt Ingeborg Bachmann: Reklame Schwarz. Schwarz, Wirbel von Rot, ein dumpfes Flackern hinter den Lidern, ein stummer Krieg - - die Augen brennen, Licht schießt durch das Gehirn. Ich spüre, wie meine Hände zittern - - ich spüre etwas Kühles unter meinen Fingern, glatt, etwas rau, in das ich mich verkralle. Schmerz, Schmerz, aber woher - - oder doch nicht? Bilde ich mir alles nur ein; mir ist schwindlig, mir ist schlecht - - ein bitterer Geschmack in meinem Mund, woher kommt der? - ich weiß nicht, wo ich bin, und das Licht schießt unter meinen Lidern hindurch, als ich sie flatternd öffne, irgendetwas tut mir weh, aber ich kann nicht orten, was - - noch, ob es überhaupt mein Körper ist. Alles ist so fern, ist es mein Körper? - Bin ich tot? Und irgendwie schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass wir alle miteinander verdammt sein müssen, wenn wir nicht mehr unterscheiden können zwischen Leben und Tod - - das macht mir Angst, ich muss mich an etwas festhalten, irgendetwas, und so öffne ich die Augen, obwohl ich nichts sehen kann - - irgendetwas vor mir ist gleißend hell, und ich versuche, die Hand zu heben, um meine Augen zu bedecken. - Ich zittere immer noch, und ich weiß nicht, wieso. - Irgendjemand neben mir atmet schwer, links oder rechts, das weiß ich nicht - ich schlage die Augen auf, sehe das gedämpfte Licht von draußen an der weiß gestrichenen Decke tanzen - ich höre einen beständigen Laut, wie ein leises Wimmern, aber nicht schmerzerfüllt, sondern eher ängstlich, fast panisch - und jetzt spüre ich sie, haltlose, kindliche Angst; sie fährt mir kalt in die Knochen und beißt sich dort fest, und ich merke, dass ich es bin, der so wimmert, dass das meine Stimme ist, die da so seltsam fremd klingt - und ich habe höllische Angst, und ich weiß nicht warum. Ich höre jemanden meinen Namen rufen, ich weiß nicht wer mich da ruft, die Stimme wird leiser, immer leiser, und es wird so dunkel um mich herum, und ich habe Angst, und ich will schreien, doch ich kann nicht; ich habe solche Angst. Sakuya: Ich bin bei dir Alles ist Wundenschlagen und keiner hat keinem verziehn. Verletzt wie du und verletzend, lebte ich auf dich hin. Die reine, die Geistberührung, um jede Berührung vermehrt, wir erfahren sie alternd, ins kälteste Schweigen gekehrt. Ingeborg Bachmann: Bruderschaft Ich kam nicht weit, als ich das Bad verließ; in meinem Kopf ein kaltes Entsetzen über das, was ich gerade meinem Bruder angetan hatte, und doch unfähig, innezuhalten. Rose hatte vor der Tür gestanden, packte mich mit einer Kraft, die ich von ihm nicht erwartet hatte, am Arm, und riss mich mit sich in sein Zimmer, knallte die Tür zu und stieß mich mit einer Brutalität auf sein Bett, dass ich mir den Kopf an seinem Nachttisch anschlug. „HAST DU VÖLLIG DEN VERSTAND VERLOREN!“ Er schrie, ich hatte Rose noch nie schreien hören; stand hoch aufgerichtet vor mir; als ich aufstehen wollte, schlug er mir ins Gesicht, und ich fiel zurück. Ich wollte auffahren, war kurz davor, ihn zur Seite zu stoßen, doch er war schneller, packte mich ehe ich die Benommenheit abschütteln konnte, und die Überraschung über den doch verdammt harten Schlag, drehte mich auf den Bauch und ich spürte, wie sich Handschellen um meine Gelenke schlossen. „Was zum – Spinnst du? MACH MICH LOS!“ Ich wand mich unter ihm, wollte ihn von mir stoßen, aber Rose packte meinen Kopf an den Haaren und riss ihn nach hinten, bis ich unterdrückt aufstöhnte; sein Griff war wahnsinnig fest, ich hatte fast Angst, er würde mir das Genick brechen. Ich hörte ihn schwer auf mir atmen; als er sprach, war jegliche sonstige Weichheit aus seiner Stimme verschwunden. „Ich lasse dich jetzt los. Du darfst dich nicht bewegen. Wenn du dich bewegst, werde ich dir wehtun. Hast du das verstanden?“ Ich konnte nicht nicken, knurrte nur was zwischen den Zähnen hindurch, das er als Ja zu deuten schien und den Griff lockerte, die Hand nach wie vor an meinem Nacken. Ich war sogar zu perplex, um wirklich wütend zu sein; ich glaube, ich hätte mich nichtmal wehren können, wenn ich gewollt hätte; Roses Brutalität war wie ein Guss kalten Wassers und jagte mir, ehrlich gesagt, den Schreck meines Lebens ein – mein lieber, sanfter Freund Rose! Jener atmete ein paar Mal tief durch, zwang sich, leiser zu sprechen. „Sehr gut. Sakuya, wir müssen reden.“ „Rose, hast du sie noch -“ „Ich sage es dir nur einmal: DU hältst dich jetzt mal zurück. Versuch nicht, dich zu befreien und wegzulaufen; Ilja steht draußen und passt auf, dass uns niemand stört. Ich gebe dir diese eine Chance in Ruhe mit mir zu reden. Und wenn du es nicht schaffst, dich jetzt sofort zu beruhigen, dann werde ich gehen, dann darf jemand anders die Schlüssel suchen und dich befreien, und dann wars das erstmal mit uns beiden, klar?“ Seine Stimme klang gepresst. Ich nickte widerstrebend. „Guter Junge. Jetzt hör mir mal ganz genau zu. Dein Bruder – der übrigens ganz nach dir kommt, dem Gebrüll eben zu entnehmen, gut gemacht – ist ein unglaublich lieber, süßer Junge, und du solltest ihn nicht, ich wiederhole, NICHT so anschreien. Er macht sich Sorgen um dich, WIR ALLE machen uns Sorgen um dich. Jamie sitzt ständig in der Ecke und starrt Löcher in die Luft, weil er in Gedanken eher bei dir ist als bei seinem Freund, und allein das ist traurig genug; schlimmer aber finde ich, dass du das a) nichtmal zur Kenntnis nimmst und es ihm b) auf diese Art dankst. Der Kleine liebt dich. Und du bist wieder mal ein Arschloch. Deinetwegen haben wir anderen es stillschweigend erduldet, aber das war zu viel. Jetzt erlaube mir eine Frage: Warum?“ Ich war für einige Sekunden stumm; mein Gesicht war halb ins Kissen gedrückt, und Rose saß schwer auf meinem Rücken und dachte nichtmal daran, von mir herunterzugehen, oder auch nur meine Arme loszulassen, auch wenn sie bereits gefesselt waren. „Na weil....“ Ich brach ab. „Das verstehst du nicht.“ Ich schrie empört auf, als er seinen Griff an meinem Arm verstärkte, so dass meine Schulter leicht verdreht wurde; nicht schlimm, doch unangenehm. „Das habe ich in letzter Zeit öfters von dir gehört. Na, dann versuch doch, es mir zu erklären, ich bin wahnsinnig gespannt.“ Ich hätte ihm zu gern ins Gesicht gesehen, ich wusste dass Rose ein guter Schauspieler war, trotzdem hätte mir eine kleine Bestätigung, dass ihm das hier wenigstens schwer fiel, gut getan, um nicht mein ganzes Weltbild zu erschüttern. „Weil ich kein gutes Vorbild bin“, murmelte ich letztendlich. „Ja, das habe ich gesehen. Und deswegen schreist du ihn lieber an, puh, und ich dachte schon, du machst mal wieder alles nur noch schlimmer.“ Jetzt wurde ich doch wieder wütend. „Rose, mach mich los, ich warne dich....“ Er stützte sich auf mich, ich spürte sein Gewicht einmal längs auf meinem Rücken, seinen Atem an meiner Wange. „Saku...“ Ich biss mir auf die Lippe, als ich hörte, dass seine Stimme ein wenig sanfter geworden war. „Es tut mir leid, dass wir auf diese Art miteinander reden müssen, aber du hörst ja nicht anders zu; und, bei aller Liebe die ich für dich habe, was du eben getan hast, ging zu weit. Bitte, es war mein Ernst. Versuch es mir zu erklären, dann werde ich, werden wir versuchen, dir zu helfen. Jetzt widersprich nicht! Wir WERDEN dir helfen.“ Ich murmelte etwas ins Kissen. „Ich versteh dich nicht, Saku...“ „Dann lass mich aufstehen, gottverdammt nochmal!“ Endlich glitt er von meinem Rücken und half mir in eine sitzende Position. Ich pustete mir einige Strähnen aus der Stirn und versuchte, zu ignorieren, dass ich noch immer gefesselt war; eine Behandlung, die ich überhaupt nicht ausstehen konnte und mich fast zur Weißglut brachte; ich glaube, das einzige, was mich davon abhielt, an den Handschellen zu reißen wie ein Berserker, war, dass es Rose war, der neben mir saß, und eine Hand auf meinen Arm gelegt hatte. Und ich glaubte ihm, dass es ihm leid tat. Und ich fühlte mich so schlecht. Ich biss mir wiederum auf die Lippe. Es war so kompliziert; wie sollte ich ihm das erklären, damit er es verstand? Ich brachte es nicht mehr fertig, Jamie in die Augen zu sehen; ich liebte ihn doch so sehr, und doch hatte ich es nicht verdient, dass er mich zurückliebte, so wenig wie jeder hier – mich! Der ich soviel Böses getan hatte im Leben; versucht, immer Gutes zu tun, und doch nicht fähig, auch nur einmal wie ein menschliches Wesen mit meinen Freunden umzugehen. Ich wusste selber, dass ich ein Problem hatte. Ich wusste, dass ich mit meiner Art meine Freunde verletzte. Und ich wollte das nicht. Doch ich konnte nicht anders. Auf diese Art hatte ich Fuchs verloren, und auf diese Art war ich gerade dabei, alle anderen ebenfalls zu verlieren. Und wahrscheinlich war es besser so, wahrscheinlich waren sie ohne mich besser dran – letztendlich war ich wohl nicht für Liebe geschaffen und blieb besser allein, dann, nur dann, konnte ich auch niemandem mehr wehtun. Ich hatte gehofft, dass ich mich ändern konnte, und solange Fuchs bei mir war, solange ich glücklich war, schien es, als hätte ich mein wildes Blut unter Kontrolle. Doch dann wieder, wenn ich alleine war, musste ich merken, dass nicht ich es war, der mich kontrollierte; und dass ich, ohne es zu wollen, um mich schlug; die vergangene Nacht hatte es mir gezeigt, Fuchs hatte recht gehabt: Es gab nur eines, was ich wirklich gut konnte. Und ich fand mich damit ab. Und ich wollte nicht, dass Jamie mich so erlebte. Ich wusste nicht, wie ich Rose das erklären sollte, doch dann griff er nach hinten und löste wortlos meine Fesseln, als ich nach einigen Sekunden sturen Schweigens noch immer vor mich starrte, nahm meine Hände, und ich hatte das Gefühl, als hätte jemand ein festes Band zertrennt, das etwas in mir abschnürte, und ich senkte den Kopf, und erzählte ihm genau das. Er hörte mir zu und unterbrach mich kein einziges Mal, auch nicht als ich ihm von der vergangenen Nacht erzählte, und wie ich für eine Sekunde nur gezaudert hatte, so dass das ganze in einer furchtbaren Sauerei geendet hatte; und wie ich dann doch spürte, dass dies mein Leben war. Ich erzählte auch vom vergangenen Tag, von meinem Gespräch mit Fuchs, und wie ich danach gefühlt hatte; irgendwann in der Mitte meiner Erzählung nahm Rose meine Hand und hielt sie die ganze restliche Zeit über fest. Nach einer langen Weile hörte ich mitten im Satz auf zu sprechen. Ich hatte alles gesagt, was zu sagen war. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte. Ich fühlte mich ausgelaugt und unendlich müde. Rose sah mich lange nur an aus seinen hellen blauen Augen, ich brachte es nicht fertig seinen Blick zu erwidern, während er noch immer meine Hand hielt, nicht fest, sondern ganz ruhig. „Komm her“, meinte er dann leise, und ich sank fast willenlos gegen ihn, spürte seinen schmalen Körper an meiner Seite, und spürte dass er soviel stärker war als ich in diesem Moment, und in dieser Sekunde kämpfte ich zum ersten Mal nicht gegen meine Schwäche an, ich sackte an ihm zusammen, in seinen Armen die mich sanft hielten, und fing leise an zu weinen. Rose hielt mich lange fest, ohne mich anzusprechen. „Ich möchte dir etwas erzählen“, sagte er dann leise. „Und ich möchte, dass du versuchst, mir nicht zu widersprechen.“ Ich nickte. „Als ich vor einigen Jahren in diese Stadt kam, war ich müde, ich war am Ende, verstehst du. Ich hatte ganze Jahre hinter mir, in denen ich angeschrien wurde, ich wurde geschlagen, ich wurde angespuckt, ich wurde vergewaltigt und noch auf dutzende andere Weisen erniedrigt, und das alles nur damit ich leben konnte. Ich war hungrig und schmutzig, mir war immer kalt, und ich war allein. Ich habe euch nie erzählt, warum ich in dieser Stadt geblieben bin, anstatt weiterzuziehen wie der Rest des Trupps: Ich wollte, dass alles aufhörte, ich hatte keine Kraft mehr, zu leben. Ich bin hier geblieben, mit dem festen Wunsch, meiner Existenz ein Ende zu setzen, schlug mich einige Wochen so durch, um den Mut dazu in mir zu finden, denn trotz allem hing ich ja immer an meinem Leben, sonst hätte ich nie so lange durchgehalten. Doch ich konnte, nein, ich wollte einfach nicht mehr. Und weißt du, wer dann kam, und mich ansah, und nicht irgendeinen dreckigen, gebrochenen Streuner sah, sondern einen Freund? Das warst du. Du kamst und fandest mich, und Fuchs war bei dir, und ich sah euch beide an, und es war so wunderbar, wie ihr miteinander umgingt; ich hatte vergessen, dass es so etwas gibt auf der Welt; aber da hatte ich den Beweis, und ihr halft mir auf aus meinem Elend, weil ihr Mitleid mit mir hattet. Erinnerst du dich an den kleinen Dachboden über dem Karfunkel, in dem wir damals gelebt hatten? Ich weiß es noch ganz genau; wir saßen an diesem ersten Abend zusammen und hatten gegessen, und Fuchs hat von unten heiße Schokolade geholt, es war kurz vor Weihnachten. Ich hatte damals noch gedacht, ich müsste mich für eure Freundlichkeit revanchieren, du warst ganz empört. Und es warst du, nicht Fuchs, Fuchs war unten; du warst es, der mich damals anlachte, der mir mit solcher Selbstverständlichkeit erklärte, dass ich bei euch bleiben könnte, wenn ich wollte; dass er auf mich achtgeben würde, und das hast du seitdem immer getan; und du warst es, in dessen Arm ich damals einschlief, zum ersten Mal seit Jahren, ohne Angst zu haben. Dann kamen wir hierher, und wir haben dieses Haus wieder bewohnbar gemacht, damals noch mit Leos Hilfe, da kannte ich euch gerade eine oder zwei Wochen; und ich glaube ich war noch nie im Leben so glücklich...weil ich wieder lachen konnte, ich war nicht mehr allein, ich hatte ein Zuhause, auch wenn wir nicht viel besaßen, aber es gehörte uns. Es hat solchen Spaß gemacht, hier alles einzurichten, abends draußen am Feuer zu stehen – erinnerst du dich, wie wir zu Heiligabend am Lagerfeuer saßen? Ihr hattet mir diesen roten Mantel geschenkt, von eurem letzten Ersparten, weil ich keinen eigenen hatte, weil ihr mir eine Freude machen wolltet nach allem, was passiert war – das war das schönste Fest, das ich je hatte. Dann kam Ilja mit Kyrill, beide waren halbverhungert, und ich traf Valentin, Diego stand hier völlig abgerissen vorm Tor und hat um Essen gebettelt, die armen kleinen Zwillinge hatte Ilja mitgebracht, Yuki fand ich weinend auf den Straßen....jeder einzelne war so mutlos und verloren wie ich es gewesen war. Es war nicht ich, der diesen Ort hier für alle zu einem Zuhause gemacht hatte; es war nicht ich, der dafür gesorgt hat, dass alle wieder auf die Beine kamen, zu essen hatten, einen Platz zum Schlafen, dass alle neuen Mut zum Leben fanden, dass sie bereit waren ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Nicht ich habe beim armen Kyrill gesessen, als er starb. Nicht ich habe Ilja beigestanden, als er im kalten Entzug war und zitterte und halluzinierte; und auch nicht Fuchs. Als Valentin uns von seinem Missbrauch erzählte, als Yuen schrie und weinte und dachte wir wollten ihn umbringen, als die Leute aus der Wg am Friedhof erschossen wurden, als Diego versuchte sich das Leben zu nehmen, als wir die Trauerfeier für Julian abhielten draußen im Hof..... Erinnerst du dich, wer es war, der uns an der Hand hielt an jedem einzelnen dieser Tage? Das warst du. Und jetzt versuchst du, mir zu erzählen, dass du nicht fähig bist, jemanden zu lieben? Das glaube ich dir nicht, Sakuya.“ Jamie: Pretty Balanced Wir wollen wie der Mondenschein Die stille Frühlingsnacht durchwachen, Wir wollen wie zwei Kinder sein. Du hüllst mich in dein Leben ein Und lehrst mich so wie du zu lachen. Ich sehnte mich nach Mutterlieb Und Vaterwort und Frühlingsspielen, Den Fluch, der mich durchs Leben trieb, Begann ich, da er bei mir blieb, Wie einen treuen Feind zu lieben. Nun blühn die Bäume seidenfein Und Liebe duftet von den Zweigen. Du mußt mir Mutter und Vater sein Und Frühlingsspiel und Schätzelein Und ganz mein eigen. Else Lasker-Schüler: Frühling Ich hatte nicht lange im Bad gelegen; nachdem Sakuya aus dem Zimmer verschwunden war, hatte ich eine Tür zuschlagen gehört, und jemand schrie etwas, ich meinte es war Rose. Junya war ins Zimmer gekommen und hatte mir aufgeholfen, hatte mich im Arm gehalten bis ich mich ein wenig beruhigt hatte, mir über die Haare gestreichelt, mich geküsst; mein Hinterkopf tat höllisch weh von dem Sturz gegen die Heizung, und nachdem ich aufgehört hatte zu weinen, nachdem Junya mir ins Wohnzimmer geholfen hatte, hatte ich angefangen herumzubrüllen wie ein Irrer; was ihm denn einfiel! Was er glaubte, wer er sei! Was nur in ihn gefahren wäre! Und dann fing ich wieder an zu heulen. Die anderen kümmerten sich rührend um mich, Yuki ging und machte mir Tee, während Valentin munter in mein Schimpfen einstimmte - als auch Diego erfuhr was geschehen war, waren wir gleich zu dritt. Die Zwillinge waren verschwunden, ich meinte, sie wollten an Roses Tür lauschen, aber ich war nicht sicher, ob sie das geschafft hatten, da Ilja oben im Flur stand und der würde solches Verhalten sicher nicht gutheißen, so wie ich ihn kannte. Nur Junya war die ganze Zeit über ziemlich still. Irgendwann ebbte meine Wut ab, und es blieb nur ein leeres, dumpfes Gefühl in meiner Magengegend. Ich glaube, ich brach nur deswegen nicht völlig zusammen, weil Yukio nicht müde wurde, mir immer wieder zu sagen, dass Sakuya die Kontrolle über sich verloren hatte, dass er mich liebte, dass er mir nie im Leben absichtlich wehtun würde. Und das wusste ich eigentlich auch. So viele Monate hatte ich an seiner Seite verbracht, und nie hatte er die Hand gegen mich erhoben; allein der Gedanke wäre mir von vorneherein absurd erschienen! Und nun hatte er mich doch angeschrien, hatte mir wehgetan, wenn auch wahrscheinlich nicht mit Absicht. Und das machte mir wahnsinnige, wahnsinnige Angst. Ich hatte Angst davor, was aus meinem Bruder werden könnte; meinem Sakuya, der mich immer beschützt hatte, wie ein dunkler Engel, der mit mir gelacht hatte, mich im Arm gehalten, alles mit mir geteilt. Und die Art, wie er mich angesehen hatte, tat mir unendlich weh; ich saß nur stumpf in Junyas Arm, nachdem ich nicht mehr wusste, was ich noch sagen sollte; ich war nichtmal empfänglich für seinen Kuss, irgendwie hatte ich das Gefühl, Sakuya hätte mir auch mit der Faust ins Gesicht schlagen können, es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Nun, Stunden später, hatte ich mich auf das Dach verkrochen; ich konnte die Gesellschaft der anderen nicht mehr ertragen, nicht einmal Junyas; er hatte versucht, es zu verstehen, auch wenn es ihm sichtlich schwerfiel, und mich alleine gelassen, so dass ich nun schon seit sicherlich mehr als einer halben Stunde in den wolkenverhangenen Mittagshimmel starrte. Es hatte gerade aufgehört zu regnen, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis es wieder begann. Dass ich mit meinem Verhalten fast bis ins Detail Sakuya imitierte, fiel mir tatsächlich erst lange Zeit nach diesem Tag auf. Irgendwann hörte ich neben mir die Tür gehen; ich drehte mich nicht um, da ich dachte, es sei wahrscheinlich Junya. Erst als einige Sekunden Stille herrschte, wandte ich den Kopf; und zuckte fast zurück, als ich sah, es war nicht Junya, es war Sakuya. Er sah müde aus, seine Haare waren wieder zusammengebunden, er trug nicht mehr den Mantel, sondern ein sauberes schwarzes Shirt, das seine muskulösen Arme freiließ, und eine schlichte Hose. Außerdem war er gänzlich ungeschminkt, das war auch selten; er wirkte älter so. „Ich hab dich schon gesucht“, sagte er irgendwann leise. Ich zuckte nur die Schultern; ich konnte nichts zu ihm sagen, und ich hätte auch gar nicht gewusst, was. „Kann ich mich zu dir setzen?“ „Meinetwegen.“ Ich merkte, dass meine Stimme etwas belegt klang; und das war ja auch kein Wunder. Ich merkte, wie sich Saku neben mir niederließ. „Jamie...“ „Willst du dich entschuldigen?“ Ich weiß nicht, wieso ich so grob zu ihm war; vielleicht war es nur die Angst, dass so etwas sich wiederholen könnte. „Ja, eigentlich schon....“ „Ich nehme das aber nicht an.“ „Ich weiß.“ „Warum bist du dann hier?“ Er schwieg eine ganze Weile, so dass ich mich doch zu ihm umwandte; er sah mich nicht an, sondern sah mit nach hinten gelegtem Kopf in den Himmel, ich wunderte mich erst, dann sah ich, dass seine Augen gerötet waren, und er mit den Tränen kämpfte. „Saku...“ „Es tut mir leid“, brachte er plötzlich doch hervor. „Ich habe mich euch allen gegenüber falsch verhalten; und dir gegenüber ganz besonders. Und...und Fuchs. Dir und Fuchs. Ich würde es wieder rückgängig machen wenn ich könnte, oder euch im Verzeihung bitten, aber beides kann ich nicht. Ich bin hier, weil ich hoffte, dass ich dieses Mal nicht den gleichen Fehler wiederhole; ich wollte nur....ich wollte nur sehen, ob wenigstens zwischen uns alles sein kann wie vorher.... Ich würde auch versprechen, dass es nie mehr so weit kommt, wenn ich das könnte; ich kann aber nur versprechen, dass ich alles tun werde, um zu verhindern, dass es wieder soweit kommt.“ Ich schwieg eine Weile und sah ihn an. „Das heißt, du redest jetzt wieder mit mir?“ „Wenn es nicht zu spät ist...“ Er sah jetzt doch zu mir und sah so rührend traurig aus, die ganze Härte aus seinem Blick vom Morgen war verschwunden, ich wusste zwar nicht wohin, aber ich war unendlich froh, denn wer immer diese Person gewesen war, es war nicht mein Bruder, und es hatte mir Angst gemacht. „Was hast du letzte Nacht gemacht?“ Er wich aus. „Was meinst du?“ „Wag es nicht wieder wegzusehen. Was immer es war hat mir fast meinen Bruder gestohlen, und ich will wissen, was es war.“ Er lächelte matt. „Du bist unglaublich, weißt du das?“ „Du hast jemanden umgebracht.“ Natürlich wusste ich das. Ich war vieles, aber nicht dumm. „Ja.“ „Wer war es?“ „Ich weiß es nicht.“ „Hast du nicht gefragt, was er getan hat?“ „Nein.“ Ich schwieg eine Weile, Sakuyas Stimme war leise. „Ich beantworte dir noch eine Frage zum Thema, eine einzige, und dann möchte ich nicht mehr darüber reden....bitte.“ Über uns zerfaserte eine weiße Wolke, ich zog die Beine an den Körper, wandte den Kopf zu ihm. „Okay. Eine Frage.“ Er nickte. „In den ganzen Jahren vorher – hattest du da gefragt?“ „Ja.“ „Sicher?“ „Ich lüge dich nicht an, Jamie. Ich habe immer gefragt. Das Problem ist nur, dass es nie einen Unterschied machte.“ „Was meinst du?“ Er schüttelte den Kopf. „Das waren schon zwei Fragen.“ „Sag es mir!“ Er wandte den Blick ab, allerdings nicht von mir; ich sah etwas Dunkles in seinen Augen, sah wie er mit der rechten die linke Hand umfasste, ehe er sprach. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Antwort erhalten, die mir gezeigt hätte, dass ich keinen schlechten Menschen vor mir habe.“ „Was ist dann ein guter Mensch?“ „Ich weiß es nicht, Jem. Ich weiß es ehrlich nicht.“ „Saku -“ „Bitte, frag mich nicht mehr! Ich kann, ich will dir nicht mehr darüber sagen. Bitte, zwing mich nicht.“ Wir saßen eine Weile stumm nebeneinander, ich wusste nicht recht, wie ich mich ihm gegenüber nun verhalten sollte – ein Teil wollte ihm alles vorwerfen, was er getan hatte – ein anderer wollte einfach nur dass alles war wie vorher. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass ich im Begriff war, genau das gleiche zu tun wie mein Bruder, nur in klein; und ich dachte mir: das ist doch bescheuert; und ich rutschte zu ihm und legte den Kopf an seine Schulter. Er sagte nichts, ich sah ihn nicht an und konnte daher seinen Gesichtsausdruck nicht beurteilen; aber er schloss die Arme um mich und zog mich an sich, ich spürte seinen Atem über mein Haar streichen, und wie seine eine Hand über meine Schulter streichelte. Seine Arme waren so warm, und er roch nach Patchouli und frisch gewaschener Kleidung. „Ich bin froh, dass du da bist“, murmelte ich, hörte seine Stimme leise über mir. „Ich bin auch froh. Ich hab dich so lieb, Jem...“ Der Tag klarte auf, während wir gemeinsam auf dem Dach saßen; ich glaube, das war das erste Mal seit über einer Woche, dass wir wieder normal miteinander sprachen, und ich erzählte von Junya, von meiner Woche, von den anderen, von Teufel, bis ich irgendwann merkte, dass Sakuya die ganze Zeit in sich hineinlachte. „Was ist?“ Ich boxte ihn gespielt böse in die Seite. „Gar nichts. Erzähl weiter, ich höre dir gern zu.“ „Du lachst mich aus!“ Ich schmollte. „Ich lache dich nicht aus. Ich bin glücklich.“ Er schmunzelte mich an, ich haute ihm trotzdem nochmal gegen die Schulter. „Aber lach nicht, wenn ich mit dir rede.“ „In Ordnung. Ich werds nie wieder tun. Ehrenwort.“ „Sag mal...“ „Hmm...?“ „Kann ich dich was fragen?“ „Natürlich. Was du willst.“ Ich spürte, wie er die Arme fester um mich schloss; und ich war froh, so froh – es war alles wie immer, es war alles gut. Mein Bruder war wieder da. Ich wusste nicht wieso, aber ich war unendlich dankbar. „Wirst du jetzt auch mit Fuchs reden?“ Er war kurz still; ich dachte, dass er mir wieder ausweichen wollte, und richtete mich auf und sah ihn an, bereit nachzubohren; aber dann merkte ich, dass er sich auf die Unterlippe biss, eher schmerzerfüllt den Kopf abgewandt hatte. „Das habe ich bereits. Gestern.“ „Was? W-...Das war, als du rausgerannt bist?“ Er nickte. „Und...was ist passiert?“ Und er erzählte mir die Geschichte. Warum er Fuchs verlassen hatte. Er erzählte von Antti, erzählte von seinen Gefühlen zu dem blonden Sänger, zu Fuchs; erzählte davon, wie Fuchs ihm gesagt hatte, er wollte uns verlassen, und mit jedem Satz brach seine Stimme beinahe etwas mehr weg, und ich unterbrach ihn nicht, aus Sorge, dann würde er wieder schweigen. „Bitte verrat das niemandem.“ „Von Fuchs?“ „Nein, von Antti.“ „Spinnst du? Natürlich nicht...“ „Ilja weiß es.“ Ich nickte. „Okay. ...Und....was willst du jetzt tun?“ Er schloss die Augen und lehnte den Rücken an das kühle Dach hinter sich. „Ich weiß es nicht, Kleiner.“ „Naja...aber du willst doch nicht wieder gar nichts tun, oder?“ Er öffnete ein Auge und blinzelte mich an. „Sag du mir, was ich tun soll.“ Ich war für eine Sekunde überrascht. „Ich?“ „Ja.“ „Warum ich?“ „Du bist besser in sowas als ich.“ „Du bist verrückt. Ich bin erst sechzehn.“ „Das hat doch damit nichts zu tun. Ich meine das ernst. Du verstehst dich besser auf Menschen. Sag mir, was ich deiner Meinung nach tun sollte.“ Ich sah ihn eine Weile mit halboffenem Mund an. Ich hatte viel erwartet, aber das nicht. „Ich weiß auch nicht....ich kann dir nur sagen, was ich an deiner Stelle tun würde, wenn dir das reicht.“ „Das würde mir sehr helfen.“ „Also....ganz ehrlich... Wenn Fuchs jetzt schon selber sagt, er will gehen, weil es nicht wird wie vorher, aber er nicht mehr wütend auf dich ist...und du ihn liebst...ja, und Antti.... dann würde ich doch einfach zu Fuchs gehen und ihm sagen, dass ich nicht will, dass er geht, sondern dass ich stattdessen möchte, dass er bei mir bleibt. Und ich würde ihm sagen, dass es mir egal ist, was er glaubt. Und das ich sie beide liebe. Daran finde ich eigentlich nichts Schlimmes.... Denn, ganz ehrlich, ihr kennt euch euer ganzes Leben lang – wer sonst auf der Welt würde denn verstehen, wie es dir geht, wenn nicht er?“ Sakuya sah mich eine ganze Weile lang an ohne etwas zu sagen, und ich wand mich ein wenig unter dem Blick. „Also, das würde ich tun.“ „Jamie...“ „Du musst es ja eigentlich selber wissen...“ „Jamie....nein....du hast Recht... Ich bin so dumm gewesen.... Wie sehr, merke ich jetzt erst....oh, Jamie, du bist ein Engel!“ In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Ilja trat heraus, sah sich um, wirkte enttäuscht. „Ihr seids....“ „Hast du jemand anderen erwartet?“ Der hochgeschossene Russe zuckte die Schultern. „Wir suchen Fuchs.“ Ich merkte, wie Sakuya sich aufrichtete. „Ist er nicht hier?“ „Nein...keine Ahnung, ich glaube nicht. Er ist gestern Nachmittag rausgegangen, weil er wohl meinte, er braucht ein bisschen frische Luft, Yuki und Val haben ihn noch gesehen, und seitdem ist er nicht zuhause gewesen, soweit ich weiß.“ „Ich habe ihn in der Stadt gesehen... Heute früh“, murmelte Sakuya leise. „Ich dachte, er wäre hier.“ Ilja schüttelte den Kopf. „Wo immer er ist, hier ist er nicht. Und es ist schon Nachmittag. Ich weiß nicht, ich meine, er kann alleine auf sich aufpassen, aber wir machen uns ein bisschen Sorgen; wir haben schon das ganze restliche Haus nach ihm abgesucht.“ Sakuya stand auf, seine Augen sahen besorgt drein. „Das sieht ihm nicht ähnlich.“ „Nein, eigentlich sagt er immer Bescheid, wenn er länger als ein paar Stunden fortgeht.“ „Entschuldige“, sagte Sakuya. „Ich muss nur -“ Er winkte ab und verschwand schnell im Haus. „Ilja....“ Ich stand auf. „Hm?“ „Glaubst du, Fuchs ist was passiert?“ Ilja sah mit gerunzelter Stirn über die Dächer, die Arme verschränkt. „Ich hoffe nicht.“ Sakuya: Traces of you Wie halt ich mich? Ich habe vergessen, woher ich komme und wohin ich geh, ich bin von vielen Leibern besessen, ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh. aus: Ingeborg Bachmann: Wie soll ich mich nennen? Im Wohnzimmer unten saß Valentin im Schneidersitz auf dem Sofa und spielte Gitarre; normalerweise spielte er extrem gut, wo er sonst eher der zurückhaltende Typ war, war er mit dem Instrument in den Händen auf einmal wie ausgewechselt, spielte als sei das Gerät ein Teil seines eigenen Körpers, und auf der Bühne konnte er sich ausleben. Wenn er spielte, war er lebendig. Jetzt aber saß er im Gegensatz zu sonst sehr still da und schien nicht ganz bei der Sache; er trug eine schlichte Stoffhose und ein blaues T-Shirt, seine Haare waren nass, er hatte geduscht. Als ich herunterkam, verspielte er sich und brach ab. Ich ging zu ihm, Yuki saß neben ihm auf dem Sofa – jetzt bemerkte ich erst, dass er blond war, aber ich hatte keine Muße, es zu bewundern. „Oben ist er auch nicht, oder?“ Valentin verschränkte die Arme und sah mich an, fast etwas abwehrend, als erwarte er, dass ich gleich wieder schnappte; das tat mir leid. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Habt ihr wirklich überall gesucht?“ Er nickte. „Ich weiß nicht ob wir uns Sorgen machen müssen, er bleibt ja oft länger weg.“ Ich hatte kein Interesse ihn zu beruhigen. „Nein. Irgendwas stimmt nicht. Das sieht ihm nicht ähnlich. Ilja sagt, ihr habt ihn gestern Nachmittag zum letzten Mal gesehen.“ Valentin nickte. „Du meinst nicht, dass er vielleicht vergessen hat, Bescheid zu sagen...?“ „Möglich ist es, aber es sieht ihm nicht ähnlich. Ich weiß nicht. Ich habe kein gutes Gefühl. Hat er etwas gesagt?“ Ich konnte mir das ungute Gefühl nicht erklären, was mich ergriffen hatte, als ich erfahren hatte, dass niemand wusste, wo Fuchs in den letzten 24 Stunden gewesen war, aber ich fühlte mich ganz und gar nicht wohl, und ich machte mir Sorgen, die ich nicht allein darauf zurückführen konnte, dass ich aufgewühlt war. Valentin schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, nichts Wichtiges, nicht wohin er gehen wollte. Wir hatten gefragt ob er mit ins Karfunkel kommt, aber er wollte nicht.“ Ich nickte knapp. „Danke, Val.“ Förmlich konnte ich spüren, wie sich die nun beide Blonden erstaunt ansahen, als ich im Keller verschwand. Sollten sie sich wundern. Dass ich bereit war, jeglichen Streit mit Fuchs beizulegen, konnte ich ihnen später erzählen. Das Zimmer unten wirkte seltsam groß ohne mein Bett darin, aber Fuchs' wenige Besitztümer waren schnell durchsucht; wie gut, dass ich sie ebenso gut kannte wie meine eigenen. Nichts. Er hatte nichts mitgenommen außer seiner Jacke. Nicht einmal eine Waffe, abgesehen von dem Messer das jeder von uns immer bei sich trug, und an das wir mehr als Teil unserer Kleidung dachten. Er besaß ein langes Jagdmesser, scharf, ein schönes Stück, ich hatte es ihm geschenkt; ich glaubte nicht, dass er es bisher oft benutzt hatte, da er von uns beiden der Scharfschütze war, doch er trug es immer am Körper, so wohl auch jetzt; das beruhigte mich zwar etwas, doch die Tatsache, dass er nur in leichten Schuhen und einer alten Jacke unterwegs war, ließ mich vermuten, dass er nicht geplant hatte, mehr als einen Tag und eine Nacht lang fortzubleiben, und das machte mir Sorgen. Nichts in unserem Zimmer deutete jedoch darauf hin, wohin er gegangen sein könnte; im Karfunkel konnte er nicht sein, nicht die ganze Zeit über, zudem hatte er ja angeblich nicht gehen wollen; das Eden hatte zu, und zudem war es in all den Jahren nie vorgekommen, dass Fuchs so lange bei jemandem in der Stadt zu Besuch gewesen war; er kannte nur wenige Leute hier, und wo immer er hinging, er blieb nie über Nacht, denn er schlief schlecht an fremden Orten, schon immer. Ich wusste zwar, dass Fuchs gerne spät abends oder früh morgens allein unterwegs war, aber dass er wirklich so lange blieb, ohne dass jemand wusste wo er war, das beunruhigte mich. Nun konnte ich aber im Keller nichts weiter ausrichten und entschloss mich daher, zu den anderen zu gehen, um vielleicht doch noch herauszufinden, ob Fuchs jemandem etwas gesagt hatte; draußen auf der Kellertreppe jedoch stieß ich direkt auf Junya, der mir wohl gefolgt war und mich jetzt fast ein wenig erschrocken ansah. „Jun – was gibt es?“ „Kann ich mit dir reden?“ „Junya, das ist ein ziemlich ungünstiger Zeitpunkt...“ „Ja, ich weiß, es ist schon seit Tagen ungünstig. Bitte. Es ist wichtig.“ Ich sah seine dunklen Augen, wie sein Unterkiefer sich anspannte, als er mich ansah, und ich ahnte, worüber er mit mir reden wollte. Dazu konnte ich leider unmöglich nein sagen. „Okay. Komm rein. Nicht dass jemand uns überhört.“ Er nickte, und ich schloss die Tür hinter uns. „Hast du mit Ilja gesprochen?“ „Ja, aber er hat noch niemanden gefunden.“ Sein Blick wirkte müde als er das sagte, und er setzte sich auf das Bett, die Hände im Schoß gefaltet. Er tat mir so furchtbar leid; heute sah er zerbrechlicher aus denn je, und so verloren. Ich erinnerte mich gut an den Abend am Hafen, an dem er mir die Dose mit seinen Tabletten gegeben hatte, und wie ich jene einsteckte, ohne daraufzusehen; und ich erinnerte mich auch, wie ich sie beim Apotheker hervorholte und merkte, ich hatte den Namen schon einmal gehört. Es war sein Glück, dass er sich mir so offen anvertraut hatte, als ich ihn in der Nacht darauf angesprochen hatte, als Jamie noch schlief; hätte er das nicht getan, glaube ich, hätte ich niemals zugelassen, dass er sich meinem Bruder näherte. Jetzt tat es mir nur leid, ihn so zu sehen, so fahrig, bedrückt. „Mach dich nicht fertig deswegen, Ilja schafft das, er hat bisher noch alles irgendwo aufstöbern können was wir brauchten.“ Das war nur eine halbe Lüge, weil ich selber nicht ganz daran glauben wollte. Junya schien das zu wissen und lächelte bitter. „Ich hab auch mit Rose gesprochen und ihm gesagt, ich gehe notfalls.“ „Mach das nicht. Das würde Jamie das Herz brechen.“ „Vielleicht tue ich das auch so“, murmelte er leise und senkt den Kopf, die blauen Haare fielen ihm über die Augen und ich sah, dass er weinte. Ich hätte ihn gern in den Arm genommen, doch so vieles schwirrte mir im Kopf herum, und ich konnte nicht. „Junya... Ich verspreche dir, dass wir eine Lösung finden.“ „Aber nicht auf Roses Kosten.“ Ich biss mir auf die Lippe. Das wollte ich auch nicht. Aber, auf der anderen Seite, es war sein Körper, und ich würde ihn nicht aufhalten könnten, wenn er sich dazu entschied, wieder auf den Strich zu gehen. Das könnte in der Tat ein Problem werden, da hatte Junya recht. Aber... „Wir finden eine andere Möglichkeit.“ Er sah auf und mich aus nassen braunen Augen an. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht will, dass ihr meinetwegen Probleme bekommt.“ „Du bleibst.“ Ich setzte mich jetzt doch neben ihn, er zog die Beine an den Körper. „Sakuya, ich bin schon viel zu weit gegangen, ich hätte gar nicht erst mitkommen dürfen, das war ein Fehler....“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, red dir das nicht ein. Du solltest das nicht alleine durchstehen müssen, und das wirst du auch nicht. Und quäl dich nicht wegen Jamie. Wenn ich nicht wissen würde, dass du gut auf ihn achtgibst, hätte ich dich nicht mitgenommen.“ Er nickte. „Ich weiß... Und ich bin so glücklich mit ihm... Und es reicht mir auch. Ich werde ganz bestimmt gut aufpassen!“ „Das weiß ich. Aber meinst du nicht, du solltest ihm langsam mal Bescheid sagen?“ Er schüttelte erschrocken den Kopf und strich sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht. „Nein...bitte nicht! Ich sage es ihm noch. Aber noch nicht.“ „Gut, aber denk dran, dass es schwerer wird, je länger du wartest.“ Er nickte, ich stand auf. „Sakuya...“ Ich wandte mich zu ihm um, er saß mit angezogenen Beinen auf dem Bett und kaute auf seiner Lippe. „Tut mir leid, dass ich dich damit nerve. Ich bin froh, dass ich mit dir darüber reden kann. Und mit Rose und Ilja.“ Ich nickte nur; herrje, so viele Probleme, die es zu lösen galt.... Doch war das nicht immer so gewesen, bei jedem Neuzugang hier? Und immer hatten wir es irgendwie gemeinsam geschafft. „Mach dir keine Sorgen, Junya. Kümmer dich um Jamie, wir drei kümmern uns um den Rest.“ Er nickte stumm und sah auf den Boden, und ich ließ ihn für eine Weile mit seinen Gedanken allein. Wir brauchten dringend Geld. Und wo zum Teufel steckte Fuchs? Niemand hatte ihn gesehen. Ich machte mir Sorgen. Fuchs: Herr der Fliegen Mein tolles, übermütiges Frühlingslachen Träumt von Tod. aus: Else Lasker-Schüler: Abend Ich stehe in einem Zimmer, es ist dunkel. Wie durch einen Schleier sehe ich vage Schemen, Möbel, Vorhänge; es ist so dunkel, und es stinkt, ein übler Gestank; es stinkt nach Tod, ich kenne den Geruch. Es stinkt nach Verwesung. Ich höre ein Geräusch, es wird lauter, aufdringlicher; ich spüre ein Kribbeln an meinem Bein, und ich erkenne, dass es Fliegen sind, die das Geräusch verursachen, hunderte Fliegen, sie fliegen in Wolken auf, als ich einen Schritt mache; meine Füße machen ein schmatzendes Geräusch auf dem Fußboden, und ich trete in etwas Weiches. Als ich den Blick senke, sehe ich, dass ich auf einem Körper stehe, auf einem toten Körper; sein Gesicht ist aufgebläht; die Augen sind zerfressen, seine Lippen kräuseln sich über den Zähnen, die teigige Haut dunkel, fleckig, braun; der Gestank wird übermächtig, und ich will mich übergeben, aber ich kann nicht. Jetzt kann ich mich umsehen, ich sehe den Raum; überall liegen Tote, viele halb verwest, einige fast skelettiert, das restliche Gewebe wie Algen dünn über den braunen Knochen, einige frisch verstorben; über allen hängen Wolken aus Fliegen, das braune Fleisch um mich herum ist in ständiger Bewegung durch die Parasiten, welche darin leben; der Geruch bringt mich fast um, es riecht muffig; der Geruch legt sich wie ein Tuch über mein Gesicht, und ich glaube fast, zu ersticken. Ich stehe in einem Sumpf aus halbverflüssigten Leichen. Ich erkenne kein Gesicht in dem Halbdunkel um mich herum, sehe nur mehr und mehr Körper im Dunkel auftauchen; und ich weiß, es werden mehr; jedesmal wenn ich mich umwende, mehr. Die Wände sind dunkel und glänzen feucht, Fliegen sitzen darauf, und ich presse die Hand vors Gesicht. Meine Beine sind bis zu den Knien hinauf nass von Fäulnisflüssigkeit. Ich merke, dass meine Finger etwas umklammert halten; ich senke den Blick: Es ist ein Beil, ein langes Beil, die Klinge ist schwarz von geronnenem Blut. Und mit einem Mal weiß ich: Ich habe diese Menschen getötet, es sind alle Menschen an deren Tod ich schuld bin, und ich kann es nie rückgängig machen, so viel Blut an meinen Händen, ein Zimmer, nein, ein Saal voller Körper, es werden mehr, immer mehr, und ich stöhne auf, fühle mich als müsste ich mich übergeben, doch ich kann noch immer nicht. Meine Füße stecken fest in einem Morast aus Fäulnis; ich will weg, ich will nur weg; jeder einzelne tote Kopf im Raum ist mir zugewandt und sieht mich an, und ich bäume mich auf und schreie in Horror, aus voller Kehle, aber ich höre – nichts. Mit einem Mal blähen sich die Vorhänge, und Licht fällt in den Raum, und mein Schrei wird zu einem qualvollen Wimmern, als ich vor meine Füße sehe: Vor mir liegt ein Körper, den ich kenne, vor mir liegt Sakuya. Der Brustkorb ist aufgespalten wie bei einem geschlachteten Tier, und auf seinen Augen und seinem Mund sitzen dicht an dicht die Fliegen, Blut verklebt sein schwarzes Haar, seine Rippen starren mir blank entgegen, aus dem offenen Körper strömen die Insekten. Ich reiße die Hände vors Gesicht, will das Beil fortwerfen, aber ich kann nicht; jetzt sehe ich, es ist frisches Blut an der Klinge, rot, Sakuyas Blut. Ich schreie und weine und will fortrennen – endlich bewegen sich meine Füße in dem zähen Matsch, in dem ich stehe, und ich wende mich mit einem Ruck um, renne zur Tür, stolpere fast über Hände und Köpfe, noch immer wenden sich alle um und sehen mir nach. Ich reiße die Tür auf; vor mir steht Karasu. Er sieht mich an und öffnet den Mund, doch anstatt Worten quillt Blut daraus, dunkles zähes Blut, wie faulig, halbgeronnen; rinnt über sein Kinn und seinen Körper hinab; ich starre ihn an und sehe, mein Beil steckt in seiner Brust, sie klafft offen, ich sehe sein Herz. Ich hebe den Blick und sehe ihn an, will ihm, sinnloserweise, sagen, dass ich das nicht wollte – ich kann kaum sehen vor Tränen – jetzt spricht Karasu, durch das zähflüssige Blut hindurch, das Blasen schlägt, er sagt: „Du kannst vor der Realität nicht weglaufen.“ Jamie: Fuchsjagd Und dann doch fortzugehen, Hand aus Hand, als ob man ein Geheiltes neu zerrisse, und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse, weit in ein unverwandtes warmes Land, das hinter allem Handeln wie Kulisse gleichgültig sein wird: Garten oder Wand; und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung, aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung, aus Unverständlichkeit und Unverstand... aus: Rainer Maria Rilke: Der Auszug des verlorenen Sohnes Es war der Tag, an dem Fuchs im Regen auf dem Dach saß und über die Häuser sah. Wir hatten eine kleine Krisensitzung im Wohnzimmer abgehalten, um zu besprechen, ob wir uns Sorgen machen mussten, ob wir auf die Suche gehen sollten, oder nicht. Ilja und Diego saßen auf dem Sofa, während Sakuya wie ein Tiger davor auf- und abschritt beim Reden; ich saß auf Junyas Schoß auf dem Sessel, alle paar Minuten seinen Kuss im Nacken spürend; die Zwillinge lagen auf dem Teppich, Valentin und Yuki hockten auf je einer Sofalehne, und Rose stand mit verschränkten Armen daneben. Sakuya machte sich Sorgen, doch er konnte uns nicht erklären, warum; er räumte jedoch auf Diegos Vermutung hin ein, es wäre durchaus möglich, dass er nur aufgewühlt war und Angst hatte, Fuchs hätte seine Drohung wahrgemacht, auf eine unvorbereitete Art und Weise. Es erschreckte mich nach wie vor, dass Fuchs zu ihm gesagt hatte, er wolle die Stadt verlassen; ich hatte Fuchs gern und wollte nicht dass er ging, und ich war nach wie vor überzeugt, dass es falsch von ihm wäre, Sakuya alleine zu lassen, nach allem was ich über die beiden wusste. Und ich schien ja recht zu haben, Sakuyas Verhalten nach zu urteilen. Ilja allerdings meinte, es sei schon ungewöhnlich, dass Fuchs solange fort war, ohne dass jemand wusste, wohin; üblicherweise war der junge Mann immer sehr darauf bedacht, jemanden wissen zu lassen, wo er war oder wenigstens wann er zurück sein würde. Und auch Sakuya meinte, es wäre wirklich ungewöhnlich, dass Fuchs über Nacht weggeblieben war; selbst zu Zeiten, in denen er eine lockere Beziehung mit einer Frau namens Nessa gepflegt hatte, war er selten, sehr selten über Nacht fort gewesen. Die Zwillinge hielten alles für übertrieben und meinten, er würde schon wieder auftauchen; er sei eben wütend auf Sakuya. Valentin schloss sich ihnen, wenn auch ungern, an. Die beiden Brüder hielten das Thema damit für erledigt und gingen in ihr Zimmer, worauf Sakuya sich müde auf dem Teppich niederließ. „Ich weiß nicht, wahrscheinlich haben sie wieder mal recht, und ich übertreibe. Ich meine, ich hatte ihn ja am Ende der Nacht gesehen, und er sah nicht gut aus, aber es war alles in Ordnung.“ Diego nickte; jetzt mischte sich zum ersten Mal Rose ein, der bisher stumm beobachtet hatte. „Das mag ja sein, Saku, und ich bin mir sogar sicher, dass du übertreibst, und du solltest dich erstmal ein paar Minuten hinsetzen und dich beruhigen. Aber, wenn ich dazu was sagen darf; ich kenne euch beide von allen hier am längsten, und du hattest nie Ahnungen bezüglich Fuchs; du wusstest immer, wenn etwas passiert war, meist sogar, was passiert war, wenn er nur zur Tür reinkam, ich fand das anfangs etwas gruselig. Und ich erlebe dich nicht als Menschen, der hysterisch wird; du bist wahrscheinlich der Ernsthafteste hier nach Ilja, und eigentlich hast du dir um Fuchs von allen hier immer am wenigsten Sorgen gemacht, zu Recht. Ich meine, ihr habt praktisch euer ganzes Leben zusammen verbracht; wenn jemand weiß, was Fuchs tun würde und was nicht, dann bist du das. Egal, ob du glaubst, das trifft nicht mehr zu; ich denke das tut es nach wie vor, warum denn auch nicht. Wenn also von allen Leuten hier du sagst, irgendetwas hier ist auf eine beunruhigende Art ungewöhnlich, dann meine ich, ist das zumindest ein Grund, das nicht als nur eine komische Ahnung abzutun. Wenn Sakuya sagt, das ist seltsam, das passt nicht zu ihm; dann passt es auch nicht zu ihm. Und deswegen mache ich mir Sorgen, egal was Diego sagt.“ Ilja tippe sich in Gedanken mit einem Finger gegen die Wange. „Rose, ich stimme dem zu, was du sagst; Wolf, setz dich bitte sofort wieder ruhig hin, du hilfst wirklich niemandem, wenn du ausgerechnet jetzt wieder liebevolle Gefühle für ihn entwickelst. Diego, tut mir leid, ich weiß was du meinst, aber Rose hat ein gutes Argument. Die Frage ist aber nach wie vor nicht, ob Fuchs etwas passiert ist, das wissen wir nicht. Die Frage ist, was wir jetzt tun werden. Sehen wir doch mal die Tatsachen; wir wissen alle dass Fuchs hervorragend auf sich aufpassen kann, außerdem glaube ich nicht, dass es jemanden in dieser Stadt gibt, der sich noch mit ihm anlegen möchte, spätestens nach dem Vorfall mit Zekes Kumpanen. Dazu ist der Mann nicht dumm, und er kennt diese Stadt. Wolf hat ihn heute morgen noch gesehen, und es ging ihm gut; die Frage ist jetzt nur, wo ist er, beziehungsweise, warum kommt er nicht zurück; sollten wir uns Sorgen um ihn machen, braucht er vielleicht Hilfe. Was uns als Unwissende eigentlich nur in der Position lässt, unsere Bekannten aufzusuchen, um zu sehen, ob jemand weiß, was mit ihm ist. Mehr können wir überhaupt nicht machen, bis er sich von alleine meldet. Sakuya, ich denke es ist halb so wild; er wird bei irgendeinem Freund untergekrochen sein, weil ihn das Gespräch mit dir selber aufgewühlt hat. Wahrscheinlich lässt er sich seinen Entschluss nochmal in Ruhe durch den Kopf gehen.“ Sakuya schüttelte den Kopf; ich dachte erst er wollte widersprechen, aber das tat er nicht. „Ich kenne einige seiner Lieblingsorte, an denen er sein könnte, die sind ziemlich abgelegen.“ „Na gut, dann schlage ich vor, wir fahren dorthin; vielleicht können Diego und Yuki zusammen seine Bekannten aufsuchen, ihr beide wisst außer Saku am besten mit wem er sich ab und an trifft. Die Leute aus dem Karfunkel und aus dem World's End, ihr wisst schon.“ „Ich kann meine Lucifers und die Leute von Silver Swan und Utopia fragen, die kennen ihn auch“, meinte Valentin und stand auf. Ilja nickte. „Ja, das ist gut. Rose, gehst du und schaust ob du Moritz irgendwo auftreiben kannst? Wenn jemand was gehört hat, dann er.“ Rose nickte. „Was können wir machen?“, meinte ich etwas schüchtern. Ich wollte auch gerne helfen, mich nicht nur nutzlos fühlen. „Naja, ihr kennt euch hier ja so gut wie gar nicht aus; ich würde sagen, ihr bleibt am besten hier, falls er zurückkommt...“ „Ihr kommt mit mir mit“, entschied Rose. „Ich weiß nicht, ob ich den rasenden Reporter allein zu fassen bekomme. Die Zwillinge sind noch hier, falls er zurückkommt. Wir treffen uns alle bei Einbruch der Dunkelheit wieder hier.“ Ich war mir fast sicher, dass er das nicht sagte, weil er meinte unsere Hilfe zu brauchen, sondern viel eher, um uns nicht gänzlich außen vor zu lassen wir der wieder einmal total pragmatische Russe, und ich war dankbar dafür. Diego stand auf um seine Jacke zu holen, und auch Yuki und Val verschwanden die Treppe hinauf; Ilja erhob, um meinen Bruder am Arm zu fassen, der ebenfalls schon wieder stand. Rose winkte Junya und mir, und wir folgten ihm und warfen unsere Sachen über; als wir die Schuhe anzogen warf ich doch noch einen Blick zurück ins Wohnzimmer. Ilja hatte einen Arm um Sakuya gelegt und redete leise auf ihn ein; ich konnte nur ein wenig verstehen: „....machst du dich nur verrückt. Wenn er zurückkommt, dann könnt ihr diese Sache endlich klären. Du musst dich etwas beruhigen - ich weiß, ich kenne die Situation genauso gut wie du, aber wir sind hier nicht mehr im Krieg; versuch, nicht in Sorge zu geraten, auch falls wir ihn nicht finden sollten. Wir reden hier von Fuchs; er kommt zurück. Du hast die ganze Nacht nicht geschlafen. Wenn du willst, ruh dich ein bisschen aus, und sag mir nur, wo ich hinfahren soll...das dachte ich mir. Wolf, die Situation ist auch für ihn belastend; lass ihm etwas Zeit für sich. Er taucht wieder auf. Vertrau mir.“ Wir verließen zu dritt das Haus, als gerade Yuki und Diego wieder aufeinandertrafen und sofort lauthals anfingen zu streiten, wo die Suche denn beginnen sollte. „Glaubst du wirklich, Fuchs ist was passiert?“, fragte ich Rose. Der schüttelte den Kopf. „Ich glaube es eigentlich nicht, ich meine, es ist Fuchs, der lässt sich so schnell nicht unterkriegen, ich glaube über ihn könnte der Weltuntergang hinwegziehen, und er würde es überleben. Aber wir sollten trotzdem auf die Suche gehen. Warum wären wir denn alle zusammen, wenn wir nicht aufeinander achtgeben würden.“ Ich dachte an Fuchs, an sein liebes Lächeln, daran wie er mich auf einen Kaffee eingeladen hatte, als ich traurig gewesen war; ich hatte mich so wohl und vertraut gefühlt mit ihm. Und ich hoffte, dass Rose recht behielt. Draußen regnete es in Strömen, und wir huschten durch die Gassen, die Kapuzen über den Köpfen, wie kleine nasse Ratten von einer Hauswand zur nächsten. Wir merkten nicht, dass zu einem Zeitpunkt Fuchs nur Meter von uns entfernt auf einem zerborstenen Dach saß, die Flasche Gin in der Hand; er, der früher kaum starken Alkohol getrunken hatte. Aber das konnten wir ja nicht ahnen, und er sah uns von oben auch nicht, und so setzten wir unseren Weg fort, Junya und ich immer Rose auf den Fersen, dessen roter Mantel vor uns herleuchtete wie ein Stück Leben im grauen Regenwetter. Mo und Yannis hausten, wie wir merken mussten, weiter am Stadtrand; in der Nähe des alten Walles, der in früheren Zeiten die Altstadt umgeben hatte, unsere Wohngegend. Hier, weiter außen, wirkten die Häuser heruntergekommener als im Stadtkern; zwischen den Trümmern sah ich hier und da verlassene Feuerstellen, brutale Parolen zierten die Hauswände. Das lag daran, wie Rose uns erklärte, dass nur die Innenstadt und ausgewählte Randbereiche von den Zacharias' kontrolliert wurden, wer Ärger machte, wurde vertrieben, und landete am Stadtrand. Hier gab es größtenteils weder Strom noch fließendes Wasser, hier hausten die Obdachlosen und Kleinkriminellen. Auf meinen geschockten Blick hin lächelte Rose fast mitleidig und sagte nichts. Hier gab es im Gegensatz zum Stadtkern bewaffnete Patrouillen; angeblich waren Saku und Fuchs mehrmals gebeten worden, sich anzuschließen, hatten sich jedoch immer geweigert, irgendeinen Job in ihrer Heimatstadt auszuüben. Und die Zacharias' waren sehr interessiert daran, die Leute, die dafür sorgten, dass die kleine Stadt funktionierte – Händler, Handwerker, Landwirte, und auch Leute wie die Betreiber des Eden und zum Beispiel auch Sakuya und Fuchs – als Backup sozusagen – und alle Menschen, die diese Stadt davor bewahrten unterzugehen, zu schützen, daher hielten sie den Stadtkern frei vom Ärgsten. Wieder einmal merkte ich, dass die Nähe zu Saku und Fuchs mehr bedeutete als nur Freundschaft. Es war Schutz. Und ich musste daran denken, was Mo mir einmal gesagt hatte...dass man besser daran tat, sich jemanden zu suchen, unter dessen Augen man sicher war. Wir durchquerten den Bezirk den Hügel hinauf, um Mos und Yannis' Wohnung zu erreichen. Sie hatten sich ein kleines einstöckiges Haus eingerichtet, in der Nähe eines Teiches, früher musste dort ein Park gewesen sein, jetzt war dort nur verwildertes Brachland. Von dort aus konnte man über die Dächer der Stadt sehen, im Rücken die alten Wallanlagen; darauf hatten sie wohl eine Art Sendemast oder ähnliches errichtet, ich war nicht sicher. Junya neben mir atmete schwerer, und auch ich; der Weg hier herauf war nicht ohne, wenn auch die Steigung eigentlich nicht sehr stark war. Durch den Regendunst konnte ich hinter den Häusern die Berge erahnen. Rose wischte sich die Kapuze vom Kopf und klopfte, in seinem pinken Haar sammelten sich langsam feine Tröpfchen, und wir beide drängten uns hinter ihm unter das schmale Vordach, bis endlich geöffnet wurde, und uns ein erstauntes Gesicht entgegensah; die dunklen Haare, unten kurz, oben ebenfalls bedreaded, unter einer Mütze, Zigarette im Mund; er hatte ein schmales Gesicht, oder vielleicht wirkte es schmal durch den dunklen Dreitagebart; dunkle Augen und ein scharf geschnittenes Profil, seine geschwungenen Lippen schienen in einem permanenten Schmunzeln festgehalten. Er war größer als Mo und ziemlich schmal; trug eine Jeans und einen schlichten Pullover. Er sah ein aus wie ein Pirat. Oder ein Rockstar. „Rose, mein Guter, was führt dich an meine Tür?“ Rose grinste schräg. „Können wir erstmal reinkommen, ehe wir wegschwimmen?“ „Ouh, das wird eng; aber immer rein in die gute Stube. Seht euch nicht um, wir haben nicht aufgeräumt.“ Rose winkte ab, und wir traten zu dritt ein. Yannis hatte recht gehabt; es wurde eng. Wie es schien bestand das Stockwerk mehr oder weniger aus einem großen Raum, am Ende ging eine Tür ab, die ich für die Badezimmertür hielt. An den Wänden standen auf einer Seite Betten, an den anderen einige Regale, größtenteils mit CDs gefüllt; eine Ecke wurde von Tischen dominiert, darauf erhaben mehrere Bildschirme, man hörte Rechnerlüftungen rauschen. Vor den Bildschirmen türmten sich CDs, Zettel, Aschenbecher, Tabakbeutel, Mützen, Teller, Flaschen,.... Ich sah sogar ein Kissen. Auch die Betten waren von dem allgegenwärtigen Chaos nicht verschont, ich würde sagen, anstatt aufzuräumen, wurde hier nur verschoben. An einer Wand gab es eine kleine Kochnische; die war seltsamerweise als einziges ein wenig ordentlicher. Mitten im Zimmer, da an den Wänden kein Platz mehr blieb, stand noch eine abgewetzte Couch samt Couchtisch; auch hier das selbe Bild. Yannis griff mit einem langen Arm die gesamte couchokkupierende Baggage, warf alles auf ein Bett, und bot uns strahlend den neuen Sitzplatz an, hockte sich dann selber auf einen Schreibtischstuhl, uns zugewandt, und drückte erstmal seine Zigarette aus. Dann streckte er Junya und mir die Hand hin. „Hi, wir kennen uns nicht glaub ich; ich bin Yannis.“ Als er unsere Namen hörte, schnippte er mit den Fingern. „Ah, doch, die Namen hab ich gehört.“ „Du solltest einfach mal mehr aus deiner Höhle kommen, Yan“, meinte Rose amüsiert, nahm eine angebotene Zigarette dankbar an, und ich konnte nicht umhin, ihn zu beobachten, als er sich mit übergeschlagenen Beinen zurücklehnte, die Kippe im Mund, und sie sich in Ruhe ansteckte, erstmal einen Zug nahm und dann durch die Zähne wieder ausblies, während Yannis protestierte. „Klar geh ich raus, ich renn nur nicht die ganze Zeit an eurem Haus vorbei, daher siehst du mich nicht.“ Rose grinste. „Stell dir vor, ich bin auch manchmal nicht zuhause.“ „Du bist nie da, wo ich hingehe.“ „Stimmt auffällig. Weißt du, wo Mo steckt?“ „Hmm.“ Yannis wandte sich kurz um und machte ein paar Eingaben am Rechner, drehte sich dann auf dem Stuhl wieder zu uns. „Unterwegs, müsste aber gleich wieder da sein. Wieso? Bin ich dir nicht gut genug?“ Der Pinkhaarige lachte amüsiert, lehnte sich auf dem Sofa zurück und strich sich eine Strähne aus der Stirn; wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, er flirtete; vielleicht war es das, was eben schon meinen Blick zu ihm gelenkt hatte. Ob er das mit Absicht tat? Das wusste ich nicht. Ich glaubte es aber nicht, es schien so selbstverständlich aus ihm zu kommen. „Du bist eine Seele von Mensch, Yan, aber was wir brauchen, sind Nachrichten, keine Musik.“ „Hmm?“ Yannis steckte sich ebenfalls eine weitere Kippe an, dachte auch daran uns zu fragen, natürlich erfolglos. „Vielleicht kann ich auch helfen.“ „Das kannst du vielleicht auch. Du bist doch mit Fuchs befreundet, oder?“ „Ja, ein bisschen. Guter Mann. Wieso?“ „Wir suchen ihn; er war seit gestern Abend nicht zuhause.“ „Na und?“ Yannis schien fast etwas enttäuscht, stützte das Gesicht in eine Hand. „Das ist doch nicht weiter schlimm.“ „Finden wir soweit auch nicht; aber es ist zumindest ungewöhnlich, das tut er normalerweise nicht. Und Sakuya sagt, er macht sich Sorgen.“ „Hmmm.“ Yannis rauchte langsam. „Wenn Wolf sich Sorgen macht, ist wahrscheinlich was dran, das ist komisch. Und ihr wisst gar nicht, wo er sein könnte?“ „Er hat nichts gesagt, er wollte nur frische Luft schnappen, seitdem haben wir ihn nicht gesehen.“ „Naja, tut mir leid, hier ist er nicht. Moritz hat auch vorhin nichts über ihn gesagt; aber wartet ruhig mal bis er wiederkommt, vielleicht hat er ihn gesehen.“ „Das wär gut. Wenn Fuchs wieder auftaucht, hat dieser dumme Streit endlich ein Ende.“ „Das macht dich fertig, hm?“ „Natürlich. Das macht uns alle fertig. Die beiden sind meine ältesten Freunde.“ „Ich erinnere mich“, grinste Yannis. „Hm? Woran?“ „Als du in die Stadt kamst.“ „Das glaub ich dir nicht. Das ist Jahre her. - Außerdem hockst du doch nur in diesem Zimmer.“ Rose duckte sich lachend, als Yan das Kissen vom Schreibtisch nach ihm warf. „Gar nicht, wir hatten damals berichtet dass euer Haus wieder bewohnt ist, als ihr aus dem Karfunkel raus seid, da war ich dabei und habs mir angesehen. Aber vielleicht hast du mich nicht bemerkt, weil du zu beschäftigt warst, allen zu sagen, was sie wie einzurichten haben. Du warst ja sooo jung, und du hattest noch so komisch rosa-blonde Haare, und du warst total dreckig, und ich hatte immer den Drang dir Geld zuzustecken....“ Er duckte sich seinerseits als Rose das Kissen zurückpfefferte, bekam es aber dennoch zielsicher geworfen ins Gesicht, was ihn aber nicht davon abhielt, grinsend weiterzusprechen. „...oder vielleicht ein kleines Bonbon, damit du wieder was zum Lutschen hattest...“ Rose schnappte sich ein weiteres Kissen und bombardierte Yan wiederum, kicherte aber dabei. „Du bist so ein Arsch, Yan! Halt bloß dein Maul!“ „Oder was? Oder ich kann dich mal?“ In Ermangelung weiterer Kissen traf Yannis ein Stiftetui an den Kopf. „Aua, okay okay, Schluss, du triffst noch die Bildschirme!“ „Entschuldige dich.“ „Du kannst mich mal.“ „Das Glück wirst du nicht haben.“ Yan zeige Rose eine unhöfliche Geste, der nur grinsend die Beine anzog und sich auf dem Sofa zurücklehnte. „Red in Zukunft nicht so einen Schmutz, hier sind Minderjährige anwesend.“ „Jaja. Rose, ich entschuldige mich.“ Er stand auf und verbeugte sich galant. „Pah. Du hast ja nur Angst vor mir.“ „Stimmt. Du hast mich erwischt. Was ist eigentlich mit Sakuya und Antti, sind die wieder zusammen?“ „Ha, du versuchst nur abzulenken.“ „Jetzt sag mal, das interessiert mich wirklich.“ „Warum sollte das jemanden wie dich interessieren; oder hast du plötzlich doch das Ufer gewechselt?“ „Ih, nein. - Hör auf, keine Kissen mehr! - Nein, aber ich mochte das Album aus der Zeit, ich glaub das hat Antti echt gut getan.“ Rose legte den Kopf schief, war wieder ernster. „Ja, glaub ich auch, die beiden waren wirklich ein tolles Paar. Ich weiß nicht ob das nochmal was wird, sie hatten sich im Eden kurz gesehen und beide haben fast eine Krise bekommen. Ich fänds aber schön. Antti scheint nicht so ganz glücklich zu sein mit der Trennung, vielleicht finden sie doch nochmal zusammen.“ „Wär gut. Aber das erklärt, warum er nicht bei der Probe war.“ „Bei der Bandprobe?“ „Nein, bei der fürs Krippenspiel. - Natürlich bei der Bandprobe! Ich hör mir das gern ab und zu mal an, von den Bands in der Stadt gefallen mir Swan eigentlich noch am besten, aber nur um hinzugehen wenn Antti nicht da ist und mich von Karasu beleidigen zu lassen hab ich keine Lust.“ Rose verzog das Gesicht. „Ich dachte, wenigstens du verstehst dich mit ihm.“ „Njaaa. Ab und zu kann man mit ihm reden. Und man kann sagen was man will, der Mann macht gute Musik. Aber er ist und bleibt ein Soziopath. Den mag nur Antti. Wenn Antti da ist, hält er sich zurück.“ „Antti mag aber jeden.“ „Na, das ist nicht der Grund. Vor Antti hat er als einzigem ein bisschen Respekt. Er hat mir fast die Tür ins Gesicht geknallt, als ich gehen wollte.“ „Ist nicht dein Ernst.“ „Doch, klar. Von wegen, ich störe, und so. Aber Jimi sagt, als Bandkollege ist er prima, na gut er weiß dass er sich zusammenreißen muss wenn er in einer Band spielen will. Nur privat geht’s eben gar nicht.“ „Wer ist das?“, wollte ich etwas verlegen wissen. Ich saß die ganze Zeit neben Junya auf dem schmutzigen Sofa, die Hände im Schoß, und wusste nicht recht, ob ich mich am Gespräch beteiligen durfte, oder nicht. Rose kannte so viele Leute in der Stadt, eigentlich alle die ein wenig Einfluss hatten, er fand immer so leicht Anschluss. Aber beim Thema Antti hatte ich aufgehorcht; ich mochte Antti wirklich gern, und zudem war ich nicht sicher, ob Sakuya wirklich mit Antti wieder zusammenkommen wollte; wollte er nicht eher mit Fuchs zusammensein? „Wer? Jimi?“ „Nein, der andere“, fiel Junya ein, weil ich etwas eingeschüchtert war, als Yan mich plötzlich so direkt angrinste. Er war ja ein sympathischer Kerl, aber ich hoffte, dass er mich nie so neckte wie Rose; der Brite mochte ein dickes Fell haben und darüber lachen können, ich konnte sowas nicht. „Ach so, Karasu. Das ist der Bassist in Anttis Band. Guter Musiker.“ „Er ist ein Arsch“, fiel Rose ihm ins Wort. „Geht dem aus dem Weg wenn ihr ihn seht, ihr erkennt ihn leicht, er hat das ganze Maul voller Piercings.“ Ich schrumpfte ein wenig; so grob hatte ich Rose noch über niemanden reden hören. Yannis merkte es auch. „Ooh, du wirst ja so böse.“ Rose schnaubte. „Darf ich auch. Der Wichser meinte, ich soll aufhören, mich als was Besseres zu fühlen, und zurück in die Gosse gehen wohin ich gehöre, wenn ich keinen Stolz hätte.“ „Als ob er selber welchen hätte.“ „Eben. Ich weiß genau, dass er sich ritzt. Er soll bloß sein hässliches Maul halten. Und zu Valentin hat er gesagt, er wäre ein minderwertiger Gitarrist. Soll er doch selber besser spielen!“ „Naja, er spielt auch recht gut.“ „Das gibt ihm aber nicht das Recht, so mit Val zu reden, nach Daring Lucifers eigenem Gig!“ „Autsch. - Mir hat er mal gesagt, ich hätte keinen Musikgeschmack. Hallo! Die ganze Stadt ist anderer Meinung!“ „Entschuldigung“, piepste ich vorsichtig in die muntere Lästerrunde. „Hm?“ „Entschuldigung, aber ich kenne ja Antti ein bisschen, und der ist doch eigentlich total nett, und wenn er mit ihm befreundet ist...“ „Jaaaa. Antti ist ein Engel. Nichts gegen Antti. Aber er ist zu nett, der freundet sich echt mit allem an....“ „Nee nee“, sagte Yan. „Die zwei verstehen sich wirklich ganz gut; ich habs gesehen. Also die sind echt befreundet.“ Rose zuckte die Schultern. „Vielleicht über die Musik.“ „Das kann sein.“ „Wobei, Mari kann auch mit ihm.“ „Wie, Mari? Aber nicht Hello-Kitty-Mari?“ „Doch, eben der.“ Yannis runzelte die Stirn und drehte sich eine weitere Kippe. „Kann ich mir gar nicht vorstellen; den ertrag ja nichtmal ich. Wenn ich den nur sehe, bekomm ich Karies.“ „Ach, so ist er nicht immer; ich glaub er weiß dass er provoziert. Ich hab ihn mal zuhause besucht, er ist ziemlich kreativ, und sonst eigentlich ganz normal.“ „Spielt ja keine Rolle; der ist mit Karasu befreundet?“ „Befreundet weiß ich nicht. Ich weiß dass die zwei sich kennen und auch wohl normal miteinander gesprochen haben; Mari jedenfalls hat nichts gegen ihn.“ „Das sagt schon alles.“ „Dacht ich mir dann auch.“ „Vielleicht hat er ihn auch solange genervt, bis er sich mit ihm angefreundet hat.“ Rose grinste. „Das kann natürlich auch sein; ich glaub der ist ganz stolz darauf dass er alle Musiker der Stadt kennt.“ „Was ist eigentlich mit euch?“ Yan schwang auf seinem Stuhl etwas weiter herum, um sich von Rose ab- und uns zuzuwenden. „Habt ihr euch schonmal eine der Bands aus der Stadt angehört?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wart ihr überhaupt mal aus?“ „Wir waren im Eden“, meinte ich etwas still. Yan kicherte. „Jamie, du musst nicht so verkrampft dasitzen, du bist hier unter Freunden. Ich bin nur der nette Mann aus dem Radio.“ Ich wurde rot. „Ja, äh....“ „Also du bist Sakuyas Bruder und du kennst nicht Silver Swan?“ Wieder verneinte ich. „Das geht eigentlich gar nicht.“ Yan schüttelte den Kopf. „Wollt ihr beiden mal was hören?“ „Klar“, meinte Junya fröhlich; er hatte bisher weniger verkrampft als ich dagesessen und eher müßig gelauscht; ich hatte die ganze Zeit seinen Arm um meine Hüfte gespürt, und jetzt nutzte ich die Gelegenheit und kuschelte mich etwas enger an ihn, worauf er sogleich beide Arme um mich legte und mir einen sanften Kuss auf die Schläfe hauchte. Mein ganzer Körper kribbelte, während er leicht mit einem Finger über meine Seite streichelte. Yan hatte sich umgedreht und klickte ein wenig am PC herum. „Ich spiel euch mal eins ihrer Originale vor; das ist natürlich nicht so gut wie live, weil wir leider auch keine Profitechnik zum Aufnehmen hier haben, aber ich finds trotzdem ziemlich geil.“ Ich hätte es anders ausgedrückt, aber er hatte recht: Es war wirklich schön. Ich hörte zum ersten Mal Antti singen, und auch wenn es nur eine Aufnahme war, bekam ich fast eine Gänsehaut. Der Mann hatte eine Stimme wie ein Engel, ein wunderschöner klarer Tenor, sanft, klangvoll, mir schmolz förmlich das Herz; Junya zog mich sanft etwas enger an sich. Ich versuchte auch den Bass herauszuhören, was meinem ungeübten Ohr aber nicht gut gelang. Leider war das Lied noch nicht ganz zuende, als die Tür sich öffnete und Mo zusammen mit einem Schwall kühler, frischer Luft den Kopf hereinstreckte. „Nanu! Hoher Besuch!“ Es stellte sich leider heraus, dass auch Mo weder von Fuchs gehört noch ihn gesehen hatte, obwohl er wenigstens betrübt schien, dass jener vermisst wurde. Wie wir erfuhren, waren beide Djs mit Fuchs befreundet und gerade Moritz mochte ihn wirklich gern, seiner Aussage nach. Viele Leute aus dem Musikerbereich in der Stadt kannten Fuchs, da er der Livemusik seit Jahren die Treue hielt, und schätzten ihn für seine unkomplizierte, hilfsbereite Art. „Der Mann hat immer ein Lächeln für alle über, seit ich ihn kenne“, meinte Mo. „Wenn er jetzt wegen Sakuya am Rad dreht, dann muss ich wirklich mal ein ernstes Wort mit dem schwarzen Trampeltier reden.“ Wir verließen die beiden, als der Tag sich langsam dem Ende neigte; Mo versprach, als erstes vorbeizukommen, sollte er etwas hören; er meinte aber, das sei eher unwahrscheinlich. Ich selber erwartete halb, dass Fuchs sowieso zuhause war, wenn wir kamen. Der Regen hatte aufgehört, und so konnten wir in Ruhe in die Stadt hinabsteigen; unsere Spiegelbilder zitterten in den vielen Pfützen im löchrigen Asphalt. Noch immer hingen die Wolken tief, vielleicht würde es ein Gewitter geben in der Nacht oder am folgenden Tag; eine seltsame feuchte Schwere lag in der Luft. Auf halbem Weg in die Innenstadt kam uns ein junger Mann in einfacher, praktischer Uniform entgegen, er trug eine Waffe an der Seite. Er grüßte nicht, und auch Rose nahm keine Notiz von ihm, aber ich wich unwillkürlich etwas zur Seite aus. Zwischen den Steinen der verfallenen Häuser, an denen wir vorbeikamen, blühten kleine weiße und violette Blumen ungeachtet des schlechten Wetters. Eine Überraschung hielt der Tag noch für uns bereit; als wir über den Marktplatz gingen, kam gerade aus einer der angrenzenden Seitenstraßen eine bekannte Gestalt uns entgegengeschlendert, eine Rolle Stoff unter dem Arm; gemessen an vorher wirkte er klein, nahezu unauffällig, wenn auch die pinken Haare nach wie vor ihren Teil taten; Mari hatte eine schlichte gestreifte Jeans an und eine violette Flokatijacke, nach wie vor dieselben Stiefel mit den pinken Schnürbändern, den Schmuck hatte er großteils abgelegt und war nur leicht geschminkt, mit ein wenig pinkem Lidschatten und einem kleinen Stern neben dem rechten Auge, ohne Lippenstift sogar fast normal also. Als er uns sah, winkte er und lief strahlend auf uns zu, den Stoffballen mit sich schleppend. „Heeey!“ Jeder von uns wurde der Reihe nach in die Arme geschlossen; er roch nach Lavendel und irgendetwas Süßem. „Wie schön euch zu sehen! Wie geht’s euch?“ Mari strahlte, rieb sich die Hände mit den lackierten Nägeln in der kühlen Abendluft. „Gut“, meinte ich, unfähig mich von dem Lachen nicht anstecken zu lassen; Rose kam gleich zum Praktischen. „Mari, hey....sag mal, hast du Fuchs gesehen?“ „Fuchs? Nö. Ewig nicht mehr. Wieso?“ „Ach...nicht so wichtig....“ Rose seufzte. „Was ist denn los?“ Mari stellte den Ballen kurz ab, auf einen Stiefel gestützt, um ihn nicht ins Regenwasser tunken zu lassen. „Erzähl, ich komm grad von der Arbeit, ich hab Zeit.“ „Oh, du hast die Stelle bekommen?“ Mari grinste breit. „Jaaaaa.“ „Hm. Na, das wär auch das erste Mal, dass du nicht bekommst, was du willst.“ Der Kleinere kicherte. „Was meinst du jetzt?“ Rose schmunzelte. „Gar nichts. Aber du bist wieder erholt, ja?“ „Erholt? Hm? Wovon?“ „Von Yuki natürlich.“ „Oooch.“ Mari schmollte. „Das ist ziemlich gemein sowas zu sagen, Yuki ist so ein Süßer.“ „Ist er. - Glückwunsch zum neuen Job.“ „Danke. Was ist jetzt mit Fuchs?“ „Wir wissen nicht, wo er ist.“ „Na und? Er kann doch auf sich aufpassen, ich kenn ihn doch.“ „Aber Sakuya macht sich Sorgen“, mischte ich mich jetzt ein, Partei für meinen Bruder ergreifend. Mari sah mich nachdenklich an. „Echt? Aber warum das? Ich meine, ich mache mir auch Sorgen um Fuchs; aber eher wegen Sakuya.“ „Er meint, das ist ungewöhnlich, dass er so lange weggeht und sich nicht meldet.“ „Ah.“ Der Schneider stützte sich mit den Armen auf seinen Ballen. „Das ist aber tatsächlich komisch.“ Er klang besorgt, und Rose fiel ein. „Ich denke nicht, dass ihm etwas passiert ist; aber wenn wir ihn finden, dann wird Sakuya endlich mal in Ruhe mit ihm reden können.“ „Soll ich suchen helfen?“, schlug Marius vor; Rose winkte ab. „Lass nur. Wir wollten eh gerade nach Hause gehen.“ „Sicher? Ich hab Zeit, ich kann ein bisschen rumfragen. Ich mag Fuchs selber gern mal wieder sehen, das ist ein echt lieber Mensch.“ „Lass nur; Yuki und Diego haben schon alle seine Bekannten abgeklappert.“ „Mäh. Na schön.“ „Was soll das werden?“, fragte ich und zeigte auf den Stoffballen. Mari strahlte mich an. „Uhhh, Jamie, ich bin froh dass du fragst, dann hab ich eine Gelegenheit zum Angeben!“ Er rollte ein Stück ab; es war hübscher Stoff, wie es aussah, mit floralem Muster in Schwarz und einem intensiven Violett. „Ist das nicht wunderschön? Hab mein letztes Geld diesen Monat dafür ausgegeben, aber das wird es sowas von wert, sag ich euch!“ Ich lachte. „Ja, aber was machst du draus?“ „Ach so! Ach ja! Das wird eine Weste für mich und ein Mantel für Yuki.“ Rose hob eine Augenbraue. „Du schneiderst für Yuki?“ Marius wippte fröhlich auf den Fersen, grinste uns an und pustete sich eine glatte Strähne aus der Stirn. „Jaaaaaa. Er hat einen meiner Mäntel gesehen als er bei mir zuhause war und der hat ihm gefallen.“ „Und da dachtest du, er bekommt auch einen.“ „Jop“, meinte Mari fröhlich, grinste Rose an und nahm den Stoffballen in beide Arme. „Übrigens, die blonden Haare: Deine Idee oder seine?“ „Hehehe. Meine. Sieht doch geil aus.“ Rose schmunzelte. „Nicht mehr lange: Dreimal Sex, und ihr steht offiziell aufeinander.“ „Ah was!“ Mari tänzelte ein wenig auf der Stelle und schüttelte vehement den Kopf. „Wir hatten nur zweimal Sex, und das Peroxid zum Bleichen hatte ich übrigens noch über, ich hab mich sicher nicht in Unkosten gestürzt!“ „Zweimal?“ „Passiert, oder?“ „Na schön, wenn ihr beide damit glücklich seid.“ Mari grinste breit. „Keine Sorge, er ist definitiv sehr glücklich gewesen.“ „Ich dachte, ein One Night Stand heißt so, weil es nur einmal passiert.“ „Du bist doof, Rose. Zwischen uns läuft nix. Ist das meine Schuld, wenn er gut im Bett ist?“ Rose lachte. „Ich will dich doch nur ärgern, Baka.“ Marius streckte ihm die Zunge raus, schnellte dann mit einem Mal zu Junya und mir herum. „Oh! Fast vergessen! Herzlichen Glückwunsch!“ „Wozu“, brachte ich etwas verdattert heraus. „Na zu euch! Ich hab euch neulich gar nicht gratuliert! Ihr seid so ein schönes Paar! Das ist so süß! Ich freu mich so! Darf ich euch drücken?“ „Ähm...“ Junya zuckte die Schultern. Marius nahm das als okay und schloss uns beide in die Arme, erst einzeln, dann gemeinsam; jeder bekam einen Kuss auf die Wange. „Ihr seid ein total niedliches Pärchen, ich wünsch euch alles alles Gute, und passt gut aufeinander auf!“ Ich sah, wie Junya strahlte, und mir wurde ganz warm in der Brust. „Danke!“ „Und, habt ihr schon...“ „MARI.“ Das war Rose. Der Schneider hielt sich selber kurz mit zwei Fingern den Mund zu; sein Schmetterlingsring den er heute trug funkelte. „Ups, okay, ich hab verstanden, keine Fragen, ist eure Sache.“ Und ich wurde mal wieder rot bis über beide Ohren, bis Junya mich von hinten umarmte und mich wortlos sehr eng an sich zog. Wir verließen den Marktplatz, als es schon dunkel geworden war. Oben auf den Dächern hatte Fuchs gerade die zweite Flasche Gin geleert, und schickte sich an, etwas sehr Dummes zu tun. Aber auch das ahnten wir natürlich nicht, sonst wäre vieles anders verlaufen. Als wir nach Hause kamen, waren die anderen schon versammelt und warteten offensichtlich nur noch auf uns; Yuki und Valentin hatten sich etwas zu essen genommen und sahen mit den Zwillingen eine Dvd, sahen aber auf, als wir hereinkamen. Sakuya stand mit Ilja und Diego zusammen und hob den Kopf, sein Blick war allerdings so enttäuscht, dass ich gar nicht fragen musste, ob Fuchs da war; auch brauchte es keine Worte unsererseits, damit die anderen Bescheid wussten. „Habt ihr Mo gefunden?“, fragte Ilja trotzdem; seine Haare waren nass und sein T-Shirt auch, genauso wie Sakus, sie mussten gerade erst zurückgekommen sein. Rose nickte. „Haben wir. Nichts gesehen, nichts gehört. Mo und Yannis sagen hallo. Sie melden sich, wenn sich doch noch etwas tun sollte.“ „Schade...“ „Ich habs nicht anders erwartet“, meinte Saku plötzlich. „Wenn er nicht gefunden werden will, dann hat es auch keinen Sinn, ihn zu suchen. Ihr habt recht. Er will wahrscheinlich seine Ruhe haben. Da bin ich ja selber daran schuld. Es tut mir leid, dass ich euch alle in den Regen geschickt habe.“ Ich ging zu ihm. „Ach, Saku....“ Ich legte die Arme um ihn; er war ganz nass und etwas kalt, drückte mich aber an sich. Er tat mir so leid; ich selber hätte Fuchs lieber hier gehabt, bei uns anderen; Fuchs mit seinem leisen Lachen und seiner besonnen Art. „Wir wollten ihn ja selber finden, du hast uns nirgendwo hingeschickt.“ „Stimmt, das war Ilja“, merkte Diego fies grinsend an. „Ja, haha, sehr witzig, Diego.“ „Aber, Ilja, ehrlich, nächstes Mal schickst du wen anders rumfragen“, rief Valentin vom Sofa aus. „Ich dachte, ich frag bei Silver Swan und geh natürlich als erstes zu Antti, aber nein! Wer macht auf? Sein idiotischer Mitbewohner, und lacht mich aus, als ich sage, wir suchen Fuchs, der ist die ganze Nacht nicht nach Haus gekommen! So ein Affe, echt.“ Sakuya vor mir schnaubte. „Hör doch nicht auf den, der ist es nicht wert.“ Rose kam inzwischen zum Sofa geschlendert und grinste Yuki an. „Ich soll dich von Mari grüßen.“ Yuki sah kurz mit großen Augen auf. „Habt ihr ihn getroffen?“ „Hmm. Am Markt.“ „Ah. Okay.“ Yuki widmete sich wieder seinem Essen. „Ist da was zwischen euch?“ „Es war zweimal nichts zwischen uns außer ein bisschen Latex, oder was meinst du?“ „Selten so gelacht. Du weißt was ich meine.“ „Da ist nichts.“ „Bist du sicher?“ Valentin verfolgte den Dialog aufmerksam, einen Hühnerspieß im Mund. „Jaaa, Rose. Mari ist ein One Night Stand, mehr nicht.“ Yuki sah auf. „Du verarscht mich nur, oder? Lass das sein, das irritiert mich total.“ Rose lachte. Yuki warf einen leeren Spieß nach ihm. „Du bist so doof! Ich wollt heut Nacht bei dir schlafen, aber vielleicht überleg ichs mir nochmal.“ „Mann, Yuki!“, beschwerte sich Diego. Yuki drehte sich um und grinste ihn über die Lehne hinweg an. „Was denn, mein liebster Hase?“ „Hör doch mal für eine halbe Stunde mit dem Rumgeschwuchtele auf!“ „Hör du doch mal für eine halbe Stunde mit dem Spanischsein auf!“ „Das kannst du überhaupt nicht vergleichen, boah, du bist sowas von nervig manchmal...“ Yuki hielt sich die Hände über die Ohren und summte vor sich hin. Ilja stellte sich zwischen die beiden, während Diego noch immer am Schimpfen war. „EY! Ihr zwei! Auszeit! Wir wissen alle, dass ihr euch gern habt, aber jetzt durftet ihr den ganzen Abend miteinander Spazierengehen, und nun ist mal Pause.“ „Ey, Ilja, ist doch wahr, das ist doch widerlich...“ „Ilja, hör mal auf mit dem Papaspielen, Diego ist sooo verklemmt, dem tut das gut...!“ „Alle beide, es reicht! - Diego, wir drei gehen jetzt, komm einfach mit.“ „Wo geht ihr hin?“, wollte ich überrascht wissen. „Wir machen einen Männerabend“, sagte der Spanier. „Für richtige Männer“, konnte er sich richtung Yuki nicht verkneifen. Rose grinste. „Männerabend heißt, sinnloses Besaufen?“ „Sinnlos find ichs nicht, wenn es Sakuya ein bisschen ablenkt. Und ich bin ja noch da um nüchtern zu bleiben und aufzupassen“, zuckte Ilja die Schultern. „Ich will gar nicht groß was trinken“, murmelte Saku und löste jetzt die Arme von mir, seufzte leise. Diego legte ihm den Arm um die Schulter. „Musst du ja nicht. Aber wir haben ein halbes Jahr lang auf deine Gesellschaft verzichtet. Und heut ist Donnerstag! Da gibt’s zwei für einen im World's End. Lass uns den Spaß!“ Sakuya grinste schief. „Na gut.“ Als die drei das Haus verlassen hatten, sah ich, dass Junya auf dem Sofa saß und den Arm nach mir ausstreckte, als er meinen Blick bemerkte. Ich setzte mich neben ihn, und er zog mich zugleich an sich; sein Körper war so schmal, aber warm. Als ich ihn kennengelernt hatte, hatte er so unsicher und zerbrechlich gewirkt; jetzt, wo wir zusammen waren, war es, als gewinne er jedesmal an Kraft, wenn ich bei ihm war, und auch wenn seine Hände schmal und kühl waren, hatte ich mich in keiner Umarmung jemals so sicher gefühlt wie in seiner. Ich sah seine dunklen Augen neben mir funkeln, und spürte seinen Atem an der Wange, als er den Kopf etwas neigte, um mir ins Ohr zu flüstern. „Ich liebe dich“, hörte ich leise, und mein Herz schlug so laut, dass ich mich für einen Moment nicht bewegen konnte; ich hatte Angst, es müsse sonst zerspringen, ich hatte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Ich konnte nicht einmal antworten, da spürte ich kühle Finger an meinem Gesicht, die es sehr sanft zu ihm drehten, und dann seine warmen weichen Lippen, die mich berührten, mich zärtlich küssten, als wären wir völlig alleine auf der Welt, als würde nichts anderes eine Bedeutung haben. Wir verharrten lange fast regungslos, nach einigen Sekunden begann ich den Kuss zu erwidern, er schmeckte so unglaublich gut, nach Glück und Himmel und Frühlingsregen. Erst als wir uns wieder lösten bemerkte ich fünf auf uns gerichtete Augenpaar und wurde knallrot. Yuki grinste in sich hinein. „Da könnte man direkt neidisch werden.“ Fuchs: Den Flügel gebrochen Gestern noch ging ich gepudert und süchtig In der vielbunten tönenden Welt. Heute ist alles schon lange ersoffen. Hier ist ein Ding. Dort ist ein Ding. Etwas sieht so aus. Etwas sieht anders aus. Wie leicht pustet einer die ganze Blühende Erde aus. Ist nichts mehr zum Weinen. Ist nichts mehr zum Schreien. Wo bin ich – Alfred Lichtenstein Ich lag auf etwas Weichem; um mich herum schien alles so hell und so flüchtig, fast hatte ich Angst, die Welt würde kippen und zerbrechen, wenn ich die Augen ganz öffnete. Von irgendwoher fiel Licht auf mein Gesicht, ich hatte das Gefühl, es könnte Sonnenlicht sein; außerdem tat mir etwas weh, ich konnte aber den Schmerz nicht orten. Ich versuchte, die Augen etwas weiter zu öffnen, und wurde mit Schmerzen belohnt, als das helle Licht in meine Augen stach, und ich stöhnte und presste die Lider wieder zusammen. Wieder hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen, doch dieses Mal viel näher und deutlicher. „Fuchs. Hey, Fuchs. Hey!“ Ich merkte, wie sich jemand über mich beugte, und als ich doch vorsichtig blinzelnd die Augen öffnete, fiel mein Gesicht auf helle Augen, ein angespanntes Gesicht, ich sah Metall. „Schlaf nicht wieder ein, sprich mit mir, Fuchs, sag was.“ Mein Blick wurde langsam klarer. „Ka....rasu...?“ Ich wandte den Kopf. Es roch nach Zigarettenrauch. Ich kannte den Geruch. Ich merkte, dass meine Hände zitterten, und ich wusste nicht mal, wieso. Zum ersten Mal an diesem Tag wachte ich vielleicht endlich auf, und ich realisierte endlich das Zimmer um mich herum, anstatt es als bloße Kombination von Formen und sterilen Ecken wahrzunehmen, ich hob die rechte Hand und presste sie mir auf den Mund, unwillkürlich, vielleicht wollte ich ein weiteres Stöhnen ersticken, vielleicht hatte ich aber auch nur Angst vor dem, was noch aus mir herausströmen könnte. Ich lag in Karasus Zimmer auf dem Bett. Es war still. Karasu selber saß neben mir, stützte sich mit einem Arm neben mir auf der Matratze ab, den anderen hatte er im Haar vergraben; er war ungeschminkt und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. „Sag mal, hast du den Verstand verloren“, zischte er mich an, seine Augen funkelten; ich sah wie gerötet sie waren, als hätte er tagelang nicht geschlafen. „Du hast so ein verdammtes Glück dass Julia dich gefunden hat, du dummer Bastard; weißt du eigentlich was du da getan – fuck, natürlich nicht. Warum machst du solche Scheiße...!“ Ich wusste nicht, wovon er sprach, und er vergrub beide Hände im Haar, stützte sich mit den Ellbogen auf die Matratze, ich hörte dass sein Atem schwer ging. Ich wollte mich aufsetzen und spürte einen Schmerz, wandte den Kopf, sah meinen linken Unterarm, fest bandagiert, ganz in weiß, wie ein gebrochener Flügel, dachte ich noch, und wusste nicht, wieso. Ich hob die rechte Hand und versuchte an der Mullbinde zu zupfen, unterbrochen von Karasus scharfem Ausspruch: „Wenn du es wagst, den Verband abzunehmen, dann schwöre ich, ich bringe persönlich zu Ende was du Idiot begonnen hast.“ Seine Worte ergaben keinen Sinn für mich. „Was....was ist denn passiert?“ Meine Stimme klang so trocken und heiser. Er sah mich an, den Kopf auf die Arme gelegt; wenn ich selber den Kopf drehte, konnte ich ihm direkt in die Augen sehen. „Du erinnerst dich gar nicht?“, flüsterte er, es klang erschöpft. „Nein.... doch....“ Vage Erinnerungsfetzen tauchten vor meinem inneren Auge auf; ich konnte mich erinnern, am Donnerstagmorgen, nachdem ich Sakuya begegnet war, eine Flasche Gin gekauft und getrunken zu haben und am Abend eine zweite, ich konnte mich erinnern dass ich auf einer Dachruine saß, und irgendwann war ich am Marktplatz gewesen – war es da schon wieder dunkel? Ich erinnerte mich, dass ich geweint hatte.... ich erinnerte mich, dass ich Schmerzen hatte... Ich erinnerte mich an einen entsetzlichen Traum, den ich in der folgenden Nacht gehabt hatte. „Wo sind denn...meine Sachen...?“ Ich sah mich suchend um; ohne die Decke zu heben, merkte ich, dass ich nackt war. „In der Wäsche natürlich! Dein Messer habe ich, und das bekommst du auch nicht wieder.“ „Da war so viel Blut...“, murmelte ich benommen. Karasu fauchte. „Natürlich war da viel Blut, Trottel, wenn du dir mit dem Messer auf dem Arm rumhackst; ich dachte - ! Ich hatte Angst, dass.... Scheiße!“ Er stand ruckartig auf, drehte sich um, ich sah, dass er schwer atmete, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Und in diesem Moment fiel mir ein, was ich getan hatte, und warum mein Arm verbunden war, und ich konnte nicht anders, ich schlug die Hände vors Gesicht und fing haltlos an zu lachen; mein Lachen klang flach und falsch in meinen Ohren, aber ich konnte es nicht stoppen. Karasu fuhr herum und schrie mich an. „Scheiße, was soll der Mist!“ Und ebenso schnell, wie ich zu lachen begonnen hatte, hörte ich doch wieder auf; ich hielt wieder die Hand vor den Mund gepresst und fing an zu zittern; ich wusste nicht wieso, Angst, Erleichterung, Hysterie. Karasu sank neben dem Bett nieder und griff nach meinem bandagierten Arm, hielt meine Hand zwischen seinen, und ich krallte mich unwillkürlich in seine Haut, den Arm vor den Mund gepresst, während mir Tränen über das Gesicht rannen. „Warum hast du denn nichts gesagt....!“, flüsterte er, ich öffnete die Augen, bereit, seinem vernichtenden hellen Funkeln zu begegnen, aber mich traf es wie ein Schlag in die Magengrube, als ich statt in ein Paar wütender Eisaugen in ein Paar nasser Iriden blickte. Ich sah, wie er die Lippen zusammenpresste, meine Hand für eine Sekunde etwas fester hielt. Er blickte zu mir, das Gesicht auf seinem rechten Arm liegend, aus hellen blauen Augen, in die ich noch nie wirklich hineingesehen hatte, schien es, oder war diese wortlose Treue neu? Meine Hand zitterte, er griff behutsam fester, und ich drehte mich auf die Seite, hielt mich an ihm fest. Mit der freien Hand griff ich nach oben, wischte mir die Tränen von den blassen Wangen. “Ich habe Angst”, murmelte ich, ich hatte ein bisschen Scham, es auszusprechen, es ist doch lächerlich, vor sich selber Angst zu haben, kann ein Mensch so schwach sein? “Ich weiß”, murmelte er leise zurück, strich mit den Fingern der anderen Hand sanft über meinen bandagierten Unterarm, den mein Wahn zuvor attackiert hatte, und ich drehte das Gesicht zur Seite, sah die vernarbte, harte Haut, an seinem Arm, der mich streichelte. “Aber das darfst du nicht, Fuchs.” “Warum nicht?”, wisperte ich und vergrub das Gesicht in meinem angewinkelten Arm, er hatte die Finger von meinem Verband gehoben, als er meinen Blick bemerkt hatte, und hinterließ eine seltsame Kälte. “Warum...warum darf ich das nicht...” Ich schluchzte plötzlich auf, ohne Tränen weinte ich. „Du hast gesagt, es ist feige, vor der Realität davonzulaufen – ja – aber muss es denn immer – muss ich denn immer mutig sein? Ich bin nur ein Mensch, und ich kann nicht mehr! Überall nur Elend und Gewalt, und am Ende sind doch alle allein, und wofür? Wofür das ganze? Ich will diese Realität nicht!“ Ich spürte plötzlich mit erstaunt geöffneten Augen, wie sich seine Hand auf meinen Kopf legte, sanft durch mein Haar kraulte, und ich wimmerte erstickt auf, seine Berührung tat so gut, ein Zeichen der Wärme, die mich fast verloren hätte. Ich schmiegte mich an seine Hand, und er zog meinen Kopf auf seinen Schoß, wo ich mich mit dem Arm festhielt, ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht, meine Kehle war wie zugeschnürt; ich zitterte unter den sanften Bewegungen seiner Finger auf meiner Kopfhaut, und mein Atem beruhigte sich langsam, aber mein Herzschlag nicht. Es fühlte sich so gut an, wie er mich hielt, mein einziger Reisegefährte auf meinem Weg in den Untergang. „Keiner verlangt, dass du immer stark bist“, flüsterte er. „Aber du kannst nicht einfach davonlaufen und die Tür hinter dir schließen....natürlich, klar, es ist feige, die Augen zu verschließen, das habe ich gesagt und das meine ich auch; und ja, es tut weh, sich stattdessen umzudrehen und zurückzusehen. Aber dieser Schmerz, der gehört zum Leben, und du bist keine schwache Person, ich weiß dass du ihn ertragen kannst. Wenn du....wenn du etwas gesagt hättest.... Ich weiß, wir kennen uns nicht so gut. Aber ich verstehe. Und ich hätte dir geholfen.... Du kannst doch nicht einfach....“ Er verstummte kurz, und ich hörte, wie er die Luft zwischen den Zähnen einzog. „Du bist so ein Idiot.“ Es klang erstickt, und ich merkte, dass er Angst um mich hatte. “Ich kann nicht mehr”, wisperte ich, und ich spürte, wie er sich zu mir beugte. „Sei doch nicht dumm. Natürlich kannst du.“ „Und wofür?“ Er schwieg kurz. „Wenn du es nicht für dich tun möchtest, dann musst du es für die Menschen tun, denen du etwas bedeutest. Die nicht so stark sind wie du. Die dich brauchen.“ Ich wandte den Kopf, und er bettete ihn wieder auf das Kissen zurück, legte seinen Kopf neben mir erschöpft auf das Laken, und man sah, wie blass er war. “Hast du Schmerzen?” “Nein.” Es war eine Lüge, und er wusste es. „Ich habe Antti versprechen lassen, dass er keinem von deinen Leuten Bescheid sagt; wenn du das aber möchtest, dann schicke ich ihn los.“ „Nein!“ Ich hatte protestiert, ehe er ausgesprochen hatte, und schloss verlegen den Mund. Ich wollte nicht, dass mich jemand von den anderen so sah. Um nichts in der Welt. Vor allem wollte ich nicht, dass Sakuya mich so sah. Ich wusste nicht, wieso. Ich wollte es nicht. Vielleicht hatte ich Angst, ihm damit wehzutun. Vielleicht hatte ich aber auch Angst, ihm damit nicht wehzutun. “Ich meine...wenn es dir nichts ausmacht...bleibst du ein bisschen bei mir...bitte...?” “Hm.” Er ließ sich neben mir nieder, streichelte meine Wange, und ich schloss die Augen. Solche Zärtlichkeiten kamen unerwartet, sonst war er nie von vorneherein so lieb, aber es fühlte sich gut an, sehr sogar. Ich hatte das Gefühl, er hätte mich aus einem tiefen Wasser gezogen wie einen Ertrinkenden, und mein Herz zog sich in der Brust zusammen, als mir klar wurde, wie dankbar ich sein sollte, auch wenn mein Schutzengel ein ungewöhnlicher war. Sakuya hätte sicher gesagt, dass Gott meinen Tod nicht wollte. Das wäre schön gewesen, wenn ich denn an einen Gott glauben würde. Ich öffnete ein wenig die Augen. Karasus Arme schienen so verletzlich unter dem hellen T-Shirt, das er trug, ich wusste nicht, ob ich mich deswegen von ihm verstanden fühlte, weil er vielleicht von allen Menschen um mich herum am ehesten wusste, was in mir vorging; aber ich wollte niemanden sehen außer ihm. Er stellte keine Fragen. Er wusste einfach. Ich drehte mich auf die Seite und griff nach seiner Hand, die meine sofort fest umschloss und meinen Griff mit leichtem Druck erwiderte. “Danke...” “Ist schon okay. Mach dir keine Sorgen, ich bleibe, wenn du das gerne möchtest. Ich lass dich nicht alleine.” Bei seinen Worten lief mir ein heißer Schauer den Rücken hinab. „Welchen Tag haben wir...?“ „Freitag. Vormittag.“ “Du warst die ganze Nacht über hier, oder...?” “Ja.” “...Danke...” Er ließ sich wieder neben mir nieder, stützte das Kinn auf den auf die Matratze gelegten Arm und sah mich aus geröteten Augen an. “Du darfst so einen Scheiß nie wieder tun, okay? Das klingt vielleicht blöd weil es von mir kommt, aber ich weiß wovon ich rede, und bitte, lass es bleiben, egal was passiert. Tu dir weh, wenn du musst, aber versuch niemals wieder, zu sterben. Versprich es mir. Jetzt.” Sein Daumen streichelte meinen Handrücken, und ich nickte schwach. “Okay...” Ich sah mich unfähig, seinem Blick zu entkommen; ich konnte mich daran festhalten. “Nicht 'okay', Arschloch. Versprich es.” Seine Worte waren ruhig, aber seine Stimme zitterte. Ich biss mir kurz auf die Unterlippe, sie pochte leicht dort, wo er sie zwei Nächte zuvor blutig gebissen hatte, mein Blick verschwamm. “Ich verspreche es....” Er beugte sich über mich, strich mir die Haare zärtlich aus der Stirn, und ich blinzelte kurz, so dass mir die Tränen durch die Wimpern quollen; ich spürte, wie mein Herz schlug, immer noch schlug, und hielt mich an seiner Hand fest, schmiegte die Wange an seiner warme Handfläche, die er an mein Gesicht legte. “Fuchs...” Seine Stimme klang so sanft, ich war nicht sicher, ob ich das ertragen konnte, meine Seele flatterte und ich musste die Augen schließen, damit mir nicht schwindelte, seine Hand an meiner Wange war das einzige, was meiner Welt in diesem Moment Bestand gab. „Nicht Fuchs“, flüsterte ich, spürte seine linke Hand federleicht, wie beschützend, auf meinem Verband liegen. „Was meinst du?“ „Ich heiße nicht Fuchs.“ „Ja, das weiß ich doch.“ „Mein Name ist Mika. Mikael“, flüsterte ich und blinzelte im Licht. „Verschone mich mit dem kitschigen Scheiß, Mika“, murmelte er. Ich merkte dass ich ein wenig zitterte, nicht wegen seiner Worte, doch seit ich ein Kind war hatte ich diesen Namen nur noch aus Sakuyas Mund gehört; aber jetzt mit einem anderen angesprochen zu werden, konnte ich nicht ertragen, jetzt, wo mir jegliche Maske vom Gesicht gerissen war und mich wund und hilflos zurückgelassen hatte. “Halt mich fest, bitte”, wisperte ich kaum hörbar, ich hatte immer noch Angst, ich glaubte zu ertrinken, wenn er mich jetzt losließ, und ich wollte nur in seinen Armen liegen, damit er mir diese Angst nahm, und ich wollte seine Hände spüren, die mich umfassten und hielten und meinen zitternden Körper beruhigten. Ich hatte das Gefühl, zu zerbrechen, und ich wollte alles tun, um diese Leere in mir loszuwerden, um wieder ein lebendiger Mensch zu sein. Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen, sah mir stumm in die Augen, als ich meine öffnete, und ich sah mit einem Mal ein Flackern und die wortlose Frage in seinem Blick, meine Finger schlossen sich unwillkürlich enger um seine Hand, und ich hob den Kopf leicht vom Kissen, voller Panik, ihn falsch verstanden zu haben. Aber das hatte ich nicht, und als ich spürte, wie seine Arme um meinem Rücken griffen und sich seine Lippen zart und voller Hingabe auf meine legten, keuchte ich leise auf, konnte das Gewicht meines Kopfes nicht mehr halten und sank zurück auf das Kissen, mit einer Hand um seinen Hinterkopf greifend und ihn mit mir ziehend, ich hörte sein leises Seufzen. Alles in mir zitterte und zog sich zusammen, mir war schwindlig, und hinter meinen geschlossenen Lidern explodierte etwas, eine ungekannte Farbe, die Farbe seines Geruches, des Geschmacks seiner tröstend warmen Lippen, die das Salz von meinem Mund leckten, das ich geweint hatte, ich zitterte und drückte mich enger in seine Arme, und ich wollte fast weinen; weinen, weil ich so erbärmlich und verzweifelt und verloren war. Und in diesem Moment wollte ich ihn fast wieder, wäre es nicht so absurd gewesen in meiner Situation; so heiß, dass meine Arme zitterten und mein Blut durch meine Adern rauschte, anstatt vergossen auf kaltem Kopfsteinpflaster zu verrinnen. Ich war zu erschöpft, den Kopf wieder zu heben, aber er hielt mich sanft an sich gedrückt und seine Lippen bewegten sich ganz behutsam an meinen, die sich für ihn öffneten, als er sie zögernd mit der Zunge teilte; meine Arme waren um seinen Nacken geschlungen und ich beugte mich ihm entgegen, wimmerte leise unter seinem sanften Kuss, seinem Zittern, seinem leisen Aufkeuchen, als meine Zunge seine berührte, seine Hände fuhren sanft durch meine Haare, und ich küsste ihn langsam und innig zurück, schmeckte seine Lippen, spürte seinen warmen Atem, seinen warmen Körper über mir. “Lass mich bitte nicht allein”, wisperte er erstickt an meinen Lippen, hatte die Augen geschlossen, die Hände sanft in mein Haar gedrückt, sein Atem strich schwach über meine Wange. “Lass mich nicht allein, Mika...” Seine Stimme war kraftlos. Ich dachte nicht über seine Worte nach in diesem Moment, zu aufgewühlt war ich; vielleicht hätte ich das tun sollen. Ich schüttelte so aber nur leicht den Kopf, schluckte krampfhaft die Tränen hinunter, die mir dennoch in die Augen stiegen und mir fast die Stimme nahmen: “Lass...nicht zu...dass ich mir was antue...bitte...“ “Ich werde da sein”, flüsterte er. “Wenn es dir schlecht geht...dann bin ich da...” Ich spürte, wie er zitterte, und wie sanft seine Arme mich hielten, und ich hob das Gesicht zu ihm, um ihn sehnsüchtig ein weiteres Mal auf die weichen Lippen zu küssen; er schrak zurück, ließ sich dann aber in meinen Kuss sinken und seufzte auf, als unsere Lippen sich aneinander bewegten und er meine Hand an seiner Wange spürte. Ich musste ihn einfach berühren, musste sichergehen, dass er wirklich war und das ganze nicht doch nur ein Traum an der Grenze zwischen Leben und Tod. Man hört Schritte an der Tür und das Klacken der Klinke, und ich schrak etwas zusammen; Karasu löste sich von mir und wischte sich fahrig mit der Hand über das Gesicht, wandte sich dann hastig um und stützte die Hände auf das Fensterbrett neben dem Bett, den Rücken zur Tür. In dem Raum kam Antti; er sah fast genauso müde aus wie Karasu, wieder ungeschminkt, und, wie ich vermutete, auch ungekämmt, oder er hatte sich in den letzten Minuten die Haare gerauft. Seine Augen hinter der Brille hellten sich kurz auf als sein Blick auf mich fiel, wurden dann jedoch sofort finster, und das war das erste, wirklich das erste und einzige Mal in meinem Leben, dass ich Antti Koskinen wütend erlebte. “Bist du von Sinnen?”, fragte er leise, und das traf mich mehr, als wenn er geschrieen hätte, denn was ich in seinen Augen sah, war echte Angst, Angst um mich, und dabei kannte ich ihn kaum. “Was hast du dir dabei gedacht?” “Ich...” Ich wollte es ihm nicht erklären müssen. Ich wollte nichtmal, dass er mich nach einer Erklärung fragte. Es gab keine. Warum hatte ich das getan? Weil ich es wollte, weil ich es in diesem einen Moment so wollte, so einfach war das, betrunken hin oder her. Und wenn er es nicht verstand, dann hatte es keinen Sinn, es erklären zu wollen. Er hielt mich wahrscheinlich für wahnsinnig. Na schön. Vielleicht war ich das. Wahrscheinlich verstand nur Karasu, vielleicht nicht einmal er, dass ich nichts mehr hatte, wofür ich leben wollte, wenn alle Versprechen gebrochen waren, wenn alle Kämpfe sinnlos geworden waren, wenn man zu schwach war, auch nur einen Finger nach denen auszustrecken, die man liebte. 'Aber wenn es damit endet, dass er sonst nichts mehr lieben kann, wofür ist dann das Kämpfen gut?' Ich dachte, Karasu hätte sich auf mich bezogen, als ich diese Worte aus seinem Mund hörte. Aber nein. Es war nicht ich. Es war Sakuya. Und das war meine Schuld. “Antwortest du mir nicht mehr?” “Antti, ich...es tut mir leid...” Er lachte fast. “Es...es tut dir leid...! Fuchs... Du hättest dich fast umgebracht...wenn Alice und Karasu dich nicht so schnell gefunden hätten und du noch mehr Blut verloren hättest...“ Er verdeckte kurz das schöne Gesicht mit der Hand, ich sah dass er durchatmen musste. „Warum hast du denn nie etwas gesagt?“, flüsterte er dann, und ich sah, dass er die Welt nicht mehr verstand, dass er nie damit gerechnet hätte, dass ich.... Ja, natürlich, warum auch ich? Warum der immer Lächelnde, der nie auch nur ein einziges Mal einen Dritten um Hilfe gefragt hatte, der immer für alle anderen da war? Warum der Mann, der immer noch ruhig stand, wenn Sakuya schon tobte und schrie? Keiner verstand das. Und sie sollten froh darüber sein. Ich hätte doch um Hilfe gebeten, hätte mir jemand helfen können! Aber ich schwieg, denn ich wusste, dass es meine eigene Schuld war, dass Antti so verwirrt war. Er dachte, dass ich übereilt gehandelt hätte, im Affekt, weil ich doch nie...und ich würde doch nie...und ich hätte doch nie...ein so ruhiger Mensch wie ich...! Hätte ich nicht? Doch, verdammt! Ich hätte gewünscht, ich könnte schreien wie Diego, um mich schlagen wie Sakuya, weinen wie Yukio, wenn meine Seele schmerzte, auch wenn mir niemand Glauben schenken würde, dem lieben Fuchs, dem stillen Scharfschützen, der für alle immer Rückhalt war. War es denn falsch, zu lügen und zu lächeln? Damit niemand mir glaubte, dass auch ich mein Leben nicht ertragen konnte, nicht ertragen wollte; nicht mehr? Es war in Ordnung, als Sakuya bei mir war. Ihm allein konnte ich mich anvertrauen. Er verstand immer, und er ließ mich nie allein. Doch seit er weg war, war alles so anders, so entsetzlich dunkel und kalt um mich herum. Und nun hatte ich etwas Unfassbares getan, und niemand konnte verstehen, dass auch ich einmal aufgehört hatte zu lächeln. Antti verstand, dass er von mir keine Antwort zu erwarten hatte, und hockte sich neben das Bett; er sah blass aus, so ganz ohne Makeup, vielleicht war er auch nur müde. „Fuchs...wir hatten furchtbare Angst um dich.“ Er tat mir leid, wie er da so saß, ganz erschüttert in seinem Weltbild. „Danke, dass ihr euch um mich kümmert....“ „Dank nicht mir, dank Karasu, du hast Glück dass er ein wenig Ahnung und dich verbunden hat. Er sagt, du warst zu betrunken, um das ganze richtig zu machen, und das hat dich gerettet; ich hatte Angst, dass wir Joe Zacharias holen müssen, um dich an den Tropf zu legen, aber du hast es geschafft. Karasu wollte auch nicht, dass ich deinen Freunden Bescheid sage, aber jetzt...“ „Will ich auch nicht“, unterbrach ich ihn knapp. „Fuchs...“ „Ich will nicht, dass sie etwas davon wissen. Antti. Bitte.“ Er seufzte und sah mich aus müden blaugrünen Augen an. „Sie suchen nach dir, seit gestern Abend schon. Du warst jetzt zwei Nächte lang nicht zuhause.“ Ich war fast froh, dass er nicht danach fragte, wo ich in der ersten Nacht gewesen war; in diesem Moment jedoch sah ich Anttis Blick, für den Bruchteil einer Sekunde nur, zu Karasu zucken, der noch immer mit dem Rücken zu uns am Fenster stand und reglos hinausstarrte. Ich öffnete den Mund, Antti fiel mir ins Wort. „Lass, es interessiert mich gar nicht. Jetzt ist nur wichtig, dass du wieder unter uns bist. Wie fühlst du dich?“ „Ich werds überleben“, murmelte ich ohne viel Humor. „Okay...du bist wahrscheinlich müde...wenn du etwas brauchst, dann sag es. Wir sind die ganze Zeit hier. Und...“ Er zögerte kurz. „Hm?“ „Bitte denk nochmal drüber nach. Alle machen sich schreckliche Sorgen und glauben, dass dir etwas passiert ist. Ich würde ihnen einfach gern sagen, dass es dir gut geht. Es sind doch deine Freunde.“ „Alle machen sich Sorgen?“ „Ja, alle, natürlich. Ausnahmslos alle. Valentin und Diego waren nacheinander gestern abend hier, als wir noch nicht wussten wo du steckst, und beide sagten, Sakuya hat Angst dass dir etwas zugestoßen ist. Diese Menschen lieben dich. Bitte lass mich zu ihnen gehen.“ Ich wandte den Blick zum Fenster, wollte nicht in seine verständnislosen Augen sehen. „Nein...ich möchte das nicht. Sie sollen nicht wissen, dass ich hier bin.“ „Ich könnte ihnen sagen, du bist nur zu Besuch...“ „Antti, nein!“ Er senkte den Kopf, wirkte für einen Moment fast gekränkt; ich konnte ihn ja verstehen, es ging alles so völlig gegen seine Natur hier. So wenig nachvollziehbar, warum er mit Karasu befreundet war, der so ganz anders war; auf der anderen Seite ein Glück, dass er sich bereitwillig dessen Autorität unterordnete und tatsächlich schwieg wie ein Grab über meinen Verbleib. „In Ordnung. Ruh dich aus“, murmelte der Blonde, sprach dann zu Karasu. „Willst du nicht lieber schlafen gehen? Du siehst müde aus.“ „Nein.“ Karasus knappe Antwort. „Du tust niemandem einen Gefallen, wenn du irgendwann einfach umfällst und einschläfst, weißt du.“ „Ich komm klar, Antti.“ „Soll ich dir Kaffee machen?“ „Nein.“ „Achtest du darauf, dass er was trinkt?“ „Ich weiß schon was ich tue.“ Ich sah, dass Antti Karasu anlächelte, fast wirkte es amüsiert ob dessen schroffer Art, und wandte sich um, blieb in der Tür nochmal stehen. „Fuchs....“ Ich hatte den Kopf abgewandt, sah ihn wieder an. „Hmm?“ „Du hättest mir sehr gefehlt“, sagte er leise. Die Tür schloss sich hinter ihm, „Danke“, kam es von mir etwas verspätet. Karasu stand noch immer am Fenster, sah in den Himmel, der sich langsam wieder zuzog; ich sah nur seinen Rücken, und als er sich zu mir umdrehte, schien er fast verlegen, sein Blick begegnete meinem ein wenig zurückhaltend. “Hm...” Karasu atmete tief durch; ich konnte sein Gesicht im Gegenlicht nicht so gut sehen, aber er hielt den Kopf ein wenig gesenkt. “Eigentlich hat er Recht. Ich sollte ein wenig schlafen.” Seine Stimme klang emotionslos. Ich wusste, dass er recht hatte, aber trotzdem krampfte sich mein Herz zusammen, und bei dem ungerührten Klang seiner Stimme wurde mir kalt. Warum? Ich kannte diese Seite an ihm. Aber, gerade in diesem Moment, hätte mir die andere Seite wirklich gut getan. “Ja...du...solltest das vielleicht besser tun...” Ich wollte, dass er wieder zu mir kam, ich wollte seine Wärme spüren; ich glaube, das brauchte ich gerade in diesem Moment wirklich, die sanfte Berührung seiner Hände, die mir über das Haar streichelten, denn noch immer spürte ich die Angst in den Knochen. Obwohl ich wusste, dass er die ganze Nacht für mich wachgeblieben war, wollte ich nicht, dass er ging. Hatte ihm das eben denn gar nichts bedeutet? Warum nur wünschte ich mir jetzt gerade ihn an meine Seite? War ihm der Kuss vorher egal? Und war das wirklich wichtig? Ja. Ich wusste, dass es wichtig war. Es war sogar sehr wichtig. Für mich. Ich wollte nicht, dass er ging, aber ich hatte nicht den Mut, ihn aufzuhalten; wie lächerlich, wie kindisch, jetzt nach seiner Nähe zu schreien, jetzt, wo ich schwach war! Er tat besser daran, nun zu gehen, sonst würde hier schon wieder etwas grundlegend falsch laufen. Ich war ängstlich und schwach und verwirrt; offensichtlich sehr, sehr verwirrt. Das war doch das Unmöglichste von allem; warum wollte ich ihn plötzlich so sehr, dass ich ihn am liebsten gleich in mich ziehen würde, seine Haut an meinem Körper, seine Lippen auf meinem Mund, seine Stimme in meinem Ohr. Das war dieses unsägliche wilde Blut in mir, das gierige, verdorbene Herz; das gleiche Herz, das mich in jener Nacht zu Sakuya getrieben hatte, und das gleiche Herz, das mich wieder und wieder unter Karasu nach mehr schreien ließ. In diesem Moment hasste ich mich so sehr dafür, dass ich mir am liebsten den Verband heruntergerissen hätte. Aber ich lag nur still da. Karasu stand mit dem Rücken zu mir und öffnete das Fenster; draußen setzte langsam wieder der Regen ein, wie seit Tagen immer wieder, ein elender grauer Regen. Der Geruch nach Gewitter fuhr in das Zimmer und ließ die Vorhänge leicht flattern wie die Kleider erhängter Frauen. Ende 09/? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)