Die andere Seite der Tür von absinthe (Two-Shot über Alice) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Ein Tag dauert genau 24 Stunden oder 1440 Minuten oder 86.400 Sekunden. Die Größe des Raumes, in dem ich stehe, beträgt exakt zehn mal zehn Meter, die gefüllt sind mit einem alten Bett, einem morschen Tisch, einem klapprigen Stuhl und einer schmutzigen Toilette. Nur eine der vier Wände aus altem, bröckligem Mauerwerk besitzt ein Fenster und eine Tür, hinter der sich ein weiterer Raum befindet. Ich kann ihn durch das Fenster sehen. Nur sehen, mehr nicht. Ich habe mein Zimmer noch nie verlassen. Auf der anderen Seite gibt es alles - und die gegenüberliegende Wand dort scheint im Nichts zu verschwinden. Ich kann sie nicht richtig ausmachen, aber manchmal erhasche ich in weiter Ferne aus einer dunklen Ecke ein paar Strahlen des Außenlichts. Vielleicht ein anderes Fenster? Dort drüben gibt es auch Menschen. Hin und wieder unterhalte ich mich mit ihnen. Aber nicht sonderlich viel. Sie machen mir ein bisschen Angst. Es sind immer nur sie, die auf mich zukommen. Anfangs gab es außer mir niemanden, ich weiß nicht einmal, wie lange ich allein gewesen bin. Nach und nach sind sie dann aufgetaucht. Mittlerweile sind es acht. Drei Frauen, ein Kind und vier Männer. An ihre Namen kann ich mich nicht erinnern, nur einer ist mir im Gedächtnis geblieben. Der Erste. Jasper. Nur er kommt jeden Tag ans Fenster und leistet mir Gesellschaft. Ohne ihn würde ich wieder mit dem Zählen der Sekunden anfangen. Ich mag ihn sehr, aber ich muss auf der Hut sein. Seine Nettigkeit ist vermutlich nur ein Trick. Ich kann spüren, wie mich die anderen oft heimlich beobachten. Denn ich weiß, dass sie alle im Grunde nur eines wollen: Auf meine Seite der Tür. Die Tür ist verschlossen, und ich bin die einzige, die sie öffnen kann. Kapitel 1: Die andere Seite der Tür ----------------------------------- Alles umfassende, eisige Kälte. Dunkelheit, die sie zu verschlingen drohte. Das Gefühl von kräftigen Händen, die sie grob an den Armen gepackt hatten. Sie spürte kaum, wie ihre zerkratzten, kleinen Füße über dem Boden schleiften. Oder hörte, wie sie über sie redeten – oder mit ihr. Ihre Lider waren schon fast geschlossen. Sie war zu schwach, um überhaupt den Willen aufzubringen, etwas sehen zu wollen. Sie wusste längst, was als nächstes kam. Es war jedes Mal das gleiche. Mit einem langen Schrei schrecke ich hoch. Mein Herz schlägt in meiner Brust, ich kann es hören. Es pulsiert in meinen Ohren und übertönt die Stille, die mich umgibt. Das Bett knarzt, als ich mich auf der durchgelegenen, schmutzigen Matratze abstütze. Ich sehe mich um, dabei weiß ich ganz genau, wo ich mich befinde. Viel kann ich nicht erkennen. Nur ein paar schwache Lichtstrahlen dringen durch das einzige Fenster in mein Zimmer. Alte Bretter quer darüber genagelt verdecken das meiste. 441.796.964 … 441.796.965 … 441.796.966 … Ich versuche mich zu beruhigen. Die Bilder des Traums zu vertreiben; die Empfindungen. Ich lausche meinem Atem, versuche ihm einen gleichmäßigen Rhythmus zu geben. Mir ist warm und die Luft ist stickig. Ich kann den Schweiß auf meiner Stirn spüren. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn wegzuwischen. Er trocknet von allein, dann folgt neuer. Jedes Mal, wenn ich aus meinem Schlaf gerissen werde. 441.796.967 … 441.796.968 … „Ally?“ Mein Kopf schnellt zum Fenster, meine Augen fixieren die wenigen Lichtpunkte. Ich versuche die Silhouette zu erkennen, die sich hinter den Brettern verbirgt. Dabei bin ich mir bereits im Klaren darüber, wer dort steht, seit ich die Stimme gehört habe. Mein Herz klopft in meiner Brust. Aus Angst, aus Freude, aus Erwartung. „Hattest du wieder einen Traum?“ Er taucht immer auf, wenn ich schlecht geträumt habe. Jasper. Ich verharre in meiner Position, bin fast starr, dabei möchte ich einfach nur zu ihm laufen. Ihm von meinem Traum erzählen. „Du musst keine Angst haben, Ally. Dort, wo du bist, kann dir niemand etwas tun.“ Seine Worte beruhigen mich, und doch bin ich innerlich ein Chaos. Ich weiß nicht, warum er mich Ally nennt. Ich kenne meinen richtigen Namen nicht. Ich bin nur das Mädchen. „Kommst du kurz herüber, Ally? Ich möchte dir etwas geben.“ Ich zögere. Ich war noch nie am Fenster, wenn jemand direkt auf der anderen Seite stand. Er will mir etwas geben. Warum? Vielleicht nutzt er die Chance. Vielleicht überlistet er mich. Aber ich möchte so gern zu ihm hinüber gehen. „Keine Sorge, Ally. Ich will es dir erst mal nur zeigen. Aber wenn du nicht herkommst, kann ich das nicht.“ Ich bin nervös. Ich möchte wirklich gern sehen, was er für mich hat. Aber meine Angst lähmt mich. Meine Finger krallen sich in die schmutzige Decke unter mir, ich bin hin und her gerissen. Soll ich gehen oder soll ich sitzen bleiben? „Komm her, Ally. Du sollst es dir wirklich nur ansehen. Ich möchte dir gratulieren.“ Meine Augen weiten sich. Warum will er mir gratulieren? Zu was? Fahrig schaben meine Füße auf dem Bett. Vor und zurück, vor und zurück. Gratulieren. Warum gratulieren? Hat er einen Weg gefunden, hier hereinzukommen? Habe ich ihm irgendwie eine Möglichkeit dazu gegeben? Jasper scheint meine Unruhe zu bemerken. Seine Silhouette bewegt sich. Sie wird kleiner, als er ein Stück vom Fenster weicht. „Ally … Hab keine Angst vor mir. Ich würde dir nie etwas tun. Ich möchte dir einfach nur etwas zu deinem Geburtstag schenken. Hast du gesehen? Ich bin ein Stück zurück gegangen.“ Zum Geburtstag. Habe ich Geburtstag? Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß nicht, welches Datum wir haben, ob es Nacht oder Tag ist. Ich weiß nicht, wann ich geboren wurde. Warum weiß er es? Mein Herz klopft schneller in meiner Brust, ich bekomme kaum Luft, atme tiefer ein. Meine Hände tun mir von der Anspannung weh. Es ist so warm hier, aber mir ist kalt, ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Ich zittere. Sie saß auf einem schmalen Stuhl. Er war hart und unbequem und die Rückenlehne war höher als sie selbst. Sie konnte den Kopf kaum heben, ihr Kinn ruhte auf dem Schlüsselbein. Die Handgelenke waren mit Riemen fest an die Armlehnen geschnürt. Sie war zu schwach, um sich zu rühren, ihre Haut war noch ganz wund von den letzten Malen. Schlaff hingen ihre Fingerspitzen über dem Rand des Holzes, das mehr rot als hellbraun war. So viel Blut klebte daran. Von ihr allein? Sie wusste es nicht, es interessierte sie auch recht wenig. Vor ihr stand eine Schüssel aus Gusseisen, gefüllt mir eiskaltem Wasser. Nur verschwommen nahm sie die vielen Bänder wahr, die in der kühlen Flüssigkeit lagen – ebenso wie ihre Füße. Sie hatte kaum noch Gefühl in ihnen. Würde sie die Umrisse nicht sehen, wäre sie sich nicht einmal mehr sicher, überhaupt noch welche zu haben. Dumpfes Gemurmel drang an ihre Ohren, Leute schlichen um sie herum. Sie hätte den Kopf heben müssen, um die Gesichter zu erkennen. Und dann auch wieder nicht. Sie waren alle gleich. Groß und weiß und mit Tüchern vor den Mündern. Jemand fasste sie schroff am Kinn, hob ihren Kopf ein Stück nach oben. Sie senkte ihre Lider weiter nach unten, sie wollte nichts sehen. Redete er mit ihr? Oder mit den anderen? Sie verstand ihn nicht. Seine Worte verschwammen hohl mit den restlichen Geräuschen um sie herum. Er ließ von ihr ab, entfernte sich. Und dann spürte sie einen stechenden, brennenden Schmerz, der durch ihre Beine zuckte und sich in Windeseile nach oben kämpfte. Ruckartig schlug sie ihre abgebrochenen Fingernägel in das Holz, warf ihren Kopf in den Nacken und knallte dabei an die Rückenlehne. Sie schrie aus Leibeskräften, doch nur ein kümmerliches Krächzen ließen ihre geschundenen Stimmbänder zu. Wie oft hatte sie diese Prozedur nun erlebt? Wann hatte sie aufgehört zu zählen, wann die Hoffnung auf ein Ende verloren? 441.796.969 … 441.796.970 … 441.796.971 … „Ally?“ Ich starre auf meine Knie. Mein Blick ist abgewandt, dann fixiere ich erneut den Schatten hinterm Fenster. Mein Mund öffnet sich, ich will etwas sagen. Dann schließe ich ihn wieder. Ich unterhalte mich oft mit Jasper, aber genaugenommen redet nur er. Oder ich stehe am Fenster und er zeigt mir etwas weiter entfernt Dinge von seiner Seite. Wie zum Beispiel Gegenstände, die ich nicht besitze oder Bilder von fremden Menschen oder von sich und den anderen. Meist erzählt er dann über sie. Oder er spricht mit ihnen. Dann kommen sie gemeinsam auf mich zu und ich vergrößere automatisch meinen Abstand zum Fenster. „Bitte komm zu mir.“ Seine Worte lassen die Hitze wieder in mir aufsteigen. Zittrig umfasse ich meine Arme und ziehe meine Beine an, während ich ihn beobachte. Sein Gesicht liegt in der Dunkelheit, aber ich kann spüren, dass er mich ansieht. Als würde allein sein Blick genügen, um mich direkt anzufassen. Ich möchte wirklich sehen, was er für mich hat … Ganz langsam drehe ich mich auf dem Bett. Das Metall quietscht. Vorsichtig setze ich erst einen Fuß auf den Boden, dann den zweiten. Meine Zehen kribbeln, als sie den staubigen, kühlen Untergrund berühren. Es kitzelt und fühlt sich an, als hätte ich schon lang nicht mehr gestanden. Als seien sie taub von der langen Ruhe. War ich nicht erst gestern am Fenster gewesen? Wie lang ist Gestern her? Ich bewege jeden einzelnen von ihnen, während sich das beißende Gefühl von meinen Ballen zu meinen Waden empor zieht und ich einen zischenden Laut von mir gebe. Noch immer halte ich meinen Leib umschlungen, mein Blick wandert zurück zu ihm. Lächelt er? „Weiter so, Ally. Lass dir Zeit, ich warte.“ Dieser Satz lässt mich innehalten. Er klingt merkwürdig. Soll ich ihm mehr Bedeutung beimessen? Will er warten, bis ich endlich die Tür aufmache? Bis ich ihn endlich einlasse? Will er ewig warten? Ich senke meinen Blick, schenke dem Schmutz auf dem Boden eine Beachtung, die er lang nicht mehr bekommen hat. Große und kleine Steinchen, Dreck, Staub, tote Spinnen, Fliegen, Ameisen. Kot von der einen Ratte, die ich hin und wieder dabei beobachte, wie sie von einem winzigen Loch ins andere huscht, sobald sie bemerkt, dass ich sie entdeckt habe. Eine einzelne Spinne hat sich hierher verirrt. Ihr kleiner dicker Körper mit den langen dünnen Beinen schleicht vorsichtig von einem Punkt zum anderen, wartet ein paar Sekunden, weicht dann wieder zurück, nur um von dort in eine neue Richtung zu hasten. Mein großer Zeh wippt auf und ab, als das schwarze Tierchen näher kommt. Es erstarrt und fixiert meinen Fuß. „Ally …“ Ich blicke zurück zum Fenster, Jasper hat seinen Arm erhoben. Durch die Lücken im Holz erkenne ich, wie das Licht auf der anderen Seite durch etwas geteilt wird. Der kleine Gegenstand in seiner Hand funkelt und ein paar winzige Strahlen tänzeln in meinem Gesicht. Ich blinzle. Ich will ihn fragen, was er in der Hand hält, ob es mein Geschenk ist. Meine Ohren werden bei der Vorstellung ganz warm. Ich habe noch nie etwas Glänzendes besessen. Nur im anderen Raum gesehen. Ob er es mir geben wird? Vielleicht passt es durch eine der Lücken, es ist nicht größer als seine Hand, die er mir nun entgegenstreckt. Ich stütze mich auf die Bettkante und erhebe mich langsam, immer darauf bedacht, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Unter meinen Füßen spüre ich jedes Körnchen, das auf dem fleckigen Boden liegt. Unsicher und doch aufgeregt mache ich einen Schritt nach dem anderen, und jedes Mal verharre ich kurz, überlege und gehe dann weiter. Das Fenster kommt langsam näher. Je kürzer der Abstand wird, desto kräftiger spüre ich mein Herz gegen meinen Brustkorb schlagen. Ich werde langsamer und bleibe schließlich eine Armlänge entfernt vor meinem Ziel stehen. Jetzt kann ich ihn besser erkennen. Seine Gesichtszüge sind weich und angenehm, er lächelt tatsächlich. Ich atme erleichtert aus. „Weißt du, was das ist, Ally?“ Ich schüttle den Kopf, achte darauf, wie er den seltsamen Gegenstand leicht hin und her schwingt. Er legt ihn vorsichtig in seine Handfläche, streicht einmal mit den Fingern hinüber und sieht mich dann wieder an. „Das ist ein Tapferkeitsorden. Ich wurde damals nach dem Krieg damit ausgezeichnet. Von dem Krieg habe ich dir erzählt, kannst du dich erinnern?“ Ich überlege. Mir fallen die Gespräche mit ihm ein, Bilder tauchen in meinen Gedanken auf. Bilder, die ich mir bei seinen Geschichten ausgedacht habe. Ich erinnere mich an die Erzählung mit dem Krieg und nicke. Er lächelt erneut. „Dieser Orden ist sehr kostbar. Er zeigt den Mut und die Stärke einer Person.“ Ich lausche seiner Stimme, nehme jeden Laut auf, um mich später daran zu erinnern, wenn ich wieder allein bin. Der Klang beruhigt mich, hilft mir beim Einschlafen. Ich könnte ihm ununterbrochen zuhören. „Ich möchte ihn dir schenken, als Talisman.“ Er streckt mir seine Hand noch weiter entgegen. Ich ertappe mich dabei, wie ich bereits einen weiteren Schritt nach vorn gemacht habe und meine Hand heben will. Ich lasse sie sinken und schüttle meinen Kopf. „Ich möchte dich beschützen, Ally.“ Das Atmen fällt mir wieder schwer. Ich öffne meinen Mund, um mehr Luft zu holen. In meiner Brust zieht es unangenehm und ich kratze kurz mit meinen rauen Fingern über die Stelle. Eine Bewegung hinter Jasper lässt mich den Blickkontakt unterbrechen. Ich schaue hinter ihn und erkenne einen Mann mit roten Haaren. Er setzt sich an einen Tisch und winkt jemandem zu. Eine Frau taucht auf, sieht ihn schüchtern an. Errötet sie oder liegt es am hellen Licht, das in meinen Augen schmerzt? Sie setzt sich ihm gegenüber. Ich weiß nicht, ob sie sich unterhalten, ich kann es nicht hören. Aber mir fällt auf, wie die beiden sich gegenseitig mustern. Das Mädchen hat eine Flasche in der Hand, trinkt aber nicht daraus. Sie ist zu abgelenkt. „Kannst du dich an die beiden erinnern? Sie waren schon einmal hier am Fenster.“ Ich blicke zurück zu Jasper. Mir kommen die Gesichter bekannt vor. „Ich habe dir von Edward erzählt. Und von den anderen.“ Edward. Ist das der Name des Mannes? Ich schaue ihn und die Frau ein zweites Mal an. Sie sind einander zugelehnt, lächeln sich an. Ich realisiere erst, dass ich ein paar erneute Schritte nach vorn gegangen bin, als ich entdecke, wie meine Hand an der bröckligen Wand ruht. Sie unterscheidet sich kaum vom Mauerwerk. Dunkel, rissig und überzogen mit getrocknetem Blut und Schmutz. Das Gestein fühlt sich modrig an. „Ally.“ Mein Blick huscht zu Jasper, meine Augen weiten sich. Auch er ist dichter gekommen. Ich bin ihm noch nie so nahe gewesen wie in diesem Moment. Ich bemerke die Reinheit seiner Haut, die Helligkeit – die dunklen Augen. Der Puls hallt in meinen Ohren. Ich kann seine Miene nicht entschlüsseln. Er verringert den Abstand zwischen sich und dem Fenster erneut. Ich verspüre den Drang, nach hinten zu weichen. Stattdessen bleibe ich regungslos, betrachte nur seine vorsichtigen Bewegungen, unterdrücke die wachsende Nervosität. „Verrätst du mir etwas?“ Ich erwarte ein Lächeln, so wie er es stets tut. Dieses Mal jedoch nicht. Er schaut mich ernst an. Etwas ist anders, ich spüre es. „Warum bleibst du in diesem … Loch? Warum machst du nicht die Tür auf, warum kommst du nicht zu uns?“ Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, ich schlucke hart und starre ihn an. „Hier hast du alles. Genug zu essen, saubere Kleidung, Wasser, Licht, ein weiches Bett. Du kannst sogar gehen, wohin du möchtest, niemand hält dich auf. Hier bist du nicht gefangen. Ich weiß, dass du das willst.“ Ich balle meine Fäuste und widerstehe dem Impuls, auf mein Bett zu flüchten. Ich habe es gewusst. Er will mich auch heute überreden. Ich rege mich nicht, erwidere nur seinen festen Blick. Die Metallfedern stachen durch die dünne Matratze, aber das nahm sie kaum wahr. Ebenso wenig die kleine Brise, die durch den schmalen Spalt unter der Tür hinein gelangte. Mit ausgestreckten Gliedmaßen lag sie bäuchlings auf dem kleinen Bett, die Augen geschlossen. Ihr zierlicher Körper war ausgemergelt und kraftlos. Ihre Füße waren taub, und trotzdem hatte sie das Gefühl, ihr Leib würde noch immer von den Stromstößen erfasst werden. Sie legte die Arme unter ihre Brust, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. Hin und wieder zuckte ihre Hand oder die Schulter. Als hätte sie jemand dort berührt. Sie wollte schlafen. Sie wollte schlafen und nie wieder aufwachen. 441.796.972 … 441.796.973 … Die Stille umgab sie wie ein unsichtbarer Schleier, ließ ihren Körper in die Dunkelheit driften. Weder nahm sie den großen Lufthauch zur Kenntnis, der plötzlich von der Tür verursacht wurde, noch hörte sie die Schritte, die sich ihr näherten. „Lass mich ein, Ally. Lass mich dich beschützen.“ Ich erkenne das Flehen in seiner Stimme. „Du denkst, du bist dort sicher. Und ja, in gewisser Weise bist du das. Vor der Welt, vor den Menschen, vor ihnen. Aber dieser Raum hält dich nicht von deinen Alpträumen fern.“ Ich erschrecke, als seine Finger plötzlich in einer der Lücken im Fenster auftauchen und auf dem Rand des Holzbrettes ruhen bleiben. „Bitte. Lass mich dich beschützen …“ Mit jedem Wort wird er leiser, die Silben durchdringender. Allerspätestens jetzt sollte ich weglaufen. Jedoch bin ich zu fasziniert von seiner Hand, ihrer Eleganz und Sauberkeit, ihrer markanten Umrisse. Ich erwische mich bei dem Wunsch, ihre Berührung auf mir zu spüren, ihre Kraft zu fühlen. Mich von ihr einhüllen zu lassen. Meine eigene Hand tastet sich zum Rand des Fensters vor. Achtsam, schüchtern, unentschlossen. Was, wenn er seine zurückzieht? Was, wenn … Ich nehme das dicke raue Holz unter meinen Fingerkuppen wahr, zeichne die Rillen nach, die mich näher zu ihm bringen. Ich konzentriere mich auf die kleiner werdende Distanz zwischen uns. Ich weiß, er tut dasselbe. Jasper. Meine Lippen formen seinen Namen. Ich hebe meinen Zeigefinger, er ahmt meine Bewegungen nach. Ich halte die Luft an – und die Spitzen berühren sich. Er hebt seine Hand und zieht meine dabei mit sich, hakt unsere Finger ineinander. Die Wärme seiner Hand geht auf mich über, durchströmt mich und raubt mir die Angst. Sie bringt meine Unsicherheit zur Ruhe, lässt nur die Ungeduld zurück. Sein Daumen streicht über meine raue Haut und ich fühle den Unterschied zu seiner. So weich. Langsam führt er unsere Hände an den Rand des Fensters. Sie trennen sich – und ich verliere den Blick auf ihn. Meine Fingerspitzen fahren an der Steinwand entlang, malen dünne Linien in die schmutzbedeckte Oberfläche. Ich kann Jasper nicht sehen, doch ich weiß, dass er mir gegenüber auf der anderen Seite das gleiche tut. Ich spüre es – als würde meine Hand direkt auf seiner liegen. Die Wand endet, ich stoppe einen Augenblick meine Bewegungen und betrachte den morschen Rahmen des Eingangs. Allerlei Dreck hat sich in der schmalen Spalte zwischen ihm und der Tür gebildet, kein Lüftchen dringt hindurch. Mein Gesicht nähert sich dem alten, blättrigen Material, ich rieche das Aroma. Muffig. Ich kann ihn hören, sein Atmen. Sein Flüstern. „Ally …“ Ich lege mein Ohr auf das Holz, die schuppigen Farbreste kitzeln ein wenig. Kurz schließe ich die Augen, lausche. Und stelle mir vor, wie er auf der anderen Seite der Tür lehnt. Wie es wohl sein mag, wenn die Tür nicht existierte. Etwas schabt ganz sachte auf dem Holz. Ich imitiere das Geräusch mit meinen Fingern. Auf und ab. Sie streicheln es, wandern nach unten, langsam, bedächtig. Ich habe die Tür noch nie berührt, aber ich weiß, wo sich der Türknauf befindet – und das Schloss. Ich muss nicht hinsehen. Meine Handfläche umfasst das kühle Metall, nimmt die Kälte in sich auf, wärmt den Griff. Die andere berührt den Kopf des Schlüssels. Er ist alt und rostig, die raue Oberfläche bleibt an meinen Fingerkuppen kleben. Noch einmal halte ich inne, lehne enger an der Tür, denke nach. Zweifel kommen auf. Soll ich es riskieren? Soll ich meinen Schutz aufgeben? Was, wenn er mich anlügt? Was, wenn er die Gefahr ist, nicht die Sicherheit? Oder wenn er gar nicht echt ist? Nur ein Traum, Wunschdenken. Ich seufze tief. Meine Finger drehen den Schlüssel, meine Hand den Knauf. Mein Herzschlag setzt aus. „Jasper.“ Sie spürte, wie sich die Matratze unter ihr bewegte, wie sie sich an ihrer Seite senkte. Dass jemand im Raum war. Sie rührte sich nicht, tat, als schliefe sie. Nicht, dass sie sich denn wirklich hätte rühren können. Sie war zu schwach, zu antriebslos. Ihr Fuß zuckte, als sie die fremde Hand auf ihrem nackten Bein fühlte. Sachte fuhren die rauen Finger über ihre Haut. Vom Knöchel aufwärts, über ihre Wade bis zur Kniekehle. Von dort weiter gen Norden, schoben ihr Hemd ein Stück weit nach oben, gaben dem langsam aufbauenden Widerstand des Materials nach und zeichneten dann auf dem dünnen Stoff die Konturen ihres Körpers nach. Die Schenkel, die Hüfte, die Beuge ihrer Taille. Mit zunehmendem Druck strichen sie weiter entlang ihres Rückens, berührten ihre Schulter und verharrten anschließend in ihrem Nacken, streichelten ihn. Die Matratze knarzte erneut und die Bewegung kam dichter. Das Gefühl von fremdem, warmem Atem ließ sie frösteln und die kleinen Härchen ihrer Haut sich aufrichten. Nicht, weil es ihr unangenehm war, sondern eine natürliche Reaktion. Sie empfand nichts. Weder Zuneigung noch Ekel oder Abscheu. Sie wusste nicht einmal, ob es echt war. Auch nicht, als sie die unbekannte Nasenspitze auf ihrem Oberarm wahrnahm. Diese roch an ihr, streifte kaum spürbar über ihre Schulter, hinab zu ihrer Halsbeuge, immer wieder tief einatmend. Die fremde Hand legte ihre Haare zurück. Behutsam und vorsichtig, während die Nase ihren Hals erkundete. Ihre Lider flatterten, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Reflex. Sie roch den strengen Atem. Eine tiefe Stimme flüsterte ihr etwas ins Ohr. „ … mein …“ Sie verstand die Worte nicht, die zu abgehackt in ihr Bewusstsein drangen. Sein heiserer Tonfall ließ die Silben miteinander verschmelzen, die aus seinem Mund kamen. Ihr fehlte die Konzentration. Der Schlaf rief nach ihr, wollte sie endlich in seinen Bann ziehen. Nur ihr Instinkt weigerte sich, die Sinne gänzlich zur Ruhe kommen zu lassen. Der Unbekannte lehnte sich tiefer über ihren Körper, sie fühlte die schwitzigen Lippen auf ihrem Ohr. Das Gewicht auf dem Bett verlagerte sich ein weteres Mal, er ließ von ihr ab und richtete sich auf. Eine andere Stimme war in der Ferne zu hören. Die Hand in ihrem Nacken verschwand kurz, tauchte dann an ihrer Schläfe auf, malte den Ansatz ihres Haares nach. Sie strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht, streichelte ihre Wange. Noch einmal kam die Stimme näher, hauchte ihr ein paar Worte zu. „ … bald …“ Die Bewegung auf der Matratze verschwand und das Gefühl wurde leichter. Die Tür knarrte, als sie geschlossen wurde. Und sie war wieder allein. Ich liege. Unter meinen Füßen spüre ich den kühlen Untergrund. Meine Zehen bewegen sich leicht, betasten das Gestein. Der Rest meines Körpers liegt weich. Ich werde gehalten. Arme umschlingen meine Schultern, mein Kopf ruht auf etwas Warmem. Vorsichtig blinzle ich, schaue nach oben und blicke in seine Augen. Er lehnt an der Wand auf meiner Seite, lächelt. Seine Finger fahren sachte über mein Gesicht und lassen mich meine Lider wieder schließen, das Gefühl genießen. Ich atme tief ein, inhaliere seinen Duft. Wohlig und angenehm. Zuhause. Mein Herz klopft gleichmäßig, beruhigend und findet mit jedem weiteren Schlag mehr in seinen steten Rhythmus. Meine Hand wird von einer anderen gehalten. In meiner eigenen liegt Etwas. Ich spüre die Form, je fester ich den Gegenstand drücke. Er ist groß und sternenförmig, hart und etwas Weiches hängt daran. Ich schließe meine Finger enger um das Metall – ich weiß, was es ist. „Er gehört jetzt dir“, flüstert er mir zu, streicht sanft ein paar Strähnen aus meiner Stirn. „Weil du ab nun die Tapfere bist.“ Meine freie Hand liegt schlaff in meinem Schoß. Ich hebe sie, betaste damit sein Hemd, das aus einem dicken Stoff gearbeitet ist, bis ich sein Kinn erreiche. Ich öffne meine Augen und beobachte, wie meine Finger seine Konturen nachziehen, seine Haut fühlen. Seine Wangen kitzeln leicht, ganz winzige Stoppeln sind zu erkennen. Er lehnt seinen Kopf gegen meine Hand und betrachtet mich. „Ich wünsche dir die Welt, meine Alice, und einen neuen Anfang.“ Meine Alice … Mir gefällt der Name und ich … lächle. Das habe ich noch nie getan. Lächeln. Bisher hat es nie einen Grund dafür gegeben. Sie fühlt sich gut an, die Freude, die ich bei seinen Worten empfinde und die Geste, mit der ich ihr Ausdruck verleihe. Auch wenn er sie mit mehr Intensität erwidern kann. „Meine Alice“, wiederholt er noch einmal, als kenne er meine Gedanken. Er sieht mich an, lässt seine Finger durch mein Haar gleiten, über meine Wange. Ich schließe abermals meine Augen und versinke in die Schwerelosigkeit, konzentriere mich nur auf seine Berührungen. „Mein Jasper.“ Ich bemerke, wie der Boden unter meinen Füßen leicht vibriert. Jemand ist in meinen Raum gelangt. Mehrere. Ich kann hören, wie sie atmen, ich kann hören, wie sie wispern. Ich riskiere nur einen winzigen Blick. Meine Vermutung bestätigt sich. „Mach dir keine Gedanken. Von nun an brauchst du dich vor niemandem mehr zu fürchten. Ich bin jetzt bei dir und werde es für den Rest der Ewigkeit bleiben.“ Ich spüre seine Lippen auf meiner Stirn, die Sekunden vergehen, ein Seufzen entweicht mir. Er richtet sich auf und zieht mich dabei mit sich. Er trägt mich in seinen Armen, während ich meine um seinen Nacken schlinge. Ich will ihn nie wieder loslassen. Ein letzter Blick seinerseits auf die sieben anderen, ein kurzes Nicken, ein undefinierbares Grinsen, ein paar letzte Worte. „Seid kreativ, habt Spass.“ Ich atme tief durch und ignoriere meinen Herzstillstand, dann tritt er durch die Tür auf die andere Seite. Ich werde von dem grellen Licht geblendet und schließe meine Augen. Er schmunzelt. „Tut mir leid, Ma’am.“ Mein Kopf ruht auf seiner Schulter, meine Hand spielt mit dem Orden. Mein Körper kommt mir so leicht vor – als habe er eine unmessbare Last verloren. Ich fühle mich frei. Und ich fühle mich geborgen. Geborgen und zum ersten Mal … lebendig. Sie schlug die Augen auf, als wäre sie schon die ganze Zeit über hellwach gewesen. Ihre Pupillen wanderten Richtung Tür. Sie war geschlossen, die Schritte auf der anderen Seite verhallt. Langsam richtete sie sich auf, stützte ihre Hände auf den Rand des Bettes und wippte einen Augenblick hin und her. Sie kreiste mit ihren Füßen, als hätte sie diese noch nie zuvor in ihrem Leben benutzt. Dann betrachtete sie ihre Finger, drehte und bewegte sie, als müsste sie ihre Feinmotorik überprüfen. Sie ballte sie kurz zu Fäusten und öffnete sie gleich darauf wieder. Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Es war nicht ideal, aber es würde gehen. Einen Moment lang schloss sie die Augen und drückte ihre Hände gegen die Schläfen. Kopfschmerzen plagten sie, ein Chaos herrschte in ihrem Schädel. Sie atmete ein paar Mal tief ein, zwang sich zur Konzentration. Dann endlich erhob sie sich und schritt behutsam auf die Tür ihres Zimmers zu, genoss das Gefühl ihrer nackten Ballen auf dem gummiartigen Untergrund, das Kribbeln in ihren Beinen. Sie wusste, dass die Tür unverschlossen war. Nicht, weil es jemand vergessen hatte, sondern weil es immer so war. Niemand hatte es je in Betracht gezogen, sie zu verriegeln. Nie hatte sie ein Risiko dargestellt. Ein Fehler, über den sie schmunzeln musste. Naive, selbstüberschätzende Primaten. Sie legte ihre Hand auf den Griff, verweilte dort ein paar Sekunden, strich ein paar Mal über das kalte Metall – sie hatte diese Tür noch nie von sich aus geöffnet. Dann drückte sie die Klinke nach unten. Mit einem Ächzen schwang sie langsam auf, ließ einen kleinen Luftzug ein, der gefüllt war mit dem Geruch von Schmerz, Verzweiflung und Wahnsinn. Sie musste erneut grinsen. Der Flur vor ihren Augen war in trübes, grüngelbes Licht getaucht, niemand befand sich in ihm. Gähnende Leere schlug ihr entgegen. Und Stille, untermalt von einem sonoren Tönen. Weit, weit entfernt und ganz leise hörte sie jedoch das, was auch sie selbst anfangs ständig getan hatte. Schreien und Wimmern. Sie allerdings hatte jetzt einen Ausweg gefunden. Langsam trat sie auf das graue Linoleum, setzte einen Schritt nach dem anderen. Es machte leise schmatzende Geräusche, jedes Mal wenn sie ihren Fuß von dem Gummibelag löste oder wieder aufsetzte. Sie stützte sich an der Wand ab, passierte Tür um Tür. In manchen waren kleine Fenster eingelassen. Sie wagte hier einen Blick, dort einen. Das Bild veränderte sich nie. Sie kannte es längst, ohne dass sie es überhaupt hätte sehen müssen. Sie selbst sah so aus. Junge Mädchen, alte Frauen, Kinder, Greise, Männer. Auf ihren Betten liegend. Reglos, schlafend, vor sich hinmurmelnd, jammernd. Mit und auch ohne Gurte. Sie bog um eine Kurve, war schon fast vorbei, dann spürte sie die Hand auf ihrer Schulter. „Hey!“, hörte sie seine tiefe Stimme. Sie regte sich nicht, blieb starr und schloss ihre Lider, atmete tief ein. Sie hatte damit gerechnet – und sie freute sich darauf. Die innere Ungeduld bekämpfend drehte sie sich langsam um. Sie sahen alle gleich aus. Groß und weiß. Dieser hier hatte nicht einmal seinen Mundschutz auf. Sie lächelte ihn an, legte ihre Hand auf seine und krümmte dann seine Finger von ihrer Schulter, als seien sie aus Papier. Der Schmerz entlockte ihm einen kleinen Schrei, er entzog sich ihrem Griff und wich nach hinten. Der Schrecken war ihm ins Gesicht geschrieben, er starrte sie an, als hätte er einen Geist gesehen. „Wer … Bist du nicht das Mädchen aus 486? Alice. Was zum …?“ Sie lachte. Ein tiefes, unheimliches Lachen. Ihre Augen wurden schmal, ein diabolisches Grinsen legte sich auf ihre trockenen, rissigen Lippen. Sie streckte ihre Finger und spannte ihren Körper an. Ihre Stimme klang hohl. „Alice? Wir kennen keine Alice.“ Und dann sprang sie. ----------------------------------------------------------- S, das war's! Damit ist der TwoShot beendet. Ich bin gespannt, ob ihr der Story folgen konntet und ob ihr durchgesehen habt! Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr mir eure Meinung dalasst :') Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)