Eine Geschichte über Egoismus von minikeks ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3 -------------------- Oogie wusste genau, wie ich ihn nun sah, spürte meinen Hass, meine Abneigung, meinen Ekel. Er nutzte es aus und provozierte mich, worauf ich natürlich ansprang. Das gab ihm unzählige Anlässe mich zu quälen und zu demütigen. Ich ließ alles über mich ergehen und wehrte mich nicht, weil ich das Gefühl hatte Strafe verdient zu haben. Ich blieb bei ihm, weil ich keinen anderen Ort kannte, wo ich hätte hingehen können. Der Mord an dem Paar war Gesprächsthema Nummer Eins in Halloween Town. Aus einer Unterhaltung, die ich zufällig einmal mit anhörte, erfuhr ich, dass die Tochter des Paares bei Pains Bruder untergekommen war. Ich hatte sie zu einem Waisenkind gemacht. Es war meine Schuld, dass sie nun leiden musste. Viele Male dachte ich über Selbstmord nach. Mehrere Male versuchte ich es – mehrere Male scheiterte ich. Ich traute mich nicht, meine Pulsadern aufzuschneiden, irgendwelche Flüssigkeiten in Doktor Finkelsteins Labor zu trinken, mich zu erhängen oder zu erschießen. Feige Sau. Waschlappen. Versager. Taugenichts. Schlappschwanz. Null. Idiot. Nicht einmal dazu war ich fähig. Dabei hatte ich meine Lebensberechtigung schon längst verwirkt. Es war wirklich dreist einfach weiter zu leben. Ich wünschte, ich hätte es damals getan. Mir wäre so vieles erspart geblieben. Und denn anderen ebenfalls. „Hey, ich bin Barrel. Ich bleibe in Zukunft auch hier.“ Der winzige, runde Junge mit den grünen Haaren grinste von einem Ohr zum anderen. Er war einfach so in meinem Zimmer aufgetaucht, hatte zwei Tüten zu Boden fallen lassen und stand nun dümmlich grinsend vor mir. Noch ein Kind, dass Oogie aufgegabelt hatte. Noch einer, der erkennen würde, dass Oogie ein wertloses Nichts war. „Wieso bist du hier?“ fragte ich gelangweilt auf meinem Bett liegend. Es interessiert mich nicht wirklich. „Meine Eltern verdienen nicht sonderlich gut, also habe ich Oogie gebeten, mir Arbeit zu geben, damit ich sie unterstützen kann. Oogie wird ihnen das Geld auszahlen.“ „Das glaubst du jawohl selbst nicht.“ Er winkte ab. „Ach, Oogie macht das schon! Und wenn nicht, dann hat mein Aufenthalt hier trotzdem etwas Gutes an sich.“ Sein Grinsen wurde breiter. „Ach ja?“ „Meine Eltern müssen dann nichts mehr für mich zahlen. Kein Essen, keinen Strom, kein Wasser, keine Kleidung und so was.“ „Ich hoffe, du bist dir bewusst, auf was du dich da eingelassen hast.“ „Na klar doch!“ Ich bezweifelte es sehr, aber wie sich herausstellte, wusste er es ganz genau: Er übernahm dieselben Aufgaben wie ich, aber im Gegensatz zu mir sagte er freiheraus, was er tun wollte und was nicht. Hätte Oogie ihm den Auftrag gegeben, Misery und Pain zu töten – er hätte es ganz sicher abgelehnt, auch dann, wenn sein eigenes Leben dabei auf dem Spiel gestanden hätte. Oogie schikanierte und verletzte ihn auch für seine vorlaute, impertinente Art, aber es schien Barrel nichts auszumachen, denn er beharrte weiterhin auf seiner Meinung. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart schlecht, denn er hielt an seinen moralischen Werten fest und kam niemals ins Schwanken. Seine Anwesenheit war mir unangenehm und ich versuchte, ihn zu verscheuchen. Ich verprügelte und misshandelte ihn genauso wie Oogie es tat, aber es half alles nichts. Er grinste weiter. „Wenn dir das alles hier so gegen den Strich geht, wieso bleibst du dann?“ fragte er mich. „Wohin sollte ich denn deiner Meinung nach gehen? Nach Hause? Nee. Da ist niemand, dem ich was bedeute. Hier habe ich wenigstens eine Aufgabe.“ „Aber du hasst das hier! Und außerdem geht es dir dort bestimmt besser als hier.“ Er hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Ich wusste, dass ich so einen schon mal irgendwo gesehen hatte, aber es fiel mir nicht ein, wo. Ich hatte tatsächlich nie in Erwägung gezogen, einfach nach Hause zurückzukehren. Wäre es vielleicht besser für mich? Ich dachte längere Zeit darüber nach. Einen Versuch war es wert. Vielleicht dachte Mutter ja tatsächlich noch ab und zu an ihren Sohn. Abermals wurden meine Erwartungen in dieser Hinsicht enttäuscht, denn als ich vor ihrer Tür auftauchte, sah sie mich verärgert an und machte mich zur Schnecke. Betteln sei schäbig. Es sei dreist, irgendwo zu klingeln und dann derlei Dinge zu behaupten. Ob ich sie denn für dumm verkaufen wolle. Sie habe gar keinen Sohn. Niemals einen gehabt. Super. Als ich zu Oogie zurückkehrte, verprügelte ich Barrel. Einfach so. Weil es mir gerade in den Kram passte. Er wehrte sich kaum. Seine Lippe und sein Auge bluteten, sein Handgelenk war geschwollen und sein Arm blauviolett. Bei diesem Anblick fühlte ich mich plötzlich noch schlechter als zuvor. „Hat sie dich abgewiesen? Deine Mutter, mein ich.“ Er sah mich fragend an. Keine Anzeichen von Wut oder Schmerz waren in seinem Gesicht zu erkennen. Nur ehrliche Besorgnis. Mir fiel wieder ein, was der Gesichtsausdruck bedeutete, mit dem er mich heute morgen angesehen hatte. Er machte sich allen Ernstes Sorgen um mich. Dieser Schwachkopf. Ich ließ mich auf dem Bett nieder und verbarg mein Gesicht in den Händen. Dieser kleine Arsch mit seinen Speckrollen und dem breiten Grinsen eröffnete noch mehr von dem, was ich bisher nicht begriffen hatte. Moralische Werte. Am Leben anderer teilhaben. Sich Sorgen machen. Seine Familie unterstützen zu wollen. Der Kleine opferte sich quasi für seine Eltern auf, damit sie weniger Sorgen hatten. Er kannte mich kaum und versuchte trotzdem, mir zu helfen. Ich behandelte ihn schlecht und dennoch setzte er sich vor mich auf den Boden, sah zu mir hoch und sagte leise: „Lass uns Freunde sein.“ Ich war nie außerordentlich freundlich zu ihm, noch habe ich ihn jemals wieder verprügelt, weil mir danach war oder weil ich wütend auf ihn war. Wir balgten uns ab und an aus Spaß, aber wir verletzten uns nicht wirklich. Hier eine Rauferei, da ein paar Boxer auf die Schulter oder den Rücken. So was in der Art. Von Misery und Pain habe ich ihm nie erzählt. Barrel wurde zu einer der vier wichtigsten Personen in meinem Leben, aber ich würde alles verlieren, wenn ich mit der Wahrheit herausrücken würde. Ich bin mir völlig bewusst, dass ich damit nicht ewig hinter dem Berg halten kann, aber ich versuche dennoch, es hinauszuzögern. Bis heute. Oogie schob die Kleine zu Barrel und mir ins Zimmer. Genau wie das Pummelchen kannte ich sie aus der Schule. Sie war sehr schön. Ihr violettgrünes Haar schimmerte und ihre Bewegungen waren sehr grazil und ästhetisch. Damals schon fühlte ich mich – man mag es frühreif nennen – zu ihr hingezogen. Jetzt schaute ich in ihr ovales Gesicht, das uns beide missmutig musterte, und mir wurde schlagartig bewusst, wer sie war, denn die Ähnlichkeit war unverkennbar. „Ihre Eltern wurden vor einigen Monaten auf bestialische Art und Weise ermordet.“ Während er sprach, grinste Oogie mich hämisch an. „Sie kam danach bei ihrem Alkohol abhängigen Onkel und ihrer Tante unter, aber dort war es auch nicht wirklich heimisch. Jeden Tag eine Tracht Prügel zu bekommen kann auf die Dauer ganz schön stressen, nicht wahr, meine Kleine? Ich dachte mir, dass ihr beide Unterstützung bestimmt gut gebrauchen könnt.“ Er trat aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Ohne mit der Wimper zu zucken ging sie zu Barrel, schubste ihn vom Bett und warf sich darauf. Barrel blieb auf dem Boden sitzen, legte den Kopf schräg und beobachtete sie genauso wie ich es tat. Mit einem Mal kam ich mir wieder sehr schäbig und minderwertig vor. Ihre nach unten zeigenden Mundwinkel verrieten ihr Leiden genauso wie ihre Augen. Alle Erinnerungen an diese Nacht schossen zeitgleich mit diesen Beobachtungen durch meinen Kopf. Ich sprang vom Bett und rannte hinaus, denn ich ertrug ihren Anblick nicht mehr. Vorher hatte ich sie in der Schule immer gerne angesehen, aber nun war sie der Beweis für meine Greueltat. Sie war wie ein Neonschild, dass sagte: „Seht! Da ist Lock, der meine Eltern gemeuchelt hat! Seinetwegen bin ich eine Waise!“ Wie immer flüchtete ich mich in meine kleine Höhle im Wald, in der mich Oogie sehr bald ausfindig machte. „Na? Was ist? Hast du ein schlechtes Gewissen?“ Er grinste wieder sein überhebliches Grinsen, das mich so sehr anekelte. „Warum hast du sie hergebracht?“ fragte ich leise und verzweifelt. „Ich dachte, es könnte dir gefallen, die Kleine zu sehen. Nachdem ihr quasi beste Freunde seit...“ „Ich will nicht, dass sie bleibt!“ „Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass du mir irgendetwas befehlen könntest, du Wurm!“ „Bitte, schick sie fort. Ich flehe dich an!“ Ich ging auf die Knie. Ich glaubte nicht wirklich daran, dass Oogie vielleicht nachgeben würde, aber ich musste es wenigstens versuchen. Oogie stieß mich zur Seite. Er ging ein paar Mal auf und ab und grinste dabei immer mehr. „Was meinst du? Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie wüsste, wer ihre Eltern auf dem Gewissen hat, hm? Ob sie dich dann hassen würde? Vielleicht sollten wir es ausprobieren und sehen, was passie...“ Panik überkam mich. Ich wollte auf keinen Fall, dass sie davon erfuhr. Dass sie mich verabscheute. Dass sie mich verachtete. Dass sie mich nie wieder ansah. Vermutlich wollte er genau das provozieren, was ich zu ihm sagte, aber es war mir egal. „Ich werde alles tun, was du willst, aber sag es ihr nicht.“ „Aber sollte ich so eine wichtige Information wirklich für mich behalten? Ich weiß nicht. Das wäre Misery und Pain gegenüber doch unfair, meinst du nicht auch?“ Ich flehte einige Minuten. Er rang mir viele Versprechen ab, ehe er mir versprach, ihr niemals davon zu erzählen. Ich würde also mein Leben lang für Oogie arbeiten und alles ertragen, was er für mich parat hatte. Ich diente Oogie, damit Shock niemals die Wahrheit über mich erfuhr. Nachdem sie ihr Lächeln wiedergefunden hatte, wollte ich es unbedingt bewahren, was ein weiterer Beweggrund war, Oogie treu zu dienen. Ich wollte sie – soweit mir dies möglich war – vor diesem Bastard und seinen Bösartigkeiten beschützen. Im Laufe der Jahre provozierte ich ihn immer mehr, damit er all seine Wut an mir ausließ und Shock und Barrel vergaß. Das war die einzige Weise, auf die ich meine Freunde beschützen konnte. Das Paradoxe an der ganzen Sache ist, dass ich nur wegen Shock und ihrer Familie keine Ziele mehr habe und mir wünsche, tot zu sein. Shock ist also sowohl der Grund für meinen Todeswunsch also auch für mein Weiterleben. Meine beiden Freunde wurden zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben, genauso wie Jack und Sally. Genau diese Tatsache machte es für mich unumgänglich, das Theater weiter zu spielen, wenn ich sie nicht verlieren wollte. In den vergangenen Jahren ging mir irgendwann gänzlich die Fähigkeit verloren, mich anderen mitzuteilen, um Rat zu fragen oder meine Meinung zu äußern. So wurde ich zu dem, was ich heute bin. Ein elender Beziehungskrüppel. Fantastisch. Wirklich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)