Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Auf der Suche nach dem Pottwal ----------------------------------------- I. Auf der Suche nach dem Pottwal Brian trat aus dem Terminal. Verkackte Hitze hier, es war doch erst Mai. Okay… fast Juni. Warum trug er noch mal einen dicken Anzug? Ach ja, weil er direkt aus der Firma zum Flieger gehastet war. Und weil es ins Pittsburgh schlappe 15 Grad kälter gewesen war. Seine irischen Gene hatten das durchaus zu schätzen gewusst. Wer zum Teufel wohnte freiwillig in einer solchen Bruthitze? Dabei war nicht mal richtig Sommer. Justins weiße, empfindliche Haut würde hier verbrutzeln. Aber der lag ja krank im Bettchen und ließ sich von seinen im zweiten Frühling befindlichen Eltern betütteln. Er schaute auf die Anzeigentafel. 31. Mai 2006. 16 Uhr 27. 29 Grad Celsius. Ein mildes Wetterchen so nahe am Äquator – wenn man Mal von der Luftfeuchtigkeit absah . Er schnappte sich sein Handgepäck und latschte brav mit der Menge die langen Fluchten bis zur Passkontrolle entlang. Urlauber. Ein schwedisches Pärchen, das in ihrer drolligen Sprache stritt. Die Nase der Frau ähnelte Justins. War das sein skandinavisches Erbe? Die Hitze außerhalb der Terminals traf ihn wie ein Hammerschlag. Ächzend schälte er sich aus seiner Anzugjacke. Das Hemd klebte schweißfeucht an ihm. Er empfing interessierte Blicke aus allen Richtungen. Himmel, waren die Leute hier mickrig… Er fühlte sich wie der Storch im Rhabarber. Aber so hatte er jedenfalls einen guten Überblick. Er wimmelte die Horde ihn eifrig umwerbender Taxifahrer und Hotelscouts ab und schlängelte sich durch das laute, klebrige Chaos zur groß ausgeschilderten Filiale der anvisierten Autovermietung. Er konnte Daphne nicht Mal erreichen, ihr Handy dürfte sie im Kreissaal wohl kaum am Ohr haben, und am regulären Anschluss des Krankenhauses würde man ihm als einem nicht Verwandten ebenfalls kaum Auskunft geben. Alles was er tun konnte, war rennen und hoffen, dass er möglichst schnell in dieses Kaff gelangen würde, dass Daphne zu ihrer Brutstätte erkoren hatte. Auf der Karte, die er sich vor dem Abflug in einem Zeitungsstand am Terminal besorgt hatte, sah die Strecke nach etwa drei Stunden Fahrt aus, immerhin größtenteils Autobahn. Brian betrat das Foyer der Autovermietung, lächelte charmant und nutzte die Gelegenheit, sich daraufhin ungeniert vorzudrängeln, indem er: „Dürfte ich bitte vor? Meine Frau bekommt unser Baby und ich muss dringend ins Krankenhaus!“ sagte. Postwenden wurde er mit begeisterter Anteilnahme überschüttet, die Frau am Verleihtresen verfiel in überschwängliche Aktivität. Jacke und Gepäck unter den Arm geklemmt, den Autoschlüssel zwischen den Fingern, hastete er hinaus, während ihm eine Woge bester Wünsche, Ratschläge und sentimentaler Erfahrungsberichte folgte. Er schmiss seine Sachen auf die Rückbank des BMWs, startete den Motor und ließ die Klimaanlage hoch fahren. Aus dem Radio plärrte Party-Musik. Tja, diesmal hatte sein Ausflug nach Mexiko leider nicht das Ziel, sich durch das schwule Disco-Publikum zu ficken… Er schaltete die Musik aus und konzentrierte sich drauf, das Auto durch den tobenden Verkehr zu navigieren. Hielt sich denn hier keine Sau an die Verkehrsregeln? Was für Versager waren denn hier Verkehrspolizisten? Oder hatten die sich alle schon frustriert an einem einsamen, ignorierten Straßenschild aufgenüpft? Was für ein verficktes Chaos! Nein, er war wohl kein Vertreter südländischer Mentalität… Er tat es den anderen gleich und hämmerte wütend auf die Hupe, während er sich den Weg zur Autobahn frei kämpfte. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Joan schaute durch das Küchenfenster in den kleinen Garten hinter dem Reihenhaus. In der alten Sandkiste, die Jack vor vielen Jahren für Brian und Claire gezimmert hatte, spielten Gus und Jack. Gus war dabei, generalstabsmäßig einen „Garten“ anzulegen, teilte Beete ein und zeichnete Wege in den Sand, Jack fungierte als Hilfstruppe und schaufelte artig nach Plan. Anscheinend hatte Brian neuerdings seine Liebe zur Gärtnerei entdeckt, was Gus jetzt eifrig imitierte. Nun, dagegen war ausnahmsweise Mal auch nichts einzuwenden. Brian hatte früher auch immer mit im Garten geholfen, obwohl sich seine Begeisterung damals eher in Grenzen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an längere Diskussionen mit ihrem halbwüchsigen Sohn, als dieser die Meinung vertreten hatte, es sei hier alles zu gerade und ob man den Busch nicht einfach mal lassen sollte. Jetzt hatte er ja genug eigene Büsche, die er „mal lassen“ konnte. Wie sie ihren Sohn kannte, würde er der riesigen Fläche, die das Haus in Green Tree umgab, schon seinen Willen aufzwingen. Wo war da bitte der Unterschied zu ihren Gartenvorstellungen? Gus würde heute über Nacht bleiben, hatte sie mit Justins Eltern besprochen. Gus hatte sich nicht angesteckt und musste, solange noch Gefahr bestand, fort vom kranken Justin gehalten werden. Ärgerlich runzelte sie die Stirn – wie konnte Brian nur ausgerechnet jetzt fortfahren? Die Taylors hatten auch nur insofern Bescheid gewusst, dass er dieser Freundin von Justin, die auch auf der Weihnachtsfeier gewesen war, Daphne hieß sie, zur Hilfe kommen wolle, die sich anschickte, irgendwo in Mexiko ihr Kind zur Welt zu bringen. Was hatte Brian damit zu schaffen? Er hatte ein eigenes Kind und einen kranken… Irgendwas, um die er sich zu kümmern hatte! Sollte sich doch der Vater des Babys darum kümmern… Sie bremste sich… Sie dachte an Brians Geburt… niemand war gekommen, ganz besonders nicht der Vater, der wahrscheinlich nur ein paar Häuserecken entfernt in einer Kneipe gesessen hatte und betrunken mit seinen Kumpels lamentiert hatte… Und dieses Mädchen war auch ganz allein… Und Brian war bereit, durch den halben Kontinent zu reisen, damit sie das nicht blieb… Etwas Derartiges wäre Jack nie in den Sinn gekommen. Nein, Brian folgte seinem Vater da nicht nach… Oder hatte Brian etwa etwas mit diesem Kind zu tun…? Unsinn, schalt sie sich. Von dieser Aussicht hatte sie sich inzwischen verabschiedet. Die Mikrowelle läutete. Sie hatte bereits mit Jack und Gus gegessen, die Reste waren nun für John aufgewärmt, der etwas später aus der Schule gekommen war, da er noch am Englisch-Förderunterricht teilgenommen hatte. Claire würde erst abends von ihrer Schicht heim kehren und dann gewiss wieder versuchen, sich frühzeitig von ihren Kindern zu verabschieden, um mit ihrem neuen… Freund ausgehen zu können. Dass sie ein derartiges Verhältnis pflegte, war eine Sache, dass sie darüber ihre Kinder vernachlässigte, hingegen trug Joan ihr übel nach. Sie seufzte. Johns schulische Leistungen hatten sich, nachdem sie und Brian ihn bearbeitet hatten, deutlich verbessert, weil er sich jetzt immerhin anstrengte, der hellste Stern am Himmel war er jedoch beileibe nicht. Er würde lernen müssen, mit seiner Mittelmäßigkeit klar zu kommen. Sein eingeschränkter geistiger Radius war ganz bestimmt nicht ihrem Erbe gedankt, da zeigte sich wahrscheinlich sein hohlköpfiger Vater. Claire war genauso wenig wie Brian auf den Kopf gefallen, sie war nur unfähig gewesen, daraus etwas zu machen. Und sie selbst… Sie war eine sehr gute Schülerin gewesen, damals auf der High School, das Lernen hatte ihr Freude bereitet. Ihr Lehrer war sogar einmal zu ihnen nach Hause gekommen, um ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie zum College gehen müsse. Er hatte sich sogar schon nach Stipendien erkundigt, die sie aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Finanzierung des Studiums beantragen könnte. Aber es war zwecklos gewesen. Ein gutes katholisches Mädchen brauchte dergleichen nicht. Und ihr selbst war auch nicht in den Sinn gekommen, das zu hinterfragen – zu sehr hatte sie es verinnerlicht gehabt. Statt in Hörsäle wanderte sie vor den Traualtar und von dort exakt hier her, wo sie jetzt stand. Sie lief nach John, der daraufhin laut die Treppe hinunter gepoltert kam. Erwartungsvoll linste er in die Küche. „Was gibt’s zu Essen, Oma?“ fragte er hungrig. „Lachs mit Kartoffeln“, sagte sie. „Lecker… Solange kein Vanillepudding dran ist… Mann, das Gesicht von diesem Typen… besonders als er den Hühnerfuß gesehen hat…“ Joan meinte: „Wir haben das nicht aus Rache getan, sondern um die Dinge gerade zu rücken…“ „Habt ihr gesagt, ja. War trotzdem ziemlich gemein. Und ich durfte das böse A-Wort sagen…“ „Untersteh dich, das jemals wieder zu wiederholen!“ „Nein! Onkel Brian hat ja gesagt… Aber es war super, sich so daneben benehmen zu dürfen! Blöd nur dass wir den Frass mitessen mussten… aber das Hühnerzeug fand ich gar nicht mal so übel… Könnten wir das vielleicht Halloween…?“ „Besser nicht. Aber es war gut, das du das gemacht hast, John.“ John starrte seine Großmutter überrascht an. Ein Lob von ihr… das konnte er sich glatt rot im Kalender anstreichen und jedes Jahr wieder feiern. Und dann auch noch dafür, sich total daneben benommen zu haben… Irgendwie fühlte er eine Form etwas idiotischen Stolzes in sich aufsteigen. Er hatte etwas gemacht… Er zuckte etwas hilflos mit den Achseln: „Naja ich hatte ja echt Sch… Mist gebaut… Und ihr habt gesagt, so könnte ich es ein wenig wieder gut machen…?“ Joan nickte. Schien so als würde John allmählich doch noch etwas lernen. Das Menü war gewiss das scheußlichste, das sie je zustande bekommen hatte, eingeschlossen die Torte zum ersten Besuch ihrer Schwiegereltern, bei der sie den Zucker mit dem Salz verwechselt hatte und sich fürchterlich blamiert hatte. Aber für Gus hätte sie auch verwesende Exkremente gegessen, ohne mit der Wimper zu zucken. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Justin wälzte sich unruhig in den Laken. Sein ganzer Körper brannte, jedes Körperglied wog Tonnen, er war schweißnass und fror trotz der Decken erbärmlich. Und es juckte, es juckte so furchtbar! Er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Er wollte sich kratzen, die Haut runter reißen, damit das endlich aufhörte. Aber er hing fest. Diese Arschlöcher hatten ihn festgebunden… Das ging auf Brians Konto! Sein eigener Vater hatte ihn mit Bondage-Handfesseln ans Bett gezurrt. Ging’s noch?! Wo kamen die Dinger überhaupt her? Oder hatte die Brian extra hierfür besorgt?! Immerhin hatten sie ihn nicht geknebelt und an den Nippeln an die Decke gehängt, um ihn in Schach zu halten… Er strampelte und schubberte sich, so gut es ging, an den seidenglatten Laken, die absolut keine Reibungsfläche boten… Verdammt! Ihm war schon klar, dass sie das nur taten, um ihm zu helfen und vor Schaden zu bewahren. Aber aktuell hätte er ihnen dennoch gerne allen mit Gewalt in die Eier getreten. Und wenn sie glaubten, dass es ihm entging, dass sie ihn mit Babybrei fütterten, hatten sie sich geschnitten. Er war schlichtweg zu schwach, um sich gegen dieses entwürdigende Essen zur Wehr zu setzten. Und der Gedanke an die Anstrengung, die es ihm kosten würde, etwas Festes zu kauen, wurde ihm ganz übel. Und irgendwo im fernen Mexiko lag Daphne im Kindbett… Ob sie wohl für eine Weile mit ihm tauschen würde? Eine andere Form von Schmerzen wäre jetzt geradezu wunderbar. Aber einen ganzen Menschen durch die Genitalien auszuhusten… da blieb er dann doch besser bei den Masern… ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Jennifer half Craig, den halb besinnungslosen Justin zu drehen und zu halten, damit sie ihn mit einem Waschlappen ein wenig säubern und dann neu eincremen konnten. Er sah erbarmungswürdig aus. Das Fieberthermometer zeigte immer noch vierzig Grad. „Wir müssen ihm neue Wickel machen… Wenn das Fieber bis morgen früh nicht gesunken ist, müssen wir den Arzt nochmal rufen“, meinte Jennifer besorgt. „Mama…?“ flüsterte Justin. „Ist ja gut, mein Schatz. Wir sind bei dir. Und wir bleiben auch. Molly übernachtet bei einer Freundin.“ Craig hielt seine Hände, deren Finger nervös zuckten, während Justin gegen den Reflex ankämpfte, sich jetzt, da sie ihn losgeschnallt hatten, wie irrsinnig zu kratzen. Jennifer verstrich die Creme auf seinem malträtierten Körper, was kurze Linderung brachte. „So, Justin, ganz vorsichtig… Dreh dich um, damit ich an deinen Rücken und deinen Hintern komme.“ „Das sagt Brian auch immer“, murmelte Justin. Craig verdrehte die Augen. Jennifer warf ihm einen scharfen Blick zu. Jaja… Justin war erwachsen und sexuell aktiv – wenn ihn vor der Form dieser Aktivitäten jedoch immer noch gruselte. Aber er musste das ja auch nicht machen… Er hatte schon zur Kenntnis genommen, dass Justin an einigen Teilen seines Körpers ziemlichen Kahlschlag veranstaltet hatte, was garantiert nicht unbedingt rein hygienische Gründe hatte. Einfach nicht weiter darüber nachdenken, mahnte er sich. Als Jennifer fertig war, bugsierten sie ihn vorsichtig in einen dünnen seidenen Schlafanzug, den Brian, bevor er hatte loshetzten müssen, besorgt hatte, um Justins Haut zu schonen. Craig gab ihm zu trinken. Justin schien seine ganze Konzentration dafür zu brauchen, um die Flüssigkeit zu schlucken. Dann streckte er schicksalsergeben die Hände aus, um sich erneut fixieren zu lassen, damit er nicht die Kontrolle verlor oder im Schlaf die Pusteln aufriss. Jennifer holte Wasser und Handtücher und begann mit den Wickeln. Die Kälte ließ Justin kurz etwas zu sich kommen. „Brian…?“ fragte er. „Brian musste zu Daphne, Schatz, sie bekommt ihr Baby und ist sonst ganz allein… Und Gus ist bei Joan Kinney, damit er sich nicht bei dir ansteckt.“ „Gut…“, hauchte Justin und sank wieder tiefer in die Laken. „Ja, es wird alles gut, Justin. Du musst dich ausruhen, ja…?“ „Okay…“ flüsterte Justin und döste weg. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Es war fast neun Uhr abends, als Brian schließlich entnervt vor dem Provinzkrankenhaus parkte. Trotz Navigationsgeräts hatte er sich am Schluss nochmal ordentlich verfahren und war im Straßenchaos mitten in einen Gemüsemarkt im Abbau geraten. Das Geräusch, wie seine Räder ein paar über Bord gegangene Kohlköpfe zermatschten, hatte ihm da nur eine leichte Linderung gewährt. Er hatte zu Hause angerufen und eine ziemlich besorgte Jennifer erwischt. Justin ging es nach wie vor ziemlich übel. Es machte ihn rasend, sich nicht vor Ort selbst darum kümmern zu können. Aber Craig und Jennifer waren Justins Eltern… Mehr als sie könnte er auch nicht machen. Und die beiden kannten sich mit Krankenpflege und Kinderpest wahrscheinlich deutlich besser aus als er. Dennoch… Immerhin hatte es nicht auch noch Gus erwischt. Der Gedanke, dass dieser wahrscheinlich schon auf einer Liege in Joans Schlafzimmer schlummerte, um Justins Viren zu entkommen, gefiel ihm auch nicht recht. In dem hochkatholischen Ehebett, das hier einst gestanden hatte und das Joan nach dem Hinscheiden seines Vaters sofort hatte entsorgen lassen, war er vermutlich bei ausgeschaltetem Licht beim schicksalsergebenen Vollzug der ehelichen Pflichten gezeugt worden. Da wäre ihm eine Petrischale fast lieber gewesen… Wobei er wieder beim Grund seines Hierseins angekommen war. Er rappelte sich aus dem Auto und die abendliche Hitze umfing ihn erneut mit Gebrüll. Binnen kürzester Zeit war er erneut klatschnass. Merke, Armani eignet sich nicht für die Tropen. Aber was dann? Ein Hawaihemd und kurze Hosen? Und dazu ein Schnauzbart? Nur über seine Leiche. Der Parkplatz war recht dürftig beleuchtet, insgesamt machte dieser Ort auch nicht unbedingt einen sehr vertrauenserweckenden Eindruck. Die Fassade des Krankenhauses zeigte blätternden Putz, es war ziemlich klein. In Mexiko gab es gute Kliniken, aber diese hier sah eher nicht nach einem Geheimtipp aus. Er hatte Daphne doch gesagt, dass Geld kein Problem sei… Oder war das wieder ihrer Geheimniskrämerei geschuldet? Wie auch immer, es ließ sich jetzt wahrscheinlich nicht mehr ändern. Er schnappte sich seine Sachen von der Rückbank, verrammelte den Wagen und machte sich auf, diese hehren Hallen zu betreten. Die Schwester am Empfang war des Englischen nur bedingt mächtig, so dass er eine Weile brauchte, aus ihr heraus zu quetschen, wo die Entbindungsstation mit der Gesuchten sei. Immerhin handelte es sich um eine ältere Nonne, so dass er sich keine gierigen Blicke gefallen lassen musste. Manchmal konnte es wirklich anstrengend sein, so auszusehen wie er… Früher hatte er sich darin geaalt, bei jeder Gelegenheit als Sex-Objekt wahrgenommen zu werden und hatte sich das auch gerne zu Nutzte gemacht. Tat er auch jetzt noch. Aber dieses Angehechelt-Werden begann ihm zeitweise schon auf den Zeiger zu gehen. Hallo…? Ich habe abgedankt und agiere nur noch im privaten Rahmen! Sucht euch eine andere Wichs-Vorlage… Die Nonne watschelte vor ihm her und redete ohne Punkt und Komma auf Spanisch auf ihn ein. Er verstand nur Brocken… „americano“… „papa“… Wehe… nix da! Nix Papa! Schwuler Freund! Was hieß das bitte schön auf Spanisch? Und würde ihn der Pinguin dann nicht gleich in die ewige Verdammnis schubsen? Nicht schon wieder… Schließlich schob sie ihn durch die etwas angeschlagene Tür eines Krankenzimmers im ersten Stock. Brian blinzelte im Halbdunkel. „Daphne…?“ „Brian… Gott sei Dank!“ Daphne lag halb aufgerichtet unter einem weißen Laken und schien nur aus Bauch und zwei riesig aufgerissenen Augen zu bestehen. Trotz ihrer dunklen Haut wirkte sie käsig und atmete schnell. Er zog sich einen Hocker heran und setzte sich neben sie. Sie streckte die Hand nach ihm aus, er ergriff sie. „Alles klar…?“ fragte er, etwas ratlos. Schwangere Frauen waren nicht unbedingt sein Lieblingsthema oder –gesprächspartner. „Mmm… Drecks-Wehen.. Ich dreh bald durch, wenn es nicht endlich losgeht… Das tut echt beschissen weh… Ahhh… Da kommt wieder eine!“ Sie schrie auf und krümmte sich. Schmerzen schossen durch Brians Arm, als sie ihm die Hand zerquetschte. „Ahhh! Verdammt Daphne, lass mich los! So eine Scheiße macht man traditionell mit dem Erzeuger!“ Sie kippte keuchend zurück in die Laken, Brian rieb sich die pochenden Finger… nichts gebrochen, immerhin… „Das würde schwierig werden“, murmelte sie, „das einzig männliche Wesen, das bei Lillys Zeugung zugegen war, war der Heini vom Putzdienst, und der ist unschuldig.“ „Dann muss ich hier jetzt als Dummie herhalten?! Ich fühle mich ja so geehrt…“ Daphne musste kurz lachen, dann schüttelte es sie wieder. „Verdammt, Daphne…?“ „Okay! Ich bin okay! Dürfte wohl doch jetzt los gehen…“ „Du hast auf mich gewartet? Ich bin begeistert…“ „Jetzt, wo du da bist“, schnaufte sie, „ist es in Ordnung… Sie kann kommen…“ „Okay, okay Daphne… Du bist nicht allein, ja?“ sagte er sanft. Sie nickte tapfer. „Rufst du bitte den Arzt?“ „Ja, sicher… Aber ich komm da nicht mit rein!!!“ „Keine Panik, du sollst hier nicht die Nabelschnur durchschneiden und das Ganze auf Video festhalten… Warte einfach draußen, bitte?“ „Sicher. Ich bin da. Brauchst du noch irgendetwas…?“ „Meine Tasche… da sind die Baby-Sachen drin, die wird Lilly dann brauchen, wenn sie endlich da ist. Und ansonsten… schon okay… bleib einfach da, versprichst du mir das?“ Daphne schaute ihn flehend an. Dies war definitiv nicht der Ort und der Zeitpunkt für Diskussionen. „Ich versprech’s“, sagte Brian. „Ich warte. Und jetzt hole ich Mal den Arzt, der dich vom Pottwal-Dasein befreit.“ „Danke“, sagte sie und fiel erschöpft keuchend zurück auf die Matratze. Kapitel 2: Die Tochter des Pharaos ---------------------------------- II. Die Tochter des Pharaos Die Stunden verrannen. Nach der Hast des Tages fühlte Brian eine angespannte Leere. Er saß in einem Wartezimmer, das anscheinend für werdende Väter eingerichtet worden war, zur Untätigkeit verdammt. Die Inneneinrichtung entstammte wohl einer besonders freudlosen Phase der 80er Jahre, ein moosgrüner abgewetzter Teppich, durchgesessene, undefinierbar braune Sessel und Sofas. Ein paar Farne standen unglücklich in Granulat. Auf dem Glastisch in der Mitte lagen mehrere Stapel mit Magazinen, die sich ausschließlich den Wonnen der Fürsorge um ein Baby widmeten. Obendrein waren sie auf Spanisch. Er blätterte sie durch. Die Fotografien von mit Mutterkuchen eigesauter Neugeborenen und von Brustpumpen im Einsatz trugen nicht gerade zu seiner Unterhaltung bei. Hochglanzmagazine voller nackter Kerle mit Riesenschwänzen – Fehlanzeige. Von den Wänden glotzte ihn ein Panoptikum zahnlos grinsender Babys an. So ungefähr musste das Wartezimmer zur Hölle aussehen. Er holte sich einen Kaffee aus dem Automaten und erwischte den Pinguin vom Empfang, der im Affenzahn den Gang hinunter wetzte. Mit Händen und Füßen versuchte er sie zu fragen, wie es Daphne gehe. Sie tätschelte ihn breit grinsend. „Acelerado“ sagte sie ihm immer wieder grienend und kniff ihn in die Wange. Er war kurz davor, ihr in die Finger zu beißen. Acelerado…? Exaltiert? Aufgeregt? Glaubte die etwa, er würde vor Vaterglück grade austicken…?! Er versuchte es mit abwehrenden Gesten, die sie aber zu noch mehr freundlichem Trost verleiteten. Scheiß Masern… Aber immerhin lächelte sie ihn breit an, also schien alles wohl zu laufen. Er verdrängte angestrengt, was Daphne gerade durchmachte. So eine Baby-Birne war ganz schön groß – aua! Frustriert ließ er sich zurück auf das labberige Sofa fallen. Er begann nachzudenken. Okay, Daphne hustete also jetzt ihr Selfmade-Baby aus… vielleicht gar keine üble Idee… alle Männer könnten schwul werden und die Frauen könnten ihren Nachwuchs selber basteln… Aber Frauen wollten ja auch ficken… wie unpraktisch… Wenn Daphne so partout Nachwuchs gewollt hatte, warum hatte sie es nicht auf die gute altmodische Art versucht? Sie sah ja nicht gerade aus wie eine Trollin, oder? Ach ja, sie wollte das ja eigentlich gar nicht. Das Ganze war nur ein fehlgeschlagenes Experiment – in der Hinsicht, dass es anscheinend wider Erwarten funktioniert hatte. Was zum Teufel war mit dem Ding… nein, Kind… Lilly? Und was, wenn sie da war? Wollte Daphne hier bleiben? Sollte er sie nach Hause bringen… hatte Daphne überhaupt ein Zuhause? Sie hatte in einem Studentenwohnheim gelebt, über Daphnes Eltern wusste er nichts. Aber darüber konnten sie sich Gedanken machen, wenn der Sprössling angefangen hatte zu plärren. Angeödet und zugleich unter Strom stehend starrte er die Wand an. Das weichgezeichnete Foto eines Babys, das in einem überdimensionalen Blütenkelch schnarchte, versaute ihm das hohle Starren. Wer zur Hölle dachte sich solche Abartigkeiten aus? Er wählte den Festnetzanschluss von Zuhause. Jennifer nahm ab. „Taylor, bei Taylor-Kinney“, meldete sie sich. „Hallo Jennifer, hier ist Brian.“ „Oh! Alles in Ordnung? Hat Daphne ihr Baby?“ „Noch nicht… sie ist im Kreissaal, keine Ahnung, wie die Dinge stehen, die sprechen hier nur Spanisch… Aber die dicke Nonne grinst, also scheint es okay zu sein…“ „Wie lange ist sie schon drin?“ „Stunde, anderthalb Stunden? Ewig auf jeden Fall.“ „Es gibt ja so Sturzgebärende. Aber damals bei Justin hat es fast acht Stunden gedauert… Er war recht proper und ich recht schmal…“ „Gnade! Acht Stunden? Ach du Scheiße!“ „Wie lange hat es denn bei Gus gedauert?“ „Keine Ahnung! Ich war mit Justin beschäftigt!“ „Das war wahrscheinlich die angenehmere Alternative“, meinte Jennifer trocken. „Auch hier verzichte ich Mal auf die Details. Wie geht es ihm?“ „Nicht gut. Er hat fast vierzig Fieber. Wir warten noch die Nacht ab, ansonsten rufen wir wieder den Arzt.“ „Ja! Oder bringt ihn ins Krankenhaus!“ „Er hat die Masern, nicht die Pest. Es mag ihm zwar nicht gut gehen, aber es verschlimmert sich auch nicht.“ „Passt bloß auf, dass er sich nicht kratzt!“ „Keine Angst, wir haben ihn mit diesen Handfesseln aus deinem Medizinschrank ruhig gestellt…“ „Ich bin ja so ein guter Hausmann… Aber, falls es Craig beruhigt, die Dinger habe ich für diesen Zweck gekauft. Keine Riesendildos im Nachtschränkchen, solange Mrs. Lennox uns noch im Nacken hängt.“ „Mein Traum-Schwiegersohn… Ich werd’s ihm ausrichten.“ „Schön… und viele Grüße…“ „Weiß Daphne schon, was sie machen will nach der Geburt?“ „Wir sind nicht dazu gekommen, darüber zu sprechen, es ging fast sofort los, als ich reinkam. Ich hatte da irgendwie eine beschleunigende Wirkung, ein Wunder der Medizin… Ich kann nur abwarten.“ „Du passt gut auf sie auf.“ „Ja, mache ich. Ich komme nach Hause, sobald es geht. Mit Gus alles in Ordnung?“ „Ja, deine Mutter hat vorhin kurz angerufen. Er hat mit Jack im Sandkasten gespielt und deine Gartenbau-Aktivitäten nachgeahmt…“ Brian musste stolz grinsen. Verdammte Vaterhormone! Gab es das überhaupt? Es gab für alles Hormone, dann garantiert dafür auch. „Sieht gut aus, der Garten“, meinte Jennifer. „Danke… Bringt Justin rasch wieder auf die Beine, er muss Bäume umhacken.“ „Ich werde mich bemühen… Oh, Craig ruft, Justin braucht was zu essen…“ „Ja, füttert ihn ja gut, nicht dass sein Hintern schrumpft! Oder sein Hirn…“ „In dieser Reihenfolge. Wir werden unser Bestes tun.“ „Du bist eine tolle Schwiegermutter…“ „Ich weiß. Ich muss Schluss machen, pass gut auf dich und Daphne und das Baby auf.“ „Mache ich.“ Er klickte das Handy weg. Er hatte nichts zu tun, außer zu warten. Es machte ihn wahnsinnig. Er konnte hier nicht weg, es konnte jederzeit soweit sein. Er kramte in seiner Tasche. Nichts, außer einer Karte von Mexiko. Er studierte die Topografie und glich sie mit seinen bisherigen Kenntnissen ab. Er fand den Fickurlaub von 1997, von 1998 und von 1999. Da war ja glatt noch ein Land drum rum. Jetzt wusste er, wo sich alle archäologisch interessanten Stätten der Azteken-Kultur befanden. Juhu. Er griff wieder zu den Magazinen. Nahaufnahme Möse, die gerade Kinderkopf auswürgte. Wuhäää… Gerade das widerfuhr gerade Daphne. Keine schöne Vorstellung. Er zückte sein Handy, löschte überflüssige Nummern, als erstes den verdammten Stricher-Service. Was hatte der da eigentlich noch zu suchen? Das letzte Mal, als er ihn in Anspruch genommen hatte, war Justin mit diesem verkackten Fiedler durchgebrannt gewesen. Er selbst konnte an jeder Straßenecke etwas zu ficken finden, aber er hatte etwas ganz Bestimmtes gewollt. Die Illusion von Justin. Himmel, war er im Arsch gewesen. Bei jedem verdammten Trick, den er gevögelt hatte, immer Augen zu und… es ist Justin… diese pochende Enge, die Hände, die über deinen Körper glitten… die Lippen… es ist Justin… Aber er war es nicht. Er war es einfach nicht. Und es war ihm klar geworden, dass er Justin zur Besinnung bringen musste… dass der Möchtegern-Paganini weg musste… Es war leicht gewesen. Er hatte Triumph gespürt. Justin hatte sich geirrt, der blöde Idiot… von wegen Himmel voller Geigen – wortwörtlich. Aber zugleich war etwas in ihm geschmolzen… Er konnte es nicht sagen… nicht zugeben… Als Justin dreist als Praktikant bei ihm einmarschiert war, war es klar gewesen, Justin wollte zu ihm zurück. Aber… Justin, zwölf Jahre jünger und Mr. Obertwink, hatte ihn – ihn! – abgesägt. Okay, er hatte es fokussiert, weil er es einfach nicht glauben konnte… aber ihn! Aber dennoch… als er Justin rausgeschmissen hatte, weil er seine Fresse nicht hatte halten können, und er ihn einfach geküsst hatte, zeigend, dass er sehr wohl Eier hatte und nicht mehr davon lief… da war etwas in seinem Hirn durchgebrannt. Gegen jede Vernunft, jeden Stolz… Justin… Er hätte ihn hohnlachend in den Arsch treten sollen… aber es war Justin… Und Justin, diese fiese kleine Mistkrücke, hatte es gewusst. Nachdem er sich bei ihm um eine zweite Chance beworben hatte und er einfach nicht hatte ablehnen können… da war es wieder echt gewesen… Justins Hände, sein warmer Mund, seine kochende Enge… Da gehörte er hin. Er hatte es nicht wahr haben wollen. Er hatte dagegen gekämpft. Aber egal, wie viele Typen er gefickt hatte… Es war einfach nicht Justin. Am Schluss hatten ihre Dreier oder Vierer nur noch hauptsächlich darin bestanden, dass andere ihnen beim Vögeln zuschauen durften. Okay, sie hatten durchaus noch mit anderen rumgefickt, während der andere zuschaute… aber das war die Vorspeise gewesen, nicht der Hauptgang. Und nicht das Dessert. Die Sache hatte ihm die Möglichkeit geboten, Justin auch als Top erleben zu können, ohne selbst den Hintern hinhalten zu müssen. Aber das war Vergangenheit. Jetzt war von „müssen“ nicht mehr die Rede. Er hatte es zugelassen… und war belohnt worden. Nach wie vor liebte er es, Justin durch die Matratze zu ficken. Aber das ging auch mit einem Schwanz im Arsch. Und manchmal war es einfach gut… sich hinzugeben, die Kontrolle abzugeben, nur noch hungriges Fleisch zu sein, das nach Befriedigung schrie… Und Justin war verflucht gut, kannte alle Kniffe, kannte ihn… Er seufzte und wand sich auf dem Polster. Sein Schwanz fragte angesichts seines Gedankenganges neugierig, ob es was zu erleben gäbe und war halbsteif. Brian musste bedauernd verneinen. Er streckte die langen Beine aus und starrte die Decke an. Keine Babyfotos dort, nur ein Fleck von irgendeinem Wasserschaden. Er linste auf die Uhr. Halb zwölf. Auf dem Flur war Totenstille. Hätte er doch mit reingehen sollen..? Er befühlte seine gequetschten Finger und dachte an die Gruselbilder aus den Magazinen. Besser nicht. Nach einer halben Stunde des leer Starrens und Herumtigerns zückte er erneut sein Handy. Er änderte den Klingelton. Dann zappte er durch die Menüs. Spiele… Ein kleines Raumschiff ballerte Angreifer ab. Besser als nichts. Er ballerte los. Die Zeit verrann. Gegen drei holte er sich einen weiteren Kaffee. Noch mehr Raumschiffe. Hoffentlich war alles gut. Hoffentlich ging es Justin gut. Es war halb vier, als der Pinguin wieder nahte. Inzwischen war es völlig überdreht von dem verfluchten Spiel. Sie trug etwas. Er sprang auf. Sie trat ein. „Senor Tailor-Kinni?“ fragte sie. „Si!“ rief er. „Su hija“, sagte sie, „Lilly.“ Sie drückte ihm ihr Bündel in den Arm. Perplex nahm Brian es entgegen. Er starrte hinab. Oh Gott… das war ja oberwinzig… das sollte ein Mensch sein…? Im Vergleich dazu war Gus ein ganz schöner Brocken bei seiner Geburt gewesen. Arme Lindsay. „Hallo, Lilly“, sagte er, ein wenig verwirrt. Der Säugling hatte ein verknautschtes Gesicht und gab leise Laute von sich. Dann schlug das Baby die Augen auf. Sie waren blau. Blau…? Daphne war hatte doch afro-amerikanische Wurzeln, war das nicht dominant? Aber Babys hatten doch häufig blaue Augen, die sich später noch veränderten, oder? Die Schwester grinste ihn erwartungsvoll an. Himmel, er war nicht der gottverdammte Vater! Wie sollte er ihr das klar machen?! „Madre?“ fragte er probehalber. Sie lächelte immer noch, aber irgendwie wirkte sie etwas wenige gesprächig. „Madre?!“ versuchte er etwas bestimmter. Sie sagte irgendetwas. Er verstand „doctor“. Der Arzt würde mit ihm sprechen… oh Scheiße! War irgendetwas mit Daphne?! Aber der Pinguin lächelte immer noch freudig. Wohl eher nicht. Sie kniff ihn erneut in die Wange. „Felicidades!“ sagte sie und wackelte davon. Hey… haben Sie nicht irgendetwas vergessen... das Baby zum Beispiel…? Sah er etwa aus wie eine Hebamme?! Sie huschte mit bemerkenswerter Schnelle um die nächste Ecke. Halt?!!! Er starrte erneut hinab. Lilly lag in seiner Armbeuge und döste. Wie konnte man nur so… winzig sein…? Hilfe? Was zum Geier erwarteten die hier von ihm? Die konnten ihm doch nicht einfach ein Baby in den Arm drücken und sich dann verpissen! Er stand im Wartezimmer und musterte ratlos den kleinen Erdenbürger. Musste Daphne sie nicht stillen oder sowas? Seine Nippel kamen dafür jedenfalls nicht infrage. Hallo? Was wird das hier? Hilfe!!! Er straffte sich und trat Schurstracks in den Flur. Aus dem Ende, wo die Kreissäle lagen, kam ein kleiner dunkelhaariger Mann um die fünfzig auf ihn zu, der einen Arztkittel trug. Na wunderbar. Brian baute sich vor ihm auf, dankbar für seine imposante Körpergröße. „Mr. Taylor-Kinney?“ fragte der Mann mit starkem spanischem Akzent. Aber immerhin schien er Englisch zu sprechen. „Ja!“ stellte er klar. „Herzlichen Glückwunsch!“ sagte der Mann mit einem erschöpften Lächeln. Wie bitte? Ging denen nicht in die Rübe, dass nicht jeder, der auf eine schwangere Frau wartete, automatisch der Kindsvater war? Wahrscheinlich nicht. „Ähm… nur dass es keine Verwirrungen gibt… ich bin nicht ihr Vater“, stellte Brian klar. Der Arzt wühlte sein Klemmbrett hervor und musterte seine Unterlagen. „Aber Sie sind Mr. Taylor-Kinney?“ „Ja!!!“ „Mrs. Kimble hat Sie als Vater angegeben…“ „Was?!“ Daphne hieß nicht Kimble. Kimble auf der Flucht… ach du verfickte Scheiße! Was lief hier? Der Arzt hielt ihm das Formular unter die Nase. Brian studierte es, Lilly auf dem Arm balancierend. Mutter: Daphne Kimble. Vater: Mr. Taylor-Kinney. Was?! War das Justins Kind? Oder seins? Daphne hatte es im Labor gezeugt… alles war möglich. Theoretisch konnte das auch Saddam Husseins Tochter sein. Oder ein Klon von Daphne. Aber dazu war die Haut zu hell. Wie Porzellan… Scheiße…?! War das Justins…? Er schnappte betäubt nach Luft. Das Baby wimmerte leise. Hatte sie Hunger…? Er konnte nicht kochen… Und man konnte ihn auch nicht melken, was durchaus viele ausprobiert hatten… „Also, Mrs. Kimble hat Sie als Vater angegeben“, meinte der Arzt. „Wenn Sie die Vaterschaft bestreiten, müssten Sie das juristisch tun…“ „Lassen Sie mich das mit Daphne doch einfach klar stellen… Ist sie ansprechbar…?“ „Es tut mir leid“, sagte der Arzt. „Mrs. Kimble wurde auf Befehl von Regierungsstellen direkt nach der Geburt verlegt. Sie genießt Immunität. Ich darf ihnen keine Auskunft geben.“ Brian fiel der Kinnladen herunter. Was zur Hölle…? Was zur Hölle?!!! „Was… was würde denn mit Lilly passieren, wenn ich die Vaterschaft bestreite…?“ fragte er. „Sie würde zur Adoption frei gegeben werden. Vorerst würde sie in ein Waisenhaus verbracht.“ Brian schluckte. Er sah auf das Neugeborene hinab, das in seinem Arm nach den Strapazen der Geburt schlummerte. Nein. Angelina Jolie würde sie nicht bekommen. Er hatte keine Ahnung, wessen Kind das war. Aber er würde es nicht einfach dem Nächstbesten in die Hand drücken und Land gewinnen. Daphne hatte ihn gerufen, ihm vertraut – das war gewiss nicht ohne Grund gewesen. Dennoch würde er sie jetzt gerne erwürgen. Aber dafür konnte… Lilly nichts. Er konnte sie nicht einfach… abschieben. Und wo war die stolze Mutter überhaupt hin? Was wurde hier gespielt? Verdammte Oberscheiße. War Lilly sein Kind? Justins? Oder das eines völlig Unbekannten? Konnte sie mit Laserblicken töten? Pi bis auf die schrilliardste Stelle hinterm Komma berechnen? Aber er war der Einzige, der jetzt da war… und sie war hilflos und völlig auf ihn angewiesen… Wie konnte Daphne das tun?! „Nein…“, sagte er langsam. „Das ist schon in Ordnung… Tragen Sie den vollen Namen ein… Brian Aidan Taylor- Kinney.“ Der Arzt kritzelte und ließ sich den ungewohnten Namen buchstabieren. Brian fühlte sich wie von tausend Dampfwalzen überrollt. Er hatte immer gedacht, dass er nun wirklich der Letzte sei, dem ein Kind untergeschoben wurde. Aber das war wohl Männerlos… Er stöhnte innerlich. Wie kamen die Leute darauf, ihm ihre Kinder anzuvertrauen? Sah er etwa aus wie die Tochter des Pharaos? Hallo… Moses. Aber ein Weidenkörbchen wäre schon stilechter gewesen. Ach ja, Daphnes Tasche… Kapitel 3: Mickrig, aber gesund ------------------------------- III. Mickrig, aber gesund Brian starrte den von fahlen Neonröhren beleuchteten Krankenhausflur hinab. Lilly in seinem Arm bewegte die kleinen Hände und wimmerte. Er befand sich in einem Delirium der Fassungslosigkeit und musste sich dazu zwingen, klar zu denken. Das Wesentliche zuerst. Lilly brauchte etwas zu Essen. Und er bräuchte einen Whiskey, aber das sah wohl eher schlecht aus. Rauchte man in solchen Situationen nicht eigentlich eine fette Zigarre? Dergleichen konnte er sich wohl abschminken, außerdem war er nicht in Feierlaune. Der Arzt hatte sich kurz entschuldigt, da ein Notfall herein gekommen sei, hatte Brian jedoch versprochen, schnellstmöglich zurück zu kehren. Das sei ihm aber auch geraten, ansonsten würde hier die Hölle losbrechen. Die Schwester werde ihm derweil zur Seite stehen. Pflichtschuldig kam der Pinguin auch wieder angedackelt, ein vergittertes Babybett auf Rollen hinter sich her zerrend, auf dem allerlei Krempel aufgetürmt war. Sie winkte ihm zu, dass er ihr folgen solle. Ergeben lief er hinter ihr her, Tasche und Jacke über die Schulter geworfen, Lilly vorsichtig schleppend. Die Nonne steuerte Daphnes vorheriges Krankenzimmer an und ließ ihn – sie – ein. Sie redete schon wieder auf ihn ein. Das, was er sich zusammenreimen konnte, bedeutete wohl, dass sie ein Loblied auf Lilly sang, ihn mit Glückwünschen überzog und über Daphnes Abgang herzog. Erschöpft ließ er sich auf den Hocker neben dem Bett sinken. Lilly schlug erneut die Augen auf und blickte direkt in seine. Brian konnte nur zurück starren. Was sah ein Neugeborenes? Erkannte sie ihn? Und wenn ja – als was…? Er beugte sich ein wenig zu ihr herab und hob sie sich zugleich ein wenig entgegen. Sie roch gut. Gus hatte auch so gerochen… Eine kleine Hand fuhr aus und patschte ihm unkoordiniert auf die Nase. Er hob seine andere Hand und streckte vorsichtig den Finger aus, um Lillys Boxversuche abzufangen. Ihre Finger waren so klein, dass sie kaum um seinen Zeigefinger herum reichten. Sie gurgelte und öffnete den Mund. Tut mir leid, Kleine, dachte er, aber das hier ist keine Titte… Die für dich verantwortlichen Titten haben sich aus dem Staub gemacht… Verfluchte Daphne! Er zwang sich, sich wieder zu besinnen. Darüber konnte und musste er später nachdenken. Hilfesuchend blickte er zur pummeligen Nonne, die sich auf der anderen Seite des Bettes am Kinderbett und seiner Ladung zu schaffen machte. „Mrs…?“ fragte er. Sie winkte ab und drehte sich zu ihm an. „Antonia“, stellte sie sich breit lächelnd vor. „Äh… Brian… angenehm… Lilly braucht etwas zu essen…?“ Er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstand, aber sie gestikulierte, dass er kurz abwarten solle. Sie stöpselte irgendein Gerät in die Steckdose, das enervierenden zu brummen begann. Er spähte. Gut, sie machte ein Fläschchen warm. Lilly jammerte unglücklich. „Ist ja gut…“, versuchte es Brian, „gleich gibt’s Frühstück… Hast wohl ganz schön Kohldampf? Kein Wunder, du hast ja auch noch nie etwas gegessen… Hungrig… Hast du das von deinem Papa…? Raus mit der Sprache!“ Lilly verstand bedauerlicherweise noch weniger als Schwester Antonia. Und selbst wenn, hätte sie seine Frage wohl kaum beantworten können. Aber sie wurde ruhiger beim Klang seiner Stimme. Super, er war ein Naturtalent… Schwester Antonia drücke ihm eine paar Minuten später das erwärmte Fläschchen in die Hand. Na klasse… Er schnappte es sich schicksalsergeben. War ja nicht so, als würde er das zum ersten Mal machen. Baby-Gus hatte zwar nur sporadisch bei ihm Station gemacht, besonders nach dieser Sache mit dem Lederball, aber die Grundtechniken beherrschte er sehr wohl. Er stopfte den Gumminuckel in Lillys Mund. Eine Weile war nur noch ein leises Schmatzen zu hören. Damit wäre Problem Nummer eins gelöst. Blieben nur noch die anderen geschätzt fünf Milliarden. Nachdem Lilly sich den Magen vollgeschlagen hatte, gab sie ein paar kurze Gurrlaute von sich, dann schlief sie ein. Beim Anblick den schlummernden Babys fiel Brian auf, dass auch er todmüde war. Und am verhungern war er auch, das Letzte, was er gegessen hatte, war das Flugzeugmenü gewesen und das war ewig her. Er stand auf und machte Schwester Antonia klar, dass es wohl an der Zeit sei, Lilly ins Bettchen zu befördern. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Was denn nun schon wieder? Der Berufspinguin wies ihn an, Lilly auf den mit einer Wickelunterlage präparierten Tisch zu legen, wo sie sie aus dem Tuch, das um sie geschlungen war, wickelte. Wie nicht anders zu erwarten war, war Lilly nicht nur definitiv weiblich, sondern auch splitterfasernackt auf diese Welt gekommen. Antonia schaute ihn erwartungsvoll an. Mist… ach ja, die Tasche… Während die Schwester dem schnarchenden Baby eine Windel verpasste, durchwühlte Brian Daphnes Gepäck. Diverser Babykram. Ganz unten ein Briefumschlag, auf dem sein Name stand. Später… Er musterte die Strampelanzüge. Nicky-Zeug… uhhh… aber er musste es ja nicht anziehen. Hellblau mit einer kleinen grinsenden Sonne vorne drauf. Nicht gerade Haute-Couture. Aber meinetwegen. Unter den kritischen Blicken der Nonne zog er Lilly das Teil über. Hast wohl gedacht, dass ich mich dümmer anstelle, was, dachte Brian. Bedauerlicherweise war das Ensemble bestimmt drei Nummern zu groß. Oder Lilly war drei Nummern zu klein. Sie sah aus wie in einen Sack gestopft. Er zupfte es zurecht, so gut es ging, und stülpte zum Schluss ein Paar Miniatur-Socken über die Zwergenfüße. Voila – fertig! Er hob sein Werk hoch und beförderte es ins Bett. Antonia saß ihm immer noch im Nacken wie Zerberus, aber er schlug sich wohl durchaus ihren Ansprüchen gemäß. Am Horizont ging die Sonne auf. Der erste Tag des Junis. Antonia trat zu ihm. „Bueno“, sagte sie. Ja, klar, alles super… Sehnsüchtig musterte er das Bett. Aber er musste den Arzt sprechen. Und Lilly würde bald wieder wach werden, und dann würde er die nächste Ladung in sie rein schaufeln müssen. Und… ahhhh! Ganz ruhig, ganz ruhig… Schlafen war nicht… aber… Mit Händen und Füßen machte er Antonia klar, dass er am verhungern war. Gut, dass ihn jetzt keiner sah. Es reichte schon, dass sie lachte. Sie sagte irgendetwas Zustimmendes, tätschelte seine Schulter und wackelte davon. Er ließ sich auf den Stuhl sinken. Wenn er sich jetzt hinlegte, würde er ins Koma fallen. Er stand auf und schleppte sich ins Bad, um den Kaffee zu entsorgen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihm keinen erfreulichen Anblick. Seine Frisur hatte schon bessere Zeiten erlebt und er hatte Augenringe wie ein Poltergeist. Im Hauptzimmer rumpelte es. Antonia war zurück mit einem Krankenhaus-Frühstücksgedeck. Er dankte ihr, obwohl es nicht gerade verführerisch aussah. Aber inzwischen hätte er sogar den Lachspudding a la Lance mit Wonne verdrückt. Er versuchte heraus zu bekommen, wann der Arzt zu erscheinen gedenke. Mit Hilfe seiner Armbanduhr wurde ihm klar gemacht, dass er sich wohl noch eine halbe Stunde gedulden müsse. Er kassierte eine weitere Nonnen-Tätschelei, bevor sich Antonia fürs erste verdrückte. Er war allein. Nein war er nicht. Er trat ans Kinderbett. Lilly schlief tief und fest. Offensichtlich hatte sie beschlossen, dass Frisuren überbewertet würden, und hatte Glatze zum Trend erhoben. Die einzigen Haare, die sie am Körper trug, waren ihre dichten Wimpern, die leicht zuckten. Träumte sie? Wovon träumten Babys? Er nutzte die Chance und schlich zurück ins Bad. Eine eiskalte Dusche, seine Luxus-Gesichtscreme und frische Klamotten ließen ihn wieder etwas lebendiger werden. Aus dem Hauptzimmer erschallte ein erbarmungswürdiges Geheul. Mit nassen Haaren flitzte er zurück. Lilly war wieder wach. Ein wenig ziellos suchten ihre Augen den Raum ab. Sie greinte derart mitleidseinflößend, dass Brian fast in Panik verfiel. Er hob sie hoch. Sie wurde leiser, hörte aber nicht auf. „Was willst du?“ fragte Brian sie. „Wieder Hunger? Oder hast du die letzte Mahlzeit entsorgt?“ Lilly machte weiterhin einen auf geheimnisvoll. Da half wohl nur nachsehen… Vorsichtshalber belud er schon mal den Fläschchenerwärmer und schaltete ihn an, Schwester Antonia hatte genügend Munition dagelassen. Als der Arzt sich schließlich die Ehre gab, nuckelte Lilly wieder zufrieden an ihrem nächsten Dinner. Brian war sich nicht ganz sicher, ob er nicht draufgegangen und von Voodoo-Priestern als Zombie wieder erweckt worden war. Ungefähr so musste man sich fühlen. Ihm war fast schwindelig vor Müdigkeit und Erschöpfung. „Mr. Taylor-Kinney“, sagte der Arzt. „Mmm“, konnte Brian nur erwidern. „Was ist mit Lilly...?“ „Wir haben sie nach der Geburt untersucht. Sie ist gesund, herzlichen Glückwunsch!“ Vor seinem inneren Auge erwürgte Brian den Arzt mit seinem dämlichen Stethoskop. „Na wundervoll“, murmelte er. „Sie wird noch ein oder zwei Tage hier bleiben müssen, damit wir alle Untersuchungen abschließen können und Vorsorge treffen können, damit Sie sie nach Hause bringen können. Da die Mutter nicht zugegen ist, können Sie derweil in diesem Zimmer bei Ihrer Tochter bleiben. Ihre Versicherung…?“ „Sie bleiben nicht auf Ihren Rechnungen sitzen“, meinte Brian grimmig. Hatten die keine anderen Sorgen…? „Gut, da sie die Vaterschaft anerkannt haben, muss ich Ihnen mitteilen, dass Mrs. Kimble von ihren eigenen Sorgerechtsansprüchen zurück tritt und in Zusammenhang mit ihrer Tochter nicht genannt werden möchte. Eine entsprechende juristische Erklärung liegt uns vor und wird Ihnen zur Ansicht übergeben werden.“ „Wie bitte?“ stieß Brian hervor. „Sie sind der einzige Sorgeberechtigte für Lilly. Wenn Sie das infrage stellen wollen, müssten Sie…“ „Schon gut!“ In ihm rotierte es. Was war das denn hier für eine Nummer?!!! Nicht aufregen… eins nach dem anderen. Er sah Lilly an. Sie nuckelte ergeben und hatte die Hand auf seine gelegt. Ist ja okay… „Gut. Dann habe ich hier dementsprechend die Geburtsurkunde für Sie.“ Der Arzt legte sie auf dem Tisch ab. „Und Daphne… Ich meine Mrs. Kimble?“ versuchte es Brian. „Sie hat die Geburt gut überstanden, das kann ich Ihnen sagen. Über alles andere kann ich Ihnen, wie gesagt, keine Auskunft geben. Ich schaue später nochmal nach Lilly. Wenn Sie etwas brauchen, läuten Sie nach der Schwester.“ Der Arzt erhob sich. Brian blieb gelähmt sitzen. Lilly beendete ihre Mahlzeit. Wie war das noch…? Er stellte die Flasche ab und angelte nach der Geburtsurkunde. Lilly blubberte zufrieden. Da stand der Name. Es traf ihn schockartig, obwohl es ihm eigentlich klar war. Lilly Taylor-Kinney. Name des Vaters: Brian Aidan Taylor-Kinney Name der Mutter: keine Angaben Geboren am 1. Juni 2006 um 2:03. 2570 Gramm 44,8 Zentimeter. Total mickrig. Okay, das stand da nicht. Oh Gott… Etwas in ihm wollte einfach nur abhauen. Aber da war Daphne leider schneller gewesen. Er musterte Lilly. Ihre Wimpern… Waren das seine? War sie doch seine Tochter? Aber was sollte dann der ganze Schwachsinn?! Tatsache war, dass Lilly jetzt seine Tochter war, biologische Verwandtschaft hin oder her. Er hatte ja gesagt. Hatte Daphne deshalb gewollt, dass sie kamen? Damit sie ihnen das Neugeborene aufs Auge drücken konnte? Daphne hatte als Vater auch nur „Mr. Taylor-Kinney“ angegeben – das hätte auch Justin sein können, wenn er nicht platt gewesen wäre. Hätte Justin nein gesagt? Niemals. Daphne wollte, dass Lilly sicher war, dass das, was hier faul war, nicht Leid für das Kind bedeuten würde. War Sie deshalb abgehauen und hatte jede Verbindung zu Lilly gekappt? Aber wer hatte ihr geholfen? Sie war wohl kaum fünf Minuten nach der Geburt ins nächstbeste Taxi gesprungen. Und dieser ganze Immunitätskram…? Mit Lilly auf dem Arm beugte er sich nach Daphnes Tasche. Er setzte sich wieder und riss den Briefumschlag auf. Lieber Brian, es tut mir leid. Ich schwöre Dir, es ging nicht anders. Ich setze meine ganze Hoffnung darauf, dass ihr für ihr Wohlergehen sorgt. Wenn nicht selber, dann durch solche, denen ihr vertraut. Bitte verzeiht mir. D. Das war alles. Keine genauen Formulierungen, wer den Zusammenhang nicht wusste, würde nichts verstehen. Er legte den Brief ab. Was jetzt? Er musste es Justin sagen. Aber der war zurzeit viel zu krank… Er wählte die Nummer. „Taylor, bei Tay…“ „Jennifer, ich bin’s“ „Oh, hallo Brian! Alles in Ordnung bei dir?“ Brian hätte am liebsten losgelacht. Was sollte er Jennifer darüber sagen? Im Augenblick nur das Notwendigste. „Die gute Nachricht ist: Daphne hat die Geburt gut überstanden. Lilly ist zwar etwas mickrig aber gesund.“ „Das ist wundervoll! Aber… was ist dann die schlechte…?“ „Tja, Daphne hat sich aus dem Staub gemacht und mir den Nachwuchs übereignet.“ „Was?“ fragte Jennifer entgeistert. „Exakt mein Gedankengang, wie schön, dass wir uns so gut verstehen. Wie geht es Justin?“ „Er ist stabil… Was meinst du mit „übereignet“?“ „Ich meine nicht, ich weiß, dass mein Name der einzige ist außer Lillys, der auf der Geburtsurkunde steht.“ „Mein Gott, Brian… Wie…?!“ „Wiederum brillant nachgehakt. Auf dem Stand meiner aktuellen Kenntnisse kann ich dazu nur sagen: Keine Ahnung! An ein sündiges Schäferstündchen mit Daphne kann ich mich nicht entsinnen. Wer der biologische Vater ist, steht in den Sternen. Aber die Alternative wäre gewesen, Lilly ihrem Schicksal zu überlassen.“ „Und… und was jetzt…?“ „Genial! Und wieder: keine Ahnung! Lilly muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, dann können wir hier weg. Kannst du los und Sachen besorgen? Gib mir dann die Rechnungen! Nur das Notwendigste, den Rest erledige ich dann. Falls ich vor Schlafmangel bis dahin nicht krepiert sein sollte. Und versuche es irgendwie, Justin zu verklickern. Wie lange ist er noch ansteckend?“ „Etwa drei Tage…“ „Gut! Immer schön sauber machen und füttern, das mache ich hier auch super professionell. Bekommt ihr das hin?“ „Ja, sicher…“ „Ausgezeichnet! Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, Lilly ist eingepoft, und ich muss jetzt tot ins Bett kippen.“ „Schlaf gut…“ „Sehr witzig…“ Er legte auf, beförderte Lilly ins Bett und warf sich, vollständig angekleidet, auf die Matratze. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen. Kapitel 4: Reise mit leichtem Gepäck ------------------------------------ IV. Reise mit leichtem Gepäck „Justin, Schatz?“ „Mama…?“ murmelte der Angesprochene, der zwischen Wachen und Schlafen dahin trieb. Noch immer kochte sein Körper. Noch zwei Tage, dann müssten die Symptome zurück gehen, und er würde sich langsam wieder erholen. Der Arzt sah regelmäßig nach ihm, aber bisher war Justins Zustand nicht kritisch geworden. „Brian hat angerufen“, sagte sie ihm. „Mmm… Brian…“, hauchte er. „Brian ist in Mexiko. Du erinnerst dich…?“ Justin atmete ein paar Mal erschöpft. Dann formten seine Lippen die Worte „Daphne… Baby…?“. „Ja, Daphne hat ihr Baby bekommen. Brian bringt es mit. Er muss noch dort bleiben, bis das Baby fertig untersucht ist, verstehst du?“ Mehr konnte sie Justin jetzt nicht sagen. Sie war sich auch nicht sicher, wie viel sein von der Krankheit gelähmter Geist mitbekam. „Lilly…?“ würgte Justin hervor. Jennifer runzelte die Stirn. Hieß so das Baby? Wahrscheinlich… „Ja, Schatz. Es geht alles gut. Brian kommt bald mit Lilly. Dann geht es dir wieder besser, okay?“ „Okay…“ Er war wieder eingeschlafen. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Knappe drei Stunden Schlaf waren ihm vergönnt, bis sich Lilly wieder meldete. Brian biss die Zähne zusammen und stand auf. Die Erschöpfung war immer noch tief, aber er fühlte sich etwas besser. Es war Vormittag. Draußen knallte die Sonne. Sein Zeitgefühl war ihm etwas abhanden gekommen. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit eingeschweißtem Brot, kalten Kaffee und ähnlichen Delikatessen. Wie spät mochte es sein? Er spähte auf seine Armbanduhr. Fast zehn. Es war Samstag. Lilly lag zufrieden in seinen Armen und schaute ihn an. Versunken strich er über die weichen Wangen. Das schien ihr zu gefallen, denn sie lallte vergnügt. Zumindest hörte es sich für ihn so an. Vielleicht hieß das auch „Nimm deine Flossen aus meiner Visage“ in Babysprache. Pech gehabt, noch hatte er hier das Kommando. Er studierte das kleine Gesicht. Zu klein, zu unausgeformt um großartige Ähnlichkeiten ausmachen zu können. Klar konnte man in jeder Kleinigkeit etwas entdecken – aber das konnte auch bloß reine Spekulation sein. Schwester Antonia schneite hinein und holte Lilly für eine Untersuchung ab. Brians erster Reflex war es, ihr auf die Finger zu hauen, damit sie ihm bloß nicht das Baby ab nahm. Dann riss er sich zusammen. Verdammt… War sein Hirn denn nur noch Brei? Er setzte sich auf die Bettkante. Die Versuchung postwendend wieder hintenüber zu kippen, war groß. Aber Lilly würde in einer halben Stunde wieder da sein, hatte ihm die Nonne auf sein Bohren hin klar gemacht. Er zückte das Handy und wählte. „Kinney!“ „Brian hier.“ „Oh. Gus spielt draußen mit Jack im Garten. Ich hole ihn.“ „Gut. Sage mir Mal – was hatte ich bei meiner Geburt für eine Augenfarbe?“ „Blau, sie sind später nachgedunkelt. Wieso fragst du? Ist irgendwas da mit Justin Freundin und ihrem Kind…?“ „Nein… alles in Ordnung. War nur neugierig.“ „Aha.“ Sie klang nicht sehr überzeugt. Aber das hatte Zeit. „Ich gebe dir jetzt Gus. Wiederhören.“ Weg war sie. „Papa?“ „Hallo, Sonnyboy!“ „Ich spiele Garten mit Jack! Wann kommst du wieder nach Hause?“ „Übermorgen oder überübermorgen… Ich beeile mich.“ „Bist du bei dem Baby?“ Das konnte man wohl sagen… „Ja. Sie heißt Lilly und ist ganz klein, viel kleiner als du bei deiner Geburt.“ „Ich bin ja auch groß! Kann ich sie dann sehen, wenn du kommst?“ „Ja, kannst du, Gus… Geht es dir sonst gut?“ „Ja… doofe Masern. Armer Justin, der ist voll krank und hat überall Punkte... Hoffentlich ist er bald wieder heil. Aber die Punkte kann er behalten, die sind lustig!“ Da war Brian anderer Meinung. „Ja, Justin soll sich Mal beeilen mit dem gesund werden, finde ich auch.“ „Oma Joan sagt, ich sollte gegen Masern gepimpft werden?“ „Geimpft… der Pimpf bist du, da kann man nichts gegen machen. Das ist eine gute Idee. Sonst ist alles in Ordnung?“ „Ja, alles klar. Ich hab dich lieb, Papa.“ „Ich hab dich auch lieb, Gus. Ich bin bald wieder da, versprochen.“ „Gut. Ich muss jetzt wieder in den Sandkasten, Jack macht das falsch…“ „Na, dann will ich Mal nicht weiter stören… Ich rufe wieder an, bis dann, du großer Gärtner…“ „Tschüss Papa! Sag Lilly von mir hallo.“ „Mach ich, tschüss Gus.“ Er legte auf. Antonia kam wieder rein und überreichte ihm die unwillig mosernde Lilly. Auf seinem Arm wurde sie ruhiger. Antonia zeigte sich beeindruckt. Er wechselte den Arm. Sonst würde er vom Babyschleppen noch eine asymmetrische Muskulatur aufbauen… „Gus sagt hallo“, richtete er ihr aus. Sie zeigte sich wenig beeindruckt. Das würde sie schon noch… Der Tag verging. Brian nutzte Lillys Schlafperioden, um sich weiter zu erholen, was jedoch nur leidlich gelang. Am Nachmittag wurde Lilly ein weiteres Mal abgeholt, Brian nutzte die Chance sich aus dem Krankenhauskiosk eine englischsprachige Zeitung zu besorgen. Abends schneite die halbe Portion von einem Arzt noch einmal vorbei und verkündete ihm, dass Lilly ganz und gar okay sei. Wenn er wolle, könne er Morgen mit ihr das Krankenhaus verlassen. Sobald er gezahlt habe, verstünde sich. Zum Abschluss wurde ihm noch ein Vortrag zur richtigen Fürsorge für ein Neugeborenes gehalten, wie sie schlafen solle, welche Impfungen sie brauche und blabla. Brian versuchte aufzupassen, während sein Hirn sich schon weiter in Bewegung setzte. Er würde hier also Morgen mit Mrs. Taylor-Kinney – nie hätte er es sich träumen lassen, dass es die einmal geben würde – raus spazieren. Und dann? Er konnte Lilly schlecht ins Handschuhfach des BMW verfrachten und dann Gummi geben. Er brauchte Kram, um sie unbeschadet bis nach Hause zu bekommen. Der Arzt zeigte sich da hilfsbereit. In der Nebenstraße befand sich ein Laden mit Baby-Bedarf. Gehörte wahrscheinlich seinem Bruder… dachte Brian. Trotzdem praktisch. Und wie bekam er Lilly und sich dann von hier bis nach Pitts? Er fragte den Hutzelarzt. Ein gesundes Baby könne fliegen, aber man müsse vorsichtig sein wegen des Druckausgleichs. Viel Flüssigkeit, warmer Lappen auf die Ohren. Okay. Dass er bei Lilly mit Kaugummi nicht weiter kam, konnte er sich selber denken. Der Weißkittel verdrückte sich, Dunkelheit senkte sich hinab. Die Nacht verlief… fragmentiert. Er dachte daran, bald zuhause zu sein. Schlafen. Irgendwer anders, der Lilly eine Runde betüttelte… Wie schafften das andere Menschen ganz allein…? Konnte man auch ohne Schlaf leben…? …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Gegen neun Uhr vormittags checkten sie aus. Schwester Antonia half ihm, ihr Gepäck im Auto zu verfrachten, irgendwer musste ja Lilly tragen. Und das Problem hieß es jetzt zu lösen. Er bekam einen letzten Pinguin-Knuddel und sah dann zu, dass er Land gewann. Er hielt schützend die Hand über den kahlen Schädel seines Winzlings, der unwohle Laute von sich gab, als die Morgensonne sie erwischte. „Ich weiß Lilly… Drecks-Wetter hier. Viel zu heiß. Aber tröste dich, wir gehen jetzt shoppen. Hoffentlich hat Daphne dir dieses Gen nicht weg geklont.“ Auf jeden Fall schien Lilly die Klimaanlage des Ladens zu gefallen. Ihm auch. Er sah sich um. Buhäää… Warum waren die meisten Kindersachen so beschissen hässlich? Wie sollte man denn so einen jungen Erdenbürger davon abhalten, frühzeitig jedes Geschmacksempfinden einzubüßen? Von überall glotzen ihn verkitschte Tier- und Babymuster in den grauenerregendsten Farben an. Was hieß auf Spanisch: „Haben Sie den auch in schön?“? Kritisch beäugte er die Auslagen. Eine Verkäuferin heftete sich an seine Fersen. Sie sprach gebrochen Englisch. Immerhin. „Ich brauch eine Kinderkarre mit so einem abnehmbaren Hartschalendings“, sagte er und wies auf ein entsprechendes Modell, das allerdings rosa war und voller grenzdebil grinsender Häschen. Bevor er mit sowas auf die Straße ging, würde er Lilly zu Fuß auf dem Arm bis nach Pennsylvania tragen. Aber er hatte von Lindsay gelernt. Hartschalendingsdas waren praktisch. „Gibt es das auch ohne Muster?“ Eine Stunde später war er gerüstet. Der Kinderwagen war dunkelgrün, das war erträglich. Sicherheitssitz fürs Auto und eventuell fürs Flugzeug. Einen Batterie betrieben Fläschchenwärmer. Sonnenhut für Lilly, mit dem sie aussah wie aus „Indiana Jones und die Rätsel der Entbindungsstation“. Diverser Kleinkram. In Daphnes Tasche waren ja auch noch Sachen. Lilly begann zu heulen. War wohl Zeit für die Schönheitspflege… Er machte sich auf in Richtung Waschraum. Wickeltisch im Herrenklo? Fehlanzeige. Er ging ins Damenklo und verrichtete seine Aufgabe, während ihn eine ältere Mexikanerin vollpöbelte. War das sein Problem, wenn die hier so eine Macho-Kultur pflegten? Selber schuld. Hör auf mich anzuschreien und emanzipiere dich gefälligst, du blöde Vettel. Wieder draußen war Lilly wieder gnädiger, doch sie drohte Hunger zu bekommen. „So Lilly, deine erste Karre, was meinst du?“ sagte er und legte sie ab. „Ist nicht gerade ein Lamborghini, aber fürs erste muss es reichen. Leider. Und jetzt sehen wir zu, dass wir von diesem Ort verschwinden und Heim zu Justin und Gus kommen. Da ist es auch nicht so eklig heiß, versprochen. Zu Hause? Das ist ganz weit weg von hier… Da gibt es einen Kamin… und einen großen Garten… zwei Swimmingpools… und ein Zimmer, ganz für dich alleine…“ Es war ihm egal, ob die Leute auf der Straße ihn für bescheuert hielten, weil er ein Baby vollquasselte. Vielleicht hatte ihm der Stress einen Hau verpasst. Aber irgendwie musste er ihnen klar machen, dass die Dinge bald in geordneten Bahnen verlaufen würden. Hoffte er zumindest. Glücklicherweise war das Auto in der Zwischenzeit nicht geklaut worden. Das hätte eigentlich nur noch gefehlt. In der Brise der Klimaanlage machte er sie startklar. Lillys Plastikverschalung wurde festgezurrt, sie bekam ihre erhoffte Stärkung und dann drückte Brian aufs Gas. Adios Amigos. Mexiko sah ihn so schnell nicht wieder. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Sechs Stunden später sahen sie die Welt von oben. Ein Baby war ausgesprochen praktisch, wenn es darum ging, sich vorne anstellen zu können und die besten Plätze abzusahnen. In Kombination mit einer Platin-Kreditkarte beförderte einen das postwendend in die kuscheligen Sitze der ersten Klasse. Dank der Geburtsurkunde war er problemlos mit seinem neuen Gepäckstück durch die Kontrollen gekommen. Er würde Lilly zu Hause melden müssen. Nicht dass sie jetzt Mexikanerin war, oh Graus… Wie es Daphne wohl ging…? Man hatte ihn darauf hingewiesen, dass er für Lilly keinen separaten Platz buchen müsse, er könne sie auch auf dem Schoß halten. Brian hatte dankend abgelehnt und den zweiten Sitz bezahlt. Lilly ging es gut, sie war satt und schnarchte sehr, sehr leise. Er fuhr seinen Sitz zurück und zog die Decke über sich. Lilly würde sich schon melden, wenn sie etwas wollte. Er schloss die Augen und döste. Während des Landeanfluges brüllte Lilly infernalisch. Mist… Er hielt ihr, so gut es ging mit einem feuchten Lappen die Ohren zu. Tut mir leid… Verdammt… Sie greinte immer noch vor sich hin, als das Gepäckband ihre Sachen ausspuckte. „Ist ja gut... du kleiner Schreihals… Aber hast ja recht, bloß nichts runterschlucken, immer schön raus damit… Gibt gleich Abendbrot…“ Sie bekam sich langsam wieder ein. Den Typen an der Passkontrolle kannte er aus dem Darkroom. Er spürte den Ich-fass-es-nicht-Blick, als er ihm Lillys Geburtsurkunde unter die Nase hielt. Fass es doch nicht, ist mir egal, drück lieber deinen bescheuerten kleinen Stempel auf das Papier. Und ich weiß, dass dein Stempel wirklich sehr, sehr klein ist… Die Telepathie funktionierte. Hatten Grenzbeamte eigentlich auch Schweigepflicht…? Besser auf Nummer Sicher gehen… Er spähte auf das Namensschild. Andrew Perry. Interessierte Brian auch nicht wirklich. „Andrew…?“ „B… Brian…?“ „Du hältst die Fresse, sonst werde ich an ungünstigen Orten gesprächig, was deine Hobbys so angeht…“ „Ich weiß von nichts!“ „Ist auch besser so…“ „Glückwunsch dir zu…“ „Ja danke. Noch ein schönes Leben…“ Weiter ging es. Die Corvette stand auf einem der Dauerparkplätze des Flughafens. Hinter dem Steuer sitzend gab er Lilly ihr Fläschchen, bevor sie wieder ausflippte. Sie nuckelte brav. Er fühlte sich merkwürdig. Er griff zum Telefon. „Taylor, b…“ „Ich bin’s wieder!“ „Ich hör’s. Wo bist du?“ „Am Flughafen. Ist Justin noch ansteckend?“ „Der Arzt sagt nein…“ „Gut. Wir kommen jetzt rüber.“ „Mit Lilly…?“ „Ja… Alles bereit?“ „Ja… Ich habe deinen Umkleideraum ein wenig umfunktioniert…“ „Ich heule später darüber. Danke schon mal, Jennifer, für alles.“ „Dafür nicht.“ „Bis gleich.“ „Bis gleich.“ Brian startete den Wagen. Ein leichter Sommerregen fiel. Die Leute beachteten die Verkehrsregeln. Er stemmte das Tor auf, dann setzte er das letzte Stück die Einfahrt hoch. Das Haus lag in der Dunkelheit, Licht drang aus den Fenstern. Jennifer erwartete ihn an der Eingangstür. Stumm reichte er ihr Lilly, um die Pforte zu schließen und das Gepäck ins Haus zu tragen. Gemeinsam betraten sie die Küche. Brian ließ seinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Sie waren zuhause. Sie waren endlich zuhause… Das musste er erst mal realisieren. „Sie ist sehr hübsch, Brian“, sagte Jennifer schließlich. „Aber sie sieht gar nicht aus wie Daphne… So eine helle Haut… Wie Justin und Molly bei der Geburt…“ Brian starrte sie schweigend an. „Ist das… Ist das Justins Tochter…?“ entfuhr es Jennifer. „Ich weiß es nicht, Jenn… Es kann sein… Offiziell ist sie meine… Aber Daphne hat sie künstlich gezeugt, irgendwie an ihr herum gepfuscht… Ich weiß es einfach nicht…“ „Ein Designer-Baby? Na, das passt ja zu dir… Ist sie gesund?“ „Ja, alles ganz super, hat der Arzt gesagt. Sie sollte aber hier auch noch mal lieber untersucht werden, ich traue diesem Kurpfuscher nicht.“ „Ich zeige dir gleich das Zimmer… Ich bleibe noch über Nacht. Justin muss auch noch versorgt werden. Und du siehst schrecklich aus…“ „Danke… Wie geht es ihm?“ „Besser. Der Juckreiz nimmt ab. Er hat immer noch Fieber, aber nicht mehr so hoch. Er schläft die ganze Zeit.“ Brian stand auf, nahm Jennifer Lilly ab und sagte zu der winzigen Gestalt: „Wir gehen jetzt ins Bettchen… Du in deins und ich in… eins, bei dem die Chance besteht, dass ich ein paar Stunden am Stück schlafen kann…“ Jennifer hatte ganze Arbeit geleistet, sofern sein inzwischen völlig unkritischer Blick das beurteilen konnte. Er beförderte Lilly ins vergitterte Bett, aus dem sie nicht raus plumpsen konnte, Jennifer schnappte sich das Babyfon. Obwohl er sich am liebsten direkt auf dem Fußboden zusammen gerollt hätte, öffnete er vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer. Justin lag im Mondlicht auf dem Rücken und schlief tief und fest. Seine Haut zeigte überall unangenehme Pusteln. Brian war’s egal. Ihn regte gar nichts mehr auf. Stand er unter Schock? Ebenfalls egal. Er war zuhause. Er drückte Justin einen Kuss auf die heiße Stirn, dann schleppte er sich ins Gästezimmer. Jennifer hatte weise vorausblickend das Bett bezogen. Nun, sie war mit diesem Möbel ja auch vertraut. Er warf seine Sachen von sich und kroch unter die Decke. Keine Macht der Welt brachte ihn jetzt noch unter die Dusche. Was auch immer der nächste Tag zu bieten hatte – er war noch ganz weit weg. Kapitel 5: Willkommen in der Familie ------------------------------------ V. Willkommen in der Familie „Brian?“ „Guten Morgen, Sonnenschein!“ erwiderte Brian, der frisch geduscht mit einer Kaffeetasse bewaffnet auf der Bettkante saß. „Du bist wieder da…“, stellte Justin fest, während sein ziemlich verunstaltetes Gesicht ein leichtes Lächeln zeigte. Aber das würde heilen. Über Nacht war seine Temperatur weiter gesunken, so dass er wieder halbwegs ansprechbar war. Dennoch sah er übel aus, nicht nur wegen der Pusteln, mitgenommen und etwas ausgezehrt, blasser noch als sonst. Schichtnougat kaufen, notierte Brian innerlich. Und Vitaminpillen reinstopfen. Er rutschte zu seinem mitgenommenen Ehemann hinüber. Justin griff nach seiner Hand. „Wie war’s in Mexiko…?“ wollte er wissen. Seine Mutter hatte irgendetwas erzählt… Er bekam es nicht mehr zusammen. „Wie soll ich sagen…? Unglaublich…? Ja, das trifft es. Und ich hab uns etwas mit gebracht...“ „Eine Pinata?“ „Nein… Obwohl es echt Stimmung verbreitet…“ „Einen Sack voller Tortillas?“ „Auch nicht. Aber schön, dass du wieder Hunger bekommst.“ „Ich kann noch nicht wieder richtig schlucken…“ „Bedauerlich.“ „Einen Zeh von Frida Kahlo?“ „Nah dran, es ist etwas Organisches. Und vielleicht ist auch was von Frida Kahlo mit drin, wer weiß…“ „Was ist es denn?“ wollte Justin wissen. „Soll ich’s dir zeigen?“ „Ich bitte drum.“ Brian stellte seine Tasse auf dem Nachttisch ab und eilte aus dem Raum. Nur ein paar Augenblicke später kam er wieder, ein Bündel auf dem Arm tragend. Es gab leise quakende Geräusche von sich. „Oh mein Gott, Brian!“ entfuhr es Justin. Er rappelte sich halb auf. Brian hielt sein Gepäckstück so hin, dass Justin es sehen konnte. „Oh mein Gott! Ist die winzig! Das ist ja unglaublich! Nein… ich fass es nicht! Hallo, Lilly! Auf seinem erschöpfen Gesicht zeichnete sich ein staunendes Strahlen ab, das Brian gleichzeitig dazu verlockte, Justin zu umarmen und ihn zu ohrfeigen. Volle Ladung Kindchenschema und Justins sowieso schon wabbeliges Gehirn verwandelte sich endgültig zu Brei. Wenn er schon Mal dabei war, könnte er sich auch selbst eine runterhauen, da sein Gesicht auch gerade nicht mehr seinem Geist folgte und nur ein doofes Grinsen zustande brachte. „Ohhh…!“ quetschte Justin nur noch hervor und starrte Lilly mit geweiteten Pupillen an. „Sag hallo zu Justin“, befahl Brian Lilly, „und keine Angst… er sieht nicht immer so komisch aus… Normalerweise hat er keine Punkte, sondern isst, malt, lächelt und wackelt mit dem Hintern.“ „Schön, das du meine Persönlichkeit so treffend charakterisieren kannst… Kann ich sie mal halten? Der Arzt meint, ich sei völlig unbedenklich…?“ „Klar“, meinte Brian und krabbelte mit dem konfus um sich blickenden Säugling neben Justin ins Bett. Andächtig streckte Justin die Arme aus. „Himmel… du Winzling… Gus war viel größer bei der Geburt…“ Er musste es ja wissen. Er war ja da gewesen. Dort hatte die Sache ihren Anfang gehabt. Justin streckte die Finger aus und strich über Lillys Gesicht und ihren Kopf, bevor er ihre Miniaturhände zu fassen bekam und beäugte: „Bist du süß… Himmel! Du wirst bestimmt einmal eine Schönheit! Und schlau! Oh, schau Mal, sie ist ja ein Skinhead… sowas in unserem Hause… Oh, diese Händchen! Ohhhh… sie gähnt…!“ Justin war völlig weg getreten. Brian verfolgte das Schauspiel. Er wusste ja, dass Justin Kinder mochte, aber dass er gleich so ausflippen musste… Aber hatte ja schon irgendwie recht… Justin stupste Lillys Nase an, woraufhin sie einen verblüfften Laut von sich gab. Er lachte. Fiesling. „Mein Gott, sie ist einfach… Daphne muss so glücklich sein!“ sagte er schließlich. „Mmm, jaaaa…“ erwiderte Brian. Justin richtete seinen Blick auf ihn: „Wie? Was ist…? Wo ist…?“ „Drei messerscharf formulierte Fragen, sie könnten von mir kommen. Leider habe ich keine Antwort.“ „Was…?“ entfuhr Justin. „Das war die Vierte… Hat deine Mutter dir nichts gesagt?“ „Ich war total platt, kann sein… Was ist los? Wo ist Daphne?“ Seine Stimme bekam einen erschrockenen Unterton. „Soweit ich weiß, geht es ihr gut…“ „Soweit du weißt? Was, bitteschön soll das denn heißen?! Oh… sie hat ja auch total kleine Füße…“ „Daphne ist abgehauen“, sagte Brian lakonisch. Justin schwieg kurz, dann ertönte ein: „Was?!“ „Daphne-ist-abgehauen. Nach der Geburt war sie weg, irgendwer muss ihr geholfen haben… Und dieser Affenzirkus von einem Krankenhaus hat mir als dem liebenden Papa Lilly in die Hand gedrückt.“ Justin starrte ihn mit offenem Mund an. Brian nahm ihm vorsichtshalber Lilly wieder ab. Sein blonder, verpustelter Gemahl ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. „Okay“, sagte er, „vielleicht erzählst du mir jetzt einfach mal, was um Gottes Willen in Mexiko passiert ist?“ Dem kam Brian nach, so gut er es vermochte. Lilly schlief an seiner Brust ein. Zumindest ihr ging es an ihrem Zwergenarsch vorbei, der locker in eine seiner Handflächen passte. Justin lauschte, es strengte ihn an, das konnte Brian sehen. Aber er musste es erfahren. „Das ist doch…“, sagte er schließlich und verstummte. „Ich fass es einfach nicht! Warum sollte Daphne so etwas tun! Ausgerechnet Daphne! Das kann doch gar nicht… Die eigene Tochter im Stich zu lassen! Was soll denn aus Lilly werden…?“ „Tja, mein Name steht auf der Geburtsurkunde, es sei denn, ich fechte das an… Ich vermute Mal, dass Gus sich jetzt über ein Schwesterchen freuen darf…?“ Justin dreht sich zu ihm. „Willst du das…?“ „Was hätte ich denn sonst tun sollen?!“ „Das habe ich nicht gefragt.“ Brian schluckte: „Ich weiß… ich weiß es einfach nicht… Es ist so… Ich habe nicht darum gebettelt… Aber Lilly… Was soll denn sonst mit ihr werde…? Sie braucht doch… wen… Und was ist mit dir…?“ „Ich wollte immer Kinder. Zwar nicht unbedingt… so. Aber ich hätte nicht anders gehandelt als du.“ „Ich weiß…“ Brian rückte mit Lilly im Arm wieder näher an Justin, dass dieser sich anlehnen konnte. „Sie ist so niedlich…“, murmelte er. „Und sie brüllt, ist ständig hungrig und nässt ein. Und sie pennt maximal drei Stunden, bevor der Terror von vorne anfängt… Schau sie dir mal genau an!“ Justin tat wie geheißen. „Fällt dir irgendetwas auf?“ „Naja… sie ist eine totale halbe Portion… sie hat keine Haare… blaue Augen… helle Haut…“ „Exakt. Und – wie sieht die flüchtige Mutti aus…? Ist die etwa eine schwedische Häuptlingstochter?“ „Daph hat irgendwas gemacht…“ „Ach was, du Superhirn.“ „Aber was?“ „Wir sollten uns testen lassen.“ Justin fuhr auf: „Du hast in Mexiko rumgefickt!?“ „Nein! Du blödes… Ich meinte Vaterschaftstests!“ Justin fiel zurück in die Kissen. „Es tut mir leid“, sagte er dann. „Du hast recht. Meinst du, du oder ich könnten…?“ „Theoretisch ist hier alles möglich. Sie hat sehr helle Haut, genau wie du…“ „Das haben auch andere. Ihre Wimpern… sie sehen aus wie deine…“ „Kann alles sein. Vielleicht projizieren wir hier auch nur etwas rein. Gewissheit wäre da besser, bevor uns der Rest an Geist abhandenkommt, der in diesem Raum noch überlebt hat. Und selbst wenn nicht…“ „Ja… stimmt. Aber es ist doch sonst alles okay mit ihr…? Daphne hat ihr nicht Flügel oder nen Drachenschwanz angehext…? „Kerngesund. Aber die Überraschungen mögen noch kommen. Wer weiß…“ „Aber wie sollte Daphne, gesetzt den Fall dass, an mein oder dein Erbgut gekommen sein…?“ „Ich glaube nicht, dass es das ist. Ansonsten hätte sie nicht ein derartiges Spektakel veranstaltet…“ „Aber wenn…“, Justin grübelte. Das öffneten sich seine Augen in einem Anflug von Erleuchtung. „Die Wichslappen!“ sagte er. „Was…?“ war jetzt Brian an der Reihe. „Die W-i-c-h-s-l-a-p-p-e-n im Bad! Als Daphne da war!“ „Äh… die waren doch ad acta…“ „Nein, du unaufgeklärte Nuss! Die kleinen Schwimmer sind zäh. Die überleben nen halben Tag auch außerhalb ihres natürlichen Habitats! Und selbst wenn die den Geist aufgeben, frisch haben sie noch jede Menge zu bieten.“ „Ach du Sch…“ Justin warf einen Blick auf Lilly. „Komm schon Lilly“, gurrte er, „wer ist dein Papa? Mir kannst du’s sagen! Wer ist dein Papa?“ „Vergiss es“, meinte Brian, „habe ich auch schon versucht. Sie schweigt wie ein Grab.“ „Bockig, was? Dann ist sie wohl eher von dir!“ Brian starrte Justin an, dann begann er zu lachen: „Klar… von dir kann sie das ja garantiert nicht haben.“ „Niemals!“ behauptete Justin stur. „Tja… kann sein… oder auch nicht… daher Test, und zwar diskret.“ „Warum das?“ „Daphne hatte… Angst um Lilly. Dass irgendwer raus bekommt, was sie mit Lilly gemacht hat. Das sollten wir nicht einfach dem nächst besten Hausarzt ins Ohr pusten, Schweigepflicht hin oder her, ich trau den Brüdern – und Schwestern – nicht. Wir gehen zu verschiedenen Ärzten.“ „Okay… Und wie geht es weiter mit ihr…?“ Brian starrte nachdenklich auf das schlafende Bündel hinab, das vertrauensvoll und warm an seiner Brust lag. „Ich weiß nicht… Ich muss arbeiten, ich bin kein Angestellter, der Laden hängt von mir ab. Und du… du brauchst auch Zeit… Wir werden Hilfe brauchen…“ Das gestand er sich nicht gerne ein, aber er war realistisch. „Ich kann meine Eltern fragen… und Molly…“ „Das wird nicht reichen. Sie haben auch ihre eigenen Leben. Und meine Mutter… Weiß der Himmel, was sie davon hält. Aber ich will sie hier nicht als dauernden Logiergast haben. Lilly ist noch so… klein… Für’s erste braucht sie uns… Das schaffen wir… Aber dann sollten wir über professionelle Hilfe nachdenken…?“ „Ja… du hast recht… Emmet war doch Mal bei so einer Agentur…?“ „Ein nackter Babysitter? Nein, danke! So eine angefettete Matrone würde gehen.“ „Auf die Suchanzeige freue ich mich…“ „Aber Justin?“ „Ja?“ „Du stehst nicht auf der Urkunde… Momentan bist du rechtlich für Lilly…“ „… gar nichts, ich weiß. Wie damals Mel. Wir werden sehen. Aber das spielt jetzt erst mal keine Rolle. Du hast sie als Tochter angenommen. Das hätte auch ich sein können. Wie auch immer… willkommen in der Familie, Lilly“, sagte er und drückte ihr einen Kuss auf die glatte Stirn. Kapitel 6: Gestatten, Lilly --------------------------- VI. Gestatten, Lilly „Papa!!!“ brüllte Gus, die Eingangstreppe des Kindergartens runter stürmend. Brian ging in die Knie und fing ihn auf. Ein Kind, das sprechen konnte, herrlich. „Na du“, lächelte er in Gus Ohr. „Na endlich!“ meinte Gus. „Ist Justin auch wieder heil?“ „Gesund heißt das Gus… Ich habe Oma Joan Bescheid gesagt, wir fahren jetzt nach Hause!“ „Juhu!“ jubelte Gus und umklammerte Brians Hüften. „Da wartet eine Überraschung auf dich…“ „Echt?“ freute sich Gus. „Die neuen Spongebob-Folgen auf DVD?“ wollte er wissen. „Nein… viel besser… Ich habe etwas aus Mexiko mitgebracht…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Eine Schwester…?“ fragte Gus ungläubig, in Lillys Babybett zu Fuß Brians Armani-Collection stehend starrend. „Wo kommt die denn her…?“ „Mexiko….“, erklärte Brian lakonisch. „Oh. Die ist ja voll klein. Ein Bruder war nicht im Angebot…?“ „Nein… Das kann man sich nicht aussuchen.“ „Okay… Jetzt habe ich zwei Schwestern?“ „So ist es.“ „Aber sie kann nicht sprechen… Und Jenny sagt auch nur so doofen Kram…“, meinte Gus. „Als du so klein warst, konntest du auch nicht mehr“, verwies ihn Brian. Gus schaute kritisch. „Ich war nie so klein“, bemerkte er altklug. „Im Bauch von Mama Lindsay schon… Gus… Lilly ist deine Schwester, okay?“ „Ja…“ „Sie ist ein Baby, sie kann gar nichts allein, sie braucht Hilfe. Wir müssen uns um sie kümmern. Magst du vielleicht dabei helfen…?“ Gus lächelte stolz: „Ich kann helfen! Ich bin schon fast ein Schulkind! Was soll ich machen?“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Michael öffnete die Eingangstür. Es war Zeit für Gus‘ wöchentlichen Besuch. Der kleine Junge kam vertraut herein stolziert, Brians Lächeln auf dem Gesicht. Was für eine beängstigende Ähnlichkeit… Würde Jenny auch so nach ihm kommen? Seine Augen und seine Grübchen hatte sie auf jeden Fall. Brian trat gemessenen Schrittes hinter seinem Sohn über die Türschwelle. Er trug eine Trageschale in der Hand. Für so etwas war Gus definitiv viel zu groß, und Jenny war diesem Format auch entwachsen. Bevor Michael sich recht besinnen konnte, war Brian bereits an ihm vorbei ins Wohnzimmer gezogen und stellte sein kurioses Gepäckstück neben sich auf dem Sofa ab. Gus baute sich stolz neben seinem Vater auf und sagte: „Schau mal, Onkel Mikey. Papa hat noch eine Schwester für mich mitgebracht! Das ist Lilly!“ Michaels Gehirn setzte ein paar Sekunden vollkommen aus. Irgendwie trugen seine Füße ihn wie von selbst in Richtung Couch. Sprachlos starrte hinab. In der Schale schlief ein Baby, ein winziges Neugeborenes, unter einer blauen Mohair-Decke, die kleinen Fäuste halb geballt. Seine Lippen bewegten sich. „Was… was… was…?“ stammelte er. „Nicht was, wer“, korrigierte ihn Brian selenruhig. Dann wandte er sich an das Baby: „Darf ich vorstellen, Lilly, das ist dein Onkel Mikey. Entschuldige bitte seinen momentanen Mangel an geschliffener Rhetorik, normalerweise schlägt er sich da besser.“ „Brian!“ entfuhr es Michael, das Kind anstarrend. „Was… wie… was?!“ Brian antwortete nicht, sondern hob den Winzling aus dem Korb. Die Augen öffneten sich, große blaue Flecken geisterten durch den Raum und streiften Michaels. „Sie ist super, nicht?“ posaunte Gus heraus, nach Antwort heischend. „Ja… ganz super…“, murmelte Michael schwach. „Ich schau Mal nach Jenny“, verkündete Gus, „Ist das Lego in ihrem Zimmer?“ „Ja…“ „Okay, bis später!“ meinte Gus nur und hopste vergnügt die Treppe hoch, als sei gar nichts. Michael ließ sich neben Brian und Lillys Körbchen in die Polster fallen. Er starrte seinen Freund an, der das winzig kleine Persönchen im Arm hielt und ihn stumm zurück ansah. „Brian… Wer… wer ist Lilly?“ brachte er schließlich zustande. „Meine Tochter“, antwortete Brian knapp. „Deine… deine Tochter? Aber woher…? Ich dachte, du wolltest keine… Wieso…?“ „Hör zu Michael, bevor du dich wieder übergangen fühlst: Dieses Baby war nicht geplant, ich hätte dir erst vor ein paar Tagen nichts von ihr sagen können, weil ich selber nichts ahnte.“ Michael schluckte: „Nicht geplant? Wen hast du denn bitteschön versehentlich geschwängert?!“ „Haha, sehr witzig. Nein, so war es nicht. Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht so genau, wie das passiert ist. Ich weiß nur, dass ich plötzlich in der Situation war, mich um Lilly zu kümmern oder sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen.“ „Und dann hast du spontan beschlossen, sie zu adoptieren?!“ „Ja, so in etwa… Wie gesagt, mir ist auch nicht so ganz klar, wie es dazu gekommen ist. Aber ich konnte einfach nicht…“ „Verstehe.“ „Wirklich?“ „Ja. Denk an James. Wir hätten ihn auch sich überlassen können – und was wäre dann heute mit ihm? Weißt du, wessen Tochter sie ist?“ „Ja und nein… Ich bin mir nicht sicher…“ „Aber du hast eine Vermutung?“ „Ja. Aber, Mikey, ich kann es nicht sagen. Nicht zu dir… zu niemandem. Nicht weil ich das gerne möchte – oder dir nicht vertraue – aber diese Sache… Es ist besser, nicht darin herum zu stochern. Nicht jetzt. Okay?“ Michael zögerte kurz. Dann sagte er: „Gut… okay… Darf ich sie Mal…?“ Er streckte die Arme aus. Brian musterte ihn, dann reichte er ihm den Säugling und meinte: „Okay. Ich muss sowieso pinkeln. Aber lass sie ja nicht fallen!“ „Hah!“ sagte Michael leicht beleidigt. „Ich hatte schon eine längere Zeit Babys auf dem Arm als du zusammengerechnet gebraucht hast, halb Pittsburgh zu vögeln! Also mach hier nicht einen auf Panik!“ Brian verdrehte die Augen. „Ist ja gut! Bin gleich wieder da!“ Michael musterte das Neugeborene. Ein zartes kleines Mädchen. Brians Tochter. Lilly. Wie merkwürdig… ausgesprochen merkwürdig… aber mal wieder typisch Brian, Knall auf Fall mit sowas aufzukreuzen. Brian kam wieder herein gesegelt und knöpfte ihm Lilly wieder ab. Das konnte Michael durchaus begreifen. Als Jenny geboren worden war, hatte er die Finger auch nicht von ihr lassen können. Umso schmerzhafter war es gewesen, dass das nicht möglich gewesen war… Aber jetzt… Er schluckte den Gedanken hinunter. „Was sagt eigentlich Justin dazu?“ wollte Michael wissen. „Er hätte an meiner Stelle genauso gehandelt. Wir haben nicht danach gesucht… aber Lilly hat uns gefunden. So ist es eben.“ „Und rechtlich…?“ „Habe bisher nur ich das Sorgerecht.“ „Es wird schwer, daran etwas zu ändern… Bei Gus und Jenny hat das Testament geholfen, aber als Paar zu adoptieren ist… Naja, du kannst es dir denken…“ Brian senkte den Kopf. Darum würden sie sich kümmern müssen. Justin hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er Lilly gleichfalls als sein betrachtete. Und es wäre nicht gut und auch in Lillys Interesse nicht sinnvoll, diese Verbindung nicht auch juristisch geltend zu machen. Er dachte an die Kämpfe, die Melanie und Lindsay hatten ausfechten müssen. Und das politische Klima hatte sich seitdem geändert – und zwar nicht eben zum Besseren… Sie würden sich etwas einfallen lassen müssen. Michael stellte das Babykörbchen auf den Wohnzimmertisch, rückte heran und legte Brian den Arm um die Schulter, Lilly jetzt anlächelnd. „Wo auch immer du sie her hast, sie ist wirklich unglaublich…“ „Jaja, ich weiß…“, unterbrach ihn Brian, doch sein brüsker Ton überzeugte nicht recht. „Hättest du das je gedacht?“ fragte Michael ihn, Lillys Gesicht nachzeichnend. „Was?“ „Das wir einmal hier so sitzen würden…? Verheiratet… Väter…?“ Brian seufzte innerlich. Michael war doch immer so ein elendig sentimentales Kitschopfer. „Nicht Mal in meinen schlimmsten Träumen“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Blödmann“, meinte Michael dazu nur. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Gus folgte ihm etwas missmutig, als Brian schließlich zum Aufbruch blies. Er war anscheinend gerade damit beschäftigt gewesen, mit Jenny zu „spielen“, indem er eine Burg aus ihren Legosteinen baute und sie gefälligst zuschauen sollte. Jenny hatte kurzen Prozess gemacht und sein fast fertiges Werk mit einem Krabbelkinder-Kickbox-Move auseinander genommen. Gus hatte fast geheult. Jenny hingegen lag auf dem Bauch und lachte herzlich. Sie mochte zwar erst rudimentär sprechen können, dennoch machte sich Melanies Erbteil in Hinblick auf die Behandlung von Kinney-Männern offensichtlich bereits bemerkbar. „Ich hab jetzt eine neue Schwester!“ hatte er sie angefahren. „Und die ist nicht so doof wie Du!“ „Hey, Gus!“ hatte Brian ihn zurecht gewiesen, auch wenn er die herzliche Wut seines Sprösslings bestens nachvollziehen konnte. Auch er bekam Anfälle, wenn man seine Arbeit zerdepperte. „Du hast zwei Schwestern, verstanden! Und Lilly kann noch nichts kaputt machen, das ist also kein fairer Vergleich!“ „Mir doch egal!“ murmelte Gus störrisch so leise, das es fast nicht zu verstehen war. „Wie bitte?!“ „Ja….! Natürlich, Papa…!“ antwortete er derart gedehnt, dass es nicht besonders glaubwürdig herüber kam. Brian ließ sich auf keine weitere Diskussion ein und verdonnerte Gus dazu, das Spielzeug aufzuräumen. „Ungerecht!“ moserte der kleine Junge, zog einen Flunsch und schaufelte lustlos die Steine wieder zurück in die Verpackung. Brian ließ sich nicht erweichen. Wieder hinter dem Steuer hakte er seine innere Checkliste ab. Michael würde die Buschtrommeln in Bewegung setzten, das ersparte ihm zunächst die Stippvisite bei Debbie, Carl und Emmet. Die würden schon früh genug über sie herfallen. Jennifer kümmerte sich um Craig und Molly. Bei Ted reichte ein Anruf um ihn zu informieren, solange die Geschäftsleitung an ihm hing. Ihm war zwar nicht gerade wohl dabei, aber Alternativen waren nicht in Sicht. Morgen würde er es für ein paar dringende Termine zu Kinnetic schaffen. Gott sei Dank hatte er ein fähiges Team. Blieb nur noch eine Station. Ihm grauste jetzt schon. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Brian.“ „Guten Tag, Mutter.“ „Was führt dich zu mir? Wenn ich auf Gus aufpassen soll, ruf vorher an.“ „Nein, deine Qualitäten als Babysitterin sind heute nicht gefragt.“ „Ich bin kein Baby! Hallo Oma.“ „Hallo Gus.“ „Nein, weswegen ich hier bin, ist das hier.“ Er schritt, gefolgt von den anderen ohne Umwege ins Wohnzimmer und hielt dort Joan den Tragekorb unter die Nase. „Das ist Lilly!“ verkündete Gus. Joan starrte auf das Baby. „Ist das deins?“ „Sieht so aus.“ „Von dem schwangeren Mädchen?“ „Kann sein.“ „Wie bitte soll ich das verstehen?! Du hast mir doch die ganze Zeit weisgemacht, dass du nur mit Männern…“ Sie verstummte. „Gus… Ich glaube Jack hat was an deinem Garten gemacht… Schau doch mal nach…“ „Ihr wollt bloß Erwachsenengespräche führen! Jaja, ich geh ja schon!“ Heute war definitiv nicht Gus‘ Tag. Er trollte sich nach draußen in Richtung Sandkiste. Es war Vormittag, die anderen Hausbewohner waren unterwegs. „Falls es dich beruhigt: Ich war immer schwul, bin es noch und werde es immer sein.“ „Was für eine Erleichterung. Und wo kommt das Baby dann bitte her?“ „Vielleicht hat es der Storch gebracht…? Ja, das wird es wohl sein.“ „Brian, treib hier keine Späße! Woher hast du das Kind?“ Brian erzählte ihr eine abgespeckte Version und ersparte ihr vorerst Spekulationen über die Vaterschaft. „Sie ist einfach weg gegangen und hat ihr Kind zurück gelassen! Was für eine… unglaublich!“ „Mutter, sie hatte Gründe. Vor allem hatte sie Angst um Lilly. Frag mich nicht, wieso, ich weiß dass, aber nicht warum. Sie hat sie zurück gelassen, um sie zu beschützen. Und deshalb ist es absolut wichtig, dass du niemandem etwas von Daphne erzählst, ganz besonders nicht, dass sie Lilly geboren hat!“ „Das gefällt mir gar nicht.“ „Wirst du es bitteschön trotzdem tun?“ „Ja. Aber ich erwarte, dass du mir reinen Wein einschenkst, sobald du mehr weißt. Wenn ich schon lüge, dann will ich auch wissen, ob das auch zu rechtfertigen ist.“ „Jaja… Sonst hagelt es Blitze, verstehe…“ Joan verpasste ihm lediglich einen abschätzigen Blick. „Zeig mal her!“ orderte sie und deutete auf Brians Anhängsel. Brian hob den Korb, so dass sie Lilly betrachten konnte. Joan musterte das Baby eingehend, dann schnappte sie sich Lilly mit geübtem Griff, bevor Brian auch nur zucken konnte. „Sie hat deine Augen“, sagte sie schließlich, die leise quietschende Lilly mit kundigem Griff haltend. „Was?!“ „Sie hat deine Augen. Deine Augen sahen genauso aus bei der Geburt, die Wimpern und ganz blau. Sie sind erst später dunkel geworden. Wie kann das bitte sein, wenn du das Mädchen nicht angerührt hast?!“ „Daphne… Sie hat irgendwas gemacht… Sie war, ist Medizinerin in der Forschung im Bereich Fortpflanzungsmedizin…“ „So hat Gott das bestimmt nicht gewollt.“ „Schau mich da bloß nicht an! Ich kann mir das nur zusammen reimen, meine Idee war das absolut nicht! Du.. du meinst, sie ist meine biologische Tochter?“ „Natürlich kann ich mich irren. Aber für mich sieht es so aus. Die Haut ist heller und die Gesichtsknochen sind feiner geschnitten… War diese Daphne nicht Afroamerikanerin?“ „Ja… Darüber zerbrechen wir uns auch den Kopf…“ „Hat sie etwas mit dem Baby gemacht…? Man hört da ja so allerlei, wie irgendwelche Weißkittel Schindluder mit Gottes Ordnung treiben…?“ „Ich weiß es nicht! Ich vermute es. Wahrscheinlich musste Daphne das hier auch deshalb machen… damit es nicht auf Lilly zurück fällt.“ „Lilly kann nichts dafür. Auch sie ist ein Kind Gottes, die Schuld ihrer Mutter – und ihres Vaters – ist nicht die ihre. Dennoch ist sie, wie wir alle, in Sünde geboren und bedarf der Erlösung.“ „Na klasse.“ „Gut. Wann ist die Taufe?“ „Mutter! Was soll das! Gus ist ja schließlich auch nicht getauft!“ „Gus ist nicht getauft?!!!“ Als Brian es endlich schaffte, die heiligen Hallen seiner Kindheit zu verlassen, fühlte er sich erneut wie durch die Mangel gedreht. Lilly und Gus in den Bottich zu tunken, ohne dass sie das selbst so hätten entscheiden können – nur über seine Leiche! Joan war da anderer Meinung. Musste er seine Kinder jetzt mit satanistischen Amuletten behängen, damit seine Mutter nicht den nächsten unbeobachteten Augenblick für ihre Christianisierung-Kampagne nutzte? Das könnte Ärger mit dem Kindergarten geben. Aber immerhin würde Joan die Klappe halten. Und Lilly…? Heute Nachmittag hatte er seinen Termin für den Vaterschaftstest, der halbwegs wieder lebendige Justin war Morgen dran. Dann hieß es warten. Kapitel 7: Nöse --------------- VII. Nöse Justin lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und nippte an einer Tasse ziemlich übelriechenden Kräutertees, als sie zurück kamen. Er wirkte noch immer ziemlich mitgenommen, aber seine Augen hatten den fiebrigen Glanz verloren und blickten jetzt nur noch vornehmlich müde. Er trug Jeans und T-Shirt, anscheinend in dem Bemühen, der Bettlägerigkeit zumindest optisch Lebewohl zu sagen. Gus, der immer noch recht gedämpfter Stimmung war, gab seinem jüngeren Erziehungsberechtigten pflichtschuldig einen Kuss und schnappte sich dann seinen Fußball, um damit in den Vorgarten zu verschwinden. Der riesige rückwärtige Garten war ja noch immer ein Dschungel. Im Keller hämmerten die Handwerker, um das Spa-Wunderland, gesponsert von Lance, passend zur heißesten Zeit fertigzustellen, damit sie sich dann schön in die Saune oder ins Solarium verkrümeln könnten… genialer Plan… Der Pool draußen war auch noch nicht einsatzbereit... und die Terrasse… der Stall… der Tennisplatz… die leer stehenden Zimmer… Brian haute innerlich mit einem Hammer auf diese Gedankenkette. Für ein Zimmer hatten sie ja jetzt eine Verwendung… Justin rappelte sich hoch, als Brian, bewaffnet mit einem Fläschchen und der hungrig maulenden Lilly ins Zimmer trat. Seine Gestik sprach für sich, also drückte ihm Brian beides in die Hand. Geschickt hielt Justin das Neugeborene und verpasste ihm seine Mahlzeit. „Na, du Würmchen, leeeecker“, gurrte er voller Verständnis für Lillys Kohldampf. Brian ließ sich neben die beiden fallen und sah ihnen zu. Wozu brauchte man da bitte Fernsehen… Nach dem Besuchs-Marathon machte sich eine angenehme Ruhe in Brian breit. Lilly beendete ihre Mahlzeit mit einem lieblichen Baby-Rülpser und plapperte dann sinn- und ziellos vor sich hin, während Justin sie angemessen bewunderte und ihr zu ihrer Großtat gratulierte. Von draußen drang das Geräusch von Gus rhythmisch gegen die Hauswand donnerndem Fußball. „Und, wie war’s?“ fragte Justin schließlich, während Jenny langsam eindöselte. „Michael hat’s mit Fassung getragen. Er wusste ja nichts von Daphnes Schwangerschaft und nimmt an, sie sei adoptiert… ist auch besser so. Und meine Mutter hält ihre bibelreue Klappe, obwohl sie schon eins und eins zusammen zählen konnte. Allerdings ist sie jetzt scharf wie Fritzchen Müller auf Zack O’Tool darauf, Gus und Lilly ins Taufbecken duckern zu lassen…“ „Das muss nicht sein… Sollen sie selbst entscheiden…“ „Meine Rede. Und sag ihr bloß nicht, dass deine Familie reformiert ist – schwul mag ja noch angehen, aber vom wahren Glauben abgefallen, da wird sie dir wahrscheinlich einen Exorzisten auf den Hals hetzten.“ „Ich schweige wie ein Grab – Du guter katholischer Junge, du…“ „Jaja, spotte nur. Und sie meint, dass… dass Lillys Augen, wie meine bei der Geburt waren, sind…“ „Glaube ich gern. Du hattest Mal blaue Augen? Gott sei Dank haben sie sich verfärbt, so sind sie viel schöner! Vielleicht hat Deine Mutter ja recht… Aber wenn Lilly deine Augen bekommt, dann werden wir uns eine Kampfhund-Zucht zulegen müssen, um die ganzen Typen zur Hölle zu schicken, die uns dann eines Tages die Bude einrennen werden…“ „Wo du recht hast, hast du recht. Oder wir erziehen Gus zum Obermacho, so dass er jedem auf die Fresse haut, der seine Schwester auch nur aus dem Augenwinkel anschaut, dann haben wir Ruhe…“ „Oder wir drillen Lilly zur Karate-Meisterin und reden ihr ein, dass alle Männer Schweine sind, die eh nur das eine wollen…“ „Stimmt ja auch… Aber dann wird sie noch eine Lesbe, will Bauarbeiterin werden, rennt in Karohemden rum und wünscht sich zum 18. Geburtstag eine Harley. Nicht, solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, junge Dame!“ „Na, wer hat hier Vorurteile…“ „Aber vielleicht hat meine Mutter ja auch bloß einen Knick in der Linse oder wird senil, was ich nicht zu hoffen wage… Ich finde ja, dass die Haut und die Gesichtsform eher für dich sprechen… Womit wir dasselbe Problem hätten…“ „Findest du…? Naja, danke für die Blumen. Vielleicht haben wir auch nichts mit ihrer Entstehung zu tun… fändest du das schlimm?“ „Eigentlich… nicht, nein. Du…?“ „Nein. Biologische Verwandtschaft ist nicht der entscheidende Punkt, wie wir beide ja zu gut wissen.“ „Wie wahr… Sie braucht ein Zimmer, sie kann schließlich nicht in meinem – äh, unserem – Kleiderschrank aufwachsen…“ „Stimmt. Sonst kommt eines Tages eine Eule durch den Kamin mit einer Einladung nach Hoghwarts.“ „Was?“ „Harry Potter?“ „Hab ich nicht gesehen…“ „Kommen auch verflucht wenig nackte Kerle drin vor… Aber zu dem Vergnügen wirst du schon noch kommen.“ „Drohungen… leere Drohungen. Okay, Kinderzimmer…“ „Ich bin zwar noch ziemlich matsch, aber ich kann mich heute Nachmittag ans Internet hängen und nach passendem Krempel suchen… Das neben Gus‘?“ „Ja, das ist gut, da drin hört man momentan nur das leise Husten der Spinnen.“ „Okay… Was brauchen wir… Rosa Farbe für die Wände, Schablonen für Wölkchenmotive, ein Prinzessinnen-Bett…“ „Wie gut, dass ich mir absolut sicher bin, dass du mich verarscht.“ „Einen Versuch war’s wert.“ „Ich kann heute auf dem Weg zum Arzt auch noch Mal einkaufen…“ „Bis du sicher, dass du dieses riesige Opfer verkraftest?“ „Mit Entschlossenheit und tiefer Würde…“ „Prima, dann geh doch gleich auch in einen Buchladen und besorg Lektüre aus der „Juhu, mein Baby ist da“-Ecke.“ „Muss das sein?“ „Besser ist es. Oder fällt dir so spontan ein, welche Impfungen sie braucht? Wann sie lernen sollte aufs Töpfchen zu gehen – und wie? Oder ob ein Naserümpfen eine spontane Selbstentzündung ankündigt oder nur ein Zeichen dafür ist, dass wir sie nerven?“ „Okay, okay… Ich besorg‘ eine Bedienungsanleitung… Du und dein dämlicher Pragmatismus… Sei doch mal romantisch…“ „Jetzt verarscht du mich. Du willst ficken?“ „Pssst! Willst du, dass ihr erstes Wort „ficken“ ist?“ „Wenn du’s ständig wiederholst, könnte das natürlich passieren… Aber ich glaube, darüber müssen wir uns vorerst keine Sorgen machen. Ich bin leider noch zu sehr zerschrotet… Die Masern haben meine Schleimhäute arg angegriffen und mein Arsch ist auch ziemlich im Arsch…“ „Blöde Ausreden. Aber ist schon okay… darf ich mir dann wenigstens in deinem Beisein einen runterholen?“ „Was für ein sadistischer Plan… Aber ich kann echt noch nicht wieder, insofern okay. Darf ich dir dann wenigstens sagen, was du machen sollt?“ „So gefällst du mir schon besser!“ „Sehr schön. Erste Order: Spül die Tücher gefälligst das Klo runter, sonst gehen uns bald die Zimmer aus!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Als Brian das Haus verließ, schnarchte Justin wieder leise auf dem Sofa, Lilly in ihrem Körbchen neben sich. Trotz seiner angeschlagenen Konstitution hatte er ein bemerkenswertes Spektrum verbaler Sauereien über Brian ergossen, die nicht ganz ohne Reiz gewesen waren… Gelobt seien kreative Menschen. Gus hatte sich wieder in sein Zimmer verzogen, lauschte einem Hörspiel und malte dabei anscheinend ein Porträt von Lilly. Hier schien sich Lindsays Erbe bemerkbar zu machen. Dennoch ähnelten seine Darstellungen des schlafenden Babys eher einer mit Augen bewaffneten Banane – aber vielleicht war das nur eine formale Abstraktion, mit der der Künstler in die Welt des Metaphysischen verwies… Brian hob Lilly plus Marschgepäck hoch, ohne Justin aufzuwecken, und machte sich auf den Weg. Die Sonne schien und tauchte die Landschaft in ein warmes frühsommerliches Licht. Die Bäume entlang der Alleen von Green Tree zeigten erste Blüten und standen in üppigem Grün. Ein Idyll, das verflixt viele Vögel anzog, wie ein Blick auf die Kühlerhaube der Corvette verwies. Das Problem hatte er im Loft nicht gehabt. Er parkte vor dem aufdringlich klinisch-modern gestaltetem Gebäude des Ärztezentrums – was für ein Kontrast zu der Bruchbude in Mexiko, aber das Aussehen mochte auch täuschen – schnappte sich sein Anhängsel, beförderte es in den provisorischen Kinderwagen – so ein no name Ding ging auf Dauer ja gar nicht, war das überhaupt ergonomisch? – und steuerte den gläsernen Aufzug an. Dank seiner erstklassigen und seit seiner Krankheit auch abartig teuren Krankenversicherung schob er kalt lächelnd an der wartenden Meute im Empfangszimmer vorbei. Die Ärztin behandelte ihn auch ausgesprochen zuvorkommend, dass er fast argwöhnte, sie wolle ihm obendrein noch ein Nasenlifting andrehen. Danke, ich mag meinen Zinken. Die Sache an sich war schnell erledigt. Sie machte bei ihm einen Abstrich und krallte sich ein wenig von Lillys Sabber. Das Ganze würde ins Labor gehen, in etwa fünf Tagen würde er Gewissheit haben. Ihre DNA würde verglichen werden, Wahrscheinlichkeiten berechnet und hoffentlich Sicherheiten gewonnen. Lilly schien der Vortrag anzuöden. Das war’s schon. Er lieferte Lilly wieder zu Hause ab. Gus hatte Justin wieder wach gerüttelt, die beiden spielten irgendein furchteinflößendes Geschicklichkeitsspiel mit Kugeln und neonfarbenden Spießen, bei der der etwas zitterige Justin ausnahmsweise Mal verlor. Gus schien das als ein Zeichen zu sehen, dass das Schicksal ihm wieder hold sei. „Du bist ungeschickt! Ich hab‘ gewonnen! Gewinner! Verlierer! Gewinner! Verlierer!“ tanzte er, abwechselnd auf sich und auf Justin zeigend durch den Raum, als Brian eintrat. „Gus“, sagte der vernichtend Geschlagene, „du bist echt nöse!“ „Das heißt böse!“ wurde er korrigiert. „Nein, nöse“, beharrte Justin, „niedlich – aber böse.“ Gus kicherte. Brian musste auch grinsen. Er schob Lilly inklusive Tragekorb zu Justin. „Na, du Nösewicht“, sagte er zu Gus, „Lust auf eine Runde Shoppen, um Lillys Kinderzimmer einzurichten?“ „Klar! Ich kann schließlich helfen! Sie braucht ein Stofftier so wie ich George!“ stürzte sich Gus, in bester Feierlaune, auf die neue Aufgabe. „Steht ganz oben auf der Liste – und du musst es aussuchen, das ist dein Job!“ Nicht dass Lilly an etwas anderem als ihrem Essen und ihrem Schlummer vertieft interessiert wäre – okay, sie mochte es wohl auch, gehalten zu werden – aber Gus musste Anteil haben. „In Ordnung“, meinte Gus gnädig. „Aber kein Meerschweinchen, das habe ich ja.“ „Du entscheidest.“ „Klar. Und sie braucht Klamotten, die nicht nach Walmart aussehen…“ „Ich nicht!“ „Jaja… schon wieder nöse. Und Einrichtung für ihr Zimmer…“ „Welches ist ihrs?“ „Das neben deinem.“ „Okay. Dann kann ich auch besser auf sie aufpassen!“ „Genau, Gus, genau…“ Justin hatte alle Viere von sich gestreckt, seine Lider waren auf Halbmast, sein Haar stand zerwusselt und er spielte träge mit Lillys durch die Gegend paddelnden Zehen. Sie gab Laute von sich. War sie etwa kitzelig? Gus war nicht der einzig Nöse in diesem Raum… Kinderquäler. Brian stülpte vorsichtshalber die Decke über Lilly, bevor Justin sie noch ins Koma folterte, und verfuhr mit ihm genauso. Ziemlich abrupt kehrte Ruhe ein. Vielleicht war sie doch Justins leibliche Tochter. „Mann, sind das Schnarchnasen“, kommentierte Gus. „Psst! Ja… lassen wir sie Mal eine Runde sägen, wir haben eine Aufgabe zu erfüllen!“ „Ja! Papa!“ „Auf geht’s“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Drei Stunden später hatten sie wahrscheinlich mehr Kohle verprasst, als ein mittelgroßes Entwicklungsland für die Ernährung aller seiner Kinder aufbringen konnte. Gott sei Dank konnte Gus noch nicht rechnen, obwohl er Brian mit seiner ständigen Frage „Ist das teuer?“ auf die Nerven ging. Getoppt noch von „Gibt es das auch in billiger?“. Himmel war das schwer, einem Sechsjährigen die Bedeutung von Markenware klar zu machen. Leider gab der Buchhandel hierfür keine Bedienungsanleitung her. Mobile im Bauhaus-Chic? Meins. Äh – Lillys. Strampelanzug von Junior-Armani? Die Welt war voller Wunder. Wickeltisch a la Le Corbusier? Warum nicht. Brian ließ die Karte glühen. Gus hatte bei der Kuscheltierwahl eifrig gängigen Geschlechterklischees entsprochen und hatte für Lilly eine rosafarbende Maus ausgesucht. Brian wand sich zwar innerlich, aber versprochen war versprochen. Woher hatte er das? Garantiert nicht von seinen Müttern oder ihnen – mit dem Kindergarten als Hauptverdächtigen müsste er noch ein ernsthaftes Wörtchen reden… Bei der Wahl des Kinderbettes beschlichen ihn kurze Schuldgefühle. Was würde Justin dazu sagen…? Egal, der war nicht da. Und er wollte das Ding. Her damit. „Aber Lilly hat doch schon ein Bett!“ protestierte Gus. „Kein… richtiges… Das andere spenden wir Kindern, die es brauchen…?“ versuchte Brian sich heraus zu retten. Jennifer hatte es von Ikea besorgt, was als Notlösung völlig okay gewesen war – aber doch nicht auf Dauer! „Okay…“, sagte Gus halb überzeugt. Zum krönenden Abschluss gönnten sie sich ein Essen in einem Diner – nicht das, in dem Debbie arbeitete, diese Konfrontatation musste heute nicht auch noch sein. Und das halbe schwule Pittsburgh hatte gefälligst die Flossen von Lilly zu halten. Sollten die sich ihre „Gutschi-gutschis“ sonst wohin schieben. Das ging diese Hupfdohlen gar nichts an. Gus hatte sich formvollendet mit Eis bekleckert, als sie zuhause ankamen. Die Corvette war bis zum Anschlag voll mit Kleinzeug gestopft, der Rest würde geliefert werden. Sie hatten ein Care-Paket mit wahrscheinlich inzwischen recht pappigen Fritten und zwei monströsen Burgern für Justin im Gepäck. Sie fanden ihn in fast derselben Haltung, wie sie ihn zurück gelassen hatten, tief schlafend auf dem Sofa. Lilly schlief ruhig neben ihm. Brian bedeutete Gus ruhig zu sein. Gemeinsam brachten sie Lilly in das Ankleidezimmer, in dem ihr Bett stand. Brian ließ Gus die Flasche halten. „Und was ist mit Justin?“ wollte der kleine Junge dann wissen. „Den bringen wir jetzt auch zu Bett und füttern ihn… Du trägst die Tüte mit dem Essen.“ Benommen nahm Justin wahr, wie jemand seinen erschöpften Körper die Treppe hochwuchtete. Kurz wollte er auffahren und protestieren, dann drang ihm der Geruch in die Nase. Burger… und Brian. Kapitel 8: Mutti lässt nicht grüßen ----------------------------------- VIII. Mutti lässt nicht grüßen „Wo ist sie?!“ „Hallo Debbie… du bist spät dran für einen uneingeladenen Gast…“ „Ha, mit Kindern an der Backe schläft man nicht aus. Und ich muss um zehn im Diner sein.“ „Tja… dann komm doch herein in unser bescheidenes Heim… Der Kaffee ist frisch genau wie der Tag…“ „Es ist sieben, nun stell dich nicht so an“, meinte Debbie und stolzierte über die Schwelle. „Und bescheiden ist hier gar nichts.“ Sie hängte ihre lilane Jacke an die Garderobe und schlüpfte aus ihren extravaganten silbernen Straßenschuhen. Ihr üppigen Ohrringe klingelten heiter den Tag ein. „Schicker Schlafanzug“, meinte sie grinsend mit Blick auf Brian. Grüne Seide… man gönnte sich ja sonst nichts… und Justin fand’s scharf, wenn er nicht gerade irgendwelche Kinderkrankheiten hatte, die seine Libido auf null reduzierten. „Danke… dafür dass du das nicht kommentiert hast…“ „Vergiss es! Wenn ich dich schon Mal in voller Grad-aus-dem-Bett-Pracht bewundern darf… Und, wo ist der Neuzugang?“ „Moment“, sagte Brian gedehnt und trabte ergeben los. Debbie war in vielerlei Hinsicht für ihn die Mutter gewesen, die er sich irgendwie immer gewünscht hatte, wenn man von ihrem Geschmack absah. Oder zumindest wie eine Mutter, die diese Bezeichnung auch verdient hatte. Aber auch sie hatte nicht kitten können, was Joan nicht zu leisten in der Lage gewesen war. Lilly war bereits munter gewesen, hatte aber noch im Aufwachen und strampelte ein wenig ziellos vor sich hin. Brian musterte sie. Ihr Gesicht war nicht mehr ganz so zerknautscht, wie direkt nach der Geburt. „Wir sehen gut aus!“ beschloss er. Debbie wartete im Wohnzimmer, sie hatte sich auf der Couch breit gemacht und nippte an ihrer Kaffeetasse. „Hat es hier eigentlich auch ein Echo?“ fragte sie, als er eintrat, um dann auf ihn und seine nicht einmal drei Kilo schwere Last zu zuschießen. Sie lugte in Lillys Gesicht, dann griff sie nach dem Baby, das Brian ihr bereitwillig überließ. Debbie wusste schon, was sie tat. „Ohhhh….“, kieckste sie, „bist du ein Wonneproppen. Und so süß, ganz wie deine Papas. Bloß ohne so einen doofen gehirnvernebelnden Schwanz…“ Brian räusperte sich. „Debbie… Ich stehe hier!“ „Ich weiß“, meinte sie unbeeindruckt. „Hast du Hunger, mein Zuckermäuschen… ohhh… - los Brian, besorg ihr ein Fäschchen!“ kommandierte Debbie, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. „Ay! Sir!“ Oben rumpelte es, Justin kam in einer etwas schlabberig sitzenden Pyjama-Hose und mit bloßem Oberkörper schlafverhangen und orientierungslos die Treppe hinunter getappst, dem Geruch des frisch aufgebrühten Kaffes folgend. Brian mochte zwar am Herd untauglich sein, sein Kaffe hingegen war unschlagbar. „Morgen, Sonnenschein!“ grüßte ihn Debbie. Justin schaute kurz etwas planlos aus der Wäsche, dann lächelte er: „Oh, hallo Debbie! Wie schön!“ Er sah in Richtung Lillys auf Debbies Arm und konstatierte: „Ist sie nicht wunderhübsch!“ „Das ist sie“, lachte Debbie, „einfach zum Anbeißen – ganz im Gegensatz zu dir, armer kranker Sonnenschein... Geht es dir wieder besser? Gut! Aber raus mit der Sprache, wo habt ihr sie her?“ „Mexiko!“ rief Brian aus der Küche, bevor Justin den Mund öffnen konnte. „Sieht aber nicht aus wie eine Mexikanerin“, gab Debbie zu bedenken. Brian kam mit dem warm gemachten Fläschchen um die Ecke. „Nur weil sie keinen Sombrero trägt? Sei nicht so rassistisch!“ „Nein… weil sie eine Haut wie Sonnenschein hat zum Beispiel? Oder sind das deine Wimpern Brian… raus mit der Sprache!“ Sie erstarrten beide für einen kurzen Bruchteil einer Sekunde. Justin atmete tief durch: „Debb… Wir wissen nicht, wer Lillys biologischer Vater ist, okay? Könnte sonst wer sein.“ „Ach so“, antwortete Debbie misstrauisch. „Komm, Lilly, lecker Fertigmampf!“ lockte Brian, um Debbie abzulenken, und schnappte sich das Baby. Debbie starrte ihn an. Brian Kinney. Gab einem Baby das Fläschchen, ohne zu mosern. Ihr war bewusst, dass sie dafür wahrscheinlich hohen Eintritt kassieren könnte. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Die Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm verschwammen vor Daphnes Augen. Es war beschissen heiß, die Klimaanlage war ausgefallen. Sie hatte die Geburt rein körperlich gut überstanden. Brian war da gewesen. Das hatte gereicht. Ob er…? Bitte! Bitte! Aber natürlich hatte er… Oder? Aber sie konnte nicht fragen. So war der Deal. Lilly…? …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian hatte Justin und Lilly in eine andere Klinik als die, in der gestern gewesen war, kutschiert, Justin war noch zu geschwächt gewesen, um selber zu fahren. Jetzt saß er im Wartezimmer und blätterte in Magazinen, die ihn über die Wonnen von Prostatakrebs aufklärten. Alles, bloß nicht das! Er musste bald wieder zur Vorsorgeuntersuchung… Er schob den Gedanken beiseite. Lilly war leider nicht ganz so brav wie bei seiner Untersuchung, genaugenommen brüllte sie wie am Spieß, dass es aus dem Behandlungszimmer heraus den ganzen Wartebereich unterhielt. Wahrscheinlich war da unten wieder Sintflut… juhu… Auch hier dauerte es nicht lange. Er lud Justin und Lilly zuhause ab, Gus war im Kindergarten, und machte sich auf zu Kinnetic. Als er in sein Büro kam, starrte er perplex einen riesigen, mit Zellophanfolie umwickelten Korb an, der sich mitten auf seinem Schreibtisch breit gemacht hatte. Ted stand hinter ihm und grinste versonnen. „Was… was ist das denn bitteschön?“ wollte Brian wissen. „Ein Gratulationsgeschenk – Papa“, meinte Ted nur trocken. „Das macht man so.“ „Oh super, genau daran habe ich während der Wehen gedacht…“ „Das haben wir natürlich berücksichtigt… Da ist auch Lotion für die Rückbildung des Bäuchleins und jede Menge Folsäure für eine gesunde Milch drin.“ „Wie… liebenswürdig. Whiskey und Zigarre?“ „Das auch – auch für Justin – und schau mal da…“ Brian fischte heraus, worauf Ted gezeigt hatte. Es war weich. Er faltete es auseinander. Es war ein Strampelanzug mit dem Logo von Kinnetic. Unwillkürlich musste Brian jetzt doch grinsen. „Danke Ted… das steht mir bestimmt gut!“ „Für alles gibt es Liebhaber“, meinte Ted aus schmerzhafter Erfahrung. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Es war erst halb elf, aber sie lagen bereits im Bett. Früher wären sie zu dieser Zeit nicht einmal aufgebrochen, viel zu früh. Früher… Justin erholte sich zwar langsam, aber der Alltag mit dem Baby strengte ihn arg an, obwohl er sich nicht beklagte. Justin hatte, wenn auch etwas schwächliches, dieses Grinsen im Gesicht, wann immer er das Baby zu fassen bekam. Brian argwöhnte, dass es ihm nicht besser ging. Wahrscheinlich irgend so eine vom Verstand nicht regulierbare Hormonausschüttungs-Geschichte, gegen die keine Abwehrmaßnahmen halfen. Man hatte ihnen ja auch nicht wirklich die Gelegenheit gegeben, über die Sache gründlich nachzudenken, sie war plötzlich über sie gekommen. Nein, ausgesucht hätte er es sich so wohl nicht – wenn überhaupt. Aber Dinge geschahen, ohne dass man gefragt wurde… manchmal waren sie oberscheiße, aber manchmal… nun, nicht so scheiße. Und er war es schließlich gewesen, der ja gesagt hatte. Zu Gus, zu Justin… und jetzt zu Lilly. Justin wühlte sich durch die Laken, bis er sie in der gewünschten Haltung zurecht sortiert hatte. Sein Atem ging tief und langsam. Auf dem Nachttisch blinkte das Babyfon. Aber Lilly hatte gerade eine Sendepause eingelegt. Ihre Portionen für die Nacht standen fertig auf dem Küchentresen, sobald der organische Wecker anging, reichte es, sie mit halb schlafendem Gehirn aufzuwärmen. Brian zog den in den Schlaf sinkenden Justin an sich, auch seine Lider senkten sich genüsslich. Es war so still hier… Brians Schwanz fragte vorsichtig nach, ob es was zu holen gäbe, als Justins Kehrseite sich an ihn schmiegte. Das hatte keine Eile… Den erst halb genesenen Justin zu etwas zu nötigen – nein. Brian drückte den warmen Körper an sich und lauschte Justins trunken wohligen Lauten. Er lehnte das Kinn auf Justins Scheitel. Manchmal war es gut… zu schützen. Auch wenn es nur symbolisch war, Justin konnte auf sich selbst aufpassen. Oder hatte mehr als einmal bewiesen, dass er da war und die Sache im Griff hatte, wenn Brian eingeknickt war. Aber das war es nicht nur… Justin vertraute ihm… der ruhende Körper, der sich an ihn schmiegte… Brian hätte bereitwillig jedem Säbelzahntiger die Gurgel raus gerissen, der seinen Mann nur mit einem Anflug von übler Gesinnung ansah. Auch wenn sein Hintern noch so lecker aussah. Blöder atavistischer Impuls… direkt aus der Steinzeithöhle… komm meiner Familie krum, und ich verpass dir eins mit der Keule. Aber Justin ging es da wohl nicht anders, er konnte ganz schön übel werden. War er jetzt festgekettet? Mit einem Baby, das man ihm einfach so aufgenötigt hatte, das wahrscheinlich nicht einmal mit ihm verwand war…? Nein, wenn sie seine Tochter war, dann waren sie verwandt, Biologie hin oder her. Aber der springende Punkt war: Die ganze Angelegenheit weckte in ihm keinen Widerwillen, keine Panik. Okay, er fand es gar nicht lustig, derart überfahren und… gelinkt worden zu sein. Ein Teil von ihm wollte Daphne in der Arsch treten, dass sie bin in die nächste Galaxie segelte. Warum hatte sie nicht gesagt, was Sache war? Sie hätten doch geholfen… und die Fresse gehalten. Aber war es das nur gewesen? Eine Vertuschungsaktion? Wenn ja, von was…? Oder war da noch etwas…? Daphne war nicht die Frau, die ihr Kind einem Impuls folgend einfach so zurück ließ. Sie hatte das von langer Hand geplant… Aber wenn schon. Lilly war jetzt hier. Sie war gesund. Das Leben machte Sinn. Er machte Sinn. Und das war gut. Justin räkelte sich, griff nach hinten und ließ seine Finger durch Brians Haar gleiten, eine Geste, die so lange Zeit Beklemmung in ihm ausgelöst hatte. Da war es fast noch einfacher gewesen, sie zu geben als sie… zu empfangen. Jetzt war es leicht. Er ließ seine Hand nach unten gleiten und knetete leicht Justins gerundete Hinterbacken… Justin war noch zu wund, als dass das irgendwohin führen könnte, aber das Gefühl war einfach nur… Ein wohliges Schnurren war seine Belohnung. Weich… und fest… seidig… perfekte Form für seine Handflächen… und für… Aber Justin musste gesunden. Seufzend schloss er die Augen und ließ sich forttreiben. Er würde schon früh genug wieder aus den Federn gebrüllt werden. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Als es soweit war, war Justin rascher hoch als Brian. „Lass mich doch…“, murmelte der Ältere wenig überzeugend. „Nein… Ist schon gut. Du warst bisher im Dauereinsatz. Mir geht es schon besser… Schlaf weiter“, wehrte Justin ab. Brian hatte das Ende seiner Ausführungen wahrscheinlich gar nicht mehr mitbekommen, sondern war postwendend wieder zurück in die Kissen gesunken. Justin sah ihn etwas mitleidig an. Solange Brian schlief, ging das. Im wachen Zustand war Brian jede Art von Anteilnahme, die im Verdacht stand, ihn herablassend zu behandeln, zutiefst zuwider. Da stieß er noch immer an seine Grenzen, also Vorsicht! Und, wenn es Not tat, Mitleid ohne Gnade… Aber bloß nicht, ohne zu handeln. Er lief los und hob die heulende Lilly aus ihrem Bettchen. Er war immer noch völlig fassungslos, wie winzig sie, alles an ihr, war. Er wusste, dass das wahrscheinlich völlig besoffen war, aber er war hingerissen. Da meldete sich wahrscheinlich Mutter Natur, die ihn dazu bringen wollte, dass er alles für das Wohlergehen des schutzlosen Frischlings tat. Da hatte sie wohl Erfolg. Er kam nicht dagegen an – und wollte das auch gar nicht. War er Lillys Vater? Biologisch? Sozial? Aber rechtlich… da war er Niemand… Es versetzte ihm einen Stich. Sie hatten sich zusammen gerauft, mit und für Gus – aber vor allem sie selbst, so dass Lilly doch irgendwie… Sie waren doch ihre Eltern…? Nicht nur Brian… Und Brian… der sah das doch auch so… Was, wenn Lilly krank würde – würde man ihm den Zugang zu ihr verwehren…? Das… das… nein… Mit gekonntem Griff wechselte er die Windel, zog ihr einen von Brians neuerworbenen Strampelanzügen aus den Nasehaaren der letzten Elfen an, dann lief er mit ihr hinunter, um ihr Fläschchen einsatzbereit zu machen. Er betrachtete das hingebungsvoll nuckelnde Baby. Wie hatte Daphne sie nur zurück lassen können?! Gerade Daphne! Er kannte sie doch, sie würde niemals… doch sie hatte. Warum? Warum bloß? Weil sie Lilly nicht wollte…? Nein, wer könnte schon. Irgendetwas… In ihm krümmte sich etwas in Sorge um Daphne zusammen. Was war mit ihr? Ging es ihr gut? Warum nur hatte sie Lilly zurück gelassen? Sie hatte Sorge getragen, dass Lilly zu ihnen kam… Es war ihr nicht egal gewesen… Aber war das ihr eigener Entschluss? Oder…? Beunruhigt lief er mit Lilly durch die dunkle Eingangshalle hinüber ins Wohnzimmer. Und Brian… Er hatte nicht eine Sekunde gezögert. Er lächelte stolz. Ja, so war er, so war er immer gewesen. Ganz oder gar nicht. Das Schicksal zum eigenen Entschluss machend. Das hatte immer hinter seinen selbstzerstörerischen Anfällen gesteckt, obwohl es gedauert hatte, bis Justin das verstanden hatte. Das passiert mir nicht einfach, es mag da sein – aber ich handle! Aber er war auch im Guten so… Man drückte ihm ein zurückgelassenes Baby in die Hand – und er sagte, na gut, wenn das so ist: meins! Weil ich das will, nicht bloß weil irgendwer denkt, dass ich müsste. So war das mit Brian… verrückter Kerl… Aber ohne einen gelegentlichen Tritt in den Arsch übertrieb er es dabei auch gerne Mal. Aber da das wohl auch für ihn selbst galt, mochte er sich nicht beklagen. Kapitel 9: Badezeit ------------------- IX. Badezeit „Brian…“ „Mmm, ja Justin?“ fragte der Angesprochene betont uninteressiert, während er Lillys Kleidungsstücke in die gleichfalls neu gelieferte Kommode sortierte. „Du hättest es mir echt sagen können, dass man dich zum neuen Sonnenkönig erhoben hat…“ „Wie bitte, Prinzgemahl…?“ „Ach… Ich meine ja nur… Dieses Bettchen würde sich auch in Versailles gut machen…“ „Ach… das sind bloß Vorhänge… damit Lilly besser schlafen kann…“ „Sicher… völlig einsichtig… glasklare Logik…“ „Das ist ein Fleure de Lille-Muster – passt doch zu Lilly…“ „Sicher. Und zu Marie Antoinette…“ „Die wusste zu leben.“ „Das fand der Pariser Pöbel auch…“ Lilly quakte. Justin hob sie hoch: „Na, was ist denn, du Süße?“ „Sie sagt“, übersetzte Brian, „dass im Kühlschrank noch Schokoladenkuchen ist. Vergiss das Brot.“ „Revolution!“ meinte Justin trocken. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Es war Sonntag. Lilly war jetzt über eine Woche alt. Der Gesundheitscheck, den Brian an ihr erneut hatte durchführen lassen, hatte die Ergebnisse des mexikanischen Arztes bestätigt. Entweder er war doch kein totaler Dilettant gewesen, oder er hatte Glück gehabt. Lilly war recht klein geraten, aber mopsfidel. Ihre Lungen schienen sich mittlerweile auch voll entfaltet zu haben, denn inzwischen war sie zu einem Gebrüll fähig, das Ted und Emmet in ihrem Käfig zu hysterischem Gekreische veranlasste. Entweder hielten sie sie für die Königin der Meerschweinchen oder für etwas, das sie fressen wollte. Nicht ausgeschlossen, wenn man in Mexiko geboren worden war… Gus versuchte es ihnen zu erklären, aber sie zeigten sich wenig verständig. Es war Nachmittag, Lilly war gerade wieder in vollgefressenen Tiefschlaf gefallen, Gus hatte sich mit Jack verabredet, der ihm folgsam wie ein kopfloses Huhn hinter her dackelte. Joan hatte sich breitschlagen lassen, mit den Kindern in den Zoo zu fahren, von dem Gus einfach nicht genug bekommen konnte und dessen Besonderheiten er nun Jack aufs Ausführlichste angedeihen lassen wollten. Es herrschte Ruhe im Haus, die nicht lange währen würde. Brian nutzte die Chance, die Folgen zu begutachten, die seine Abwesenheit und die Fürsorge für Lilly seinen Pflanzen angetan hatte. Er konnte keine nennenswerten Schäden erkennen. Er schaltete seine rotierenden Gedankenströme ab und konzentrierte sich voll auf das Gewächs. Nach der achten Gießkanne machte er eine innere Notiz, dass wohl ein Gartenschlauch her müsse. Die Handwerker zur Instandsetzung des rückwärtigen Pools und der dazu gehörigen Terrasse würden nächste Woche antanzen… Das Dickicht hinten könnte wohl auch nur ein Profi entfernen… Das Spa würde auch noch dauern… Efeuranken, zwang er sich zu denken, Efeuranken… an der Hauswand… satt und grün, ein wenig zermatscht von Gus‘ Fußball… Die Sonne stand hoch, der Juni hatte Wärme gebracht, die nur zu rasch in Hitze ausarten würde. Der Rasen stand üppig. Ums Mähen durfte sich gern ein Gärtner kümmern, da fühlte er sich nicht zu berufen. Er wischte sich die erdverschmutzten Hände an den Gesäßtaschen seiner zum Gartendienst abgeorderten verschlissenen Armani-Jeans ab. War auch mal ganz nett nicht nur im übertragenen Sinne dreckig zu sein. Er trat ins Haus. Justin war mittlerweile wieder soweit genesen, dass er sich heute für eine Weile in sein Atelier hatte begeben können. Brian schaute nach Lilly, die nach wie vor selig schlief, Justin musste sie zwischendurch gefüttert und gewickelt haben. Sie verschwand völlig unter dem üppigen Baldachin, den er sich trotz allem Minimalismus‘ einfach nicht hatte verkneifen können. Hellgrau, aber das Muster, leicht silbrig, hatte es in sich… Jedes Zimmer brauchte einen Eyecatcher… Geräusche drangen aus dem Bad. Justin hatte nicht abgeschlossen, was Brian als Einladung interpretierte. Justin lag in einem riesigen Schaumberg in der Wanne. Hatte wahrscheinlich einen halben Liter der schweineteuren Badeessenz hinein gekippt. Die eingebauten Massagedüsen taten den Rest. Es blubberte gemächlich, während immer neue Bläschen entstanden, zwischen denen Justin sich mit geschlossenen Augen treiben ließ. Seine Haut zeigte zwar noch die Spuren der Krankheit, war aber soweit verheilt, dass er sie wieder dem Wasser aussetzten konnte. Auf dem Badewannenrand lag der Schwamm aus ihrem Hochzeitsnacht-Präsentkorb. Gus redete gerne mit ihm, da er eine Verwandtschaft mit Spongebob vermutete und noch nicht durschaute, dass das Waschutensil längst das Zeitliche gesegnet hatte… Justin schlug die Augen auf, als Brian sich ihm näherte. Der Wasserdampf ließ seine Haare wie die eines besonders strebsamen Schülers am Kopf kleben, die Hitze hatte seine Wangen gerötet. „Mmm“, murmelte er, „du könntest mir hier ein wenig helfen… Egal, wie ich mich verrenke, an einige Stellen komme ich einfach nicht so gut an…“ Brian kniete neben ihm und griff nach der Seife: „So jung und schon so steif, was soll man da sagen…“ Justin blinzelte ihn nur wortlos lächelnd an und beugte sich vor, damit Brian seinen Rücken erreichen konnte. Brian streifte sein Hemd ab, damit es sich nicht vollsog, und machte sich bedächtig an die Arbeit. Die glitschige Seife fuhr in Linien und Kreisen über Justins milchige, von Rötungen durchbrochene Haut. Brian widmete sich zunächst Nacken und Schulterpartie, dann arbeitete er sich die Wirbelsäule hinab. Der Schaum zischte und zerplatzte, wo er in Berührung mit der Seife kam. Die Wasserlinie stoppte Brians Bemühungen. Justin straffte sich kurz und beugte sich vornüber, bis er auf allen Vieren im Wasser kniete. Die schwingende, Bläschen besetzte Oberfläche gab nun ausgesprochen interessante Partien von ihm frei, verbarg und entblößte, während Brian tiefer glitt. „Mmm…“ , murmelte, „verdammte Masern… Haben mich völlig von meiner normalen Körperpflege abgehalten… Vielleicht könntest du… wenn es dir nichts ausmacht… ich fühle mich immer noch ein wenig schwach…?“ Brian begriff. Er stand kurz und schnappte sich Rasierer und Schaum. Armer hilfloser Justin… da blieb ihm wohl nichts anderes übrig… war wahrscheinlich seine eheliche Pflicht oder so. Justin hatte sich halb aus der Wanne erhoben und lehnte jetzt mit dem Rücken zu Brian, die Arme abgestützt, gegen die Wand. Brian drückte ihn in Position, wies ihn durch Berührungen an, die Beine zu spreizen und sich zu ihm durchzudrücken. Justin kam dem folgsam nach. Brian begann konzentriert mit seinem Werk, tat sein Bestes, den Anblick auszublenden, um nicht versehentlich abzurutschen und Justins Heiligtümer dadurch zu entweihen. Justin hielt still. Nur sein tiefer und schneller werdender Atem verriet, dass dies keine klinische Übung war. Brian ließ sich alle Zeit der Welt, während sein eigener Körper immer heißer wurde. Als er fertig war, ließ sich Justin wieder kniend hinab, damit Brian ihm den Schaum abwaschen konnte. Sorgsam spülte Brian ihn ab, ließ sie Finger durch die jetzt wieder seidenglatte Spalte rinnen… Er hatte sie alle gehabt, bin hin zum Modell behaarter Gorilla, aber das hier… Irgendwie passte es zu Justin… verdammtes Luder… Übergangslos begann er mit Justins Öffnung zu spielten, ließ sie Fingerkuppe fast beiläufig kreisen und spürte die unwillkürliche Reaktion. Justin sagte noch immer kein Wort, bog sich ihm nur ein kleines bisschen mehr entgegen. Erst als Brian seinen Finger in ihn gleiten ließ, den sanften Widerstand brechend, keuchte er kurz auf. Er verharrte, gönnte Justin nur wenig, aber genug, bewegte sich, wann immer Justin Zeichen der beginnenden Unduldsamkeit zeigte, aber nie ausreichend… Mit der anderen Hand fischte Brian die Miniaturtube der Für-alle-Fälle-Gleitcreme aus der Hosentasche. Ein zweiter, diesmal eingegelter Finger enterte Justin, der seine von Verlangen geschüttelten Hüften nur noch mühsam unter Kontrolle halten konnte. Brian setzte sein Spiel fort, gekonnt, aber ohne Drängen, einfach immer weiter… „Bitte…“ gurgelte Justin schließlich, endgültig weich gekocht. „Bitte was?“ fragte Brian mit betont gelangweilter, doch verräterisch heiserer Stimme. „Oh Gott! Was wohl! Mach die Steuererklärung? Räume die Spülmaschine aus? Verdammt!“ „Mmm… weiß nicht… habe ich gerade nicht so Bock drauf… aber das hier ist lustig…“ „Lustig?! Ahhh…. Scheiße! Nun mach schon! Willst du mich irre machen?“ „Vielleicht… ein bisschen…“ Er zielte auf Justins Prostata und verpasste ihr eine sanfte Massage. Justin sprang beinahe die Wand hoch. „Verflucht!“ keuchte er. „Nana… Deine Wortwahl in letzter Zeit lässt mich ein wenig an deinen Vaterqualitäten zweifeln…“ Er drückte mit dem Daumen von außen gegen. „Oh Gott…. Ahh… Oh Gott! Bitte! Ah! Scheiße! Gnade! Mach…. Um Himmels Willen! Brian!“ „Jetzt auch noch Gott lästern…“ „Mir egal!“ Justin schrie fast. Er schnappte wie ein geölter Blitz nach Brian und zerrte ihn an sich. Brian strauchelte und landete, die drückende Jeans noch immer am Leibe, in den Fluten. Das Wasser spritzte in alle Richtungen. Prustend kam er an die Oberfläche, nach Halt hangelnd, während der völlig wild gewordene Justin seine Knopfleiste auffetzte. „Hey!“ protestierte Brian halbherzig, aber er wurde ignoriert. Justin war in Sekundenbruchteilen über ihm und presste sich hinab. Brians Herz begann fast schmerzhaft zu rasen, als Justin Hitze ihn binnen eines Wimpernschlags umfing. „Schon besser“, schnaufte Justin, das Gesicht zu einem verzückten Lächeln verzogen. „Oh, ja!“ „Das freut mich aber…“ röchelte Brian, sich am Wannenrand festklammernd, während Justin sich in einem festen, bestimmenden Rhythmus über ihn her machte. Das kam davon, wenn man einen Säbelzahntiger neckte, er mochte verspielt sein wie jede Katze - aber irgendwann hatte er genug und fraß einen auf. Brian stemmte sich entgegen, aber Justin ließ ihm nicht viel Spielraum, verschlang seine Zunge, krallte sich in seine Schultern und ritt ihn in wildem Verlangen. Brians Ratio gab auf, er konnte förmlich spüren, wie ihm gleichfalls alle Sicherungen durch knallten. Scheiß auf die unbequeme Wanne. Scheiß auf die tonnenschwere, tiefnasse, ihn fesselnde Hose. Scheiß auf die Riesenüberflutung. Oh Gott… Mach! Verdammt! Weiter! Verdammter… Oh Gott! Gnade! Mach hin, verdammter Mist! Justin! Das Wasser, sofern es sich noch in der Wanne befand, kühlte langsam aus, als sie wieder etwas zu Sinnen kamen. Die Wasserdüsen blubberten noch immer brav vor sich hin. Vom Schaum war nicht viel übrig geblieben. Justin küsste Brians Hals. „Mmm… prima…“, gurrte er zufrieden. „Sag ich doch, viel besser als die Steuererklärung… oder die Spülmaschine…“ Aus dem in sicherer Entfernung überlebt habenden Babyfon drangen leicht unwillige Geräusche, die sich bald in Geplärr steigern würden. Justin sattelte ab und krabbelte aus der Wanne. „Oder das Aufwischen einer riesigen Sauerei“, ergänzte er mit Blick auf den Raum. „Egal, viel Spaß damit, ich hab Babydienst.“ Brian war gleichfalls schon halb hoch gewesen, ließ sich bei dieser Aussicht jedoch wieder zurück in die Fluten kippen. „Ach, verdammt“, krächzte er. „Wie heißt es so schön bei Spiderman: Mit großer Macht kommt große Verantwortung“, grinste Justin. „Ach, verpiss dich, du Nerd!“ grummelte Brian, was Justin dann auch freudestrahlend tat. Er sah deutlich gesünder aus. Wie schön. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Brian war gerade zähneknirschend damit fertig geworden, das Badezimmer wieder in einen Zustand zu befördern, der nicht danach aussah, als hätte hier eine Horde Fischotter Brunftrituale veranstaltet, als Justin mit Lilly auf dem Arm und züchtig gekleidet wieder hinein trat. „So, Badezeit!“ stellte er fröhlich fest. „Nichts gegen Spontanität in Serie, aber diesmal wischt du auf!“ „Nein… Wir sind doch jetzt blitzblank. Ich dachte an Lilly. Sie mag zwar nicht transpirieren wie ein Olympiasieger im Zehnkampf, aber eine kleine Generalreinigung ist wohl schon mal fällig.“ „Und wie stellst du dir das vor? Die Badewanne ist für sie ja wie der Pazifik für einen Floh?“ „Ließ doch Mal das Babybuch!“ „Wieso? Hast du doch schon. Und es scheint dich ja zutiefst zu erfreuen, mich damit voll zu klugscheißen.“ „Verstehe, du machst mir bloß eine Freude…“ „Etwa nicht?“ „Naja… vielleicht ein wenig… Drum lausche meinen weisen Worten: Lilly badet im Waschbecken. Das Wasser muss genau temperiert werden, aber dann steht ihrem ersten mondänen Bad nichts im Wege.“ „Mondän? Naja.“ „Die Babywanne aus Gold mit Löwenfüßchen hast du bei deinem Einkaufsbummel ja vergessen.“ „Sowas gibt’s?“ „Ach weh… Nein, ganz bestimmt nicht… Wer kauft denn sowas…?“ behauptete Justin mit kritischem Blick. Er reichte das Baby an Brian weiter, während er sich am Wasserhahn zu schaffen machte. Klassisch geformtes Becken, elegant geschwungene Armaturen ohne Spielkram, alles eingelassen in eine glatte Fläche aus dunklem Marmor. Justin selbst hatte die Sachen einbauen lassen, hier trafen sich sein und Brians Geschmack. „Okay“, sagte Brian zu Lilly, „runter mit den Klamotten! Und glaub ja nicht, das sag‘ ich zu jeder…“ Lilly gurgelte vergnügt und ließ sich anstandslos entblättern. Nach einer Weile des Hantierens war Justin zufrieden mit seinem Werk und nickte Brian zu. Vorsichtig ließ dieser den winzigen Körper ins Wasser gleiten. Lilly ließ es sich gefallen. Sie blinzelte etwas überrascht. Dann gluckste sie. „Mag sie das jetzt?“ fragte Brian, sie sanft in Position haltend, damit sie nicht abrutschte. „Sieht so aus…“ Lilly ließ Arme und Beine durch das Wasser gleiten. Sie sah ein wenig aus wie ein haarloser Frosch. Brian beäugte sie und strich über ihren Kopf. Fühlte sich anders an als vor ein paar Tagen. Er stutzte. „Ich glaube, sie hat sich doch gegen die Glatze entschieden“, meinte er schließlich. „Was meinst du?“ fragte Justin. „Ich glaube, sie bekommt Haare…“ „Wow!“ staunte Justin, als sei das einen Eintrag ins Guiness-Buch wert. Jetzt strich auch er mit den Fingerspitzen über den empfindlichen Schädel. „Du hast recht!“ „Natürlich habe ich recht! Ist sie eine Blondine?“ Justin ging auf Tuchfühlung, Brian hatte seine Lesebrille nicht in Reichweite, die obendrein im Wasserdampf beschlagen würde. „Glaube ja“, meinte er schließlich. Sie schwiegen, während Lilly weiterhin das Leben genoss. „Naja…“, meinte Justin schließlich. Viele Babys sind erst Blond.“ „Ja… Hat wohl nichts zu bedeuten…“ „Außer dass Daphne ziemlich rumgemurkst haben muss… bei ihrem Erbteil ein blondes, hellhäutiges, blauäugiges Kind… Das sieht nicht gerade nach Afroamerikanerin aus.“ „Aber Daphne hatte auch europäische Vorfahren?“ „Ja… Ihre Oma war weiß und ihr anderer Opa auch so halb…“ „Manchmal überspringt das auch mehrere Generationen…“ „Mmm“, sagte Justin wenig überzeugt. „Und was heißt überhaupt „rumgemurkst“?“ Lilly strampelte, so dass der sie studierende Justin Wasser ins Gesicht bekam. „Recht so“, meinte Brian. „Zeig’s ihm! Du bist kein Murks! Mir kommt prinzipiell kein Murks ins Haus!“ Justin wischte sich das Gesicht im Handtuch trocken. Bildete er sich das ein, oder lachte Lilly ihn aus? Brian tat es auf jeden Fall. Kapitel 10: Schlampige Väter ---------------------------- X. Schlampige Väter Nervös rutschte Justin auf dem weichen Stuhl des Behandlungszimmers hin und her und fuhr sich durch das Haar. Wenn das Mobiliar ihn beruhigen sollte, so verfehlte es seine Wirkung, die aufdringliche Anschmiegsamkeit wirkte fast provozierend. Lilly stand in ihrem Transportkörbchen neben ihm auf dem Nachbarstuhl und schlief ruhig. Der Arzt, ein spindeldünner, ellenlanger Kerl mit spärlichem Haupthaar, dürrer Hakennase in einem undefinierbaren Alter klappte sich ihm gegenüber in seinen teuren lederbezogenen Drehstuhl jenseits des Tisches. Justin fühlte sich wie bei einer Urteilsverkündung. Er schluckte. Der Arzt richtete seine wässrig blauen, übermüdet aussehenden Augen auf ihn und meinte: „Nun, Mr. Taylor-Kinney…“ Ja? Ja? Was? Was denn nun? „Ich höre, Dr. Lochlan…“, versuchte er sich betont cool. „Ich muss Ihnen mitteilen…“, der Arzt wühle in seinen Unterlagen. Was! Was denn nun!? Spuck’s endlich aus! Aber hörte sich nicht so an… Lilly war nicht seine Tochter… egal… oder? Ein Teil von ihm hatte sich das gewünscht… Es war unklar, ob er nach der Maserinfektion jemals ein Kind würde zeugen können… Der Fertilitätstest stand noch aus… Es spielte ja auch keine Rolle… Aber es wäre schon schön gewesen… raste durch Justins Kopf. Der Arzt räusperte sich: „…dass wir aus den Ergebnissen nicht ganz schlau geworden sind.“ „Was?“ entfuhr Justin. Oh weh… was hatte Daphne, diese dumme Kuh gemacht! War was mit Lilly?! „Normalerweise sind die Testergebnisse in Hinblick auf die Vaterschaft ziemlich eindeutig. Ihrer hingegen… lässt Interpretationsspielraum…“ „Wie darf ich das verstehen, bitte?“ „Nun ja, wir sind sicher, dass Sie und Lilly biologisch miteinander verwandt sind. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Sie der Vater sind. Aber das ist nicht mit an Absolutheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu sagen… Wir bräuchten DNA von der Mutter… da sind Strukturen, die wir nicht richtig zuordnen können…“ „Okay…“, murmelte Justin. Ach du Scheiße! Was lief hier? Justin räusperte sich, dann fragte er: „Wenn keines meiner Familienmitglieder als Erzeuger infrage kommt, was würde das bedeuten?“ Dass Daphne seinen Vater geplündert hatte, schloss er hingegen mit absoluter Wahrscheinlichkeit aus. „Tja… wenn sie sich da ganz sicher sein können… dann dürften Sie wohl Lillys Vater sein… Aber wie gesagt, es gibt Unstimmigkeiten… die Wahrscheinlichkeit liegt bei 80 Prozent statt bei 99.9, selbst wenn man alles zu Ihren Gunsten interpretiert… Sowas habe ich noch nie gesehen…?“ „Okay, danke!“ rief Justin, bevor Dr. Lochlan zu sehr ins Grübeln geraten konnte. Das Wartezimmer war voll, der würde schnell auf andere Gedanken kommen. Hoffte er. Aber es gab ja noch die Schweigepflicht, oder? „Hier sind Ihre Testergebnisse“, meinte Lochlan, nachdem er die Unterlagen signiert hatte. „Was Sie damit anfangen ist Ihre Sache, denken Sie aber immer erst an das Wohl des Kindes!“ Worauf du einen lassen kannst… „Das werde ich!“ versprach Justin und hob die schlummernde Lilly hoch. Etwas benommen tappste er nach draußen. Lilly war seine Tochter… oh Gott! Oh Gott! Er war Vater – nicht nur sozial… biologisch… unglaublich… sein eigen Fleisch und Blut… unfassbar… oh Gott… Aber dennoch… irgendetwas stimmte doch hier nicht… Was würde Brian sagen? Würde er enttäuscht sein? Würde er sich für ihn freuen? Er ließ sich auf einen Sitz im Wartezimmer fallen und hob die schlummernde Lilly ganz dicht zu sich. Sein Baby… Oh… Jetzt war sein Vater wirklich Opa Craig… Aber warum nur – mit sehr viel Glück - 80 Prozent…? Er blätterte in der Expertise. Mit weniger nur 50… Daphne…? Was zum Geier hast du mit unserer Tochter gemacht? Mein Baby… …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian saß auf dem Sofa im Wohnzimmer. Die Temperaturen draußen waren auf fast an die dreißig Grad geklettert. Hier, in den dicken Mauern ihres Zuhauses, war es angenehm kühl. Die einzige Hitze, die er gerade verspürte, war die des Whiskeys, der langsam durch seine Venen sickerte. Morgens hatte er noch eine Schicht bei Kinnetic eingelegt. Neue Kampagne für einen Joghurt-Hersteller. Ein Hoch auf die glückliche Kuh… Dann auf ins Ärztezentrum. Justin müsste blad Heim kommen. Wie es ihm wohl ging? Er kippte sich noch einen ein. Ted hatte beim Präsentkorb ganze Arbeit geleistet, obwohl es ihm beim Still-BH leicht gegruselt hatte. Aber die Flasche gab einen ziemlich erfreulichen Inhalt frei… deutlich besser als ein schnöder Jim Beam. Es war halb fünf. Er war betrunken. Nicht sternhagelvoll, aber doch deutlich dicht. War ewig her… Wahrscheinlich verantwortungslos, aber das ging jetzt nicht anders. Und da er ja schon breit war, konnte er ja noch einen nach kippen, was machte das schon noch für einen Unterschied? An der Haustür rumpelte es. Er hörte Justins leichten Schritt, seine Stimme, die sagte: „Ist ja gut, mein Mäuschen, ich hol dir was zu essen.“ Mäuschen? Da hatte Gus ja einen richtigen Griff getan. Gus war mit den Petersons ins Kindertheater gefahren und würde heute Nacht bei ihnen schlafen. Auch die Petersons glaubten an die Adoptions-Geschichte und hatten angeboten, sie zu entlasten, indem sie Gus betüttelten… Sollten sie doch. Aber sie würden bald auch wieder Zeit mit ihrem Sohn verbringen müssen, ehe der sich vernachlässigt fühlte, sie liebten ihn ja nicht weniger, das durfte er nicht glauben… Irgendetwas machen… Aber Gus genoss es durchaus von seiner Horde konkurrierender Großeltern mit Aufmerksamkeit übergossen zu werden. Brian lehnte den Kopf zurück, ließ sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit auf der Zunge zergehen. Justin kam wieder aus der Küche. Brian hörte, wie er Lilly in ihr Zimmer trug. Dann kam er die Treppe hinab zurück. Er trat ins Wohnzimmer, seine Wangen waren gerötet, er schien von innen zu strahlen. Nanu…? Justin sank neben Brian in die Polster. „Ich brauch auch einen“, meinte er nur. Brian stand schweigend auf und holte ein Glas von der Bar. „Zigarre?“ fragte er. „Ja…“, antwortete Justin gedehnt, „bitte.“ Ted hatte keine Kosten und Mühen gescheut und hatte zwei äußerst illegale dicke Havannas besorgt. Danke. Zur Feier des Tages rauchten sie drinnen. Bis zu Lillys Schlafzimmer waren es ja einige Kilometer. Ds Babyfon blinkte. Lilly schlief tief. Was feierten sie eigentlich…? „Also?“ räusperte sich Brian. „Gratulierst du mir?“ fragte Justin tastend. „Wie…?“ erwiderte Brian perplex. „Naja… der Arzt war sich nicht ganz sicher… hat sogar ziemlich gestaunt… blöde Daphne… aber mit 50 bis 80 prozentiger Wahrscheinlichkeit bin ich wohl Lillys biologischer Vater.“ Brian starrte ihn an. Dann kippte er das ziemlich volle Glas Whiskey in sich hinein. Und dann begann er zu lachen. „Was…? Was…?“ wollte Justin wissen. „Das ist komisch“, kicherte Brian betrunkten. „Was ist daran witzig?!“ „Für sich genommen – nichts. Bis auf die Tatsache, dass mir mein Arzt genau dasselbe erzählt hat…“ „Was?! Was?!“ „Du wiederholst dich…“ „Entschuldige, wenn ich dich langweile…. Aber: WAS?!!!“ „Mann… Ich bin besoffen, nicht taub… Geile Zigarre übrigens.“ Er paffte genüsslich. Justin war kurz davor, das Sofa zu verkohlen. „Was zum Geier!!! Ist hier los!!!“ regte er sich auf. „Daphne hat wohl… ein wenig geschummelt…“, erklärte Brian unbesorgt. „Ein wenig?! Bist du blöde?! Das geht doch gar nicht!!!“ „Was geht nicht… siebzigjährige Osteuropäerinnen bekommen Babys, magersüchtige Hollywood-Ziegen Drillinge von Leihmüttern, künstlich Befruchtete Siebenlinge… und das ist alles legal… frag mich mal, was illegal alles möglich ist – und das hier ist wohl illegal…“ „Ich fass es nicht!“ entfuhr Justin. Er nahm einen tiefen Zug und verschluckte sich höchst unlässig. „Sie hat… sie hat…!!!!“ „… unsere DNA mithilfe unserer Wichslappen geklaut und ein bisschen gebastelt…? „Bisschen??? Ich habe auch nicht total gepennt in Bio! Zwei Kerle könnten, auch wenn das möglich wäre, kein Mädchen zustande bringen!“ „Ja, ohne die dicke fette Eizelle läuft nix… Einen Hauch von Daphne dürfte Lilly auch abbekommen haben, aber ansonsten…“ Brian kippte nach. Besoffen ließ sich dieser Wahnsinn doch mit deutlich mehr Heiterkeit ertragen. Justin starrte in sein Glas. Er aschte ab. „Ich fass es einfach nicht“, murmelte er. „Das ist doch einfach…“ „Wider die Natur? Gottes Ordnung? Ich ruf mal meine Mutter an, mit der darfst du das ausdiskutieren.“ „Nein danke… nichts gegen deine Mutter…“ Brian hüstelte. „Macht ihr das miteinander aus… Aber das kann doch einfach nicht wahr sein…“ „Willst du das nicht?“ fragte Brian, jetzt sanfter. „Doch! Ich kann gar nicht sagen, wie sehr! Muss ein Erbe aus der Hetenwelt sein! Erbgut mixen ergibt Nachwuchs – juhu! Aber das hatte ich mir sowas von abgeschminkt. Stattdessen… soziale Verwandtschaft, du weißt schon…“ „Ja… ich weiß. Ohne das taugt auch biologische nichts…“ „Aber… aber… was hat sie gemacht…? Sie hat unser Erbgut verquirlt… Sind wir jetzt beide Lillys Vater und Daphne die Mutter? Oder was? Oder hat Lilly gar keine biologische Mutter? Ich versteh nur noch Bahnhof!“ „Ich auch… aber ich bin betrunken… Aber Daphne muss schon noch drin stecken von wegen Weiblichkeit und so… Es sei denn sie hat eine fremde Eizelle genommen…“ „Arg, bitte nicht auch das noch! Nicht irgendwer Fremdes in Lilly…“ „Glaube ich ehrlichgesagt auch nicht… Das Ganze hört sich doch nach einem ziemlichen Alleingang von Daphne an…“ „Ja, wahrscheinlich… Aber worin bestand der???“ „Tja, da müssten wir sie schon fragen können… aber sie ist abgehauen… die Nummer dürfte ja wohl auch durch keine Ethik-Kommission gekommen sein… schwule Vaterschaft… wer will denn sowas?“ Justin schwieg kurz: „Du hast recht… Damit wäre sie nie durch gekommen… Scheiß-Land! Als könnten wir nicht auch gute Eltern sein, wir sind es…nur wegen einer gewissen Arsch-Fixierung… Aber jede Heten-Abartigkeit ist natürlich völlig okay… Bis da das Jugendamt was sagt…“ „Ach, hör auf zu grummeln, obwohl du natürlich recht hast und so… Darüber können wir uns auch Morgen noch aufregen! Wir haben ein Kind! Wir-haben-ein-Kind. Wir haben ein Kind!“ Brian hob sein Glas, Justins Züge entspannten sich, sie stießen an. „Auf Lilly!“ „Auf Lilly!“ „Da lagen wir ja anscheinend gar nicht so falsch… Deine Augen… meine Haut… irre… mir egal, ob das eigentlich unmöglich ist… vielleicht hat Daph einen Glückstreffer gelandet, sie hat ja nicht gedacht, dass es funktioniert…“ „Scheißegal… es hat. Anscheinend. Scheiße, Justin, wir haben eine Tochter… Wie abgefahren ist das bitte? Vielleicht sind wir nur die Ausnahme von der Regel?“ „Vielleicht… Aber ich hab vor einer Weile was in der Times gelesen… In New York ist eine Handvoll Babys geboren worden mit dem Erbmaterial von drei Menschen… wegen Erbkrankheiten und so… schon eine Weile her… die sind jetzt fünf… Damit sind sie damals durchgekommen… Das geht wohl schon irgendwie…“ „Aber wie ist Daphne auf uns gekommen? Wir waren ja nicht gerade am Heulen vor Depression, nicht eigenen Nachwuchs in die Welt setzen zu können. Oder hast du…?“ „Nein! Keinesfalls! Ich habe nie die Möglichkeit in Betracht gezogen oder deswegen rumgeheult… Wir waren wahrscheinlich bloß da – und die Gelegenheit günstig.“ „Und sie hat nicht damit gerechnet, dass es klappt…“ „Nein, wohl nicht… Sie hat sich selbst zum Versuchskarnickel gemacht, denke ich… und dann war sie plötzlich real, Lilly, meine ich – nicht bloß ein Zellencluster… ein Leben. Und da hat Daphne es durchgezogen… ganz allein…“ „Wie scheiße muss das denn sein…“ „Ja, arme Daphne.“ „Sie hat das verbockt. Nein. Das kann man so nicht sagen. Lilly wurde nicht verbockt…“ „Ich weiß.“ „Aber deshalb wollte sie uns wohl in Mexiko…?“ „Denke auch… Sie wusste, wir würden Lilly um ihretwillen nicht hängen lassen… und sie wusste, sie ist unser Kind…“ „Ja, das ist sie, so oder so.“ „Aber es ist schon ein irrer Gedanke.“ „Was?“ „Na, ich meine… deine und meine Gene…“ „Stimmt… da war gar keine künstliche Manipulation mehr nötig…“ „… sie wird der absolute Oberknaller.“ „Mit Sicherheit.“ „Aber das ist Gus auch.“ „Ja. Das ist er.“ „Ich liebe Gus. Er ist mein Sohn.“ „Ich weiß. Meiner auch.“ „Und ich liebe dich.“ Justin robbte an Brian heran und schloss die Arme um ihn. Brian ließ sich etwas trunken gegen ihn fallen und atmete ihn ein. „Ja…“, murmelte er schließlich. „Ich dich auch. Nicht so wie Mikey oder… irgendwen. Diese Karte habe ich nur einmal zu vergeben, die Kinder ausgeschlossen. Aber das ist etwas Anderes. Ich kann das… aber nur einmal…“ „Ich weiß“, flüsterte Justin an seinem Nacken. „Und mehr als einmal wirst du nicht brauchen. Nenn mich Nerd, nenn mich Schlampe – das weiß ich zuweilen durchaus zu schätzen – nenn mich Blödmann, was auch immer… Ich bin da, ich bin dein, ich bin alles, was du willst…“ „Ich weiß… du Schlampe.“ .... (Anmerkung der Verfasserin: Das mit dem Klonversuch mit drei Menschen stimmt – auch der Spiegel hat davon berichtet) Kapitel 11: Großeltern wider Willen ----------------------------------- XI. Großeltern wider Willen Justin saß auf der Wohnzimmercouch im Haus seiner Mutter. Er hielt Lilly auf dem Arm, die wach, aber friedlich mit Armen und Beinen durch die Gegend strampelte. Ihr Blick war klarer geworden, aber der Himmel wusste, was sie wahrzunehmen in der Lage war. Was dachte ein Baby? Dachte es überhaupt…? Wie ging das ohne Worte? Oder fühlte sie nur…? Wenn sie schrie… hungrig… nass… einsam… kalt…? Und wenn sie so war wie jetzt? War sie glücklich…? Die Grundbedürfnisse befriedigt… reichte das…? Wohl nicht… sie sah nur so aus, bewegte sich nur so, wenn sie sie hielten, wenn sie Nähe fühlte… der Mensch, ein soziales Tier, auch an der Grenz des Bewusstseins. Seine Mutter hantierte in der Küche, kochte Kaffee. Justin hatte sie gebeten, Molly elegant für ein paar Stunden aus zu quartieren, was kein Problem gewesen war, da sie darauf brannte, mit ihren Teenager-Freundinnen durchs Einkaufszentrum zu bummeln. Sie brauche dringend neue Ohrringe hatte sie gesagt. Nun ja… Aber sie würden dennoch nicht unter sich bleiben. Punktgenau klingelte es an der Haustür, Jennifer öffnete. An Justins Ohr drang ein verdächtiges Schmatzgeräusch. Seit wann machten sie denn sowas…? Hatten sie doch, soweit er sich zurück erinnern konnte, nie gemacht… oder, doch, aber da war er noch ein Kleinkind gewesen. Wie hatte Brian es genannt? Zweiter Frühling? Sei es ihnen gegönnt. Aber dennoch… sie benahmen sich gar nicht wie sie selbst… Oder waren sie einmal so gewesen? Bevor er und Molly geboren worden waren? Sie hatten ja zuvor auch ein Leben gehabt, waren irgendwann wohl einmal verliebt gewesen. Was war mit ihnen passiert? Wann war aus seinem Vater so ein Arschloch geworden? Oder war er es immer gewesen? Aber warum hätte seine Mutter ihn dann geheiratet? Dinge, von denen er nichts wusste. Aber die Liebe konnte sterben, wenn man es zuließ, das hatten sie ihm ungewollt gelehrt. Wenn man außer dem Alltag nichts mehr zuließ. Wenn man aufhörte, sich zu bemühen. Wenn man vergaß zu schätzen, was man hatte. Dann starb die Liebe einen unbemerkten leisen Tod, der kaum Trauer weckte. Justins Eltern traten ins Wohnzimmer. Craig trug zuvorkommend das Tablett mit dem Kaffee und ein paar Baisers. Das war auch neu… Und er kleckerte ziemlich, als er Justins mit dem Baby ansichtig wurde. Rasch stellte Craig seine Fracht ab. Sie setzten sich, der Kaffee wurde ausgeschenkt. „Das… das ist sie… Lilly?“ fragte Craig schließlich. „Ja, Papa. Das ist sie“, antwortete Justin ruhig. Craig musterte sie über den Wohnzimmertisch hinweg. „Das ist… Daphnes Tochter?“ fragte sein Vater zögerlich. „Aber warum hast du sie…?“ Justin atmete tief durch. „Mama. Papa. Ich muss euch um etwas bitten.“ Beide starrten ihn gebannt an. „Was?“ fragte schließlich Jennifer. „Ich kann euch sagen, was es mit Lilly auf sich hat. Zumindest halbwegs, ich bin weit davon entfernt, alles zu wissen – geschweige denn zu verstehen. Aber ich kann das nur tun, wenn ihr mir schwört, dass kein Wort von dem einer anderen Person zu Ohren kommt. Egal, wie sehr er ihr traut. Niemandem. Niemals. Nicht bloß für mich – für Lilly. Das ist von absoluter Wichtigkeit.“ Seine Augen fokussierten abwechselnd seine Mutter und seinen Vater. „Ich verspreche es, Schatz“, sagte Jennifer schließlich. Craig räusperte sich: „Mir ist nicht wohl… so einen Blankoscheck zu unterschreiben. Aber… es ist für das Mädchen? Okay… ja… okay… ich verspreche es. Kein Wort kommt über meine Lippen.“ „Gut“, sagte Justin. Dann fuhr er fort: „Herzlichen Glückwunsch, ihr seid Großeltern. Und das auch in biologischer Hinsicht.“ Jennifer schnappte nach Luft, aber sie hielt sich einigermaßen, war sie zuvor doch schon argwöhnisch gewesen beim Anblick des Babys… zu wenig Daphne, zu viel Justin… Craig hingegen traf es ohne Vorwarnung. Sein Gesicht wurde bleich, er fasste sich an die Brust. „Was?“ stammelte er. „Was hast du gesagt?“ „Ich sagte“, wiederholte Justin, „dass Lilly eure Enkeltochter ist. Sie stammt von euch ab.“ „Aber!“ protestierte Craig, „du bist doch… schwul?! Oder was? Oder wie?“ „Keine Panik, ich habe es mir nicht anders überlegt. Aber auch schwule Männer haben vermehrungsfähiges Material zu bieten. Und dank modernster Technik ist es dabei nicht Mal nötig, sich der holden Weiblichkeit in geschmackloser Absicht zu nähern.“ „Daphne hat sich mit deinem… ähem… künstlich befruchtet?“ wollte Jennifer wissen, während Craig versuchte, seinen Herzschlag wieder in halbwegs geordnete Bahnen zu leiten, bevor er noch einen Infarkt bekam. „Jein… Um es gleich zu sagen. Ich hatte keine Ahnung. Daphne hat mich nicht um Erlaubnis gefragt und es sich bedauerlicherweise auch verkniffen, mich bei Zeiten von meinem Glück zu informieren. Erst ein Vaterschaftstest brachte ein wenig Licht in das Dunkel.“ „Sie… sie hat dein Sperma geklaut? Wie bitte ist das denn passiert?“ platzte es aus Craig heraus. „Weiß ich nicht mit absoluter Sicherheit. Die wahrscheinlichste Theorie ist, dass sie, sagen wir mal, „verdächtiges Material“ aus dem Badezimmer im Loft hat mitgehen lassen.“ Craig begriff. „Und dann hat sie…?“ wollte er wissen, den Blick an Lilly geheftet. „Ja… Aber das ist nicht alles…“ „Was hat sie gemacht? Wenn es ihr nur um ein Baby gegangen wäre…?“ wollte Jennifer wissen. „Wäre das ein ziemlich blöder Weg gewesen“, schloss Justin. „Ist ja nicht so, als ob ich mich prinzipiell dagegen gesperrt hätte – wenn auch nicht unbedingt sofort, aber ich hätte mich wahrscheinlich breitschlagen lassen. Und das dürfte Daphne auch gewusst haben. Oder sie hätte sich ja auch wen anderes suchen können… Nein… da ist noch was…“ Seine Eltern starrten ihn gebannt an. Sie wirkten ein wenig wie hypnotisiert. „Sie war in so einem Forschungsprojekt bei irgendso einem Ober-Guru der Fortpflanzungsmedizin in Chicago. Promotionsstipendium. Sie war völlig hin und weg. Elitär, und sie war dabei. Aber ich bin mir nicht sicher, was in ihr vorgegangen ist. Sie hat experimentiert. Und es war auch nicht nur mein Erbmaterial, dass sie zu diesem Zwecke gekidnapt hat.“ „Was, es gibt noch andere…?“ würgte Craig hervor. „Nein. Nur Lilly. Aber Lilly ist… Wie soll ich sagen… Sie ist wohl auf eine Art und Weise zustande gekommen, die es so eigentlich nicht gibt…“ „Justin, bitte“, sagte Jennifer sanft, „sag es uns… was ist mit Lilly?“ „Daphne hat… also wir glauben… Also Brian und ich haben uns, als uns die Sache spanisch vorzukommen begann wegen der Ähnlichkeiten und so, beide testen lassen. Lilly stammt von mir ab. Und von Brian. Keine Ahnung, wie viel von Daphne in ihr steckt.“ Jetzt war es raus. Seine Eltern starrten fassungslos. „Das… das ist…“, kam konfus aus Craig. Jennifer sank rückwärts in die Polster. „Um Himmels Willen!“ konnte sie nur sagen. „Um Himmels Willen!“ „Wenn das raus kommt, wird die Presse, die Jurisprudenz, Fanatiker aller Arten und wer weiß wer noch über Lilly her fallen. Das darf nicht geschehen“, schloss Justin. „Das… Lilly ist unser Enkelkind?“ verhaspelte sich Craig, krampfhaft Ordnung ins Chaos zwingen wollend. „Sieht so aus. Sie ist meine Tochter. Zwar nicht mit derselben Prozentangabe wie bei auf sonst üblichem Wege gezeugten Kindern. Aber sie ist das Ergebnis meiner körpereigenen… Vermehrungszellen?... –Produktion.“ „Und… und Brian ist auch ihr Vater?!?“ hakte Jennifer nach Begreifen suchend nach. „Ja, ebenso wie ich.“ Craig und Jennifer schauten sich an. Ihnen war bewusst, dass sie wohl recht dümmlich aus der Wäsche schauen mussten. Aber wer konnte es ihnen verdenken? Wer vor ihnen hatte jemals so eine Nachricht bekommen? Niemand, wahrscheinlich. „Ich brauche einen Schnaps“, krächzte Craig, den Kaffee von sich schiebend. „Ich auch“, hauchte Jennifer geplättet. Lilly quakte heiter, auf den ganzen Trubel pfeifend, und patschte weich auf Justins Arm. Justin wartete, bis seine beiden Altvorderen sich mit dem schärfsten Alkohol, den der Hausstand zu bieten hatte, eingedeckt hatten. „Auf die glücklichen Großeltern“, meinte er trocken, als seine Eltern wild entschlossen kippten. Craig verschluckte sich. „Gott, Justin“, hustete er, „ich weiß gar nicht… Das ist doch nicht normal…“ „Wohl nicht“, erwiderte dieser, „aber ausnahmsweise ist das nicht mir in die Schuhe zu schieben. Bedank dich bei Daphne. Und was ist schon normal?“ „Naja“, hob Craig an. „Erspar mir den Vortrag! Hinter fast jeder fein sauberen Fassade verbirgt sich irgendwelcher Dreck. Nur weil es keiner sieht, ist er dennoch da. Vermutlich ist das „normal“. Und all jene, die doch selber was am Strecken haben, zeigen zu gerne auf andere, nur um sich selbst versichern zu können, hach so „normal“ zu sein. Mit Fingern, mit Worten, gewispert oder gebrüllt, mit Fäusten, Baseballschlägern und Bomben! Ist das „normal“? Da lehne ich dankend ab! Und Lilly kann nichts für die Art und Weise, wie sie ins Leben gekommen ist!“ „Sicher, Justin“, mischte sich Jennifer ein. „Aber was ist mit Lilly? Wenn Daphne mit ihrem Erbgut gespielt hat… Ist sie gesund?“ „Nach Auskunft der Ärzte geht es ihr bestens.“ „Und was sagt Brian dazu…?“ hakte sie nach. „Erst mal war es natürlich der totale Hammer. Aber… wie soll ich sagen? Sie ist unsere Tochter. Unverhofft… aber unser leibliches Kind. Und Brian… ja… er ist glücklich… wie ich… Lilly… man mag verdammen, was Daphne getan hat, ohne zu fragen und wohl auch, ohne zu denken, was die wesentlichen Aspekte angeht… aber Lilly… sie ist ein Geschenk… unser Kind…“ Craig blinzelte. Das hatte er auch gefühlt… als Justin und Molly geboren worden waren. Aber an ihnen hatte niemand… rumgepfuscht… Aber das Baby… was war…? Er versuchte sich zu straffen. „Darf ich mal?“ fragte er und streckte die Arme aus. Justin nickte und reichte ihm achtsam den Säugling. Craig starrte auf das winzige Gesicht. Ja… wie Justin und Molly ein wenig… aber die Augen waren anders, die langen Wimpern… Brians…? Was für ein Würmchen, sie war unglaublich klein, Justin war bei der Geburt ein ziemlicher Klops gewesen und Molly auch nicht gerade eine Elfe. Aber sie war, so absurd die Sache auch erschien, sein Nachfahre. Die Tochter seines Sohns, mehr oder weniger. Und seines vermaledeiten Schwiegersohns, gleichfalls mehr oder weniger. Und Daphnes…? Ein Teil von ihm war fasziniert, wie hatte sie das gemacht? Ein anderer Teil war schockiert – er war Opa und jetzt bekamen schon Männer Kinder mit Männern. Wo sollte das hinführen? Und ein weiterer Teil fühlte sich leicht besoffen vom Alkohol und dem zarten Neugeborenen, das seine Enkelin war. Jennifer beugte sich hinab und legte die schlanken, wohl manikürten Finger auf Lillys Wangen, worauf der Säugling weit die riesigen Augen aufschlug. „Sie ist wunder-, wunderhübsch“, flüsterte Jennifer andachtsvoll. Justin schien fast zu platzen vor Beglückung. Craigs Hirn war etwas vernebelt. Ja… Jenn hatte schon recht… das Baby war… schließlich steckten sie mit drin, oder, sie beide…? Was war hier los? Das Babygesicht verzerrte sich plötzlich unwillig. Die gerümpfte Nase sah nach Justin aus, Gott sei Dank nicht Brian Zinken, wie würde das an einem Mädchen aussehen?! Sie holte tief Luft und begann zu brüllen. „Äh… sie will was…?“ konstatierte Craig ein wenig planlos. Jenn hatte sich früher immer um die Babys gekümmert… „Mmm“, meinte Justin, „entweder sie hat Kohldampf, oder sie hat dir auf den Arm gepinkelt.“ Jennifer begann zu lachen. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. „Hallo, Muttilein!“ „Werden diese unangekündigten Besuche jetzt zur Gewohnheit?“ „Ich habe halt Sehnsucht nach dir…“ Brian trug seinen Lieblings-Sommermantel von Boss, der um ihn herum wehte, als er, ohne auf Einladung zu warten, an Joan vorbei ins Wohnzimmer segelte. Claire saß vor dem Fernseher und verfolgte eine Talkshow zum Thema „Du bist zu fett, daher liebe ich dich nicht mehr“. Sie zuckte kurz zusammen, als Brian überraschend hinter ihr auftauchte. „Hallo, Schwesterlein!“ bemerkte er. „Brian“, erwiderte sie augenrollend. „Was machst du denn hier?“ „Freundschaftsbesuch. Geht es dir gut? Bist du glücklich? Halt, Moment, das interessiert mich ja gar nicht!“ „Sicher… Wozu brauchst du schon ein Herz… oder Gefühle? Steht ja kein Label drauf“, entgegnete sie. Brians Kiefer klappten aufeinander. Als ob die eine Ahnung hätte… blöde Kuh. Eigentlich hatte sie ihm nie etwas getan. Sie erschien ihm nur wie eine Versager-Version von sich selbst, und das widerte ihn an. Genaugenommen konnte sie nichts dafür. Von Jacks Prügeleien hatte sie nie etwas abbekommen. Sie war immer das arme, schutzbedürftige Mäuschen gewesen, das keine Widerworte gab. Bloß nicht auffallen. Da hatte sie die Rechnung. Selber schuld. Er musterte sie. Sie könnte wahrscheinlich wirklich gut aussehen. Aber was immer man falsch machen konnte, machte sie falsch. Sie hatte Joans leblose graue Augen, die aber durchaus apart erscheinen könnten, geheimnisvoll, wenn ein entsprechender Charakter dahinter stünde und nicht nur Mus. Ihre Haare hingen schlaff und etwas fettig herab. Ihre Haut zeigte Falten, aber für eine Frau an die Vierzig war das wohl auch in Ordnung. Ein wenig Make up würde allerdings nicht schaden. Und andere Klamotten, nicht dieser indifferente, jede Konfrontation meidende Allerwelts-Look. Aber das war nicht sein Problem. Er war garantiert nicht ihr Stylist. „Ja… liebste Claire… Ich bin ein gefühlskalter, materialistischer Snob, dessen einziger Lebensinhalt ist, seine Kohle gut sichtbar Gassi zu führen – jetzt zufrieden?“ „Wie kannst du nur…?“ „Du kennst mich einen Scheiß! Tut mir ja leid, dass dein Leben zum kotzen ist, aber gib mir dafür gefälligst nicht die Schuld! Das ist dein Leben!“ „Mama?!“ beschwerte sie sich. „Jaja… lass nur andere deine Kämpfe ausfechten… Hast du ja immer so gemacht…“ „Ist halt nicht jeder so ein eiskalter Fisch wie du!“ „Eiskalt? Wenn du das gerne glauben möchtest – bitteschön. Manchmal schon. Deswegen sitze ich jetzt wohl auch nicht da, wo du gerade rumhängst…“, versetzte Brian fies. „Und wo hängst du rum? In irgend so einem mit dem Beschiss anderer Leute finanzierten Protz-Palais! Mit einem jugendlichen Liebhaber a la fesche Blondine! Und zwei Bastarden, die du irgendwo aufgegabelt hast – wahrscheinlich auch gegen bare Münze!“ Mit zwei Schritten war Brian bei ihr und schnappte sie am Ohr, eine uralte Geste. „Wehe dir, wenn du meine Kinder Bastarde nennst. Oder meinen Mann sonst was. Du glaubst, dass dein Leben scheiße ist? Glaub mir, das ist ein Sonntagsspaziergang im Vergleich zu dem, was ich mit dir veranstalte, wenn du sowas auch nur noch einmal denkst!“ Claire zuckte zusammen. Wie Brian vorausgesehen hatte, knickte sie sofort ein. „Ist ja gut… Ich hab’s nicht so gemeint…“ Hast du, dachte Brian. Aber du hast nicht mal den Schneid, dafür einzustehen. Er verachtete sie. „Kinder?“ fragte Joan, die jetzt erst eintrat, nachdem sie das Brutzelnde in der Küche gerettet hatte. „Alles in Ordnung, Mama!“ rief Claire. „Ja… Plausch zwischen Geschwistern, wie in alten Zeiten!“ bestätigte Brian. „Gut“, meinte Joan. „Was wolltest du?“ „Einen netten kleinen Spaziergang mit dir!“ säuselte Brian übertrieben mit Blick auf Claire. Joan verstand sofort. „Sicher. Wie schön. Gehen wir.“ Claire biss die Lippe zusammen und starrte wieder auf den Bildschirm. Ein von Kopf bis Fuß gepiercter Bauarbeiter schüttete sein Herz darüber aus, warum er seine Zwei-Tonnen-Frau einfach nicht mehr sexy fand. Die Frau weinte herzergreifend. Selbst schuld, dachte Brian naserümpfend. Man mochte fett sein, weil man das so wollte. Aber sich nicht unter Kontrolle zu haben und dann rum zu flennen, damit hatte er null Erbarmen. Friss ne Mohrrübe und beweg deinen drallen Arsch! Oh Gott, jetzt dachte er schon über diese Versager in der Talk-Show nach. Nichts wie raus hier! „Tschüssi, Schwesterchen“, sagte er zu Claire und gab ihr einen fast beleidigenden Kuss auf die Wange, den sie abzuwehren nicht einmal versuchte. Du armeselige… Hau mir doch zumindest in die Fresse, du Null! Aber nichts kam. Sie schluckte es einfach wie ein Schwamm. „Gehen wir?“ fragte Joan. „Ich freue mich!“ log Brian voll offensichtlichem Enthusiasmus. Schweigend liefen sie. Sie erreichten einen kleinen Park, in dem Brians Schulkameraden früher immer gespielt hatten. Brian war indes nach Hause gegangen, hatte akribisch seine Schulaufgaben erledigt und dann gelesen. Erst zum Fußballtraining hatte er sich wieder unter Menschen begeben. Eigentlich hätte ihn jeder für einen Streber oder wunderlichen Nerd halten müssen. Aber nie war jemand auf den Gedanken verfallen. So hatte er seine ersten Lektionen seine spätere Berufslaufbahn betreffend gelernt. Was rar ist, will jeder. Was sich als großartig präsentiert, will auch jeder. Lüge, so will dich jeder. Zeige nichts von dir und sehe gut aus und sei der Beste. Lass sie spüren, dass du ihnen überlegen bist, aber gewillt, ihnen Bröckchen zu zuwerfen. „Also?“ unterbrach Joan seine Gedankengänge. „Lilly ist meine Tochter“, sagte er ohne Einleitung. „Habe ich doch gesagt.“ „Ja, hast du. Aber dennoch war es kein Volltreffer.“ „Wie das?“ „Ich bin Lillys Vater. Zu fünfzig bis achtzig Prozent.“ „Was soll das bedeuten?“ „Daphne hat mit meinem und Justins Erbmaterial ohne unser Wissen und Einverständnis Experimente getrieben. Unsere Erbanlagen sind zu ziemlich gleichen Teilen in Lilly vertreten.“ „Aha“, sagte Joan langsam. „Wo bleibt der bigotte Anfall?“ „Ich bin nicht bigott! Aber diesem Mädchen, Daphne, würde ich schon gern etwas erzählen! Aber ihr könnt nichts dafür. Du nicht, Lilly nicht, Justin nicht, oder?“ „Nein, wir wussten nichts davon. Und Lilly kann nun gar nichts dafür.“ „Hättet ihr es getan, wenn sie es euch gesagt hätte?“ „Schwer zu sagen. Wenn ich jetzt Lilly ansehe, dann würde ich sagen, ich hätte alles getan. Aber damals… nein. Ich hätte dem nicht zugestimmt.“ „Ist sie meine Enkelin?“ „Ja.“ „Ich kann die Umstände, unter denen sie gezeugt wurde, nicht gut heißen. Und es widerspricht der Natur und Gottes Plan. Aber endlich mal ein Mädchen.“ „Du wirst schweigen?“ „Ja. Lilly ist Niemandes Angelegenheit außer der ihrer Familie. Und auch du hast dein Versprechen gehalten.“ „Ja. Ich verspreche nichts leichtfertig.“ „Ich weiß.“ Stumm liefen sie durch die blühenden Beete. Kapitel 12: Taylor-Kinney & Sohn -------------------------------- XII. Taylor-Kinney & Sohn „Papa?“ Gus trat ins Atelier, wo sich Brian samt Laptop installiert hatte, während Justin über einer jungfräulichen Leinwand brütete, sie umschritt, beäugte und die Stirn runzelnd immer wieder in sein Skizzenbuch sah. In diesem Zustand bekam er von außen nichts mit. Aus dem Keller drang infernalischer Lärm, auch im Garten machten sich Handwerker und ein Gärtnerteam nicht eben dezent an die Arbeit, was es fast unmöglich machte, sich im Arbeitszimmer zu konzentrieren. Hier oben war es halbwegs erträglich, ein dumpfes Brummeln konnte man vernehmen, aber dafür war es so direkt unter dem Dach abartig heiß. An den Einbau einer Klimaanlage hatten sie im Winter nicht gedacht, und die riesige Fensterfront ließ die Sonne nur so hinein knallen. Ein Ventilator kühlte notdürftig. Brian sah zu, dass er, was immer ging, von zuhause aus erledigte, um Justin mit dem ganzen Chaos nicht hängen zu lassen. Der musste ja schließlich auch die Gelegenheit bekommen, an seinen Gemälden weiter zu machen. Das war seine Arbeit und auch etwas, ohne dass er nach einer Weile verkümmerte. Brian hatte eine Standleitung zu Ted eingerichtet, mit dem er so per Knopf im Ohr und kleinem, damit verbundenem Mikrofon kontinuierlich kommunizieren konnte. Entwürfe wurden ihm gesendet, er beurteile, feilte, zerriss in der Luft oder segnete ab. Wichtige Unterlagen wurden ihm mithilfe eines Kuriers zur Unterschrift gebracht. Allerdings musste er sich statt mit seinem eleganten Schreibtisch in seinem Chef-Büro bei Kinnetic mit einem von Justins Tapeziertischen begnügen. Und statt eines perfekt gebügelten Anzuges trug er Jeans und ein ihm derweil am Leibe klebendes Tanktop. Lilly krähte leise aus ihrem Körbchen in der schattigsten Ecke des Raumes. Nicht gerade die perfekte Lösung. Aber besser als sie allein dem Lärm auszusetzten. Eine Alternative wäre es gewesen, sie einfach mit zu Kinnetic zu nehmen. Aber zum einen hatte er keine Lust darauf, dass die ganze Belegschaft über seinen Familienneuzugang herfiel und ihn löcherte oder mit dämlichen Glückwünschen, Ratschlägen, Mutmaßungen und dergleichen mehr nervte – bisher wussten nur Ted und Cynthia von Lilly. Zum anderen würde er, wenn er persönlich in der Firma zugegen wäre, ständig von irgendwem unter Beschlag genommen werden. Und was, wenn inmitten einer solchen Besprechung, möglichst noch mit einem Kunden, Lilly anfing zu brüllen? Sollte er mit den Joghurtherstellern über die Sexines eines halb nackten Cowboys neben einer glücklichen Kuh debattieren, während er Lilly den Arsch puderte? Dann lieber am Katzentisch im Freizeitlook. Er würde sich nachher kurz in Schale schmeißen müssen, um per Videokonferenz mit ein paar Kunden zu sprechen. Aber da würde es ja reichen, obenrum wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Zur Abrundung konnte er für diesen Auftritt eins von Justins Gemälden hinter sich schieben. Oder lieber Justin schieben lassen, der was das Herumfuhrwerken mit seinen Arbeiten anging sehr eigen war. Oder sich einfach mit dem Bildschirm und der Kamera vor eines setzten, den Justin war nicht ansprechbar. Er würde bloß aufpassen müssen, dass Justin ihn in seinem Furor nicht mittendrin mit Farbe beschmiss. „Papa!“ wiederholte Gus, Brian aus seinem Gedankenstrom reißend. „Ja, Sonnyboy?“ fragte Brian und sah ihn an. Wo hatte er bloß dieses Spongebob-T-Shirt her, das er zu seiner Junior-Armani-Stoffhose trug?! „Spielst du mit mir?“ fragte Gus mit Bettelblick. „Gus… wirklich… ich möchte gerne. Aber ich muss hier arbeiten, ich kann nicht…“ Gus Gesicht verzog sich unglücklich. „Warum?“ fragte er. „Warum musst du arbeiten? Das ist doch total doof!“ Brian seufzte. Verdammter Mist. Vielleicht könnte er ja Daphne, falls die jemals wieder auftauchen sollte, fragen, ob sie ihn klonen könnte. Dann könnte jetzt Klon-Brian weiter Dienst schieben, und er könnte mit Gus in den Vorgarten und ein paar Bälle schießen. „Gus… Ich arbeite, damit wir es gut haben… du und ich und Justin und Lilly…“ „Uns geht’s doch gut!“ „Ja – weil ich arbeite. Woher kommt sonst das Haus, der Garten, dein Fußball…“ „Wir brauchen doch gar nicht so viel! Du musst gar nicht so viel arbeiten!“ „Gus… Ich arbeite auch, weil ich das gerne mag…“ „Lieber als mit mir zu spielen?“ fragte Gus betrübt. „Nein! Nein. Ich mag es… aber ich muss auch… Ich bin der Boss, andere Leute, Onkel Ted zum Beispiel, können auch nur deswegen gut leben, weil ich arbeite.“ Gus sah ihn immer noch traurig an. „Komm her“, sagte Brian und zog ihn auf seinen Schoß. Dadurch wurde es noch wärmer, aber das war jetzt egal. Er schlang seine Arme von hinten um den kleinen Jungen und drückte ihn fest an sich. „Gus…“, murmelte er. „Ich bitte dich… Sei mir nicht böse. Das alles… mit Lilly… das ist gerade ganz schön viel. Wir alle müssen uns bemühen, und das ist nicht immer leicht. Aber das heißt nicht, dass ich nicht mit dir spielen will. Ich wünschte, ich könnte jetzt einfach aufstehen und mit dir in den Garten gehen. Aber wenn ich das mache, weiß Onkel Ted nicht, was er tun soll. Ich würde ihn im Stich lassen. Und ich habe Justin versprochen, auf Lilly aufzupassen, damit er auch mal wieder malen kann. Es wäre doch unfair, wenn ich ihm da nicht helfen würde?“ „Ja…“, murmelte Gus. „Aber weißt du was… Wenn ich nicht mit dir spielen kann, dann kannst du vielleicht mit mir arbeiten?“ Gus drehte sich und schaute ihm verblüfft ins Gesicht. „Kann ich das denn? Was macht ein Chef überhaupt?“ „Chef ist eigentlich kein Beruf… Chef zu sein bedeutet, dass man das Sagen hat, dass man derjenige ist, der die Dinge entscheidet und sagt, wo es lang gehen soll.“ „Hört sich gut an“, meinte Gus. „Aber wenn Chef nicht dein Beruf ist, was bist du dann von Beruf?“ „Werbekaufmann nennt man das. Und Kinnetic ist meine Firma. Wir stellen Werbung her.“ „Und darüber bestimmst du, weil du der Chef bist?“ „Ganz genau.“ „Und was bestimmst du gerade?“ „Schau mal auf den Bildschirm. Das soll eine Werbung werden für Joghurt. Ich muss entscheiden, ob das so in Ordnung ist oder ob noch etwas daran gemacht werden soll.“ Gus musterte den Entwurf. Ein markiger Cowboy mit aufgeknöpftem Hemd verputzte mit einer Miene wie Clint Eastwood beim Schlussduell einen Joghurt, statt einer Zigarette einen Löffel im Mundwinkel. Hinter ihm graste eine pittoreske Kuhherde im Sonnenuntergang. Gus kicherte. „Der sieht aber doof aus! Warum isst der Joghurt?“ „Damit die Betrachter des Bildes glauben, dass man auch so ein cooler Cowboy wird, wenn man brav diesen Joghurt kauft und futtert.“ „Klappt das?“ fragte Gus perplex. „Das mit dem Cowboy – nein. Das mit dem kaufen – ja.“ „Aber das ist ja voll gelogen dann!“ „Naja… Eigentlich weiß jeder, dass das nicht klappen kann. Aber die Menschen träumen… Wollen Dinge sein, die sie nicht sind, ohne sich wirklich darum zu bemühen. Sie wollen wie der Cowboy sein, wollen aber zugleich nicht ausziehen, um Kühe zu hüten oder gar Sport machen, um solche Muskeln zu bekommen…“ „Und dann kaufen sie lieber Joghurt?“ „So ist es.“ „Dann… dann belügen sie sich ja selbst…?“ „Ja… tut wohl jeder ein wenig dann und wann… Stellst du dir nicht auch manchmal vor, etwas zu sein, obwohl du weißt, dass du es nicht bist?“ „Ja… Ich stelle mir vor, ein berühmter Fußballspieler zu sein…“ „Siehst du.“ „Aber dafür muss ich ganz viel üben! Das kann man nicht kaufen, hast du selbst gesagt!“ „Das ist auch richtig. Aber manchmal wäre es doch schön, wenn es einfacher wäre, oder?“ „Ja… Aber dann wäre doch jeder ein berühmter Fußballspieler oder ein Star oder so… auch ohne das zu können…?“ „Ja. Wenn die Werbung den Leuten erzählt, dass es auch ohne Anstrengung geht… Dann kaufen sie gewissermaßen Träume, obwohl sie es eigentlich besser wissen.“ „Dein Beruf ist es also, Träume zu machen…?“ Auf die Idee war Brian bisher noch nie verfallen. Aber aus Gus‘ unzynischer Sicht… „Ja, das ist es wohl…“ „Das ist ja toll! Aber wir kann ich dir dabei helfen?“ „Du kannst mir sagen, welches der Bilder für die Joghurt-Werbung das Beste ist. Oder ob da noch etwas fehlt.“ Gus betrachtete aufmerksam die Variationen des Motivs, die die Grafikabteilung nach Brians Idee gefertigt hatte. „Ich weiß nicht, Papa“, sagte er schließlich. „Ich würde das nicht kaufen. Ich will kein großer grimmiger Cowboy sein.“ „Willst du dann… ein kleiner, lustiger Cowboy sein?“ fragte Brian und zwickte Gus in die Nase. Gus lachte: „Ja! Das wäre toll!“ Brian musterte die Entwürfe. Wen sprach das an? Kinder anscheinend nicht. Aber Kinder waren eine wichtige Zielgruppe für Milchprodukte. Sie hatten zunächst darauf geachtet, ein erwachsenes Publikum zu erreichen, indem sie dem labberigen Fruchtjoghurt ein cooles Image verpassten. Das erreichte Väter und Mütter ebenso wie Kinderlose und Alleinstehende. Aber den Nachwuchs selbst? Ließ sich da nicht noch etwas machen, um alle abzudecken? Kleiner, lustiger Cowboy…? Er betrachtete Gus. Vor seinem inneren Auge formte sich eine Idee. Er lächelte. „Okay, Gus“, sagte er. „Ich habe einen Job für dich, damit diese Werbung richtig gut wird. Du hast nämlich völlig recht. Hier fehlt ein kleiner, lustiger Cowboy.“ Gus lächelte stolz. „Klasse. Und wo bekommen wir den her?“ „Den haben wir schon.“ „Häh?“ „Jetzt zeige ich dir Mal, wie ein Chef arbeitet. Ted?“ kommandierte er ins Mikrofon. Er hielt den Ohrstöpsel so, dass Gus mithören konnte. Nach einer kurzen Pause – vielleicht verursacht durch die gelegentliche Schockstarre, die Ted hin und wieder erlitt, seitdem er seinen Boss gewissermaßen im Ohr trug – kam die Antwort. „Ja, Brian?“ „Schick einen Kurier mit einer Ladung Cowboy-Klamotten für Kinder.“ Ted fragte lieber gar nicht. Wenn Brian eine Idee hatte, hörte sich das meist für den Normalsterblichen leicht wahnsinnig an, erst das Ergebnis klärte einen auf. Meistens. „Ich tue mein Bestes!“ Brian schaltete den Empfang wieder auf stumm. „Ganz ohne „Bitte“?“ wollte Gus kritisch wissen. „Ja… wenn man arbeitet, muss es schnell gehen…“ Er kam sich etwas fadenscheinig vor. Auf der anderen Seite des Raumes hatte Justin angefangen zu malen und tigerte wie ferngesteuert um die Leinwand. Lilly begann sich allmählich zu melden, sie bekam Hunger, konnte Brian aus den Geräuschen lesen. „Und was jetzt?“ wollte Gus wissen. „Jetzt füttern wir Lilly, dann bekommst du eine Generalreinigung, ich mache die Fotoausrüstung startklar und dann… kommen hoffentlich die Klamotten, mit denen wir aus dir einen kleinen, lustigen Cowboy machen.“ „Ich komme in die Werbung?!“ „Genau. Du bist jetzt mein Modell. Willkommen im Familienunternehmen!“ Gus schaute zwar etwas verwirrt, aber die Aussicht, eine ernsthafte Rolle beim „Arbeiten“ zu spielen, schien ihn zu begeistern. „Cool!“ meinte er. „Aber…“, fuhr Brian fort, „Models werden normalerweise bezahlt… Was möchtest du denn haben für deine Arbeit?“ Gus legte den Kopf schief und überlegte. „Ich will mit dir zum Fußball!“ forderte er. „Ich gehe doch immer mit dir…“, erwiderte Brian etwas ratlos. „Nein! Nicht das Training! Ein richtiges Spiel! Wie im Fernsehen!“ Brian lachte: „Okay. Das erscheint mir ein faires Angebot.“ „Klasse!“ Lilly begann zu brüllen. „Du musst sie füttern!“ forderte Gus. „Schon dabei… Ich halte sie, du machst den Flaschenwärmer an?“ „Wie geht das?“ „Zeige ich dir.“ „Klar. Ich helfe. Und danach arbeiten wir?“ „Ganz genau.“ „Super“, beschloss Gus, jetzt deutlich versöhnter mit seinem Schicksal, und hopste von Brians Schoß. Brian musste feststellen, dass er jetzt endgültig durchgeschwitzt war. Gut, Lilly füttern, Gus waschen, sich selbst waschen, Anzugoberteil anziehen, Videokonferenz, Fotoshooting mit Cowboy-Gus… Auf ging’s. Justin nahm es nicht weiter zur Kenntnis, dass sie sich verdrückten. Im Haus war es immer noch enervierend laut, aber das störte nicht mehr ganz so schlimm. Sie hatten jetzt schließlich einen Plan. Zweieinhalb Stunden später war Ruhe eingekehrt. Die Handwerker hatten früh begonnen, so dass sie um Vier Feierabend machen konnten. Diese Arbeitszeiten sahen allerdings vor, dass die Hausbewohner den lärmenden Tag über nicht zugegen waren, aber das ließ sich nicht ändern. Gus stolzierte hoch erhobenen Hauptes in vollem Cowboy-Ornat, inklusive Hut und Miniatursporen, die Stufen hinunter. Brian beäugte ihn kritisch, dann holte er etwas Erde aus dem Beet neben der Eingangstür und verteilte sie gekonnt über Gus‘ Gesicht und Kleidung. „Aber ich habe doch gerade erst gebadet!“ protestierte Gus. „Genau, damit ich den Dreck dort anbringen kann, wo er hin gehört. Cowboys haben sich nur einmal die Woche gewaschen, wenn überhaupt.“ „Bäh… Die müssen ja gestunken haben!“ ekelte sich Gus. „Und der Dreck… der ist nur Teil deines Kostüms. Da müssen alle Models durch. Anziehen… geschminkt werden, ohne zu meckern.“ „Das ist keine Schminke! Das ist echter Dreck!“ „Ja, genial was? Spart uns die Schminke. Und kostet uns gar nichts.“ Dem hatte Gus nichts entgegen zu setzen. Er wartete geduldig, während Brian die Fotoausrüstung im Atelier installierte. Hier oben war das Licht ideal, zur Sicherheit baute er noch einen Strahler auf. Gus stand etwas ratlos herum. Justin spritzte mit Farbe und murmelte irgendetwas. Das kannten sie schon und ignorierten ihn. Lilly schlief in ihrer Ecke. „Gut, Gus, dann wollen wir mal… Stell dich vor die Leinwand.“ Gus tat wie geheißen und grinste etwas unsicher, als Brian ihn mit der Kamera anvisierte. „Sag mal Gus… Hat Spongebob eigentlich die Führerscheinprüfung endlich bestanden?“ „Nein! Er ist doch voll schlecht darin! Die arme Fahrlehrerin!“ „Oh, die Folge kenne ich gar nicht… Erzähl doch mal…“ „Wolltest du mich nicht fotografieren?“ „Ach, keine Eile… Was hat Spongebob denn gemacht?“ Gus musterte ihn kritisch, aber begann dann eifrig zu erzählen. Als er auf die Details kam, wie Spongebob seine Umwelt mal wieder an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, lachte er in Erinnerung an die Katastrophen, die sein Lieblingsschwamm über sein Mitseegetier ergossen hatte. Freudig – und etwas schadenfroh. Brian drückte ab. Gus war so Feuer und Flamme, dass er es nicht weiter zur Kenntnis nahm. Brian fragte immer weiter. Irgendwann setzte sich Gus einfach auf den Fussboden, weil ihm die Steherei zu anstrengend geworden war, und plauderte, immer wieder kichernd und lachend, weiter. Perfekt. „Okay, Gus. Ich bin fertig“, sagte Brian schließlich. „Was…? Wie…?“ äußerte Gus verblüfft. „Du hast die Fotos schon gemacht?“ „Ja, genau… So macht man das, man plaudert mit dem Model und macht die Fotos nebenher.“ Nicht ganz… aber in diesem Fall war es genau richtig gewesen. Brian zog den Stick aus der Kamera und lud die Bilder hoch. Gus schickte sich an, wieder auf seinen Schoß zu klettern, doch Brian drang darauf, dass er zunächst die Sporen ablegte. Die Dinger waren nämlich echt, wie er verblüfft festgestellt hatte. Wer machte denn sowas…? Gebannt gingen sie die Fotos durch. „Das bin ich! Das ist ja toll!“ sagte Gus, nicht ohne einen Hauch von Eitelkeit. Brian grinste und strich ihm über das Haar, das der Cowboyhut frei ließ. Gus hatte sich eisern geweigert, diesen vorschnell wieder abzulegen. „Ja, die sind klasse… Schau mal, das hier, das passt super!“ Das Bild zeigte den seitwärts sitzenden Gus, wie er ziemlich keck grinste und mit großen lachenden Augen in die Kamera sah. Eigentlich hatte er seinen Vater angesehen, dem er ja erzählte, aber so wirkte es, als lache er den Betrachter voller niedlichem Mutwillen über irgendeine begangene Missetat an. Brian schnitt das Bild aus und montierte es provisorisch neben den vor Coolness fast platzenden Cowboy. Die Wirkung der Werbung veränderte sich radikal. Jetzt stand da ein eisenharter Typ, neben dem ein schelmisch lachendes Kind kauerte. Du kannst cool sein – aber auch ein spielendes Kind. Oder du kannst cool sein und zugleich einen kleinen Satansbraten dein eigen nennen. Dieser Joghurt machte jeden zum Cowboy… Ausgezeichnet. Der Bildaufbau war jetzt auch besser. Die Grafikabteilung sollte das anpassen. Er mailte es rüber. „Siehst du, Gus. Arbeiten kann doch auch ganz lustig sein.“ „Ja, Papa“, lachte Gus. „Und was passiert jetzt?“ „Wenn es dem Joghurthersteller gefällt, dann wird das Bild in ganz vielen Zeitschriften abgedruckt werden.“ „Echt? Dann können mich alle sehen?“ „Ja.“ „Ohhh… Das muss ich allen erzählen! Oma und Opa und Oma und Opa und Oma und…“ „Äh… ja.“ Hoffentlich sprangen die ihm nicht an die Gurgel, weil er Gus zum Werbemodel abgeordert hatte. Aber die sollten die Klappe halten, er hatte Gus ja nicht geldgeil an Hollywood verscherbelt, damit er ein völlig überdrehter Kinderstar würde. Es blieb ja in der Familie, Gus war nicht zu vermieten. „Und wann gehen wir zum Fußball?“ „Gut so Gus, nie die Lohntüte vergessen… Mal schauen…“ Sie studierten das Internet nach Möglichkeiten, Brian las vor, Gus entschied. Es mochte gegen halb acht sein, als sich ihnen plötzlich Schritte nahten. Justin war aus seinem kreativen Wahn wieder erwacht und stand jetzt ausgepowert und mit Farbe beschmiert vor Ihnen. „Was…? Warum trägt Gus ein Cowboykostüm…?“ fragte er verdattert. „Das ist kein Kostüm. Das ist Arbeitskleidung“, berichtigte Brian, während Gus angesichts Justins ratlosen Gesichtsausdrucks kicherte. „Was habe ich verpasst?“ wollte Justin wissen. „Gus hatte heute seinen ersten Tag bei Kinnetic. Du darfst ruhig gratulieren“, erklärte Brian und schloss sich Gus an. „Ach so… Na dann… Ich hoffe, er hat nicht Ted gefeuert…“ „Papa, was ist „feuern“?“ „Erkläre ich dir Morgen, Gus, wenn die Grafikabteilung das Bild bis dahin nicht richtig hinbekommen hat.“ Kapitel 13: Spießer ------------------- XIII. Spießer Justin betrat das Diner, Lilly im Körbchen am Arm hängend, auf dem Rücken einen Rucksack mit der Säuglings-Mindestausrüstung. Irgendwie war das Durch-die-Gegend-Laufen mit einem Baby ein wenig wie eine paramilitärische Ausbildung… man schleppte Tonnen und bibberte ständig, dass nicht gleich eine Bombe in Form eines höchst undamenhaften Schreianfalls losging. Aber, wie um die Außenwelt davon zu überzeugen, dass sie das pflegeleichteste und liebenswürdigste Kind der Welt sei, schlummerte Lilly gerade brav. Blicke donnerten auf ihn und seine Fracht nieder wie Maschinengewehrsalven. Ein Tuscheln ging durch den Raum. Hier hatte er einst gearbeitet, hier war er fast jeden Tag gewesen – man kannte ihn, nach wie vor, auch wenn er sich aus der Szene zurückgezogen hatte. „Oh, Sonnenschein!“ freute sich Debbie, die Hände an ihrer Schürze abwischend, „und der kleine Wonneproppen! Das ist aber schön, dass ihr mich besuchen kommt! Ach zeig doch mal her!“ Justin hob lächelnd das Tragekörbchen auf den wohlvertrauten Tresen, direkt neben die Glasglocke mit den Zitronenschnitten. „Da weiß man ja gar nicht, was süßer ist!“ kommentierte Debbie. „Oh… du Engelchen… du bist süßer, ich weiß…!“ Das Diner hing an ihren Lippen. Brian hatte ihre – oder offiziell nur seine – neuen Vaterfreuden zunächst nicht an die große Glocke hängen wollen, aber es war ihnen bewusst, dass Lilly kein Geheimnis bleiben konnte. Wenn sie eines daraus machten, würde das wohl erst recht dort Misstrauen erwecken, wo bisher noch keines wuchs. Da war wohl Angriff die beste Verteidigung. Also in aller Selbstverständlichkeit ab mit Lilly ins Diner. Mit langem Schritt kam wie bestellt Brandon herein geschneit. Er stutzte kurz, weil sich nicht augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf ihn fokussierte. Justin verzog amüsiert das Gesicht. War Brian auch mal so gewesen…? Naja, ein bisschen, aber mit deutlich mehr Klasse, oder? Und er spätpubertierende Dumpfbacke war natürlich sofort darauf reingefallen. Das stimmte so auch nicht – an Brian war immer schon mehr gewesen unter seinem Hengst-Gehabe… Zumindest hatte er das so gesehen. Brandon starrte auf ihn, dann auf Lilly. „Warst du deswegen so lange weg vom Fenster? Hat dir dein lahmer Gatte das Schwangerschaftsbäuchlein eingeschmiert?“ wollte er wissen. „Oh“, sagte Justin, „Brian hat mich eingeschmiert… nur nicht unbedingt mein Bäuchlein, obwohl das auch durchaus im Bereich des Möglichen gewesen ist. Schau mal Lilly, das ist Onkel Brandon. Wenn du größer bist, werden von der Sorte in der Heten-Version Horden hinter dir her rennen. Dann denkst du daran, was dein Papa dir gesagt hat, und haust ihnen auf’s Maul, okay?“ „Aber kräftig!“ bestätigte Debbie. „Ja, ja, schon gut, ich werde garantiert nicht zum Kreis der Verdächtigen gehören! Himmel, hat den heutzutage kein Schwuler mehr einen Funken Stolz – oder Vernunft! Heiraten, Kinder kriegen, ich muss kotzen! Wir sind schwul und keine verwirrten Heten!“ predigte Brandon. Lilly gähnte. Justin schloss sich an. „Muaaaaahhhh… Was hast du gesagt? Ach so, das übliche… tausend Mal gehört… wie oberöde… Wer ist hier nochmal langweilig?“ „Du, du Vorstadt-Trutsche!“ konstatierte Brandon bestimmt und zuckte übertrieben herablassend mit den Mundwinkeln nach unten. „Ach nööö… mir ist gar nicht langweilig, wie kann das sein, aber so geht es wohl spießigen Leuten, die sind zu beschränkt, das zu bemerken… aber ich kann mir da ja vielleicht auch kein Urteil über dein Wunderland der Hochspannung erlauben, denn ich ziehe ja nicht jeden Abend in denselben Club, lasse mich jeden Abend von denselben Nasen anhimmeln, lass mir nicht jeden Abend von irgendwem in derselben Ecke des immer gleichen Darkrooms einen blasen, an dessen Gesicht ich mich gar nicht erinnern kann, was es natürlich oberwichtig macht, dass es jeden Abend ein anderes ist… Stimmt, hört sich nach Rasanz pur an…“ „Pah! Immerhin komme ich dazu zu ficken und muss nicht die Kinderkarre schieben, die Rosen düngen oder vor Beglückung über vollgeschissene Windeln heulen.“ „Hast du das gehört, Lilly? Der böse Onkel Brandon glaubt, dich hat der Klapperstorch gebracht… wie doof.“ „Huch, korrigier mich, wenn ich falsch liege – aber ich gehe stark davon aus, dass dein Göttergatte… Lilly?... nicht in seinem Enddarm ausgebrütet hat!“ Bei der Vorstellung brachen im ganzen Diner Lachsalven aus, auch Debbie zuckte etwas, obwohl sie Brandon mit giftigen Blicken überzog. „Sagen wir es so, Lilly war eher eine Kopfgeburt als eine… Du-weißt-schon-was-Geburt. Oder? Wer weiß? Vielleicht habe ich ja Superkräfte? Warst du nicht Mal scharf auf mich? Wie wär’s denn, mein Schwanz, dein Arsch… Baby?“ Brandon verzog das Gesicht. „Als würde ich dich an mein Fahrwerk lassen!“ „Schüchtern? Wie süß! Aber der Dreißigste kommt schneller, als du denkst, mein Lieber. Bei dir schneller, bei mir… nunja, darüber denke ich nach, wenn ich fünfundzwanzig geworden bin. Vielleicht. Wie war das denn bei dir? Egal. Jedenfalls beginnt die biologische Uhr dann ganz fix zu ticken. Ruf mich einfach an, wenn es so weit ist, ich bin ja ein mitleidiger Mensch!“ „Bleib mir bloß vom Leibe, du Irrer! Du und dein Typ, ihr seid im Hirn ja total weichgekocht!“ „Mmm… das müssen die Vaterhormone sein. Geiler als Ecxtasy und langfristig deutlich teurer – oberexklusiv sozusagen! Aber das kannst du ja leider nicht nachvollziehen, solange du dir nur die synthetische Version leisten kannst, du armer, armer…“ „Bah! Du kannst reden, was du willst, das ändert gar nichts! Hast du Brian mit deiner Quasselei eigentlich das Denkvermögen geplättet, dass er mit dir jetzt einen auf Bilderbuchfamilie macht? Oder war’s nur das Alter, er ist ja nicht mehr der Frischeste, da muss man schon darüber nachdenken, ob man allein im Schaukelstuhl vorm Altenheim wippen will oder ob man nicht doch jemanden braucht, der einem aus purer Liebe gratis ab und an die Fußnägel kürzt.“ „Glaubst echt, dass das der einzige Grund ist, mit jemandem zusammen zu sein? Angst vor der Einsamkeit? Mir kommen fast die Tränen vor lauter Mitleid… Wenn du nicht gerade eine wahre Kaskade klischeegeschwängerter – huch, schon wieder dieses Wort, vielleicht solltest du dich Mal testen lassen?... könnte ein Zeichen sein – Beleidigungen aus deinem Zitronenmäulchen gehustet hättest! Wenn du glaubst, ich würde jetzt vor Empörung platzen, hast du dich geschnitten, von einem Blondchen wie dir ist da wohl nichts anderes zu erwarten…“ „Wer ist hier das Blondchen?!“ „Na – du. Du redest doch hier non-stop platte Scheiße und gockelst dich selbst im Tresenspiegel an – glaub ja nicht, das würde ich nicht bemerken! Also ich…“ „Hallo… Schatz“, ertönte es, und Justin bekam von einem breit grinsenden Brian in voller Arbeitsmontur einen Schmatzer auf die Wange gedrückt, was ihn zu einem etwas belämmerten Innehalten veranlasste. Schatz?! Soff Brian heimlich? Oder war er gerade dabei, etwas… „Und hallo, Blondchen!“ ergänzte Brian mit Blick auf Brandon. „Uähh… Ihr seid echt widerlich!“ Lilly begann zu brüllen. Ein selten gehörtes Geräusch in diesen Hallen. Bevor Debbie oder Justin reagieren konnten, hatte Brian sich den unleidigen Säugling bereits geschnappt, der auf seinem Arm augenblicklich die Lautstärke etwas drosselte. „Hast recht, Lilly. Das ist doch echt zum Heulen… Soll ich dir was verraten? Jede dieser Nasen hier versucht verzweifelt a)bloß einen abzubekommen, mit dem der Himmel voller Wolken hängt – ausgenommen Brandon - b)dennoch wie blöde Sex mit allem und jeden zu haben und c)auf jeden Fall echt cool zu sein. Deswegen rennen sie Tag für Tag in die Muckibude, in die Disco, zum Psychiater und zur Partnervermittlung. Sie kaufen sich riesige Vibratoren mit rotierenden Noppen und stellen sich bei Verwendung eine Horde behaarten argentinischer Bauarbeiter vor, heulen aber dennoch rum, dass keiner mit ihnen kuscheln will. Sie rennen zum CSD und schwingen große Reden – aber bei der Arbeit darf’s keiner wissen. Sie wollen eine voll ernstzunehmende Partnerschaft, rasen jedoch beim kleinsten Zeichen von Uneinigkeit davon, weil Liebe ja keine Reibungspunkte kennt – denn dann kann sie ja voll nicht echt sein, wenn man dafür vielleicht etwas machen müsste. Nein, sowas hat’s gefälligst geschenkt zu geben! Singende rosa Schwäne, ein Leben lang frei Haus! Und wenn jemand nicht so kläglich scheitert wie sie, dann ist er ein Verräter, ein Irrer, eine Möchtegern-Hete peinlichster Machart. Es gibt viele Sorten der Anpassung, der Ödnis, der Spießigkeit, selbst wenn man in Ledermontur auf allen Vieren hinter seinem Meister her robbt. Aber du weißt es besser. Du scheißt darauf, was andere von dir denken. In dieser Hinsicht bist du wahrscheinlich die einzige Person in diesem Raum, die nie etwas anderes als durch und durch cool war… Aber du bist auch eine gute Lehrmeisterin. In diesem Sinne: danke!“ Das Diner war in Schweigen erstarrt, nur Lilly hatte wieder an Volumen gewonnen. „Oh“, sagte Brian unbekümmert. „Da meldet sich wohl das Frühstück? Kann ich verstehen, ich hätte auch keinen Bock auf einen nassen Arsch in diesem Rahmen.“ Er knöpfte dem ihn regungslos mit leicht offenem Mund anstarrenden Justin das Marschgepäck ab, breitete in aller Selenruhe Lillys Deckchen über dem Tresen aus und wechselte formvollendet ihre Windel. Das eingenässte Überbleibsel drückte er Brandon in die Hand, lächelte ihn schmelzend an und sagte: „Hier. Damit dein Leben auch mal Sinn macht.“ Reflexartig griff Brandon zu, dann schüttelte es ihn. In ihn kam hektische Betriebsamkeit, er spurtete auf den Ascheimer am Eingang zu und entließ dort sein feuchtes Präsent in die ewigen Jagdgründe. In Justin war wieder Leben kommen, er krümmte sich vor Gelächter. Debbie starrte noch immer Brian an. Der Rest des Diners folgte der Show weiterhin, teils ertappt, teils beleidigt, teils hämisch im Angesicht Brandons, aber teils auch mit belustigter Sympathie. „Du bist so widerlich, Kinney! Du hast total einen an der Klatsche, du und dein…“ „Nana…“ „… Mann! Du machst einen darauf, dass du das wahre Geheimnis des Lebens entdeckt habest? Offensichtlich besteht es darin, sich von jeder Spur gesunden Menschenverstandes verabschiedet zu haben!“ „Kann sein“, meinte Brian und lehnte sich mit der jetzt deutlich besser gelaunten Lilly im Arm an den Tresen. „Aber meine Art der Beklopptheit ist deutlich amüsanter als deine. Glaub mir, ich weiß es, denn da, wo du bist, war ich lange. Wobei mir einfällt… hallo Debbie! Bin gar nicht dazu gekommen, dich angemessen zu begrüßen, irgendwie stand etwas ganz doof im Weg und hat mir die Sicht verbaut… „Hallo, Brian“, erwiderte Debbie leise. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Das war doch mal wieder so typisch gewesen… Wenn er etwas machte, dann ganz. Und gerne mit Publikum. „Sieht ja hier wirklich alles aus wie früher… komisch…“, wunderte sich Brian. „Du magst dich geändert haben. Aber andere Dinge bleiben ewig gleich…“ Brian schüttelte den Kopf. „Ich hab‘ mich nicht geändert“, sagte er nur. Debbie musterte ihn kritisch, während Justin in alter Gewohnheit hinter dem Tresen Kaffee für sie eingoss. Was meinte er damit? Dass dies eigentlich immer er gewesen sei, ganz tief drin…? Vielleicht. Etwas war da gewesen. Das hier…? Aber nein. Menschen entwickelten sich auch, aus eigenem Antrieb, aber immer auch in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Offensichtlich wollte er das Thema jetzt nicht weiter vertiefen. Er übergab Justin das Baby und widmete sich seinem Kaffe. Im Diner wurden allmählich wieder normale Gespräche aufgenommen. Brandon hatte sich zu einer Horde Twinks in der hinteren Ecke verkrümelt, die ihn voller Anbetung bemitleideten und in seinen Ansichten bestätigten. „Ich finde das sehr schön“, sagte sie schließlich zu Justin und Brian, die sich inzwischen auf den Barhockern breit gemacht hatten. Justin futterte eine Zitronenschnitte. Da hatte sie immer gut aufpassen müssen, früher, dass Justin bei den Leckereien nicht sich selbst der beste Kunde wurde. „Was?“ murmelte Brian, mit der freien Hand gegen Lillys frei strampelnde Füße tippend, dass sie jedes Mal ein wenig zurück fuhr. „Dass ihr Lilly zu euch geholt habt. Es gibt so viele Kinder auf der Welt, die liebende Eltern nötig haben. Und Lilly hat unglaubliches Glück gehabt. Wie seid ihr überhaupt darauf zu kommen, sie zu adoptieren?“ wollte sie wissen. Justin und Brian schauten sich einen Sekundenbruchteil lang an. „Nun ja“, räusperte sich Justin. „Mit Gus sind wir wohl auf den Geschmack gekommen… Und er hat sich ein Geschwisterkind gewünscht – ich weiß, er hat Jenny, aber sie ist nicht jeden Tag da, wächst nicht mit ihm auf… Und es geht uns gut, warum hätten wir da nicht…?“ Alles für sich genommen recht logische Gründe. Aber irgendwie beschlich Debbie ein merkwürdiges Gefühl. Es war so abrupt gekommen – obwohl diese Geheimniskrämerei wieder zu Brian passte. „Wisst ihr, wer ihre Eltern sind?“ fragte sie. Brian schaute betont uninteressiert in seinen Kaffee. „Wir“, sagte er, „das ist alles, was zählt.“ Es stimmte schon… auf die biologische Abstammung kam es nicht an. „Ihr habt das gemeinsame Sorgerecht?“ wollte Debbie wissen. „Nein. Bisher nicht. Bisher nur ich“, antwortete Brian. Justin schaute etwas gedrückt. „Aber das wollt ihr doch ändern?“ „Wenn das möglich ist“, sagte Justin und sah Brian an. „Ja“, sagte Brian langsam, „etwas anderes wäre nicht recht.“ „Das wird nicht einfach“, meinte Debbie stirnrunzelnd. „Es wird immer schwieriger… Seit dieser Scheiß-Bush im Sattel sitzt, geht es immer weiter rückwärts… Mit Gus und Jenny ging es noch, Mel hat an alles gedacht, das war hieb- und stichfest. Aber gemeinsame Adoption… frag mal Monty zu dem Thema! – fast unmöglich.“ Das Allerletzte, was Brian in dieser Angelegenheit zu tun gedachte, war diesen bekloppten Vororts-Affen nach irgendwas zu fragen. Aber Debbie hatte recht, mehr als sie ahnte. Sie hatten Lilly nicht adoptiert, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Eher war es anders herum gewesen. Außerdem… Wie konnte man sein leibliches Kind adoptieren? Aber wie sollte Justin sonst an seine Rechte kommen? Und Lillys Vater zu sein war sein gottverfluchtes Recht – er war es schließlich, nicht weniger als Brian. Wie sollten sie das hin bekommen, ohne Lilly zum Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit mit ungeahnten und potentiell gefährlichen Folgen zu machen? ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Sie holte Gus gemeinsam vom Kindergarten ab. Es war sein letzter Tag gewesen, der Hort machte Ferien, und danach war es Zeit für Gus, die Schulbank zu drücken. Die Kindergärtnerin, Mrs. Karenis, drückte Gus zum Abschied, der nicht recht zu begreifen schien, wie ihm geschah. Aber seine Wehmut hielt sich in Grenzen. Dafür war er zu gespannt darauf, endlich ein Schulkind zu werden. Mrs. Karenis schüttelte Brian und Justin die Hände. „Es war uns eine Freude, Gus hier bei uns gehabt haben zu dürfen! Er ist eine wahre Freude, trotz seines… Schicksalsschlages, nicht wahr? Und er lässt nie locker…“ Das konnten sie nur bestätigen. Eine Eigenschaft, die den Betreuenenden durchaus den letzten Nerv rauben konnte, aber von Willensstärke zeugte. Jedenfalls ihrer Auffassung nach, schließlich waren sie seine Eltern. Aufgeregt sprang Gus vor ihnen zum Auto. „Tschüss Kindergarten!“ rief er und winkte. „Ich muss jetzt gehen! Ich muss nämlich zur Schule!“ „Na, nicht jetzt sofort“, bremste ihn Justin. „Aber bald! Und dann kann ich Lesen und Rechnen und…? Und ich kann dann viel besser beim Arbeiten helfen Papa!“ „Das ist toll Gus. Aber die Schule geht dann vor, verstanden?“ „Ja, Papa“, Gus rollte mit den Augen, während Brian ihn fest schnallte. Auf dem Rückweg erlaubte sich Justin ohne Vorwarnung einen Schlenker über das Drive Inn von Burgerking. „Du hast doch gerade zwei Zitronenschnitten verputzt“, bemerkte Brian leicht muffelig angesichts der Versuchung. „Das war nur das Aufwärmtraining. Jetzt kommt das eigentliche Ereignis. Hamburger, Gus?“ „Jaaaaa! Und Pommes! Und ein Eis mit Erdbeersoße!“ „Das schaffst du doch nie…“ „Klar schaffe ich das! Ich schau dir doch immer zu! Das habe ich gelernt!“ „Ich bin so stolz auf deine pädagogischen Qualitäten, Justin…“ „Ach… halt die Klappe. Auch was?“ „Ich nehm den Salat ohne alles.“ „Okay, einen Cheeseburger für Brian“, übersetzte Justin. Brian sank in die Polster. Mit seiner Undurchschaubarkeit war es wohl nicht mehr so weit her. Vor seinem inneren Auge hatte tatsächlich gerade ein verführerisch arschwackelnder Cheeseburger getanzt. Komm schon… du willst mich doch… schau doch, wie heiß ich bin… und wie willig, von dir vernascht zu werden… du willst es doch auch! Super, jetzt wurde er schon von Frikadellenbrötchen angemacht. Das dreckige Stück hatte es nicht anders verdient, als aufgefressen zu werden. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Eine Dreiviertelstunde später bogen sie in die Einfahrt ein. Die Handwerker holten zum letzten Streich aus und würden bald verschwunden sein. Der Garten würde noch etwas dauern, aber das Kellerspa stand vor der Vollendung, ebenso wie die rückwärtige Terrasse und der Außenpool. Es war halb vier, bis auf ein paar Kontrollanrufe bei Kinnetic stand nichts mehr an. „Fußball!“ brüllte Gus, wie ein Flummi aus dem Auto hüpfend. Brian hatte ein kleines Tor mit Netz besorgt, mit dem Gus akribisch übte und beängstigend gut geworden war. „Okay, Gus, wollen wir Tore schießen üben?“ „Au jaaaaa!“ „Gut… Justin?“ „Ja…?“ Justin schleppte Lilly, die wieder eingepennt war. „Dein Typ wird hier verlangt.“ „Ach was…? Also ich… Lilly… Äh…“ „Keine Widerrede! Ab ins Tor mit dir!“ „Also Brian…“ „Ach so… Angst?“ „Pah! Von wegen! Zieht euch warm an! Ich erwische alles, was ich will, darauf könnt ihr Gift nehmen!“ Lilly wurde in Hörweite in der Eingangshalle deponiert. Justin pflanzte sich grimmig ins Tor. Brian hatte gar nicht so falsch gelegen. Justin war fix und wirklich gut im Abfangen harter Stöße. Kapitel 14: Sonntagsruhe ------------------------ XIV. Sonntagsruhe Der Juli war angebrochen, das Thermometer hielt sich stur jenseits der dreißig Grad. Abgesehen vom Atelier herrschte im Haus eine angenehme Kühle, mit der aber jäh Schluss war, sobald man auch nur den kleinen Zeh aus der Tür streckte. Aber noch lag der einigermaßen entwilderte Garten im Morgenlicht, das Haus warf seinen Schatten über die jetzt vorzeigbare Außenterrasse aus sandfarbenen Stein. Justin war in aller Herrgottsfrühe mit Lilly, die seinen Schlummer gnadenlos beendet hatte, hinüber zu dem kleinen Zentrum von Green Tree gegangen, das die Anwohner mit den dringendsten Annehmlichkeiten versorgte. Keine Supermarktkette hatte sich hier hin verirrt, wahrscheinlich hatten die hiesigen Bürger jeden Gesandten einer dieser standarisierten und mit grellen Plastikschildern die Optik ihres Viertel versauenden Ketten sofort mit Mistgabeln und brennenden Fackeln vertrieben. Stattdessen gab es einen Obstladen, einen Bio-Markt, eine angeblich sehr traditionelle Bäckerei, eine ebensolche Schlachterei, ein paar vornehme kleine Boutiquen, einen Gartenmarkt, einen pittoresken Buchladen, in dem Justin gerne stöberte, einen Frisör und ein Eiskaffee mit Sitzen auf dem gepflegten Marktplatz. Eine tempelartige Bankfiliale rundete das ganze ab. Der Bäcker öffnete dankenswerter Weise bereits um halb Sieben, und er reihte sich ein in die Schlange anderer gähnender Väter, die man zur Besorgung der Sonntagsbrötchen aus dem Haus geschmissen hatte. Auch an ihnen hingen schläfrige Kinder und brüllende Säuglinge. Lilly war nach ihrem Frühstück wieder ins Koma gefallen. Die Bäckereiverkäuferin lobte sie routiniert, während Justin die Bestellungen durchgab. Er stopfte die Tüten unter Lillys Kinderwagen, legte eine Sonntagszeitung hinzu und trabte wieder gen Heimat. Ein wenig frische Luft und Morgensonne taten Lilly wahrscheinlich ganz gut. Er war recht versunken in seine Tätigkeit, als ihn ein Gesicht in der Schlange stutzen ließ. Kurz begann sein Herz zu rasen. Der Mann bemerkte ihn nicht. Justin riss sich zusammen und entfernte sich, bevor sich das ändern konnte. Was machte der denn hier…? Als sie zurück kamen, lag das Haus noch immer in Stille. Gus würde sich bald melden, auch Brian würde wahrscheinlich nicht mehr lange durchhalten, auch wenn chronischer Schlafmangel seit Lillys Ankunft ein Dauerzustand geworden zu sein schien. Doch die innere Uhr – oder die Angst, etwas zu verpassen – war stärker. Justin machte sich in der Küche zu schaffen und stellte den Eierkocher an. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Gegen Viertel nach Acht kam Brian verschlafen die Treppe hinunter, nur mit einer dunkelblauen Schlafanzughose bekleidet, und sah sich suchend um. So ruhig hier… Wo waren die denn alle? Im Loft war es immer ruhig gewesen, nur er. Gelegentlich hatte er im Vollrausch vergessen, einen Trick nach getaner Arbeit hinaus zu schmeißen, was er morgens bitter bereut und ratzfatz nachgeholt hatte. So ähnlich war das auch mit Justin gewesen. Nur dass er den verpassten Rausschmiss plötzlich gar nicht mehr so bereut hatte, als das blonde Leckerchen sich plötzlich unter seiner Dusche geaalt hatte… Tja, in den Genuss kam er ja mittlerweile häufiger. Und jetzt war es wieder ruhig hier. Kein Justin. Kein Gus. Keine Lilly. Waren die irgendwo hin gefahren? Ohne ihn? Er tapste in die Küche, ein Kaffee würde ihn die Dinge klarer sehen lassen. Die Thermoskanne war aus der Edelstahlmaschine entfernt worden. Justin! Bist du irre?! Du weg, Kinder weg – und Kaffee weg?! Wollt ihr mich verarschen?! Er spitzte die Ohren. Von irgendwoher meinte er etwas zu hören, das sich wie Gus anhörte. Verdammtes Haus, spielten die Verstecken mit ihm? Er ging in die Richtung, aus der er etwas gehört zu haben meinte. Ja… tatsächlich… das war Gus… Justin sagte irgendetwas… Wo…? Ein Luftzug traf ihn. Die Terrassentür stand offen. Blinzelnd trat er hinaus. Am neu erworbenen hölzernen Gartentisch saßen die beiden, Lilly neben sich auf dem Stuhl, und verputzten ein opulentes Frühstück, Brötchen, Eier, Aufschnitt, diverse stinkende Käsesorten, Nougat- und Marshmallowcreme. Der Kaffeeduft sickerte Brian verführerisch in die Nase. „Guten Morgen!“ grüßte Justin strahlend. Die Mohnkrümel zwischen seinen Schneidezähnen ließen ihn ein wenig wie einen wahnsinnigen Massenmörder aussehen. „Morgen, Papa!“ mampfte Gus, während er die eigentlich streng rationierte Nougatcreme in sich hinein löffelte. Brian hatte Justin im Verdacht, irgendwo geheime Vorräte davon gebunkert zu haben. Lilly sagte gar nichts, sondern schien überrascht den Himmel anzustarren. Inzwischen füllte sie ihre anfangs völlig schlabberigen Strampelanzüge gut aus. Kein Wunder, so wie sie fraß. Da war sie hier ja nicht allein. Väterliches Erbe? Würde wohl bald wieder eine Shoppingtour nötig sein… „Morgen… WoistderKaffee?“ grüßte Brian zurück, hob Lilly auf seinen Schoß und setzte sich zu ihnen. „Kann ich dir deine Tasse gefahrlos reichen – oder doch lieber an einer langen Stange so wie bei der Raubtierfütterung?“ fragte Justin vergnügt. „Danke, ich weiß mich schon zu beherrschen“, antwortete Brian würdevoll und angelte nach der vorsichtig in seine Richtung geschobenen Tasse. Ahhh… schon besser. „Hier, die da sind super, waren die letzten“, meinte Justin und deutete auf den Brötchenkorb. Brian schnappte sich eines dieser supergesunden, oberökologischen Megabio-Brötchen. Als er herzhaft hinein biss, ergoss sich ein Schwall Körner über Lilly. „Jetzt hast du Lilly dreckig gemacht“, kommentierte Gus überflüssigerweise. Brian rollte die Augen und klopfte seinen jüngsten Sprössling vorsichtig ab. Lilly machte inzwischen ernst mit ihrem Unternehmen, Haare zu bekommen. Sie war schon längst nicht mehr kahl, feine blonde Locken zeichneten sich ab. Sie nahm Brians Säuberungsaktion etwas irritiert hin, blieb aber friedlich. Die Morgensonne spiegelte im Wasser des auf Hochglanz renovierten Pools. Auf Brians Order hin war die Innenfläche moosgrün mit einer weißen Innenbordüre verfliest worden, was dem Wasserbecken einen leicht mysteriösen Schimmer gab. Ein Nullachtfünftzehn-Azurpool wie aus einer Porno-Produktion kam ihm nicht in die Bude. Die Fläche hinter dem Haus zeigte einen neu verlegten Rasen, der in einen Obsthain mündete, der gleichfalls zum Grundstück gehörte. Darin lag irgendwo ein kleiner Ententeich. Gott sei Dank so weit weg, dass sie das Gebrüll der ansässigen Frösche nicht in den Wahnsinn trieb. Linkerhand befand sich der bislang unangetastete Stall, dahinter der mitgenommene Tennisplatz, der in der kommenden Woche auf Vordermann gebracht werden würde. Brian hatte häufig mehr oder weniger gezwungenermaßen im geschäftlichen Rahmen Squash spielen müssen, Tennis war für ihn jedoch Böhmische Dörfer. Justin hatte im Rahmen seiner Höheren-Töchter-Erziehung natürlich Trainingsstunden verpasst bekommen gehabt… Snob. Naja, mal sehen wozu das Teil Nutze sein konnte, vermodern lassen kam jedenfalls nicht in Frage. „Rate Mal, wen ich beim Brötchenkauf getroffen habe…“, sagte Justin, jetzt gesättigt an seinem Kaffee nippend. „Mmm… keine Ahnung… Falls es Osama Bin Laden gewesen sein sollten, dann könnten wir uns für das Kopfgeld noch ein paar Flügel ans Haus setzten lassen…“ „Oder du könntest doch das Originalbett von Marie Antoinette für Lilly ersteigern… Noch mehr Räume, und die Putzfrau dreht durch. Nein, aber fast, deinen guten alten Kumpel Stockwell.“ „Sieh an. Ich hoffe, du hast lieb gegrüßt.“ „Er hat mich nicht bemerkt. Was macht der denn hier?“ „Der wohnt hier. Naja nicht ganz… In einem nicht ganz so exklusiven Randbezirk von Green Tree, mehr gab das Schmiergeldkonto wohl nicht her.“ „Was? Das wusstest du?“ „Klar. Ich war ja ein paar Mal bei ihm zu Hause, um sein harmonisches Familienleben in Szene zu setzten. Hat meine positive Einstellung zur Vorstadtfamilie nicht gerade begründet. Ich war sogar mit ihm in seinem Outdoor-Whirlpool, so ganz unter Männern.“ „Was…?“ „Was du immer denkst… Nein, wir haben echte Männergespräche geführt, natürlich… Glaube nicht, dass er da inzwischen noch einmal mit mir rein wollen würde – aus diversen Gründen…“ „Und dann kaufst du ein Haus hier…?“ „Klar. Überall gibt es Stockwells, wenn man sich nicht dazu entschließt, im Schwulenghetto neben Monty und Eli zu leben. Und gibt es etwas Schöneres, als jeden Morgen an Stockwells Möchtegern-Villa vorbei zu fahren und zu wissen, dass wir hier sind, weil wir es können und weil wir es wollen, egal was er dazu sagen mag?“ „Hatte sich Stockwell denn nicht sowieso eher wegen der Szene aufgeregt und nicht wegen braver schwuler Bilderbuchfamilien?“ „Was wir wohl kaum sind in seinem Sinne. Er hatte nichts gegen Leute, die mit dem Strom schwimmen, ihre zugedachte Rolle erfüllen, egal welcher Orientierung. Aber dennoch waren es nicht dieselben. In unserem Falle bedeutete das: den „Normalen“ nicht auf den Keks gehen, ihre Regeln imitieren und alles andere Zuhause im stillen Kämmerlein erledigen. Und dazu: Ehe, Familie… doch nicht für uns. Das sei ein Privileg von… ihnen. Stockwell war kein Schwulenhasser, da gibt es ganz anderer. Aber er war ein Konservativer mit sehr engem Horizont und geringem Vorstellungsvermögen. Wir müssen uns ihm gegenüber nicht rechtfertigen, denn wir sind längst hier, so wie wir sind.“ Justin nickte langsam. „Okay. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, werde ich ihn grüßen. Schließlich verdanke ich ihm auch in Hinblick auf meine künstlerische Vita einiges…“ „Ja, wir sollten ihm echt dankbar sein. Ohne ihn würden wir hier wahrscheinlich nicht sitzen und ihm die letzten Körnerbrötchen wegfressen. Gus! Hör auf mit der Nougatcreme, sonst musst du gar nicht Schwimmen lernen, sondern treibst mit einem fetten Bäuchlein ganz von alleine oben!“ „Ist doch praktisch“, erwiderte Gus frech. „Sieht aber doof aus. Willst du das?“ „Nein!“ „Dann weg mit dem Löffel.“ „Okay… Wann lerne ich schwimmen?“ „Nachdem wir das Frühstück verdaut haben, und die Sonne auf den Pool scheint.“ „Und bis dahin?“ „Genießen wir die Ruhe…“ „Ruhe ist langweilig!“ „Die Gärtner haben ein paar Stämme da gelassen als Feuerholz“, sagte Justin und nickte in Richtung des Stalls. Er schaute Brian fragend an. „Was…? Ach so. Du willst die Kettensäge?“ „Kettensäge?“ fragte Gus interessiert. „Nein! Du nicht! Das ist nur für große Jungs – und Mädchen“, ergänzte Brian mit Blick auf Lilly. Sie war zwar noch ziemlich weit vom Gebrauch einer Kettensäge entfernt, aber bloß keine geschlechtsspezifische Diskriminierung vor ihren Ohren! „Justin ist aber auch nicht so groß“, stellte Gus klar. „Ich bin ganz groß in der Handhabung riesiger Geräte, nicht wahr Brian?“ Etwas von weiter unten flüsterte ihm die Antwort zu. „Ganz ohne Zweifel… da bist du unübertroffen“, bestätigte er grinsend. „Na bitte“, grinste Justin zurück. Sie räumten den Frühstückstisch ab. Gus rutschte in seinem Eifer zu helfen mit der Wurstplatte aus und knallte mit dem Gesicht frontal in die fettige Masse. Zwar hatte er außer einem Schrecken nichts abbekommen, aber mehrere Salamischeiben blieben malerisch an ihm kleben, so dass Brian, nachdem er sich von der Unversehrtheit seines Sohnes überzeugt hatte, in schallendes Gelächter ausbrach. „Justin!“ heulte Gus empört auf. „Papa ist gemein!“ „Stimmt Gus… Mit Essen spielt man eigentlich ja nicht, aber heute gibt es Mal eine Ausnahme.“ Justin puhlte die Salami von Gus und patschte sie mit Enthusiasmus auf Brians Brust. „Ah… lass das! Jetzt sehe ich aus, als hätte ich einen dritten Mutanten-Nippel! Und ich bekomme Pickel!“ „Das ist es mir wert! Kleine Jungs auslachen! Das kann ich bei meiner Körpergröße einfach nicht gut heißen!“ „Du bist nur so klein, damit du anderen Leuten besser in die Waden beißen kannst! Ah – weg mit der Wurst von mir!“ „Und ich bin nicht klein – du bist nur so ein langer Lulatsch…“ „Als hättest ansonsten an meiner Körpergröße was auszusetzten…“ „Ich sage ja schon gar nichts mehr… Jetzt im Sommer spendest du immerhin schön viel Schatten für uns kleine Leute…“ Brian raffte sich auf, schmiss die Wurst weg und trabte gen Dusche. Als er wieder hinaus trat, dröhnte bereits Justins Kettensäge. Anscheinend hatte es eine Planänderung gegeben, denn Justin zerlegte die Stämme nicht brav in Feuerholz, sondern schien auf ziemlich brutale Weise etwas zu schnitzen. Er trug Schutzbrille, Ohrenklappen, eine dicke, Splitter abwehrende Lederarbeitsschürze, Sneakers – und eine Badehose. Brian war sich sicher, dass sowohl das Personal eines Irrenhauses sowie die Gäste einer S/M-Party sehr an diesem Anblick interessiert gewesen wären. Gus schob neben Lilly Dienst und blätterte in einem seiner Bilderbücher. „Bald kann ich schon lesen! Ich bin nämlich viel größer als du! Aber dann kann ich dir auch vorlesen, wenn du endlich sprechen lernst. Wann lernst du sprechen…?“ Gus fiel auf, dass diese Frage nicht viel Sinn ergab und wandte sich an seinen Vater, der jetzt ebenfalls in Bademontur mit Sonnenbrille, Sonnenöl, Handtüchern und Sonntagszeitung auf die Terrasse trat. „Wann kann Lilly endlich sprechen, Papa?“ „Oh… keine Ahnung… dauert wohl noch eine Weile…“, murmelte Brian. Er hatte keinen Bock, dieses Baby-Handbuch zu lesen! Da war so eine seifig grinsende Übermutti drauf, bei deren Anblick er schon kotzen musste! Wann hatte Gus sprechen gelernt…? Was war sein erstes Wort gewesen…? Hoffentlich nicht „Melanie“. Er hatte keine Ahnung. Er war klein gewesen… ziemlich im Vergleich zu jetzt… Vielleicht gab es ja im Internet was? Bestimmt. Oder Justin fragen wie ein blöder Idiot. Die Sonne war gestiegen, es war halb Elf. Brian versorgte Lilly, dann steckte er Gus in seine Badehose und cremte ihn dick ein. „Das ist eklig, Papa!“ beschwerte er sich. „Mag sein, aber sonst bist du in Null Komma Nichts gar wie ein Würstchen, und dann frisst dich Justin.“ „Gar nicht!“ lachte Gus. „Nun bin ich an der Reihe. Bekommst du es hin, mir den Rücken einzuschmieren?“ Nachdem alle versorgt waren, machte es sich Brian mit der Zeitung auf einer der Sonnenliegen am Pool gemütlich. Lilly lag in ihrem Körbchen im Schatten des Schirms neben ihm und quakte vor sich hin. Gus spielte mit einem Spongebob-Spielfigurenset inklusive aufklappbarer Wohn-Ananas neben Brian und ahmte dabei die Sprechweise der verschiedenen Figuren nach. Justin sägte. Himmlische Ruhe, dachte Brian, dann kniff er sich. Eigentlich war hier doch total Ramba-Zamba? Wie konnte er das als ruhig empfinden? Vor ein paar Jahren hätte ihn so eine Beschallung in den Amoklauf getrieben. War wohl ruhiger Lärm. Eine Stunde später verstummte die Kettensäge. Justin befreite sich aus seiner Montur und wuchtete noch ein wenig an den Stämmen herum. Brian konnte noch keinen Plan erkennen, aber das war bei Justins Sachen meist so. Einfach machen lassen, bis er fertig war, meist kam etwas Großartiges dabei heraus. Justin kam herüber, er war völlig durchgeschwitzt, seine Haut hatte begonnen, sich zu röten. „Jetzt sieht Justin aus wie eine Wurst“, stellte Gus fest. „Wie bitte?“ fragte Justin irritiert. Brian schaute ihn über den Rand seiner Sonnenbrille an. „Du hast dich nicht eingeschmiert und bist gerade dabei die zarte Tönung eines Hummers anzunehmen.“ „Ach Mist! Habe ich vergessen! Aber jetzt dusche ich erst mal und dann geht’s ab in den Pool. Zeit, um Schwimmen zu lernen, Gus.“ „Jaaaaa!“ freute sich Gus. Es dauerte nur ein paar Minuten, Justin hatte sich wohl nur kurz abgespült, da stand Gus schon, seiner ansichtig werdend, hibbelig am Rand des Pools. Justin führte ihm geduldig vor, Brian bewunderte stumm die geschmeidigen Bewegungen, dann durfte Gus ihm folgen. Etwas ängstlich hielt er sich an Justin fest. Brian verfolgte, wie Justin Gus unter Bauch und Brust abstützte, während dieser etwas hektisch versuchte, die Schwimmbewegungen mit den Armen hin zu bekommen. Er legte die Zeitung zur Seite und setzte sich Beine baumelnd an den Rand. Gus prustete und paddelte wie wild. „Nicht so schnell, Gus. Langsamer, aber gleichmäßig. Gut. Viel besser. Okay, jetzt schlag dazu mal mit den Beinen.“ Gus tat wie geheißen, Brian bekam von Kopf bis Fuß eine Salve ab. Na, dann konnte er ja auch gleich mit rein. Nach etwa einer Stunde hatte Gus schon Fortschritte gemacht, er soff jetzt immerhin nicht mehr sofort ab. Sie schärften ihm ein, niemals allein in die Nähe des Pools zu kommen. Es gab zwar eine Abdeckplane, aber die musste jedes Mal aufwendig montiert werden. Fünf Bodenfliesen Abstand waren das Minium, dann konnte er auch nicht reinfallen, wenn er vornüber kippte. Da Gus bedauerlicher Weise noch nicht zählen konnte, versaute Justin die Optik mit einer Kreidelinie. Die Sonne stand hoch, sie machten es sich auf den Liegen bequem, Justin neben den Kindern im Schatten, Brian briet nach einem wohlausgeklügelten Plan. Sein Arsch würde so zwar weiß bleiben, aber immerhin war die Bräune echt. Es war so ruhig hier… Er blickte auf. Es war wirklich ruhig hier. Lilly, Gus und Justin schnarchten nach den morgendlichen Strapazen unter dem Schirm. Kapitel 15: Mit dem Hammer des Gesetzes --------------------------------------- XV. Mit dem Hammer des Gesetzes Justins Gesicht war völlig ausdruckslos, wenn man vom kaum sichtbaren Mahlen der Kieferknochen absah, das seine innere Anspannung verriet. Ihm war schrecklich warm in der Seriosität einflößenden Stoffhose nebst passendem Sakko, kein Anzug, dennoch ganz offensichtlich für offizielle Anlässe erworben. Die Klimaanlage im Besprechungszimmer versagte kläglich angesichts der Außentemperaturen, er spürte die Sonne auf seinen Haaren brennen, die gnädiger Weise seinen Nacken notdürftig bedeckten. Brian starrte ihn von der anderen Seite des langgezogenen ovalen Konferenztisches undurchdringlich an. Er trug einen seiner Business-Anzüge, dunkelgrau mit grünstichiger Seidenkrawatte, fein abgestimmt. Trotz der Temperatur wirkte er wie aus dem Ei gepellt, wenn man von einem einsamen Schweißtropfen absah, der gemächlich von seiner Schläfe hinab glitt. Unter anderen Umständen wäre Justin gerne über den Tisch gesprungen, um diesen kleinen Makel abzulecken. Anzug-Brian konnte höllisch sexy sein in seiner scheinbaren Unnahbarkeit. Anzug-Brian konnte aber auch höllisch unangenehm sein, was sein eisiger Gesichtsausdruck gerade deutlich signalisierte. Aber über das Stadium, in dem ihn das ernsthaft eingeschüchtert hätte, war er längst hinaus. Eigentlich war er nie darin gewesen, er hatte nur gebannt die Reaktionen anderer verfolgt, um daraus zu schließen, in welchem Anzug-Modus Brian gerade war. Und anders als alle anderen war er nicht bloß Zeuge gewesen, wie Brian seinen heißgeliebten Fummel in eindeutiger Absicht auszog, sondern auch, wie er ihn morgenmuffelig anzog. Und jetzt ging es wiederum darum, Brian die Hosen aus zu ziehen, wenn auch nur im übertragenen Sinne. Mr. Harris räusperte sich. Er hatte noch weniger Haare auf dem Kopf als bei ihrem letzten Zusammentreffen, eine speckig spiegelnde Glatze zeichnete sich ab, die ihm jedoch mehr schmeichelte als der albern gekämmte Haarkranz. Vorausgesetzt man empfand Galapagos-Schildkröten als Innbegriff der Schönheit. Brian überragte auch im Sitzen seinen Anwalt um einen halben Kopf. „Nun, Mr. Taylor-Kinney“, hob der Anwalt an Justin gerichtet an und auf die dürre, weißhaarige Schlichtungsrichterin am Ende des Tisches schielend, „Sie haben Klage eingereicht gegen meinen Mandanten, ihren Lebensgefährten Mr. Brian Taylor-Kinney.“ „Das ist korrekt“, sagte Justin nur. Seine Anwältin, eine etwa vierzigjährige Frau mit hoch sitzendem Knoten, einer goldumfassten Brille und einem leichten Pferdegebiss, Mrs. Kreuzer-Veniatis, nickte ihm zu. „Um was geht es hier überhaupt?“ wollte die Richterin wissen und wühlte in den ihr von den Anwälten aufgedrängten Unterlagen. „Mein Mandant, Mr. Justin Taylor-Kinney klagt um das Sorgerecht seiner Tochter, Lilly Taylor-Kinney“, erklärte Mrs. Kreuzer-Veniatis. „Sie tragen alle denselben Namen? In welchem familiären Verhältnis stehen Sie zueinander, wenn ich fragen darf?“ wollte die Richterin wissen. „Wir sind nach kanadischem Recht verheiratet und haben dementsprechend nach dem hiesigen Recht einen gemeinsamen Nachnamen angenommen“, erklärte Brian emotionslos. „Aha“, sagte die Richterin nur. „Und es geht um das Sorgerecht über…?“ „Lilly Taylor-Kinney“, fielen die Anwälte zeitgleich ein. „Und Lilly Taylor-Kinney ist…?“ „Ein etwa fünf Wochen altes neugeborenes Mädchen. Sie kam in einem mexikanischen Krankenhaus zur Welt, die hier auch anerkannte Geburtsurkunde nennt meinen Mandanten als den Vater“, erklärte Mr. Harris. „Ein Baby also… Und Sie, Mr. Taylor-Kinney – der zu meiner Rechten – was haben Sie dagegen einzuwenden?“ „Lilly ist meine leibliche Tochter. Das ärztliche Gutachten, das Ihnen vorliegt, bestätigt das. Dennoch habe ich offiziell keinerlei Rechte an ihr.“ „Und deswegen haben Sie das Sorgerecht ihres Partners angefochten? Besteht die Partnerschaft denn unter diesen Umständen überhaupt noch?“ „Ja und ja“, antwortete Justin. „Und von Ihrer Seite, Mr. Taylor-Kinney – der mit den dunklen Haaren?“ „Ebenso“, bestätigte Brian kurz. „Sie verklagen also Ihren Partner, mit dem Sie nach wie vor zusammen sind, wegen des Sorgerechtes für Ihre leibliche Tochter, Mr. Taylor-Kinney – der Blonde?“ „Korrekt“, erwiderte Justin. „Und darf ich fragen, wieso?“ „Erklären Sie es mir doch. Wo in diesen Staat könnte ich einen Antrag für das gemeinsame Sorgerecht einreichen? Das kleine rosa Formular war irgendwie unauffindbar.“ „Sie wollen also das gemeinsame Sorgerecht?“ „Ja.“ „Ja.“ „Und Sie werden auf der rechtlich validen Geburtsurkunde genannt, während Sie anhand ärztlicher Expertisen als leiblicher Vater ausgewiesen sind?“ „So ist es.“ „Unser Recht sieht kein gemeinsames Sorgerecht für homosexuelle Partnerschaften vor, weder im Falle einer Adoption noch im Falle der biologischen Vaterschaft eines der Partner.“ „Das ist uns bewusst“, mischte sich Mrs. Kreuzer-Veniatis ein. „Allerdings liegt hier ein Sonderfall vor. In diesem Falle hat der eigentlich bei einem direkten Nachkommen nicht sorgerrechtsbefugte Partner bereits das alleinige Sorgerecht urkundlich belegt – nur der biologische Vater nicht.“ „Mmm – und was ist mit der Mutter?“ „Die Mutter ist direkt nach der Geburt von ihren Ansprüchen zurück getreten und hat einen Antrag auf Anonymität zugunsten des Sorgerechtes meines Mandanten vorgelegt. Entsprechende beglaubigte Unterlagen aus Mexiko liegen Ihnen vor“, erklärte Mr. Harris. „Handelt es sich um eine bezahlte Leihmutter?“ wollte die Richterin wissen. „Nein.“ „Aber dennoch ist das Kind mit Ihnen verwandt?“ „Ja.“ „Wie kommt es dazu?“ „Eine Freundin hat sich ohne mein Wissen und ohne mein Einverständnis mit meinem Sperma selbst befruchtet. Wir wussten nichts davon, bis der Vaterschaftstest Klarheit in die Sache gebracht hat.“ „Aber dennoch waren nicht Sie, sondern Ihr Partner vor Ort und wird auf der Urkunde als Vater genannt?“ „Ja“, antwortete Brian. „Mein Mann konnte nicht fahren, er lag mit Vierzig Grad Fieber und den Masern im Bett. Lilly wurde mir in die Hand gedrückt, die Mutter muss sich mit Hilfe von Freunden unbekannt verlegt haben lassen, sie war fort, aber nicht bevor sie meinen Namen angegeben hatte.“ „Und warum hat sie Ihren Namen genannt, wenn sie doch wusste, dass das nicht ihr Kind war?“ „Ich vermutete, weil ich da war – und nicht Justin. Und weil sie wollte, dass wir das Kind aufziehen.“ „Vielleicht wollte sie nur, dass sie es zu seinem Vater bringen?“ „Nein. Dann hätte sie auch seinen Namen angeben können.“ „Und warum hätte die Mutter davon ausgehen sollen, dass sie als Paar gewillt und geeignet sind, Lilly groß zu ziehen?“ „Weil wir darin bereits Übung haben“, meinte Justin. „Wie meinen Sie das?“ „Mein Mandant und sein Partner teilen sich bereits das Sorgerecht für den leiblichen Sohn meines Mandanten, Gus Taylor-Kinney“, erläuterte Mr. Harris. Die Richterin zog die Augenbrauen zusammen. „Wie das?“ wollte sie wissen. „Die leibliche Mutter und ihre Partnerin, die ehemaligen Sorgeberechtigten für Gus – unter der ehemaligen Rechtsprechung war das ja so noch möglich – haben testamentarisch verfügt, dass im Falle Ihres Todes das Sorgerecht an meinen Mandanten und seinen Partner, den leiblichen Vater, falle, sofern sie sich in einer einer Ehe vergleichbaren Beziehung miteinander befänden. Mrs. Lindsay Peterson und Mrs. Melanie Marcus sind vor bald einem Jahr einem Flugzeugunglück zum Opfer gefallen, so dass diese Regelung gültig wurde. Das Jugendamt hat dieses Arrangement über die Zeit beobachtet und eine positive Expertise ausgestellt, die Ihnen jetzt vorliegt“, führte Mrs. Kreuzer-Veniatis aus. Die Richterin blätterte in den Aktenbergen. „Wenn ich das richtig verstehe, Mr. Taylor-Kinney, streben Sie mit ihrer Klage an, auch in Bezug auf Lilly das gemeinsame Sorgerecht zu erzielen, wie es das Gesetz im Falle einer homosexuellen Partnerschaft allerdings nicht vorsieht?“ „Richtig.“ „Und Sie? Ist das auch in Ihrem Sinne?“ „Ja.“ „Wir haben es hier, rein rechtlich gesehen, mit einem absoluten Sonderfall zu tun, den das Gesetz so nicht abdeckt. Die Adoption eines leiblichen Kindes durch den nicht verwandten Partner ist ausgeschlossen. Hier liegt jedoch der umgekehrte Fall vor. In dieser Hinsicht würde ich eine außergerichtliche Einigung im Sinne des Kindeswohles anstreben. Ihnen, Mr. Taylor-Kinney wurde in Mexiko ein Kind in die Arme gedrückt, von dem sie nicht wussten, ob es von Ihnen oder Ihrem Partner oder sonst wem abstammt, aber dennoch haben Sie die Verantwortung übernommen?“ „Ja.“ „Das spricht für Sie. Das Gutachten des Jugendamtes äußert sich auch zu Ihren Gunsten. Und Sie, Mr. Taylor-Kinney – Himmel, dieser Doppelname macht mich noch ganz verrückt! – haben sich auch ohne zu zögern zu dem Sohn Ihres Partners bekannt, ihn als Ihren eigenen angenommen?“ „Gus ist mein Sohn. Ich kenne ihn seit der Stunde seiner Geburt“, sagte Justin nur. „Wie sieht es mit dem finanziellen Rahmen aus? Kinder sind teuer.“ „Schauen sie einfach unsere Anwälte an, dann wissen Sie’s“, meinte Brian nur trocken. „Zeit?“ „Wir arbeiten beide. Aber Gus und Lilly haben Priorität.“ „Wer kümmert sich um die Kinder, wenn Sie beruflich eingespannt sind?“ „Meine Mutter, Justins Mutter und Schwester, die Familie meines besten Freundes – und im schlimmsten Fall können wir uns auch ein Kindermädchen mir achtzehn Doktortiteln in Pädagogik leisten. Aber das ist bisher nicht vorgekommen. Bislang ist es uns immer gelungen, das allein in den Griff zu bekommen, auch wenn Schlaf Mangelware ist.“ „Verstehe, ich habe selbst vier Kinder. Ich habe, glaube ich, zwanzig Jahre lang nicht geschlafen. Das ist kein Witz. Mir ist nur wichtig zu wissen, dass Kinder nicht zu einem bloßen Accessoire verkommen, was leider allzu häufig der Fall ist. Was erwarten Sie von Lilly?“ „Wie meinen Sie das?“ „Na, was sie einmal sein und werden soll?“ „Das, was sie will, was sonst.“ „Und wenn sie… Was ist Ihnen persönlich besonders zu wider?“ „Präsidentin – der Republikaner!“ „Hippie-Aussteigerin ohne Arbeitsmoral und Seife!“ „Und wenn Lilly genau das wird?“ „Beides zugleich? Das wäre in der Tat spannend…“ „Wir würden sie dennoch lieben“, schloss Justin mit scharfem Blick auf Brian. „Lieben sie das Kind?“ „Ja!“ „Ja.“ „Nun gut… Versuchen wir es zu Ihren Gunsten. Sie haben sich bereits im Fall Ihres Sohnes bewährt, das entnehm ich Mrs. Lennox‘ Bericht. Und ich persönlich gehöre auch nicht der Fraktion an, die gleichgeschlechtliche Paare für ungeeignet hält, Kinder auf zu ziehen. Die außergerichtliche Einigung spricht Ihnen das gemeinsame Sorgerecht zu mit einer vom Jugendamt zu überwachenden Zeitspanne von einem halben Jahr. Sie werden also noch ein wenig länger das Vergnügen mit der für Sie zuständigen Sachbearbeiterin haben. Ist das akzeptabel?“ „Ja!“ „Sicher.“ „Diese Lösung ist eine Ausnahme, geschuldet äußerst ungewöhnlichen Umständen – und kein Präzedenzfall! Wehe Sie sitzen in einem halben Jahr wieder mit so einer Sache vor meiner Nase!“ „Garantiert nicht.“ „Wir passen schon auf… versprochen.“ „Das hat mir meine Tochter auch gesagt – und Schwups, war ich Großmutter!“ „Hoch und Heilig.“ „Schon gut. Ich erteile in einer außergerichtlichen Einigung Mr. Brian Taylor-Kinney und Mr. Justin Taylor-Kinney das gemeinsame Sorgerecht für Lilly Taylor-Kinney mit einer halbjährigen Probefrist zu überwachen durch das Jugendamt – haben Sie das?“ richtete sie sich an ihre Schreiberin. „Jaja…“ „Gut.“ „Na, dann passen Sie mal gut auf ihr kleines Mädchen auf… Und nicht verzweifeln, wenn sie zahnt, das dauert nicht ewig, auch wenn es sich so anfühlt“, sagte die Richterin und reichte Ihnen die Hand. Eine Runde allgemeines Händeschütteln war die Folge. Mr. Harris verabschiedete sich freudestrahlend von ihnen: „Bis zum nächsten Mal!“ „Hoffentlich nicht“, murmelte Brian, als sie außer Hörweite waren. Mr. Harris mochte ein ausgesprochen findiger Familienrechtler sein. Aber wegen irgendwelcher Sorgerechts-Scheiße rumklagen zu müssen, war nun wirklich nicht ihr Lieblingshobby. „Und was meinte die alte Wachtel mit „zahnen“?“ Justin lehnte erschöpft neben ihm im Fahrstuhl, seine Frisur war dahin und hatte sich in einen irrwitzig gekringelten Mob verwandelt. „Psst! Sei bloß ruhig und nenne sie nicht „Alte Wachtel“! Sie hat zu unseren Gunsten entscheiden! Oh mein Gott! Ich bin Lillys Vater!“ „Ja… unser Plan war wie gewohnt genial. Außerdem warst du das doch vorher auch schon. Nur jetzt ist es amtlich. Glückwunsch, du kindergeiler Vollidiot. Was meinte sie mit „zahnen“?“ „Zähne bekommen?“ „Mmm… Stimmt, Lilly hat keine Beißerchen in der Fresse… Die kommen wohl noch…?“ „Haarscharf kombiniert Sherlock. Und das tut anscheinend tierisch weh. Jedenfalls heulen Babys dann wie die Sirenen.“ „Danke, Watson. Das hört sich ja super an. Und wann beginnt der Spaß?“ „Mit einem halben Jahr ungefähr. Lies das Buch!“ Brian ignorierte seine Forderung, der sture Idiot. „Das sind noch viereinhalb Monate – solange verdränge ich das Mal.“ „Weise…“ „So bin ich… Reine Rationalität, Gefühlsduselei zum Teufel.“ „Ich weiß, du eisenharter Macho, du“, grinste Justin und gab ihm einen raschen Kuss auf die Lippen, bevor die Lift-Tür sich wieder öffnete. Eine knappe Viertelstunde später parkte die Corvette vor Jennifer Taylors Haus. Brian gab es nur ungern zu, aber das Auto war zur Beförderung zweier Kinder denkbar ungeeignet. Vielleicht sollte er es durch irgendetwas ersetzten? Einen fetten BMW zum Beispiel… Jennifer kam ihnen mit Lilly im Arm entgegen. Sie schaute ihnen fast aufgekratzt vor Spannung ins Gesicht. „Ja!“ lachte Justin und strahlte verboten. „Ja!“ Jennifer schloss sich an. „Schatz! Oh das freut mich so für dich, das ist wundervoll! Für dich natürlich auch, Brian…“ „Jaja, schon gut, ich will den Familienmoment ja nicht stören.“ Jennifer löste sich von ihrem Sohn, der neben ihrer zierlichen Gestalt ausgesprochen kräftig wirkte, und schnappte ihn am Ohr. „Du bist Familie, du langes Elend! Begreif das endlich!“ „Au… Unter Gewaltanwendung stimme ich da natürlich zu…“ Jennifer drückte ihm die verwirrt in die Gegend stierende Lilly in den Arm. „Hier, eure Tochter.“ Brian ergriff sie. Was sie wohl wahrnahm? Was sie wohl eines Tages von der Sache halten würde? Aber auch wenn sie sich achtzig Piercings durch die Nase – oder anderswo durch – ziehen sollte, sie war ihre Tochter. Daran war nichts zu ändern. Rechtlich schon, sie würden aufpassen müssen, bloß kein zweiter Lance. Aber biologisch – nein. Daran war nichts zu rütteln, auch wenn sie das niemals offen würden zugeben können, solange sich die Verhältnisse nicht änderten. Sollte man darauf waren? Oder konnte man da nicht… etwas tun? Sie traten ins Wohnzimmer, wo Gus mit halb offenem Mund neben Molly vor „Star Wars- Episode I“ klebte. „Ich will Rennfahrer werden“, murmelte er, als sie eintraten. „Nicht mehr Fußballstar?“ fragte Brian. „Das auch“, stellte Gus klar. „Na dann… Schön, einen Jedi-Ritter im Tor wünscht sich jede Mannschaft…“ Kapitel 16: Alles in Ordnung ---------------------------- XVI. Alles in Ordnung Daphne starrte müde durch die Scheibe. Wie…? Wie hatte sie das hingekriegt…? Irgendwie. Sie zwang sich, wieder zurück auf die Labordaten zu schauen, zum tausendsten Mal. Einiges war glasklar. Anderes nicht. Sie hatte die Gencluster isoliert. Blondes Haar – kein Problem, wenn es sich als Handgepäck dominanter Erbinformationen einschmuggelte. Brians Augen… Kinderspiel. Aber der Rest? Ein Mensch war so viel mehr als das Zusammenspiel seiner physischen Merkmale. Die in jedem Menschen latent vorhandenen Erbkrankheiten… nieder mit ihnen. Ganz ging das nicht, sie hatte einige Versuche gebraucht, um die Sache zu optimieren, die Risiken aufs Äußerte zu minimieren. Aber Brian und Justin waren ja netterweise ausgesprochen freigiebig gewesen in ihrer Not. So eine Ladung hatte ganz schön viele Kandidaten zu bieten. Ein Hauch von schlechtem Gewissen hatte sie gequält. Aber dann… Es war eine Kurzschlussreaktion gewesen zuzugreifen. Aber wenn schon… nur ein Versuch… es würde ihnen nicht schaden, sie würden es nicht erfahren. Es war ja nur ein Gedankenexperiment. Dann hatten sich in der Petrischale Ergebnisse gezeigt. Es wuchs. Aber dort ging es nicht weiter… Was nun… Aber sie hatte einen Ort… Aber das war nicht ganz einfach… Aber es ging. Es wuchs sich fest. Es gedieh. Schockartig wurde ihr klar, dass es ein Leben war, ein denkender, fühlender Mensch… oh Gott! Sie konnte es doch nicht einfach… wegschmeißen! Aber sie wollte doch gar keine Mutter sein, doch nicht schon jetzt. Außerdem war das gar nicht ihr Kind. Naja, zu einem Bruchteil schon, aber den hatte sie rezessiv gehalten. Ein Kind… wenn, dann, wenn sie einen Partner gefunden hätte oder bereit wäre, das allein durchzuziehen, aber doch nicht jetzt, nicht... so. Sie hatte kein Recht an Lilly. Sie hatte sie gestohlen. So war es. Sie war eine Diebin. Und eine Lügnerin. Sie hatte das nicht gewollt, nicht geplant, aber es ließ sich einfach nicht mehr leugnen, Lilly war da, lebte, lebte in ihr… oh Gott! Sie hatte Hilfe gebraucht und jetzt zahlte sie den Preis, nicht ganz unwillig, schließlich tat sie das, was sie am Meisten ersehnte. Aber was war mit Lilly? Genetisch mochte sie wenig von ihr abbekommen haben – haha, als sei das Zufall gewesen. Aber dennoch hatte sie sie neun – naja fast – Monate mit sich herumgeschleppt, mit ihr geredet, sie sich ausgemalt, ihr einen Namen gegeben. Und plötzlich… der Stress, die Schmerzen… Sie hatte sie nicht sehen wollen – wie hätte sie sie sonst fortgeben können? Das war das Härteste gewesen, was Daphne je hatte tun müssen. Für Lilly. Sie gehörte nicht zu ihr. Und Brian hatte draußen gewartet. Er war da gewesen. Nicht Justin… aber Brian. Brian würde es auch tun, mit Sicherheit. Oder? Doch. Er würde Lilly nicht im Stich lassen, trotz aller nach außen getragener Kälte würde er dergleichen niemals tun. Nicht wie sie. Aber das tat sie nicht. Sie gab es denen, zu denen es auch gehörte. Sie war sein Kind, viel mehr als ihres. Aber das wusste er nicht. Aber er würde es dennoch tun. Oder? Sie konnte sich nicht sicher sein. Verfluchte Masern. Wie hatte Brian reagiert, als ihm klar wurde, dass er mit Lilly allein war? Was hatte er gedacht? Was hatte er gefühlt? Und vor allem: Was hatte er getan? War sie jetzt bei ihnen? Ging es ihr gut? Hatten sie es heraus bekommen? Das mit der Vaterschaft – bestimmt. Sie waren ja nicht blöde. Aber wie sie das… Nein. Das verstand sie selbst ja nicht recht. Wie hatte das klappen können? Darum war sie hier. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Na, Gus, weißt du, was nächste Woche ist?“ fragte Justin den kleinen Jungen, während die beiden auf der Terrasse versuchten, ein Star Wars-Raumschiff aus den passenden Legosteinen zusammen zu puzzeln. „Ich komme in die Schule!“ strahlte Gus und drückte einem Lego-Jedi ein Laserschwert in die Hand. „Ja, genau. Aber da ist noch etwas“, meinte Justin geheimnisvoll. „Was denn?“ wollte Gus neugierig wissen. „Jemand hat Geburtstag…“, flüsterte Justin, als könne sie jemand belauschen. „Geburtstag! Wer?“ fragte Gus gespannt und sah Justin an. „Rate Mal!“ lächelte dieser. „Du?“ „Nein. Ich hatte im Februar Geburtstag, als noch ganz viel Schnee lag, weißt du?“ „Mmm, Jenny?“ „Nein, die wurde im Oktober geboren, vor Weihnachten.“ Gus hatte inzwischen die Monatsnamen gelernt, doch war sein Zeitgefühl noch nicht besonders ausgeprägt. Justin hatte seinen schlauen Büchern entnommen, dass ein Kind Gus‘ Alter ungefähr einen Zeitraum von zwei Wochen überschauen konnte, alles andere war weit weg und latent ewig. „Lilly?“ „Nein, Lilly wurde ja gerade erst geboren, sie ist nicht einmal zwei Monate alt.“ „Papa?“ „Ganz genau, Gus“, bestätigte Justin lächelnd. „Oh“, sagte Gus. „Wie alt wird Papa denn?“ „Sechsunddreißig.“ „Das ist aber viel. Papa ist ganz schön alt!“ Justin verkniff sich das Lachen, auch weil Gus das voller staunender Bewunderung gesagt hatte. „Sag das Papa ja nicht – er mag es gar nicht, wenn ihn jemand „alt“ nennt.“ „Warum denn? Ich will auch alt sein! Und so groß wie Papa!“ „Das wirst du schon früh genug. Aber jeder Mensch mag etwas nicht… Was willst du nicht, dass man es dich nennt?“ „Dumm! Ungeschickt! Das bin ich nämlich nicht!“ „Da hast du recht. Und Papa mag es nicht „alt“ genannt zu werden, okay?“ „Aber warum denn nicht! Er ist doch voll alt!“ Armer Brian, dachte Justin. Seine eigene Brut verriet ihn. „Stell dir vor, du wärst doof – würdest du es okay finden, wenn dich jemand „doof“ nennen würde?“ Gus dachte nach. „Nein… das wäre zwar richtig, aber wäre trotzdem gemein!“ „Siehst du, genauso ist das mit Papa.“ „Er ist also alt, aber er will nicht, dass das jemand sagt?“ „Äh… ja…“ Gott sei Dank konnte Brian ihn jetzt nicht hören, er war bei Kinnetic. Er würde sich postwendend scheiden lassen. Aber aus Gus‘ Froschperspektive waren sie wohl beide Greise. „Wann hat Papa denn Geburtstag?“ „Am Montag und am Mittwoch wirst du eingeschult.“ „Und heute ist?“ „Freitag.“ „Freitag. Sonnabend, Sonntag, Montag – Papas Geburtstag, Dienstag, Mittwoch, da gehe ich zur Schule?“ zählte Gus ab. „Richtig, Gus, gut gemacht“, lobte Justin. Er war auch stolz auf sich selbst. Er hatte Gus das beigebracht. „Was wünscht sich Papa?“ wollte Gus wissen. Gute Frage. Was man mit Geld kaufen konnte, besorgte Brian sich selbst, und es bedeutete ihm letztlich nicht außergewöhnlich viel. „Etwas, das ihm zeigt, wie lieb du ihn hast?“ schlug Justin vor. Das war für Brian unbezahlbar. Gus überlegte. „Papa hat immer so wenig Zeit… Können wir ihm das nicht schenken? Zeit?“ Justin schaute den kleinen Jungen erstaunt an. Ja, das ließ sich wirklich für kein Geld der Welt kaufen. Er würde mit Ted sprechen müssen. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Brian stolperte erschöpft ins Haus, die sengende Hitze ließ das Hemd an ihm kleben wie eine zweite Haut, obwohl er die Anzugjacke abgestreift hatte, bevor er ins Auto gestiegen war. Ein weiterer Punkt gegen seinen Oldtimer, ohne eine Klimaanlage war er im Sommer ein reines Folterinstrument. Und im Winter kaum weniger, die altersschwache Heizung brauchte ewig, um die Pittsburgher Kälte auszugleichen. Kinnetic war gut ausgelastet, es gab viel zu tun. Das Meiste lief inzwischen mehr oder weniger automatisch, aber er war das Hirn, ohne seine Gegenwart zuckte der Organismus des Betriebes nur reflexartig und gebar nichts Neues. Aber es gab auch Zuhause… Lilly schrie immer noch alle paar Stunden, nass und hungrig. Auch wenn Justin an der Reihe war, wachte er jedes Mal mit auf. Gus brauchte ihn. Und Justin… Aber es waren nicht mehr bloß sie beide. So war das wohl, wenn man das Babylon gegen ein Babyfon getauscht hatte. Obwohl das Babylon ihm offiziell noch immer gehörte. Ein Mahnmal des Todes, des Hasses… der Erkenntnis, was wirklich zählte. Aber die Dinge hatten wieder ihre Ordnung. So war es wohl, so musste es sein. Er hatte immer seine Routinen gehabt, seine Ordnung. Diese hier war neu, anders, besser – aber sie war Ordnung. Es war gut. Und es war anstrengend. Er hatte sich immer an seine Grenzen getrieben, der Lohn war Vergessen gewesen, die Euphorie des Rausches, der Macht. Kaum war er durch die Haustür, riss er bereits an den Knöpfen seines Hemdes. Keine drei Minuten würde er es noch in dieser siffigen Pelle aushalten, Armani hin oder her. Während er die Treppe hinauf lief, zerrte er bereits an Knopf und Reißverschluss seiner Hose. Raus hier… Weg damit… Als das eiskalte Wasser der Dusche auf seine nackte Haut prasselte, jappste er kurz, dann ließ er die fast schmerzhafte Erfrischung einsickern, seine Lebensgeister berappelten sich. Deutlich entspannter trat er, nur mit einer schwarzen Unterhose bekleidet, auf die kleine rückwärtige Terrasse, die vom Schlafzimmer abging. Ein paare leere räudige Blumenkästen glotzten ihn vorwurfsvoll an. Als er das Haus gekauft hatte, hatte er sich über dergleichen keine Gedanken gemacht. Dafür gab es Personal, oder? Nein, gab es nicht. Das war ihr Zuhause, kein inhaltsloses Projekt irgendwelcher Innenarchitekten und Landschaftsdesigner. Putzfrau, Gärtner… okay, die hielten den Laden in Schuss. Aber wie hatte es Gus so schön formuliert? Meins. Selber machen. Brian spähte hinab. In einiger Entfernung türmte sich Justins Baumstamm-Massaker auf, ein wirres, zorniges Geflecht, ein gordischer Knoten perversen Ausmaßes, Natur in eine unnatürlich brutale Form geknechtet. Es war nicht schön. Aber das war egal, das sollte es wahrscheinlich gar nicht sein. Man konnte nicht aufhören, es anzustarren. Wild, allem trotzend, gnadenlos, zutiefst irritierend wie der Funke einer tobenden Schöpfung. Es entzog sich jeder Beschreibung, schuf seine eigene Logik abseits aller Sprache. Er hatte Justins Talent ja schon früh erahnt, aber hatte keine Vorstellung davon gehabt, was es zutage fördern könne. Justin war nicht ein braves Schülerlein einer etablierten akademischen Tradition. Er war ein verfluchtes, fast angsteinflößendes Genie, dämmerte Brian. Und er hatte gerade erst angefangen. Der Galerievertrag war gut, aber mit ein wenig Marketing konnte es Justin ganz nach oben schaffen. Aber das war nie Justins Triebfeder gewesen, nur ein Nebeneffekt. Er würde diese Stämme auch so verbiegen, wenn er völlig alleine auf der Welt wäre. Brian sah hinunter. Auf der Terrasse spielte der von der Muse geküsste Genius kindlich kichernd mit Gus irgendein albernes Brettspiel, bei dem man anscheinend ständig die Sitzpositionen wechseln musste. Sein von der Sonne geblichenes Haar stand wirr, die anfangs gerötete Haut hatte einen sanften Goldton angenommen, die Spuren der Masern waren kaum mehr zu erkennen. Trotz seiner doch inzwischen vierundzwanzig Jahre wirkte er wie ein verspielter Teenager, sorglos und leicht sich im Augenblick verlierend. Er konnte auch ganz anders, das wusste Brian. Was Justin anging, trog der erste Eindruck meist gewaltig. Justin war Chaos, doch seine Ordnung, ein Fels unter Zuckerguss, Granit mit Waldmeistergeschmack. Und, so irre es auch war, der Vater seiner Tochter, die tief unter dem Sonnenschirm, geschützt vor Mücken, Bienen und Wespen unter einem Moskitonetz, schlief. Sie brauchte wahrscheinlich Energie, um sich genau dann die Seele aus dem Leib zu brüllen, wenn er gerade eingenickt war. Aber das war okay. Er wusste das. Das war Ordnung. Kapitel 17: König für einen Tag, Teil I --------------------------------------- XVII. König für einen Tag, Teil I Ein angenehmes Gefühl lockte Brian aus dem Schlaf. Hände, die über ihn glitten, ihn streichelten und kraulten. Keine Verführung, kein sexuelles Verlangen, lediglich ein behaglicher Beweis von Zuneigung. Etwas, was er nicht schon bis zum Erbrechen gehabt hatte. Eine kleine, aber bestimmte Hand legte sich an seine Wange und klopfte etwas heftiger als unbedingt nötig. „Aufwachen, Papa, aufwachen! Du hast heute Geburtstag! Aufwachen! Papa?“ „Pssst, Gus, lass ihn doch…“, versuchte es Justin. Aber Gus war zu aufgeregt, um sich noch halten zu können. „Jaaaaa“, murmelte Brian verschlafen und tastete mit geschlossenen Augen nach dem kleinen warmen Kinderkörper, um ihn an sich zu ziehen. Gus ließ es artig geschehen, doch spürte Brian, dass sein Sprössling angespannt wie ein Flitzebogen war und ihm keinesfalls der Sinn danach stand, seinem Altvorderen als Kuschelkissen zu dienen, während dieser wieder einpofte. Justin schlang sich von hinten um ihn. Brian war sich sicher, dass dieser da deutlich williger wäre, aber die Chancen standen schlecht, Justin jetzt als Unterlage für Aktivitäten unterschiedlicher Art einspannen zu können. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Brian“, flüsterte Justin in seinem Nacken. Das war wohl leider die Tatsache, er war wieder ein Jahr älter geworden, und die Bagage hatte das nicht vergessen. Wäre ja auch ein Wunder gewesen. Es ließ sich nicht mehr schön reden. Er war nicht mehr Anfang Dreißig, egal wie großzügig man abrundete. Mitte Dreißig traf es wohl besser. In seinen Zwanzigern hatte er es sich nie vorstellen können, einmal ein derart alter Sack zu werden. Bevor die Zeit ihn in ihrem entwürdigendem Würgegriff halten würde, würde er aufrecht abgetreten sein, so war der Plan gewesen. Nun, es hatte eine Planänderung gegeben. „Ja, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Papa! Und du bist nicht alt!“ beteuerte Gus. „Danke Gus. Justin…“ Der hatte das Gus doch eingehämmert. Sah er so verzweifelt aus? Nun ja… Justin kicherte verhalten – und ein klein wenig hämisch. Aber er wusste, wie der Hase lief und hielt lieber die Klappe. „Papa?“ „Ja Gus…“ „Geschenk?“ „Ahhh… Du hast ein Geschenk für mich…? Das ist schön…“ „Wir, Justin und ich und Lilly, haben ein Geschenk für dich. Aber ich habe es gebastelt!“ stellte Gus klar und strampelte sich frei. „Aber du musst die Augen zu machen!“ Kein Problem. Die hatte er sowieso noch nicht auf bekommen. „Und du musst dich hinsetzten!“ „Okay…“ Brian stemmte sich schlaftrunken hoch. Justin robbte hinter ihn und bot sich als Rückenlehne an. Ein leises Quak-Geräusch deutete darauf hin, dass sich Lilly ebenfalls die Ehre gab. Gus raschelte mit irgendetwas, dann kletterte er aufs Bett und machte sich an seinem Vater zu schaffen. Brian blieb ergeben sitzen, was auch immer da jetzt an ihm montiert wurde, Gus hatte es hergestellt, da hieß es notfalls gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wenn es die Grenzen des Erträglichen sprengte, könnte er Justin als erwachsenen Mitverantwortlichen nach allen Regeln der Kunst bei Gelegenheit den Hintern versohlen. Allerdings war fraglich, ob dieser das dann auch wirklich als Strafe empfände. „So, fertig“, sagte Gus zufrieden und aufgeregt, „du darfst jetzt gucken!“ Brian schlug die Augen auf, von hinten säuselte Justin: „Darf ich vorstellen, oh 30. Juli, Seine Hoheit Brian Aidan Taylor-Kinney von und zu Britin, Herrscher über das Reich von Kinnetic, der König des heutigen Tages!“ Brian fühlte sich latent verarscht, biss aber die Zähne zusammen und tastete nach dem, was Gus auf seinen Kopf gesetzt hatte. Eine Papierkrone! Sah er jetzt etwa aus wie ein Stammgast von Burgerking? Kurz verspürte er tiefe Dankbarkeit darüber, auf das Anbringen von Spiegeln im Schlafzimmer verzichtet zu haben. In einigen Situationen mochte es einen gewissen Reiz haben, sich selbst beim Vögeln zuzusehen zu können, aber die Achtzigerjahre waren längst passee, die einen derartigen innenarchitektonischen Fauxpas gerechtfertigt hätten. Gus stand vor ihm und strahlte ihm voll Stolz ins Gesicht. Brian rang sich ein Lächeln ab, obwohl etwas in seinem Inneren ein paar grenzwertige Dinge mit Justin anstellen wollte. Da ließe sich das Angenehme und das Nützliche ja durchaus miteinander verbinden… „Dankeschön…?“ brachte Brian hervor. „Jetzt bist du der König!“ erklärte Gus. „Heute machen wir nur, was du willst!“ „So ist es!“ bestätigte Justin lachend und drückte ihm einen zudringlichen Kuss auf den Hals. „Eure Hoheit!“ Brian wand sich. „Das ist… Aber das geht nicht, ich muss zu Arbeit.“ „Falsch. Du kannst zur Arbeit, wenn du das möchtest. Das entscheidest nur du. Aber müssen tust du nicht, ich habe mich mit Ted verschworen.“ „Hast du ihm etwa von der Krone erzählt?!“ „Nein“, grinste Justin. „Aber ich kann es gerne nachholen, wenn du das möchtest… mein König.“ „Äh… Nein, erster Befehl: Keine Indiskretion Ted gegenüber!“ „Ja, mein Herr und Meister.“ Justin grinste noch breiter. „Was sollen wir machen?“ fragte Gus übereifrig. „Du darfst alles, was du willst! Und du musst nicht Bitte sagen.“ Gute Frage. „Ich will einen Kaffee“, beschloss Brian zunächst einmal das Naheliegenste. „Jeder Despot hat mal klein angefangen. Schon so gut wie geschehen“, sagte Justin und stand auf. Brian streckte sich und tat es ihm nach. Auf nackten Füßen ging er hinüber ins Bad. Sein Tag…? Der breite Spiegel über den Waschbecken bestätigte seine Befürchtungen. Er sah in der Tat so aus, als sei er Gast auf einem Kindergeburtstag. Gus hatte sich redlich Mühe mit seinem Kopfputz gegeben, dennoch war er reichlich schief. Soso, für heute war er also der Alleinherrscher über diese beiden Affen, die er sich mit seiner Jasagerei eingefangen hatte. Er durfte alles tun, was er wollte… seine beiden Hofschranzen hatten Folgsamkeit gelobt… das hieß es auszunutzen, bevor die Palastrevolte ausbrach, die meist das Ende jedes Potentaten eingeläutet hatte. Aber was wollte er? Zur Arbeit? Nicht zwingend, wenn man ihn da frei geeist hatte. Ausspannen? Er war zwar dauermüde, fühlte sich aber nicht gestresst. Eine Runde allein sein? Seit Mexiko war er eigentlich kaum eine Minute mehr ohne Gesellschaft gewesen. Aber früher war er es fast ausschließlich gewesen. Nein danke. Sein Geburtstag… die Feiern in seiner Kindheit, hohle Szenarien, etwas, was sich so gehörte… seines Erwachsenenlebens… aufgezwungen von vermeintlich wohlmeinenden Freunden oder als Verdrängungs-Orgien inmitten eines Haufens namenloser Körper … Was wollte er? Sie hatten ihm etwas geschenkt, das es für kein Geld der Welt zu haben gab: Zeit mit ihnen, die er verbringen konnte, wie immer er es wollte. Er ging die Treppe hinunter, der Kaffee duftete ihm entgegen, Justin brutzelte Pfannkuchen, wie er und Gus sie gerne verdrückten. Lilly quiekte leise vom Küchentresen aus. „Nun, Papa? Was sollen wir machen?“ fragte Gus eifrig. „Ich habe nachgedacht. Ich glaube ich will, dass du nach dem Frühstück mit mir draußen Fußball spielst“, sagte Brian. „Ja, Papa! Und Justin?“ „Den befördere ich hiermit zum offiziellen Hofmaler. Justin zeichnet solange Lilly für mich.“ „Was immer Ihre Hoheit befehlen. Droht mir ein Kopf kürzer, wenn ich das Werk nicht zur Zufriedenheit vollende?“ „Nein, ich bin ein aufgeklärter Monarch! Ich degradiere dich höchstens zum Latrinenputzer, damit du über deine Fehler nachdenken kannst.“ „Ihr seid so gnädig, Majestät.“ Mochte Justin ihn verscheißern, so viel er wollte, so ganz unspaßig war die Sache ja nicht, wenn man mal von den wenig schmeichelhaften Kronjuwelen absah. Aber der Kram, den die europäischen Könige trugen, sah zum überwiegenden Teil auch total bescheuert aus. In der Situation konnte man es sich erlauben, scheiße auszusehen, schließlich zeugte das nur von jahrhundertelanger blaublütige Inzucht und absoluter Losgelöstheit von allen modischen Trends der letzten dreihundert Jahre. Wozu auch, wenn die Klunker von Urururururururururgroßvati noch so gut wie neu waren? Die Morgensonne heizte die Luft schon ganz schön an, dennoch war noch ein Rest nächtlicher Frische im Boden. Gus raste mit geröteten Wangen hin und her, trat den Ball und fragte ständig: „So, Papa? So gut? Oder soll ich das anders machen? Sag schon!“ „Ganz prima, Gus. Wir können noch üben, ganz weit zu schießen, okay?“ Es kam nicht bloß auf die Kraft an, sondern auch auf die richtige Beschleunigung, den richtigen Punkt, den aus einem bestimmten Winkel in einer bestimmten Geschwindigkeit heran rollenden Ball aus dem Lauf heraus mit Wucht in die richtige Richtung zu befördern, ihm den richtigen Flugwinkel zu verpassen, die richtige Distanz… Er schoss die Bälle an, Gus rannte los und versuchte sein Glück. Die Koordination sah gut aus, ihm fehlte es aber noch ein wenig an Kraft, aber das würde noch kommen. Aber immerhin erreichte er fast die Außenwand des Hauses. „Jetzt du, Papa!“ forderte Gus. „Äh… wenn du willst!“ Brian zögerte kurz. Es war so ewig her… Ob er das noch konnte? Da galt es wohl, es zu versuchen. Gus spielte eine gute Vorlage, er gab sich allergrößte Mühe. Brian konzentrierte sich auf den Ball, sein Hirn schien wie von selbst Berechnungen anzustellen… erwische ihn… mit Schwung, alle Kraft hinein… und dann… weit… weit… Er spurtete los, traf und verpasste der Lederkugel einen Tritt, wie sie ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Nimm das, du faules Flittchen… Gus starrte mit offenem Munde. „Boah… Papa…“ Boah…? Wo hatte er denn das… Es tat einen infernalischen Schlag, dann ein vielstimmiges Klirren, das in ein leises Prasseln auslief. Immer wenn Brian kurz Hoffnung schöpfte, es würde aufhören, krachte ein weiteres Teil des großen Wohnzimmerfensters wie ein Eiszapfen bei Erdbeben herab. Jetzt wusste er es immerhin. Den Ball erwischen und mit Volldampf zu beschleunigen: ja. Gut zielen: nein. Justin kam mit Lilly im Arm von der rückwärtigen Terrasse angerannt, er war ziemlich bleich um die Nase. „Himmel, was ist denn hier passiert?! Alles okay?!“ „Ja… Uns geht es super. Dem Fenster nicht so…“ Justin drehte sich um, ihm klappte der Kinnladen hinunter, und er glotze ähnlich blöde, wie Gus es bereits tat. „Gus… Warst du das…?“ wollte er fassungslos wissen. „Nein! Papa!“ petzte Gus ungehemmt. Oder er war ehrlich. Wie man’s nahm. Brian sah da gewisse Loyalitätskonflikte in seinen Untertanen keimen. „Ach du sch… Jetzt begreife ich, warum deine Tritte in den A…. Allerwertesten bei deinen Angestellten so gefürchtet sind….“, murmelte Justin. „Von nichts kommt nichts… Ich rufe dann Mal den Glaser an“, meinte Brian. Justin bekam sich langsam wieder ein. „Nein! Das ist kein Job für einen König… Ich kümmer mich um die rauchenden Ruinen, die deine junge Herrschaft bereits überschatten…“ „Wird der Pöbel etwa wankelmütig?“ „Gewiss nicht… Wir glauben immer noch an den unabdingbaren Wert von „blindem Gehorsam“… Aber Euer Hochwohlgeboren könnte solange ein Auge auf Prinzessin Marie Antoinette II. und Prinz Gus den Fußballwahnsinnigen haben?“ „Nun, ich glaube, danach steht mir sowieso gerade der Sinn“, meinte Brian und ließ sich Lilly in den Arm drücken. „Komm Gus.“ Gus dackelte mit immer noch offenem Mund hinter ihm her. „Mann, Papa…!“ sagte er bewundernd. Brian spürte auch einen gewissen Stolz. Das Fenster war ziemlich stabil gewesen, schon allein wegen der harten Winter gut isoliert. Sicher, er musste einen perfekten Punkt erwischt haben, aber… wie hatte Gus gesagt? – boah! Hoffentlich hatte das Wohnzimmerinterieur das überlebt. Selbst wenn nicht… das war es wert gewesen. Vor seinem inneren Auge erschien Joan, und was die ihm erzählt hätte, wenn er an einem seiner Krampf-Kindergeburtstage einen Fußball ins Vorstadt-Wohnzimmer geballert hätte, möglichst noch mit punktgenauer Landung in der Galerie mit Fotografien gefälschten Familienglückes mit Volltreffer auf die Familienbibel… Aber statt einer Vororts-Bibelschwester irisch-katholischer Desaster-Herkunft hatte er Justin geheiratet, der im Angesicht von Anarchie und Chaos nicht postwendend zusammen klappte oder ihn dämlich ankeifte. Genau genommen war Justin in dieser Disziplin selber auch durchaus nicht ganz ohne Schuld. „Aber Gus…“ „Ja, Papa?“ „Das war keine Absicht, okay? Das… Nicht nachmachen, okay?“ „Okay…“, er klang irgendwie nicht wirklich überzeugend. Schön, wenn man ein Quell der Inspiration für sein Kind war… „Was soll ich jetzt machen?“ fragte Gus, sich wieder auf seine Aufgaben als treuer Untertan entsinnend. „Wir füttern jetzt Lilly, schmeißen uns in unsere Ausgeh-Klamotten, und dann gehen wir shoppen.“ Gus schaute langhalsig, würgte mit allergrößter Anstrengung den Protest hinunter. „Was… was brauchen wir denn…?“ fragte er dann mit einem Unterton resignativer Duldsamkeit. „Wir – nichts. Du schon.“ „Ich brauche nichts!“ Woher kam diese verfluchte Bescheidenheit? Kam da etwa Joan durch? „Oh doch! Du wirst übermorgen eingeschult. Du brauchst einen Ranzen, eine Federtasche, Stifte…“ Schuluniform und –bücher hatten sie bereits, dafür hatte Brian gesorgt. Den Rest hatte eigentlich Justin erledigen sollen, doch der war ja mit den Überresten Brians letzter Amtshandlung beschäftigt. Eine gute Gelegenheit, den Kram selber aussuchen zu können. Er machte die Kinder und sich startklar, sah kurz nach Justin, der sein Bestes tat, das verwüstete Wohnzimmer wieder in den Griff zu bekommen und ihn gnadenlos aus jeder Verantwortung für das Chaos zu scheuchen. „Um die innenpolitischen Probleme kümmere ich mich, während du auf Staatsbesuch im Ausland bist…“ Jaja, das sagten sie alle – und dann putschen sie. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Zwei Stunden später war Gus standesgemäß gerüstet, nichts nach außen hin übertrieben Protziges, aber teure Qualitätsarbeit. Gus hatte rumgeheult, dass er den billigen Kunststoff-Tornister mit Spongebob-Motiven haben wolle, aber Brian war hart geblieben. Noch mehr Spongebob und Gus würde demnächst selbst ganz schwammig werden. Außerdem war das Ding garantiert von blinden Kindersklaven in der Dritten Welt mit den Füßen zusammen getackert und anschließend gegen die Vielfalt der lokalen Parasitenfauna vorsorglich mit allen verbotenen Pestiziden dieser Welt getränkt worden. Ein handvernähter Lederranzen aus Kanada war da deutlich zu bevorzugen, auch wenn Gus ihn scheiße fand. Konnte nicht immer alles nach seiner Pfeife gehen – besonders nicht an dem Tag, an dem alles nach Brians Pfeife gehen sollte. Das sah Gus dann doch widerwillig ein. Beim Spongebob-Übungsfüller ließ Brian sich dann doch weich kochen, so dass der verbockte Gesichtsausdruck vom Antlitz seines Sohnes verschwand. Sie warteten Lilly, dann fragte Gus: „Was willst du jetzt machen?“ Es war mittlerweile gen Mittag, brütende Hitze lag über der Stadt. Brian musterte seinen Sohn. „Also ich weiß nicht… Ich habe ein wenig Hunger… Aber es ist so heiß, was kann man denn da essen…?“ Gus sah ihn ernsthaft an. „Eis vielleicht?“ schlug er hilfsbereit vor. „Eis… Gute Idee! Wir könnten ein Eis essen gehen…“ „Wenn du das möchtest, Papa… Du bist auch nicht zu dick!“ „Ich weiß, Gus…“ Brian steuerte den Markt von Green Tree an. Sie erledigten ihre normalen Besorgungen hier, und Justin hatte schon so manches Loblied auf das „original italienische Eis“ der lokalen Eisdiele gesungen. Was sollte daran so original italienisch sein… das Marshmallow-Eis garantiert nicht. Mit einer gewissen Arroganz musterte er eine Gucci tragende Mutter am Nebentisch, deren Sohn, der auch in Gus‘ Alter war, sich beim Eisverzehr von oben bis unten einsaute und zum krönenden Abschluss den Becher über ihren edlen Fummel umstieß. Heulen, wildes Putzen und unterdrückte Flüche waren die Folge. Da war Gus doch deutlich geschickter oder besser erzogen oder klüger oder… Na ja, besser. Lilly lag auf seinem Schoß und döste. Sie hob sich ihre Energien wahrscheinlich für die Nacht auf. Brian ließ sich seine zwei Kugeln ohne Sahne auf der Zunge zergehen. Mehr aß er nur, wenn Justin ihn unter Einsatz nackter Haut dazu nötigte. Oder Gus durch einen Dackelblick. Der war tödlich. Hatte Gus den von ihm? Na, dann kein Wunder… Er ließ den Blick schweifen. Sein Blick blieb hängen. Was war…? Stockwells wohlbekannte Fresse grinste ihn von einem schlecht gemachten Plakat an. Townhall Meeting, stand da. Der ehemalige Bürgermeisterkandidat und vormalige Polizei-Präsident Jim Stockwell freut sich mit den Bürgern unserer Gemeinde ins Gespräch zu kommen. Konnte diese Arschgeige es einfach nicht lassen. Bürger unserer Gemeinde… Tja, Jimmyboy würde überrascht sein. Kapitel 18: König für einen Tag, Teil 2 --------------------------------------- XVIII. König für einen Tag, Teil 2 Während Gus noch akribisch seinen Eislöffel abschleckte, klingelte das Telefon. Klar…. Wer auch immer es daheim probiert haben mochte oder bei Kinnetic hatte Brian nicht erreichen können. Er schaute aufs Display. Auch das war klar gewesen. „Hallo Mikey“, meldete Brian sich, während er sich den Rest der zartbitter-Orange Eiscreme von der Lippe leckte. „Brian! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag von mir und Ben und James und Jenny! Sechsunddreißig, lieber Himmel!“ „Äh, ja danke, dass du mir die Zahl noch mal so deutlich unter die Nase gerieben hast. Ich hatte sie gerade erfolgreich verdrängt.“ „Ach was, es ist doch toll älter zu werden! Reifer, weiser….“ Das meinte Michael wahrscheinlich ernst, war zu befürchten. „Ich habe heute Vormittag das Wohnzimmerfenster mit einem Fußball zerdeppert. Kann ich jetzt zwanzig Jahre abziehen?“ „Eher dreißig… du hast was?“ „Muss ich das jetzt ernsthaft wiederholen?“ „Schon gut! Du bist nicht in der Firma – feierst du schön?“ Ja, ich bin König von Beknackten-Land, und das offensichtlich völlig verdient. „Ja, ich bin mit Gus und Lilly ein Eis essen.“ „Ach… Lilly ist so süß! Gus natürlich auch. Aber Jenny ist meine Tochter und sie… ach ja…“ Brian biss sich auf die Zunge. Jenny mochte Michaels Knopfaugen abbekommen haben. Aber er hoffte, dass sie in geistiger Hinsicht eher nach ihrer Mutter schlug. In Hinblick auf Taktgefühl würde in jedem Falle nicht viel zu holen sein. „Äh, ja…“ „Und, feierst du?“ „Was denn?“ „Deinen Geburtstag? Lilly?“ Beides lag nicht in Brians Sinn. Seinen eigenen Geburtstag feierte er bereits. Und in Hinblick auf Lillys sich langsam abzeichnende Ähnlichkeit mit Justin und ihm wollte er die Beäug-Frequenz möglichst gering halten, solang es irgend ging. Was sollten sie sagen, wenn es offensichtlich würde? Kein Schwein würde ihnen noch glauben, dass sie das Ergebnis einer völlig fremden Liaison adoptiert hatten. Lillys Augen waren bereits dabei, sich zu verdunkeln. Erste braune und grüne Sprenkel zeigten sich im Blau. Sein Anteil, sein von Daphne sorgfältig isoliertes Erbe. Was hatte sie noch von ihm…? Ansonsten schien sie im Augenblick äußerlich ja eher nach Justin zu schlagen, so hellhäutig und blond, wie sie war. Aber wer weiß, was da noch kam. „Ich bin nicht so in Feierlaune“, sagte er schließlich. Er hörte Michael am anderen Ende des Telefons schwer durchatmen. Tut mir leid… aber es geht nicht anders. „Mann… Es ist doch nur eine Zahl…“ Stimmt Mikey. Aber das ist hier gar nicht das Problem. Aber ich hab’s dir gesagt… ich kann es nicht… „Stimmt schon… Auf jeden Fall danke und Gruß an… die Familie. Geht es euch gut?“ „Ja, alles bestens. James wurde fürs Mathematik-Studium angenommen, Ben bereitet eine Vorlesung fürs nächste Semester vor – homosexuelle Stereotypen in der Trivialliteratur – und Jenny redet wie ein Wasserfall und…“ Da war sie nicht allein. Brian ließ Michael weiter erzählen. Das war nicht seine Welt. Diese Selbst-Ghettoisierung, die die betrieben, während sie verzweifelt versuchten, althergebrachte Familienmodelle zu kopieren. Das Ding war ja gar nicht, dass sie geheiratet hatten, dass sie Kinder hatten. Oberflächlich gesehen hatte er genau dasselbe getan. Sondern wie sie es taten. Er hatte sich daran gestört, dass Michael sein Lebensmodell nicht verstand, nicht wertschätzte. Aber war es anders herum nicht genau so? Aber da war noch was… zwischen Mikey und ihm. Aber das Wesentliche war hier, ohne Mikey, das waren nur Justin und Gus und er. Sogar seine durchgedrehte Mutter war mehr Teil davon als Mikey. Weil sie seine Mutter war? Vielleicht. Weil sie eher sterben würde, als ein falsches Wort der falschen Person gegenüber zu verlieren? Wahrscheinlich. Weil ihr Blut auch durch Gus‘ und Lillys Ader floss? Er wusste es nicht. Welche Rolle spielte biologische Verwandtschaft? Das war ihm nie ein Kriterium gewesen. Dennoch war da… etwas. Letztendlich waren sie alle wahrscheinlich darauf gepolt, die eigenen Gene weiter zu geben? Nach Michael ereilte ihn noch Debbies und Emmets Anruf, Jennifer und Molly meldeten sich, auch Joan sandte ihm unterkühlte Glückwünsche und nötigte John und Jack, es ihr gleich zu tun. Gus begann unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Brian zahlte und stand auf. Kurz spielte mit dem Gedanken, Justin auch ein Eis mitzubringen, doch das würde zu Brei zerschmolzen sein, bis sie zu Hause angekommen sein würden, obwohl es ja nicht weit war. Justin würde es überleben, wenn auch wahrscheinlich nur knapp. Er legte Lilly zurück in ihr Tragekörbchen und warf sich die Tasche mit den gesammelten Mit-Kindern-unterwegs-Sachen über die Schulter. Gus spielte versunken mit dem Papierschirmchen, das sein Eis verziert hatte. „Ach… junge Eltern… wie wundervoll“, kam eine Stimme von der Seite. „Äh… ja…“, erwiderte Brian reflexartig. Wer um Himmels Willen hielt ihn den hier gerade für ein Vorzeigeexemplar kinderreichen Familienglücks? Man hatte ihn ja schon für einiges gehalten, aber das… Er drehte sich um. Kurz war er verwirrt, weil an der Stelle, von der die Stimme gekommen war, niemand zu sehen war. Dann schaute er nach unten. Vor ihm stand eine winzige alte Frau, sie mochte nicht mal einen Meter fünfzig messen. Sie war dezent, aber teuer gekleidet, eine dicke Brille ruhte auf ihrer zierlichen Nase, dass sie ein wenig wie eine Eule aussah. Ihr graues Haar war zu einem gepflegten Dutt zusammen gebunden. Mit dem Kopf im Nacken lächelte sie zu ihm hoch. „Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Veronica Carlson, Green Tree-Urgestein sozusagen.“ „Freut mich… Brian Taylor-Kinney, das ist mein Sohn Gus und das hier meine Tochter Lilly“, wahrte Brian die Form. Gus gab auf einen scharfen Blick von Brian hin artig die Hand. Was wollte die von ihnen…? Mrs. Carlson schüttelte Gus‘ wahrscheinlich recht klebrige Pfote. „Schön dich kennenzulernen, Gus“, sagte sie ernsthaft. „Ich habe Sie hier schon ein paar Mal gesehen – Sie sind in das alte Lambreaux-Anwesen gezogen?“ „Ich kenne die Namen der Vorbesitzer nicht…“ „Da haben Sie nichts verpasst. Eine uralte Familie französischer Herkunft, die sich mit Vorliebe auf ihre angeblich adligen Vorfahren berief. Als der alte Lambreaux mit fast hundert im vorletzten Frühling dann doch diese Erde verlassen hat, konnten die Erben es gar nicht erwarten, die Immobilie unter den Hammer zu bringen. Das Grundstück ist wundervoll mit den alten Bäumen, dem Obsthain, dem Teich, aber es war ganz schön runter gewirtschaftet. Schön, dass da wieder Leben eingezogen ist, sonst stände zu befürchten, dass Green Tree bald nur noch von Fossilien wie mir bewohnt wird. Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl?“ Brian setzte ein charmantes Lächeln auf, obwohl er innerlich ziemlich ratlos war. Was wollte die von ihm…? Einfach nur ausquetschen und voll labern? „Ja… Meiner Familie und mir gefällt es sehr gut hier“, antwortete er vorsichtig. „Das ist schön zu hören! Aber bevor Sie denken, ich sei nur ein altes tratschsüchtiges Weib: Ich bin die Vorsteherin der Town Hall-Versammlung des Viertels, die Bürgermeisterin sozusagen, in diesem Sinne möchte ich Sie herzlich begrüßen. Wenn es Streitigkeiten unter Nachbarn gibt, oder Sie sich wegen lokaler Bauvorschriften im Unklaren sind – oder Sie mehr über die Geschichte und Tradition unseres Ortes erfahren wollen – wenden Sie sich gerne an mich.“ „Danke, das werde ich machen. Ich habe gesehen, der ehemalige Polizeipräsident Stockwell wird nächste Woche in der Town Hall sprechen?“ fragte Brian. „Ja, jedes Mitglied dieser Gemeinde hat das Recht, dort zu sprechen. Das Interesse an solchen Auftritten ist durchaus gewachsen, seitdem ich klar gemacht habe, dass ich nicht mehr ewig das Mädchen für alles von Green Tree sein werde.“ Jetzt war Brian ernsthaft neugierig geworden, obwohl Gus unduldsam an seiner Hand zerrte. „Stockwell will Bürgermeister werden? Schon wieder?“ fragte er. „Naja“, antwortete Mrs. Carlson, „Green Tree ist nicht Pittsburgh, obwohl wir stolz auf unsere Unabhängigkeit sind. Und Mr. Stockwell hat ja politische Erfahrung zu bieten, auch wenn die Bedingungen seiner Wahlniederlage und seines Rücktritts als Polizeipräsident mehr als fragwürdig waren.“ So konnte man es formulieren… Der Kerl hatte aus falsch verstandener Loyalität den Mord an einem verwahrlosten Jungen unterschlagen, als habe dessen Leben gar nichts gezählt. Man hatte es Stockwell zwar nie nachweisen können, dazu hatte der Vertuschungsapparat zu gut funktioniert und der Mörder hatte sich via Suizid aus der Affäre gezogen. Dennoch war Stockwells Glaubwürdigkeit arg lädiert gewesen, das hatte gereicht, um ihn daran zu hindern, Pittsburgh in Saubermannhausen zu verwandeln. „Ja, in der Tat“, bestätigte Brian. „Da kamen doch berechtigte Zweifel auf, dank der Initiative „Besorgte Bürger für die Wahrheit“.“ Eine Rufmordkampagne edelsten Zuschliffs, auch wenn sie die Wahrheit gesagt hatte. Und ihn in den Ruin getrieben… und einen Neustart ermöglicht. „Da muss jemand ganz gründlich etwas gegen John Stockwell gehabt haben. Wie auch immer, es steht ihm wie jedem anderen zu, sich um meinen Posten zu bewerben, vor dem Gesetz ist er ohne Schuld, vielleicht wurde ihm nur übel mitgespielt. Wenn Sie die Sache interessiert, kommen Sie doch zur nächsten Versammlung. Und bringen Sie ihre Frau mit, wir würden uns freuen, Sie in unserer Mitte begrüßen zu dürfen.“ Brian räusperte sich und sah die vierzig Zentimeter hinab in ihre Augen. „Ich bin interessiert, dennoch dürfte das schwierig werden, meine „Frau“ ist nämlich ein Mann.“ Sie zuckte mit keiner Wimper. „Oder so“, sagte sie. „Dann bringen Sie ihn eben mit. Dieser blonde junge Mann, mit dem ich Sie und die Kinder hier schon ein paar Mal gesehen habe? Habe mich schon gefragt, wie das zusammen passt.“ „Was uns angeht: bestens. Und was Green Tree angeht?“ „Green Tree heißt Sie herzlich willkommen.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Als sie wieder zuhause ankamen, waren die Glaser gerade dabei, ein neues Fenster einzusetzen, Justin hatte ganze Arbeit geleistet. Nun ja, war ja auch sein Job als folgsamer Untertan. Sie fanden den Geplagten auf der Terrasse am Pool, wo er seinen von Brian geforderten Lilly-Zeichnungen gerade eine Fixierung verpasste. Als sie nahten, stand Justin auf und schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. Er schien sogar noch mehr zu leuchten als sonst, da die hoch stehende Sonne auf sein natürlich aufgehelltes Haar und die neu erworbene leicht goldene Bräune schien. Ein leichter Wind war aufgekommen, der die Blätter der Bäume rascheln ließ und leichte Kühlung versprach. „Willkommen daheim, Majestät!“ sagte Justin, reckte sich nach oben und gab Brian einen Kuss, den kurzen Moment der Ablenkung nutzend, um dem heimkehrenden Monarchen wieder das Zeichen seiner Herrschaftsmacht auf den Kopf zu drücken. Brian wollte kurz protestieren, dann erwischte ihn Gus selbstzufriedener Blick und er verkniff es sich. Wenn es Gus glücklich machte, dann lief er eben als Trottel herum, was sollte es. Und Justin schien es auch zu beglücken, wenn auch auf eine etwas andere Art… „Hier“, sagte Brian und drückte Justin die inzwischen in den höchsten Tönen heulende Lilly in den Arm, „einmal füttern und sauber machen.“ „Kommt sofort…“ Brian ließ sich auf seinen Liegestuhl sinken und schloss kurz die Augen. „Und ich?“ wollte Gus wissen. „Du kannst mir meine Sonnenbrille, das Sonnenöl und meine Badehose holen, wenn du die Sachen nicht findest, frag Justin.“ „Ja, Papa!“ Weg war er. So sollten Kinder sein… Gemütlich hier im Liegestuhl… Aber das ließ sich durchaus noch weiter optimieren. Gus kam mit den bestellten Sachen wieder angetrabt, Justin hatte ihn bei der Gelegenheit offensichtlich bereits eingekremt und in seine eigene Badehose gesteckt. Es ging doch nichts über vorauseilenden Gehorsam. Er zog sich um und ließ sich von Gus den Rücken einschmieren. „Und jetzt?“ „Jetzt holst du deine Legosteine und baust mir ein Schloss, wie es sich gehört.“ „Alles klar, Papa!“ Das würde eine Weile dauern. Brian lehnte sich wieder zurück, streckte sich ein wenig und sah sich Justins Zeichnungen an. Wenn alle Stricke rissen, konnte Justin ihnen ihre Brötchen immer noch als Touristen-Porträt-Maler verdienen. Technisch waren sie perfekt, doch Justin hatte sich den Spaß gemacht, das Motiv breit zu variieren. Es gab eine Rötelzeichnung, die aussah wie die Studie eines niederländischen Renaissancemalers für das Christuskind, bis darauf, dass Lillys Deckchen den überbetonten Schriftzug „Prada“ trug. Lilly in achtfacher Version, knallfarbig ausgemalt wie Warhols Bohnenbüchsen. Und am Schluss eine mit hartem Strich gezeichnete Ansicht eines über Aztekentempeln fliegenden Rage mit einer Comic-Lilly im Arm. So hatte er sich in Mexiko zwar ganz und gar nicht gefühlt, aber dennoch fühlte er sich geschmeichelt und musste lachen. Justin kam, gleichfalls in Gartenmontur, mit der jetzt versöhnten Lilly zurück, die er unter das Netz im Schatten des Schirms beförderte. Brian lugte ihn über den Rand der Brille hinweg an. Justin setzte sich in den Holzstuhl neben ihm. Brian wartete, bis er seine Beine ausgestreckt hatte. Dann sagte er breit grinsend: „Also irgendwie ist mir nach einer Erfrischung…“ Folgsam rappelte sich Justin wieder auf: „Was willst du?“ „Mmm… Ein Mineralwasser…“ „Okay.“ „… mit einer frisch ausgepressten Zitrone darin und einem Minzblatt.“ „Äh… Aber wir haben weder Zitronen noch Minze im Haus – tut‘s nicht auch eine Orange und ein Bündel Petersilie?“ „Nö.“ „Okay, okay… Ich geh ja schon…“ „Bevor du dich an die Arbeit machst – bring mir doch vorher die Zeitung.“ „Die liegt schon auf dem Tisch.“ „Soll ich etwa aufstehen?“ „Natürlich nicht…“ Justin musste gerannt sein, trotz der Hitze, denn eine halbe Stunde später hatte er sein Wasser und einen etwas rot angelaufenen Ehemann. Gus murmelte, während er versuchte, einen Schlossturm zu konstruieren. Brian nahm einen Schluck. „Schon besser“, meinte er, während sich Justin erneut setzte. Brian räkelte sich, sich Justins höchst interessierten Blicks auf seine Brustmuskulatur durchaus bewusst. „Noch irgendwelche Wünsche, oh mein gnädiger Herr und Meister?“ fragte Justin. „Ja… Ein wenig… Entspannung wäre jetzt gut… Ich glaube seit dem Schuss von vorhin ist mein rechter Fuß ganz verkrampft… und dem linken geht es auch nicht viel besser…“ Ohne die Sache weiter zu kommentieren kniete sich Justin auf den Boden neben der Liege und machte sich ans Werk. Künstlerhände… mmm… Brian nippte an seinem Zitronenwasser und stöberte in der Zeitung, während Justin seine malträtierten Füße knetend und streichelnd bearbeitete, und Gus ihm sein Domizil baute. Er lehnte das gekrönte Haupt zurück. Eine einsame Biene brummte vorbei. Seine Lider sanken herab. Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne schon deutlich tiefer. Justin planschte mit Gus im Pool, der mittlerweile kurze Strecken zu bewältigen in der Lage war. Brian sah ihnen eine Weile zu, während der Dösel in seinem Kopf sich zurück zog. Was hatte er damals im Geschichtsunterricht gelernt? Teile und herrsche hatte Machiavelli den Fürsten seiner Zeit geraten. Er stand auf. „Ich bin noch Mal eine Stunde weg. Solange könnt ihr auf den Tischen tanzen“, verkündete er. Justin kam gerade prustend an die Oberfläche. „Okay… sollen wir irgendetwas machen?“ „Nein, einfach weitermachen, bis gleich – ich nehme Lilly mit.“ „Bis dann… Komm Gus, nochmal.“ „Bis dann, Papa… Weiter! Ich kann das!“ Kapitel 19: könig für einen Tag, Teil 3 --------------------------------------- XIV. König für einen Tag, Teil 3 Gegen fünf Uhr kamen Brian und Lilly mit Tüten beladen zurück. Oder eher Brian mit Lilly und den Tüten beladen. Trotz neugieriger Blicke enthüllte Brian nicht den Inhalt seiner Papiertaschen. Stattdessen baute er sich vor Justin und Gus auf und orderte: „Okay, ein Job für die Hilfstruppen: Besorgt Steine.“ „Steine?“ fragte Gus mit irritiertem Gesichtsausdruck. „Wir sollen dir doch nicht jetzt eine Burg in Originalgröße errichten?“ hakte Justin ähnlich ratlos nach. „Ihr sollt nicht fragen, sondern gehorchen – Himmel, erinnert sich denn in diesem Land niemand mehr an die Grundprinzipien der Alleinherrschaft! Etwa faustgroß sollten sie sein. Unter den Bäumen hinten solltet ihr fündig werden. So einen Haufen ungefähr.“ Er deutete mit der Hand. „Und jetzt: Abmarsch!“ „Ja, Papa!“ „Schon gut – Despot“, setzte Justin leise hinterher. „Selber schuld, ihr habt mich auf den Thron gehoben. Der Tag wird nicht jünger.“ „Steine, na gut… Steine“, sagte Justin kopfschüttelnd und ging mit Gus im Schlepptau los. Brian sah ihnen kurz nach, dann spazierte er in den Vorgarten. Die Büsche hier hatten doch garantiert noch jede Menge trockenes Geäst zu bieten… Er stürzte sich todesverachtend in die Botanik. Eine halbe Stunde später war um einige Kratzer sowie einen Haufen trockenen Holzes reicher. Zeit, die Arbeit des Gefolges in Augenschein zu nehmen. Justin und Gus waren anscheinend schon vor ihm fertig geworden und saßen in trauter Zweisamkeit um Lilly auf dem Gartentisch, sich gegenseitig auf die Schulter klopfend, statt sich artig bei ihm für den nächsten Job zu melden. Aber ein annehmbares Häufchen Steine präsentierte sich am Rand der Terrasse, Brian warf seine Beute daneben. „Na los, keine Müdigkeit vorschürzen! Vorne liegt noch mehr Holz, dem wahrscheinlich nicht von alleine Füße wachsen!“ „Ja, oh König Brian der Schreckliche…“ „Seinen Ruf muss man sich verdienen.“ Nachdem Justin die Arme voller Holz zurück gekehrt war, begann Brian die Steine anzuordnen. Er kniete sich neben die Terrasse ins Gras. „Papa… Was wird das…?“ „Geduld, Gus.“ „Ein Podest, auf das du dich stellen kannst?“ schlug Justin vor. „Geduld, Justin.“ Brian machte weiter, während jeder Handgriff konzentriert verfolgt wurde. „Ach, jetzt hab‘ ich es!“ entfuhr es Justin. „Du baust eine Feuerstätte!“ Bauen war übertrieben, das war schließlich nicht gerade seine größte Gabe. Er ordnete eher an. „Aufgrund dieser wahres Intellekt verratenen Erkenntnis erhebe ich dich zum Bildungsminister, bilde doch mal mit Gus eine Karawane und hol die große Tüte aus der Küche.“ „Danke, oh größter Herrscher unter der Sonne. Aber allmählich mache ich mir Gedanken wegen der Ämterhäufung, die du mir bescherst… sowas führt zu viel Neid… Aber ich werde es in Würde ertragen.“ „Warum bin ich kein Minister?“ wollte Gus wissen. „Weil du der Kronprinz bist. Und der erste Hof-Kissenschlepper. Hol doch mal die Kissen aus dem Wohnzimmer.“ „Alle?“ „Ja.“ „Das sind aber viele.“ „Du weißt doch: Ohne Arbeit kein Erfolg.“ Mit vereinten Kräften gelang es ihnen unter dem kritischen Blick ihres Staatsoberhauptes die kleine Feuerstelle neben der Terrasse zu errichten und das Feuer zum Brennen zu bringen. Justin hatte zur Sicherheit noch einen Eimer Wasser angeschleppt. Falls einer von ihnen in Flammen aufgehen sollte, könnte auch ein Sprung in den Pool hilfreich sein. Der Tag neigte sich dem Ende zu. „Und was jetzt?“ wollte ausnahmsweise Mal Justin wissen. Brian schaute ihn nicht an, sondern wühlte in seiner Tüte. „Jetzt rösten wir Marshmallows, bis uns speiübel wird“, antwortete der kurz angebunden als ginge es darum, das Fernsehprogramm zu bestimmen. Justin schaute ihn stumm an. „Hast du das früher an deinen Geburtstagen immer gemacht?“ fragte er schließlich sanft. Brian nahm Lilly auf den Arm und setzte sich in sicherem Abstand auf eines der Kissen am Feuer. „Nein“, antwortete er nur. „Aber ich habe jedes Mal gefragt. Und ich dachte für Gus…“ Justin kniete sich hinter ihn und schlang seine Arme um ihn. Die Dämmerung neigte sich, Lillys Gesicht wurde vom Licht der Flammen erhellt. Sie war ausgeschlafen und satt. Ihre Augen geisterten durch die Gegend, sie schien inzwischen viel besser sehen zu können. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Brian und Justin sahen zu ihr hinab, sie schaute hinauf. Irgendetwas in ihrem Gesicht zuckte auf eine Art und Weise, die sie zuvor noch nie gesehen hatten. Die lang bewimperten Lieder schlugen ein paar Mal, als denke sie über irgendetwas nach. „Was… was tut sie…?“ fragte Justin flüsternd. Brian starrte sprachlos in das winzige Gesicht. „Sie lächelt… oh mein Gott… sie lächelt…“ „Oh…“ Mehr brachte Justin auch nicht heraus. Zwar hatte er davon gelesen, dass Babys ab der sechsten Lebenswoche mit dem Lächeln als Zeichen des Wohlbefindens beginnen konnten, aber es zu sehen war etwas ganz anderes. Lilly strampelte ein wenig, schaute in alle Richtungen, dann wieder zurück zu ihnen, aber sie hörte nicht auf zu lächeln. Fast als sei sie stolz darauf, das jetzt zu können. Vielleicht fand sie es auch nur witzig, ihre Reaktion auf ihre Großtat zu sehen. Dann gähnte sie herzhaft und kiekste ein paar Mal. „Oh Gott, wir sind erledigt“, schloss Brian. „Was…?“ „Sie hat uns das Hirn weich gekocht, jetzt ist es offiziell…“ „Vielleicht war das Daphnes diabolischer Plan… Weltherrschaft durch Babylächeln…“ „Ich glaube fast, du hast recht.“ „Justin, Papa? Ich bekomme Hunger?“ meldete sich Gus, der Lillys Durchbruch in die Welt der Mimik aufgrund eines Klogangs verpasst hatte. „Ja Gus… Heute gibt’s was ganz Besonderes!“ Gus war hingerissen. Ein Stöckchen mit einem zähen Klumpen über dem offenen Feuer zu rösten, dagegen stank jedes noch so liebevoll und gesund gekochte Menü gehörig ab. Brians geflüsterten Vorschlag, dass man so auch Meerschweinchen in Lehm hervorragend zubereiten könne, bekam er dankenswerter Weise nicht mit. Gegen halb neun verglomm die Glut, sie brachten die Kinder ins Bett. Gus vorletzter Tag, bevor ihn der Ernst des Lebens ereilte. „Welche Reichweite hat eigentlich das Babyfon?“ „Da du dir auch hier kein High Tech verkneifen konntest angeblich drei Kilometer.“ „Das reicht.“ „Wofür?“ fragte Justin erstaunt. „Noch bin ich König, noch zählt mein Wort.“ „Ja…?“ „Los, komm.“ Brian trat erneut in den inzwischen im Schein eines fast vollen Mondes und eines wolkenlosen Himmels liegenden Garten. Schweigend folgte ihm Justin. Sie durchquerten die gesamte Rasenfläche und folgten dann einem kurzen Pfad, den die Gärtner wieder frei gelegt hatten und der in den Obsthain führte. Er endete an einer kleinen freien Fläche am Rande des zentralen Teiches. Frösche quakten verhalten. Justin konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Er konnte es sich nicht verkneifen. „Wie romantisch…“ Binnen Sekunden landete er bäuchlings auf einem abgesägten Baumstamm. Bevor er sich recht besinnen konnte, hatte Brian ihm schon die Hose über den Hintern gezogen. Warme Finger schlossen sich um seine Hinterbacken und zogen sie auseinander. „Ach was, reiner Wissensdurst“, erwiderte Brian bestimmt, „ich wollte nur überprüfen, was bei Nacht heller leuchtet: der Mond oder dein Arsch. Dein Arsch gewinnt mit Abstand – und runder ist er auch.“ „Hey! Immerhin musst du dich auch nicht erst bei der NASA bewerben, um deinen Fahnenmast rein bohren zu können… Oh…“, Brians vorschnellende Zunge an seiner Öffnung unterbrach Justins Gedankenströme jäh. Brian lachte und setzte seine Tätigkeit fort, bis der keuchende Justin zu strampeln begann, um die ihn fixierende Hose endlich los zu werden. Sie landeten auf dem moosbedeckten Boden, die Kleidungsstücke von sich werfend, küssend, leckend, sich aneinander reibend, bis Brian aus dem Spiel Ernst machte, sich Justins Beine auf die Schultern hob und langsam mit stetigem Druck in ihn sank. Justin passte sich an, gab das Signal und hob sich entgegen. Brians lange zustoßende Härte katapultierte ihn in ein Reich kochender Lust – und Stück für Stück über den Rand ihrer grünen Unterlage. Justins Körper bog sich um mehr bettelnd durch, seine Schenkel hielten Brian inzwischen fest umklammert, um ihn an sich, in sich zu rammen. Der nächste Stoß beförderte ihn weiter in den schlammigen Uferbereich des Tümpels. „Arg… ihhh… oh Gott… mach weiter… oh verdammt…“ Brian zwinkerte kurz. Ihhh…? Was hieß denn hier ihhh…? Justins leicht schleimige Hand, die nach ihm griff, machte es ihm klar. Guter Sex musste schließlich schmutzig sein… Er holte Schwung und warf Justins nach ihm lechzenden Körper endgültig in den nassen Dreck, sich selbst hinter her stürzend. Der Modder unter ihnen schmatzte auf der Haut, schoss mit ihren Bewegungen in die Höhe. Justin spannte sich an und drehte sie. Brian sah den mit Schlamm bespritzen, sich windenden Körper über sich im Mondlicht, fühlte die klebrige Feuchtigkeit unter sich und grub die Fersen in den vom Tag gewärmten Lehmboden. Justin federte mit Gewalt herab, Brians entfesselter Körper krampfte dem entgegen. Sie krallten sich an den Rand der Klippe, bis es kein Halten mehr gab, Brian sich aufschreiend aufbäumte, während Justins Feuchtigkeit auf ihn nieder prasselte. Stöhnend im Nachbeben der Explosion ließ Brian die Hüften zurück gen Boden fallen, Justin rutschte seitlich von ihm, kam mit einem erschrockenen Laut ins Taumeln und verschwand mit einem lauten Platschen im künstlich ausgehobenen Teich. „Justin…?“ „Ja… verflucht…“ „Alles klar?“ „Die gute Nachricht ist wohl: Ich bin den Schlamm los – die schlechte: Jetzt bin ich voller Entengrütze…“ Brian gab ihm die Hand und zog den besudelten Justin wieder an Land. Justin krabbelte zu ihm und ließ sich neben ihn gleiten. „Du dreckiges Stück.“ „Selber.“ „Wo sind eigentlich unsere Klamotten hin?“ „Keine Ahnung, haben wahrscheinlich diese kriminellen Eichhörnchen geklaut. Können wir morgen bei Tageslicht suchen gehen. Oder gegen tausend Haselnüsse zurück eintauschen, je nachdem.“ „Mir gefällt diese Art von Abendspaziergang.“ „Was? Das ist kein Freizeitvergnügen. Ich sehe nur auf meinen Latifundien nach dem Rechten… Hier am Tümpel schien es lediglich einen kleinen Froschaufstand gegeben zu haben, den haben wir gerade formvollendet geplättet… Vielleicht sollten wir noch andernorts kontrollieren, ob da auch Würde und Anstand herrschen…? Du könntest ja in meinem Auftrag in den Stall gehen und dort einen kleinen Ausritt organisieren…?“ „Da musst du schon mitkommen – Reiten ohne Hengst geht schlecht…“ Justin stand auf. Brian verfolgte, wie er nackt und dreckbekleckert lachend den Pfad hinunter entschwand. Brian rappelte sich auf, den trocknenden Schlamm auf den Gliedmaßen, schnappte sich die einzigen jetzt relevanten Objekte, Gleitcremetube und Babyfon, und folgte ihm. Geburtstage waren doch gar nicht so übel, wenn man dabei zum unangefochtenen Herrscher erhoben wurde. Und wenn man wusste, dass es ernsthaft jemanden freute, dass man geboren worden war. Kapitel 20: Schulkind --------------------- XX. Schulkind Gus Herz klopfte schnell in seiner Brust. Ein Teil von ihm wollte auf dem Absatz kehrt machen und zurück zu seinen Vätern rennen, sich hochheben und nach Hause tragen lassen. Ein anderer Teil wollte voran, alles sehen, den Klassenraum, die Lehrerin, die anderen Kinder. Er wand den Kopf. Sein Vater lächelte ihm vom anderen Ende der Halle aufmunternd zu, Justin tat es ihm nach. Oma Nathalie, Opa Russel und Oma Joan waren auch da. Sie hatten sich zusammen die Begrüßungsveranstaltung für die neuen Schüler angesehen, da war geredet worden und Kinder hatten gesungen und Musik gemacht. Papa und Justin würden auch noch da sein, wenn er hier fertig sein würde, das hatten sie versprochen. Aber wäre es nicht besser, ganz sicher zu gehen? Da zu bleiben, damit sie ganz gewiss nicht verschwänden wie Mama und Mama? Dann würden sie enttäuscht sein. Sie wollten ja, dass er zur Schule ging, Sachen lernte wie Lesen und Schreiben und Rechnen. Und er wollte das ja auch alles lernen. Zeichnen und Malen und Dinge Bauen konnte er ja schon ganz gut. Und Fußball spielen. Ob die anderen Kinder auch schon Sachen konnten? Besser als er? Vielleicht… aber ganz bestimmt nicht Fußball spielen. Er drehte sich nach wieder nach vorne. Der komische Ranzen, den Papa gekauft hatte – der aus doofem Leder statt Spongebob –fühlte sich merkwürdig auf seinem Rücken an. Aber es war ein richtiger Schulranzen. Und er war jetzt ein richtiges Schulkind, nicht klein wie Jenny und Lilly. Und er trug eine richtige Schuluniform wie die anderen Kinder hier ja auch. Nein, er durfte nicht heulend weglaufen wie ein Baby. Sie würden später da sein, wie sie versprochen hatten. Ganz sicher. Er musste jetzt zur Schule gehen. Er lief mit den anderen Kindern, die in seine Klasse gehen sollten, hinter der Lehrerin her. Sie hatte rote Haare, die sie mit bunten Zopfgummis und Klammern zusammen gebunden hatte. Und sie hatte Sommersprossen. Das sah lustig aus. Ob sie nett war? Ob sie ihnen heute schon etwas beibrachte? Und was? Ein bisschen Lesen vielleicht? Das könnte er dann nachher Papa und Justin zeigen, das wäre gut. Die Schule war ganz schön groß. Überall waren große Räume, Klassenzimmer, und es war voller Kinder, die meisten waren älter als er. Aber er war ja auch erst in der ersten Klasse. In die 1 c solle er gehen, hatte die Schulleiterin gesagt. „C“ war ein Buchstabe. Es gab noch mehr erste Klassen. Ob die 1 c eine gute Klasse war? Er stolperte beinahe, weil er so in Gedanken war, als der Tross, der hinter der Lehrerin her marschierte, zum Halten kam. Gus stand ziemlich weit hinten, aber das machte nichts, weil er größer als die anderen Kinder war. Er konnte auch von hinten gut sehen. „So, Kinder“, sagte die Lehrerin und lächelte. „Das hier ist euer Klassenraum. Der mit der gelben Blume an der Tür, seht ihr? Da müsst ihr jetzt jeden Morgen hin. Wollen wir hinein gehen?“ Gus schloss sich dem allgemeinen Jaaaaa! an. Die Lehrerin machte die Tür auf und schob sie einen nach dem anderen hinein, damit sie sich in ihrem Eifer nicht gegenseitig über den Haufen rannten. Mit großen Augen schaute sich Gus um. Das waren richtige Schultische und Stühle wie bei Spongebob in der Fahrschule. Vorne war eine Tafel. An den Fenstern hingen Bilder aus Transparentpapier. Justin könnte das viel besser. Wo sollte er hin? Hilfesuchend sah er sich um. Die Lehrerin brachte jeden zu seinem oder ihren Platz. Gus setzte sie in die letzte Reihe. Klar. Er war ja der Größte, sonst könnten die hinter ihm nichts sehen. Als jeder saß, ging sie nach vorne, lächelte und läutete mit einer kleinen Glocke, während sie mit dem Finger auf den Lippen zeigte, dass sie still sein sollten. Gus hielt die Luft an. Einige andere Kinder redeten immer noch. Diese Doofköppe! Sie sollten ruhig sein, sahen die das denn nicht? „Pssst!“ machte Gus bestimmt. Na bitte, ging doch. Der Junge, der als letzter geredet hatte, drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit offenem Mund an. Selber schuld, dachte Gus, du hast geredet, nicht ich. „Guten Morgen Kinder“, sagte die Lehrerin. „Ich bin eure Lehrerin. Ich heiße Mrs. Springrose.“ Einige Kinder lachten vergnügt über den Namen. „Jeden Tag, wenn ich in den Klassenraum komme, sagen wir uns erst einmal guten Morgen. Das wollen wir jetzt einmal üben. Steht bitte alle einmal auf und stellt euch hinter euren Stuhl, so wie ich das euch gerade vor mache. Und dabei sind wir alle ganz leise. So ist es gut.“ Gus stand in Sekundenschnelle. Von hier hinten hatte er einen guten Überblick. Mann, waren die anderen lahm… Sie übten es ein paar Mal. „Guten Morgen, liebe Kinder!“ – „Guten Morgen, Mrs. Springrose!“… Jajaja, er hatte es verstanden, ging es jetzt weiter? Als nächstes war das Melden dran. Alles klar. Bücher auspacken. Federtasche auspacken. Das war leicht. Ging es jetzt los mit dem Lernen? „Prima“, lobte Mrs. Springrose, „jetzt wisst ihr schon einiges von den Dingen, die ihr jeden Tag brauchen werdet. Jetzt wollen wir uns ein wenig kennenlernen. Ihr wisst ja schon meinen Namen, aber ich kenne eure ja gar nicht. Und danach gehen wir durch die Schule, damit ihr lernt, wo ihr was findet, die Sporthalle zum Beispiel.“ Sporthalle, das war gut. Sportunterricht brachte bestimmt Spaß. Er musterte seine Mitschüler neugierig. Wer wollte von ihnen sein Freund sein? Eigentlich hatte er ja bisher ja gar keine Freunde. Manchmal spielte er mit Jack, aber das zählte nicht richtig, weil Jack ja sein Cousin war. Der musste ja sein Freund sein. „Ich heiße Adelaide Springrose. Meine Mama und mein Papa sind auch Lehrer, genau wie ich. Ich mag gerne lesen, tanzen und kochen. Und du?“ Das kleine Mädchen in der ersten Reihe begriff sofort. Sie war die kleinste der Klasse, trug eine riesige Brille und hatte zwei etwas schief sitzende Pferdeschwänze. „Ich heiße Georgia Carlson. Meine Mama ist Biologin und mein Papa ist Zahnarzt. Ich mag gerne Spongebob im Fernsehen sehen, schwimmen und mit meinem Hund Carl spielen, der heißt wie mein Opa.“ „Ich heiße Felix Yates. Meine Mama hat einen Laden für Unterwäsche, mein Papa ist Pilot und meine Stiefmamas sind Stewardessen. Ich mag gerne essen, schlafen und Fernsehen“, sagte ein pummeliger Junge mit leichtem Silberblick. Gus war kurz dankbar, dass ihm Papa und Justin die Nougatcreme rationiert hatten. „Ich heiße Emilie Stern. Meine Mama ist Ärztin und mein Papa hat sich scheiden lassen. Ich glaube er ist Versager von Beruf? Ich mag gerne meine Bilderbücher, im Garten im Sandkasten spielen und Blockflöte spielen.“ Ein dürres Mädchen mit langem strähnigen Haar in einem dunklen Blond und einer spitzen Nase. „Ich heiße Jim II. Stockwell Junior. Meine Mama ist Mama und mein Papa ist Polizist oder Politiker oder so. Ich mag gerne Fußball spielen, mit Papa angeln gehen und mit meinen Geschwistern spielen“, sagte der Junge, der vorhin geredet hatte. Fußball? Super, dachte Gus. Der war gut. Aber Georgia mochte Spongebob, das war auch gut. Das würde er klären müssen. Er war dran. Er fühlte ein leichtes Lampenfieber. „Ich heiße Gus Taylor-Kinney. Mein einer Papa ist Werbekaufmann und der Chef. Mein anderer Papa ist Künstler. Ich mag auch gerne Fußball spielen, Spongebob und meine Meerschweinchen, Ted und Emmet.“ „Du hast zwei Papas?“ quatschte Jim dazwischen. „Du musst dich melden“, erwiderte Gus. Jim meldete sich wie wild. „So ist es gut, Jim“, lobte Mrs. Springrose. „Wenn ihr eine Frage habt, dann immer schön melden. Ja, Jim?“ „Warum hat Gus zwei Papas?“ „Magst du darauf antworten, Gus?“ „Ich weiß nicht… Felix hat ja auch mehrere Mamas?“ Das leuchtete allen ein. „Was ist denn mit deiner Mama?“ „Ich hatte zwei Mamas. Aber sie sind tot...“ „Oh! Das ist ja doof!“ meinte Jim. „Dann ist es ja gut, dass du trotzdem noch zwei Papas übrig hast.“ „Ja, stimmt“, befand Gus. Die Vorstellungsrunde wurde beendet. Es waren außer Gus noch neunzehn andere Kinder in der Klasse, elf Mädchen, der Rest Jungen. Mrs. Springrose ordnete sie an, dass sie immer zu zweit Hand in Hand in einer Schlange hinter ihr her marschieren konnten, während sie ihnen die Schule zeigte. Gus schob sich neben Jim. „Du magst auch Fußball?“ „Ja. Du auch?“ „Ja. Total. Ich spiele sogar im Verein, und mein Papa übt immer ganz viel mit mir. Er war früher auch ganz toll im Fußball“, erzählte Gus stolz. „Toll“, meinte Jim. „Mein Papa übt auch mit mir oder mein großer Bruder.“ „Wie heißt dein Bruder?“ „Auch Jim. Und mein Vater auch.“ „Das ist komisch.“ „Finde ich auch. Aber mein Opa hieß auch Jim. Irgendwie heißen bei uns alle immer Jim. Deswegen nennen mich auch alle Jimmy, damit man uns auseinander halten kann. Du darfst mich auch Jimmy nennen.“ „Okay.“ „Wir könnten ja Freunde sein, oder?“ „Ja, das ist gut“, meinte Gus und nahm Jimmys Hand, um der Kolonne hinter Mrs. Springrose her zu folgen. Die Zeit verging wie im Fluge, Gus Kopf schwirrte. Die Cafeteria, die Musikzimmer, die Kunstzimmer, die Pausenhalle, der Pausenhof, die Sporthalle, der Sportplatz… Mann, war das viel… bloß nicht verirren… Aber er konnte ja auch andere Kinder fragen, wenn er den Weg nicht wusste? Jimmy an seiner Hand schien es nicht besser zu gehen. Zurück im Klassenzimmer verteilte Mrs. Springrose einen Haufen Zettel, die sie ihren Eltern geben sollten. Da war auch der Stundenplan dabei. Sie hatten Englisch, Mathe, Sachkunde (was war das denn? Papa fragen…), Kunst, Musik und Sport, erklärte die Lehrerin. Ganz schön viel. Aber er musste ja auch ganz viel lernen. Am Schluss half Ihnen Mrs. Springrose in ihre Tornister. Georgia hat den Spongebob-Ranzen… Aber dafür hatte er den Füller. „Gehst du jetzt zu deinem Papa und deiner Mama?“ fragte Gus Jimmy, während sie wieder zurück in die Eingangshalle geführt wurden. „Mein Papa musste arbeiten und meine Mama ist im Krankenhaus, weil sie auf Jims Rollschuhen ausgerutscht ist und sich ein Bein gebrochen hat. Ich bin mit meiner Oma hier.“ „Ach so. Meine Omas waren auch hier, aber nicht alle.“ „Wie viele Omas hast du denn?“ „Oma Nathalie, Oma Joan und Oma Jennifer.“ „Und Opas?“ „Opa Russel und Opa Craig.“ „Dann bekommst du bestimmt immer ganz viele Geschenke zum Geburtstag?“ „Ja… Aber auch, weil Papa so gerne einkaufen geht. Er kauft immer viel zu viel.“ „Mein Papa mag kein Einkaufen.“ „Dafür mag mein Papa – der eine – immer nichts essen, weil er nicht dick werden will.“ „Das ist bei meiner Mama auch so. Und dann nimmt sie mir die Schokolade weg, damit ich auch nicht dick werde.“ „Ja. Das macht mein einer Papa auch immer.“ „Und der andere?“ „Der isst die Schokolade dann auf.“ „Das ist ja gemein! Ist er dann dick?“ „Nein.“ „Dann stimmt das ja gar nicht, dass man von Schokolade dick wird!“ „Papa sagt immer, dass Justin – das ist mein anderer Papa – ein Fass ohne Boden ist, das auch von einem Tanklastzug Walfischspeck nicht zunimmt.“ „Ihhh… echt?“ „Weiß ich nicht. Bisher hat Justin noch nie Walfischspeck gegessen, glaube ich. Aber irgendwie wird er nicht dicker.“ „Das ist ja ungerecht.“ „Ja, das findet Papa auch.“ In der Eingangshalle herrschte dichtes Gewusel, überall waren Kinder, ihre Eltern, Großeltern, Geschwister und weitere Anverwandte sowie eine Reihe Lehrer. Gus erspähte die hochgewachsene Gestalt seines Vaters in der Menge und winkte ihm zu. Brian entdeckte ihn und winkte zurück, während er versuchte, sich durch die Menschenmasse zu schieben. „Da ist mein Papa. Ich muss los. Bis Morgen!“ rief Gus und sauste davon. Er streckte die Arme aus und wurde wie erwartet aufgefangen und hoch gehoben. Sein erster Schultag… Das hatte er ganz allein geschafft! Und Papa war da, wie versprochen, und Justin, der sich gerade zwischen zwei bärtigen Großvätern durch schlängelte. „Na, mein Großer. Wie war’s?“ „Toll! Lass mich wieder runter, ich kann alleine gehen, ich gehe ja jetzt zur Schule!“ „Sicher.“ Er wurde wieder abgestellt. Papa konnte ja Lilly tragen, wenn er wollte. Aber die war ja gerade bei Oma Jennifer und Molly. „Hallo Justin!“ „Hallo Gus. Alles klar?“ Gus ließ sich von ihm drücken. Justin roch immer so lecker. Lag wahrscheinlich daran, dass er so viele Süßigkeiten aß, folgerte er. Sie verließen das Schulgebäude, Justin machte noch ein weiteres Foto von ihm und Papa vor dem Eingang. Gus krabbelte auf die Rückbank von Papas grünem Auto, das immer ein wenig böse aussah, wie er fand, und schnallte sich an. Das konnte er allein. Papa setzte sich hinters Steuer, Justin saß auf dem Beifahrersitz und wandte sich lächelnd zu ihm um. „Na, sag schon Gus, was hast du denn alles erlebt?“ fragte er. „Ganz viel! Aber mit dem richtigen Lernen fangen wir erst morgen an. Ich bin in der 1c! Ich sitze ganz hinten, weil ich so groß bin! Es gibt eine Cafeteria und eine Sporthalle! Carla hat den Spongebob-Ranzen! Ich habe einen richtigen Stundenplan und kann mich melden! Und ich habe einen Freund, der auch Fußball mag!“ „Das ist toll, Gus“, sagte Papa und fuhr das Auto die leere Hauptstraße von Green Tree Richtung Zuhause hinunter. „Wie heißt er denn?“ „Jimmy. Aber eigentlich heißt er Jim, Jimmy ist nur ein Spitzname. Jim Stockwell.“ Es gab ein quietschendes Geräusch, als Papa eine Vollbremsung machte. Papa und Justin drehten sich zu ihm um und schauten ganz komisch. „Wie heißt dein Freund?“ fragte Papa. „Jimmy…?“ „Nein, mit richtigem Namen!“ „Jim Stockwell…?“ Was war denn los mit Papa und Justin? Stimmte irgendetwas nicht mit Jimmy? Die waren doch doof! „Ich fasse es nicht“, sagte Justin und schüttelte den Kopf. „Was ist denn los?“ fragte Gus verunsichert. Papa lächelte, aber es sah eher so aus, als würde ihm jemand mit zwei Bindfäden die Mundwinkel hoch ziehen. „Nichts“, sagte Papa. „Alles in Ordnung mit Jimmy.“ „Warum seid ihr dann so komisch?“ wollte Gus wissen. „Ach weißt du, Gus“, antwortete Justin. „Mit dir und Jimmy ist alles in Ordnung. Aber dein Papa und Jimmys Papa – die mögen sich gar nicht gern…“ „Warum?“ „Äh… sie haben sich ganz doll gestritten…“ „Dann sagt man Entschuldigung!“ „Das… äh… geht nicht so leicht, Gus…“ „Stimmt doch gar nicht! Entschuldigung! Seht ihr! Ganz leicht!“ Justin lächelte, während Papa noch immer Grimassen zog. „Ich weiß Gus, das ist ganz doof. Aber manchmal streiten sich Leute so schlimm, dass das nicht funktioniert.“ „Und worüber hast du dich mit Jimmys Papa gestritten, Papa?“ „Äh… über die Art und Weise, wie Leute leben sollen und dürfen…“ „Hört sich doch gar nicht so schlimm an.“ „Ach, Gus. Das ist eines der Schlimmsten überhaupt… Das wirst du noch lernen…“ Jetzt war er Mal wieder zu klein… Er war ein Schulkind! „Lerne ich das in der Schule?“ „Ja… Das wohl auch.“ „Darf ich trotzdem Jimmys Freund sein?“ „Du entscheidest, mit wem du befreundet sein möchtest“, sagte Papa und startete den Wagen wieder. Gus sah, wie Justin ganz komisch die Augen verdrehte. Erwachsene waren manchmal echt merkwürdig. Kapitel 21: Von der Muse geküsst -------------------------------- XXI. Von der Muse geküsst Zufrieden vor sich hin pfeifend montierte Justin das neue Schild neben die Haustür. Lilly, Gus, Brian & Justin Taylor-Kinney stand da jetzt. Ladys first. Und bei Brian und ihm galt: Der Esel immer vorneweg. Er war bestens gelaunt. Dr. Lochlan hatte ihm heute Morgen die frohe Botschaft verkündet, dass er trotz der Masern immer noch zeugungsfähig war. Nicht dass er im Augenblick im Entferntesten über einen erneuten Zuwachs ihrer Patchwork-Familie nachdachte, aber es war ein gutes Gefühl, dass es nach wie vor möglich war irgendwann, theoretisch. Dass Lilly nicht seine einzige Chance gewesen war. Dass die Zukunft noch Möglichkeiten bot, von denen er Gebrauch machen konnte oder auch nicht. Es herrschte Ruhe im Haus. Brian hatte Gus morgens zur Schule gefahren und war dann weiter zu Kinnetic, Lilly blubberte friedlich in ihrem Bettchen - oder wie immer man ihre Schlafstätte nennen wollte – vor sich hin. Die Restaurationsarbeiten waren im Wesentlichen abgeschlossen, kein Handwerker durchbrach die Stille mit einer Kettensäge oder ähnlich wenig lieblichen Geräuschen. Er hatte sturmfreie Bude, wenn man es so wollte. Gus‘ Schule war eine Ganztagsschule, obwohl die Erstklässler noch einen verkürzten Stundenplan genossen, um sie nicht zu überfordern. Aber Justin würde den Jungen erst gegen zwei Uhr abholen müssen. Bei Gelegenheit würden sie mit ihm üben müssen, wie er mit dem Bus den Schulweg bewältigte, sie konnten ihn ja nicht ewig hin und her karren wie ein Kleinkind, das zu sein er schließlich strikt ablehnte. Barfuß lief er über den morgenfrischen Rasen hinter das Haus. Vor dem Stallgebäude türmte sich die riesige Skulptur auf, die er aus den überschüssigen Baumstämmen geschaffen hatte. Die Stämme waren da gewesen, und als er begonnen hatte zu sägen, hatten sich irgendwie die Schleusen geöffnet… die Dinge hatten sich gefügt, ineinander verschränkt, verklammert, gegen- und miteinander strebend, tanzend, würgend… Aber was jetzt? Das Ding war riesig, er bezweifelte stark, dass es sich ohne Weiteres vom Platz würde bewegen lassen, geschweige denn, dass man es nach New York bringen könnte… Außerdem betreute Katlin’s seine Gemälde und seine grafischen Arbeiten, Monumentalplastiken standen da weniger auf dem Programm, besonders wenn sie nicht im Entferntesten durch irgendeine Tür gingen. Er könnte es fotografieren… Und dann? Fotos… das war Fläche… Fläche ließ sich gestalten… Überlagerungen… Licht und Schatten… Plastizität gegen Eindimensionalität… totes Holz… und… Leben…? Eine Idee formte sich in Justins Kopf. Das könnte interessant sein… Er müsste nur Brian dazu bekommen… Aber der würde seine künstlerische Arbeit doch gewiss gerne unterstützen…? Logische Argumente könnten helfen… eine Bezahlung in Naturalien war auch nicht ausgeschlossen… ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Warum magst du Gus‘ Papa nicht, Papa?“ kam Jimmys helle Stimme, während er unter Aufsicht seiner älteren Schwester Caroline erste krakelige Schreibversuche unternahm. Ein „A“, noch ein „A“ und noch ein „A“… Sah ganz gut aus, seine älteren Geschwister hatten sich dabei schließlich auch immer recht manierlich geschlagen. Jim Stockwell sah von seiner Zeitung auf. Heute war sein freier Tag, der Polizeidienst bot recht unterschiedliche Arbeitszeiten, was nicht ganz unangenehm war. Nach seinem Rücktritt als Polizeipräsident hatte er sich in den gehobenen Innendienst versetzten lassen, wo er aus der Schusslinie war. Nicht unbedingt ein Fortschritt, aber es hätte übler ausgehen können. Auf jeden Fall konnte er nach wie vor gut für das Wohlsein seiner Familie sorgen. „Wer ist denn Gus, Jimmy?“ fragte er seinen kleinen Sohn, der angestrengt schreibend Grimassen zog. „Mein Freund von der Schule“, erklärte Jimmy, legte den Stift hin und sah in an. „Du hast einen Freund? Das ist schön, Jimmy. Aber warum sollte ich Gus‘ Papa nicht mögen?“ „Gus hat erzählt, dass du und sein Papa sich ganz schlimm gestritten haben und ihr euch deswegen nicht mögt? Gus weiß auch nicht recht, warum – irgendwelches Erwachsenenzeugs?“ Er hatte sich, schon allein aus beruflichen Gründen, häufig mit Leuten anlegen müssen, die ihm deshalb nicht gerade dankbar sein dürften. Das gehörte zum Job dazu. Hatte sich Jimmy mit dem Sprössling irgendeines Kriminellen eingelassen? Auf der vornehmen Schule…? „Wie heißt denn Gus‘ Papa?“ fragte Jim ihn. „Wie er mit Vornamen heißt, weiß ich nicht, Gus nennt ihn immer Papa…?“ „Wie heißt Gus denn mit Nachnamen?“ half Jim aus. „Taylor-Kinney. Papa…?“ Jim Stockwell verschluckte sich. Kinney?! Konnte das sein? Aber der war doch… Aber hatte er ihm nicht damals erzählt, dass er einen Sohn habe? War das wirklich so? Und was sollte der Doppelname? Taylor? War das nicht der Name des Praktikanten gewesen, der sich geweigert hatte, sich zu entschuldigen und mit dem Kinney rumgemacht hatte?! Der ihn mit seinen Plakaten der Lächerlichkeit preis gegeben und mit Adolf Hitler verglichen hatte? Konnte das sein? Kinney hat ihn aufs Übelste verraten, ihn ins offene Messer laufen lassen. Aber warum? Kinney war berechnend, auf den eigenen Vorteil bedacht, dabei skrupellos. Ihn ins Bürgermeisteramt zu boxen, wäre auch Kinneys große Chance gewesen. Er vergaß die nicht, die ihm geholfen hatten. Aber stattdessen… das. Es hatte ihm den Job gekostet, die Reputation, unbezahlbar in der Branche. Aber weshalb? Weil er für diesen Perversen-Zirkus auf der Liberty Avenue kämpfen wollte? Diese… promisken, amoralischen Subjekte, die keine Sitte und Anstand kannten? Die Drogen, die Schamlosigkeit… Das war doch auch nicht Kinneys Welt gewesen, er war doch keine… Drag-Queen oder sonst was? Er selber wäre nie im Leben darauf gekommen, dass Kinney schwul sein könnte, dazu wirkte er viel zu normal, überhaupt nicht… tuntig oder affektiert oder weichlich. Ganz im Gegenteil. Und es hatte ja doch auch andere Homosexuelle gegeben, die sich sehr wohl mit seinen Zielen hatten identifizieren können, die vom GLC zum Beispiel. Die hatten doch auch die Nase voll davon gehabt, mit diesen ganzen Enthemmten in einen Topf geworfen zu werden? Seinethalben sollten die doch treiben, was sie wollten, solange es nicht in der Öffentlichkeit vor der Nase anständiger Leute geschah. Aber das wollten sie ja nicht, wollten in ihren Federoutfits auf den Straßen herumstolzieren und sich in der Öffentlichkeit paaren wie die wilden Tiere. Oder hatte Kinney dergleichen auch getan? Wer steckte schon in den Leuten drin? Und diese Fernsehwerbung, die ihm letztlich das Genick gebrochen hatte – das trug doch auch Kinneys Handschrift, oder? Oder nicht? Er wusste es nicht. Und jetzt ging sein kleiner Jimmy mit dem wie auch immer gezeugten Sprössling dieses Mistkerls in eine Klasse. Und was sollte das mit dem Doppelnamen? „Was sagt den Gus‘ Mama dazu?“ fragte er seinen Sohn. „Gus hatte zwei Mamas, die sind tot. Jetzt hat er zwei Papas, gut nicht?“ klärte ihn Jimmy auf. Ja, ganz toll. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wer Papa Nr. Zwei war. War es deswegen gewesen? Hatte sich Kinney in diesen blonden Möchtegern-Revolutionär nun… wie auch immer… verliebt? Das taten Schwule schließlich auch, oder? Hatte ihm das jeden klaren Verstand geraubt? Das würde zumindest Sinn ergeben. Jimmy schaute ihn an, das kleine Kinn trotzig vorgereckt. „Gus ist aber trotzdem mein Freund!“ „Jaja…“ Kinderfreundschaften… nun gut. Er konnte es Jimmy schließlich nicht verbieten, es sei denn, er machte einen mittleren Aufstand und ließ Jimmy in eine andere Klasse oder an eine andere Schule versetzten. Wie würde das denn aussehen? Weggelaufen wurde nicht, das musste auch seinem Sohn klar werden. Außerdem musste das gar nichts bedeuten… sollten die Kinder in der Schule zusammen lernen und spielen… Der kleine Kinney hatte ihm nichts getan. Solange ihm Kinney Senior und sein Praktikanten-Terrorist vom Leibe blieben, denn da konnte er für nichts garantieren. Er schluckte ein wenig Galle hinunter, die ihm bei der Erinnerung daran hoch gekommen war, wie er Kinney damals auf frischer Tat ertappt hatte. Splitterfasernackt mit seinem renitenten Lustknaben, die Yuppie-Wohnung voll mit äußerst diskreditierenden Plakaten. Das war gar nicht witzig gewesen, für keinen der Beteiligten. Aber sein Instinkt hatte ihn wieder einmal nicht getäuscht. „Gus kann in der Schule dein Freund sein. Aber er wird uns nicht besuchen kommen, und du wirst ihn auch nicht besuchen, ist das klar?“ Das hätte ihm gerade noch gefehlt, Elternplausch mit Saboteur-Kinney. Oder sein Sohn in einem Haushalt, in dem Männer bei helllichtem Tage rumfickten. „Das ist doof! Warum nicht?“ „Weil Gus völlig recht hat. Sein Vater und ich haben und wirklich sehr gestritten. Deswegen will ich nicht, dass wir mit den Taylor-Kinneys“ –arg, was für ein übelkeitserregender Name – „privat etwas zu tun haben.“ „Ich will aber mit ihm Fußball spielen! Er hat ein ganz tolles Tor bei sich im Garten!“ Die spielten Fußball… Was für komische Schwule waren das bitte? „Nein, Jimmy, das ist mein letztes Wort!“ „Bitte!“ „Nein, Junior! Keine Diskussion!“ Jimmy starrte ihn beleidigt an und stand kurz vor einem Trotz-Heulen. Aber er wusste haargenau, dass das nichts bringen würde. „Ihr seid doof!“ grummelte er verhalten. „Wie bitte?!“ „Nichts, Papa. Ich muss noch Hausaufgaben machen. Und Morgen in der Schule spiele ich immer nur mit Gus!“ Jaja… sollte er ruhig. Aber wenn ihm Kinney eine Einladung zum Kindergeburtstag schicken sollte, würde er sie ihm mit einem Bolzenschussgerät in den Hintern jagen. Obwohl… das mochte der vielleicht auch noch. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Daphne wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Die Klimaanlage kühlte den Raum auf ein notwendiges Maß, eigentlich war es recht kühl hier, ihr Körper fröstelte unter dem Kittel. Doch war es auch nicht Hitze gewesen, die die kleinen Schweißperlen aus ihr heraus getrieben hatten, sondern Konzentration. Sie starrte auf ihr Mikroskop. Dieses Kind würde nicht geboren werden. Wenn es denn überhaupt lebensfähig sein sollte. Was sie bezweifelte. Dies war für nichts… für niemanden… jedenfalls nicht direkt. Die Spender waren diesmal zwei Mitarbeiter des Projekts gewesen, die weder schwul waren noch sich gegenseitig sonderlich leiden konnten. Einige Dinge funktionierten ja ganz gut, die Gencluster ließen sich recht sauber isolieren. Aber es war wie ein Puzzel mit einer Milliarde Teilen, wobei einige zu fehlen, einige doppelt da zu sein schienen. So war es das letzte Mal auch gewesen. Dennoch hatte es irgendwann… gepasst. Sie hatte fast zwei Tage durchgearbeitet gehabt, in ihrem Kopf war nichts mehr gewesen als das Bild der Stränge, ihr Körper hatte gezittert vor Übermüdung und Erschöpfung. Dann plötzlich… Aber ihr war klar gewesen, dass sie sich das, halb verrückt in ihrem Forschungswahn, wahrscheinlich nur einbildete. Nichtsdestotrotz hatte sie es ausprobieren müssen. Lilly… Zwei sich zurück bildende Dehnungsstreifen an ihrem Bauch waren das einzige Zeichen, dass sie da gewesen war. Marisoll hatte ihr geholfen. Lillys Anonymität gegen ihre Forschungsergebnisse, zudem ein fester, gut bezahlter Job, Promotionsgelder, ein top ausgerüstetes Labor. Die Möglichkeiten in Mexiko waren besser, weniger Kontrollen, zugleich der Ehrgeiz, sich als Forschernation zu etablieren. Ob denen klar war, was sie hier trieben? Obwohl das meiste der pränatalen Diagnose und Manipulation diente, ihre Forschungen waren nur ein Teil. Sie hatten ihnen die Freiheiten und das Material gegeben und erwarteten Ergebnisse. Sie hatte keine zu bieten. Nicht hier. Das Ergebnis war im fernen Pittsburgh, bei seinen Eltern. Zumindest hoffte sie das. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian lag auf der Seite vor Justin wie ein großer schnurrender Kater, träge das langsame Hinein- und Hinausgleiten genießend. Justin ließ sich Zeit, hielt sie beide an dem Ort fest, an dem die Lust durch jede Faser des Körpers tanzte, ohne sich zu fokussieren und über zu kochen. Es hatte gedauert, bis sie das gelernt hatten, nicht nur sich zu halten, sondern auch, es zu wollen… ganz langsam… den Genuss ausdehnen, intensivieren… Dinge wie diese funktionierten mit keinem Trick der Welt, waren auch viel zu intim, um sie mit einem Fremden zu teilen. Justin fühlte, wie Brian begann sich zu winden, wie er näher kam. Er zog sich aus ihm zurück. Brian wandte sich zu ihm um, die Augen groß und feucht verhangen, die Lippen leicht geöffnet, tief atmend. Einige Sekunden starrten sie einander an. Dann schnellte Brian vor und verschlang Justins Lippen, wie nur er es vermochte, gierig, keinen Widerspruch duldend, zugleich unwiderstehlich lockend. Alles hatte Justin teilen können. Aber nicht diese Küsse. Brians Hände gruben sich in sein Haar, zerrten seinen Kopf zurück. „Schichtwechsel“, flüsterte er heiser an Justins Ohr und schubste ihn herum, bis er auf allen Vieren zum Landen kam. Dann erbrachte Brian den Beweis, dass langsam und zärtlich und hart und wild sich nicht gegenseitig ausschließen mussten, sondern sich vortrefflich addieren konnten. Justins Schenkel zuckten noch nach von der eben erbrachten Akrobatik, als Brian sich anschickte aufzustehen. Das Babyfon blinkte friedlich, Gus war bei den Petersons. Justin ließ den Blick über Brians perfekt geformten Rücken gleiten, die breiten Schultern, das leichte Spiel der Muskeln unter der Oberfläche, die sich verdunkelnde Sonnenbräune. Er streckte die Hand aus und strich darüber. „Mmm, du könntest Modell werden“, gurrte er. „Häh? Habe ich dich versehentlich mit einem grenzdebilen Doppelgänger verwechselt, oder bist du der dummen Seite der Macht anheimgefallen?“ erwiderte Brian. Gus hatte sie dazu genötigt, sämtliche Teile von „Star Wars“ zu sehen, die der Jugendschutz ihm erlaubte. Sehr zu seinem Verdruss. „Kannst du nicht Mal ein Kompliment annehmen?“ „Kompliment? Das ist Schleimerei. Was meinst du, wie oft ich diesen dämlichen Spruch schon von irgendwelchen Nieten zu hören bekommen habe? Wenn du mir schon so ein „Kompliment“ machen möchtest, dann preise mich wenigstens als schönsten Mann, der je das Licht der Sonne gesehen hat.“ „Mmm… okay… deine Haut ist wie die Seide der Röcke der Königin von Saba… deine Augen wie Teiche voll Gold und Saphir, von uralten Drachen bewacht… deine Lippen schmecken wie Mana und Ambrosia aus dem Kelch unsterblicher Götter… und dein Schwanz ist wie die Eiche, die die Himmelskuppel hält…“ „Sonnenschein… Was willst du?“ „Kann ich dich nicht auch mal ganz uneigennützig loben?“ „Da bin ich mir im Allgemeinen nicht ganz sicher. Aber in diesem Falle bin ich mir sicher, dass du irgendetwas ausgeheckt hast. Also raus damit.“ „Pah… Ich bin gekränkt…“ „Nun?“ „Ich will dich fotografieren.“ „Hast du doch gerade erst, mit Gus bei der Einschulung. Reicht das nicht fürs Familienalbum?“ „Nackt.“ „Du machst keine Pornowebsite mit mir auf. Das ist Teds Spezialgebiet, frag den.“ „Wer will denn Ted nackt sehen? Nein… Es geht hier um die Kunst.“ „Aha. Und was soll ich machen? Schreiend voller Farbe auf der Leinwand rumhopsen, während du das knippst? Das gab’s schon Mal, alter Hut. Außerdem: Vergiss es!“ „Nein… Nicht sowas…“ „Ich bin der Chef von Kinnetic, schon vergessen? Ich befürchte, es würde meine Autorität leicht untergraben, wenn du mich mit einem Mopps im Arm auf dem Diwan beim Weintraubenfressen inszenierst.“ „Nein, keine Angst, dein Gesicht wird nicht zu sehen sein.“ „Du willst nur meinen Körper?“ „Ja.“ „Wusste ich es doch!“ „Machst Du’s?“ „Dann Mal raus mit der Sprache, wofür ich mich zum Affen machen soll!“ Justin erklärte es ihm. Brian zwinkerte. „Nun, ich muss sagen…“ „Und…?“ „Na gut. Auch wenn mir das wahrscheinlich noch leidtun wird. Aber Kunst bedarf halt Opfer.“ „Prima. Dann Mal los, bevor Gus zurück kommt!“ „Jetzt gleich…?“ „Ja!“ „Sklaventreiber…“ „Das Licht draußen ist gerade optimal! Nun komm schon!“ „Warum eigentlich ich? Du könntest doch ein Modell anheuern?“ „Weil ich mir dich vorgestellt habe, als ich die Idee hatte. Mit jemand anderem, zu dem ich keinen Bezug habe, wäre es nichts…“ „Ich wurde zur Muse befördert?“ „Warst du immer schon.“ „Na, das war endlich ein brauchbares Kompliment, dahingehend, dass ich mich manipuliert fühle.“ „Prima, die Schwäche nutze ich gleich Mal aus. Könntest du dich mit Lillys Babyöl einschmieren?“ „Was?! Wie pervers bist du denn?“ „Dadurch reflektiert die Haut… bitte…“ „Ich werde abglitschen, runterfallen und mir alle Knochen brechen!“ „Quatsch! Doch niemand, der so sportlich und elegant…“ „Jaja! Auf deine Verantwortung! Du pflegst mich dann! Und ich werde kein einfacher Patient sein.“ „Kann ich mir gar nicht vorstellen… Aber versprochen…“ Kapitel 22: Wort- und zahnlos ----------------------------- XXII. Wort- und zahnlos Fast ein ganzes Jahr war vergangen, seitdem er das letzte Mal hier gewesen war. Und eigentlich spielte es auch keine Rolle, ob hier oder anderswo, dieser Ort hatte nichts zu bedeuten, diente er doch nur den Bedürfnissen derer, die gedachten. Wie auch beim letzten Mal schien der Ort vor tierischem Leben zu strotzen, Eichhörnchen sprangen wagemutig durch die Kronen der Bäume, Vögel trillerten und stritten sich, Bienen waren emsig unterwegs, um den Nektar der Blüten des Grabbewuches zu sammeln. Die Petersons hatten sich alle Mühe gegeben, eine üppige Hecke fasste die Grabstätte ein, frische Schnittblumen standen vor dem Stein. Aber da war nur noch der Name, die Daten und irgendwo dort unten das, was der Sturz und die Zeit von ihrem Körper übrig gelassen hatten. Sie war fort. Warum war er hier? Er könnte dies doch überall, zu Hause oder bei der Arbeit… aber nein. Nicht in der Welt der Lebenden. Dieser Ort hier… er gehörte nicht dazu. Er blieb stehen und starrte herab. Er versuchte es. „Hi Lindz“, dachte er, „ein hübsches Plätzchen hast du dir hier ausgesucht.“ Okay, das war jetzt vielleicht doch nicht so gelungen. Lindsay könnte vermutungsweise auf dieses „hübsche Plätzchen“ gut verzichten, wäre lieber daheim bei ihrer Frau und ihren Kindern. Aber davon war nichts mehr übrig. Der Hausstand war lang schon aufgelöst. Die Kinder waren Teil zweier verschiedener Familien, sahen sich zwar noch regelmäßig, wie das Testament es wollte, doch ihre Beziehung war kaum die zweier Geschwister, die gemeinsam aufwuchsen. So war es eben. Dafür hatte Jenny Hunter und Gus Lilly. „Tja…“, dachte er. „Wie du siehst, habe ich keineswegs derart versagt, wie Mel das wahrscheinlich orakelt hat. Was hat sie eigentlich dazu gesagt, als du die Verfügung zu meinen und Justins Gunsten ins Testament gesetzt hast? Oder war das mit Justin ihre Idee, damit mir jemand auf die Finger haut? Wie auch immer… Gus geht es gut, obwohl er dich… euch… vermisst. Er geht jetzt zur Schule. Kommt im Alphabet schon bis „J“ – nicht übel, was? Mit dem Rechnen geht es auch voran – leider. Du hättest ihm echt beizeiten beibringen können, dass Qualität ihren Preis hat! Immer nur diese scheiß ethischen Werte… Warum nicht auch was Sinnvolles?“ Brian beugte sich herab und setzte sich auf einen nahen Stein. Die Sonne blendete ihn durch die Blätter der Bäume. „Und was sonst so? Ich hab‘ geheiratet, nun doch. Aber das weißt du wahrscheinlich schon, oder? Und es ist gar nicht so grauenvoll. Liegt wahrscheinlich daran, dass Justin ficken kann wie ein Karnickel. Was meinst du…? Nun werde mal nicht sentimental… Okay, ich geb’s zu… Aber reit gefälligst nicht drauf rum! Und außerdem… Ich bin nochmal Vater geworden, verrückt, nicht wahr? Ja, echt verrückt… Sie heißt Lilly… Wusstest du, dass Babys nicht nur schlafen, fressen, einnässen und brüllen können, sondern auch lächeln? Ja wusstest du. Hast du ja bei Gus gesehen. Ja, verdammt… Dachte immer, jeder soll sich gefälligst um sich selbst kümmern und nicht anderen die Verantwortung aufdrücken. Das haut bei Gus und Lilly aber nicht hin… Ich meine, die würden doch verhungern oder so ohne mich…?“ Er hielt eine Weile inne. Im Ast über ihm saß eine Meise, die ihn aus irgendwelchen Gründen wüst beschimpfte. Schließlich folgte er seinem Gedankenfluss weiter. „Das ist es wohl mehr oder weniger… Schon alles sehr merkwürdig, hätte ich nie gedacht… Aber schon okay. Hab immer gedacht, das sei langweilig. Ist es aber nicht, nicht… so. Justin hat vorgestern Bilder von mir gemacht… Ich musste nackt und mit Öl beschmiert über einen Riesenhaufen Äste und Stämme kriechen, die aussahen, als hätte Gott bei der Schöpfung gesoffen, ich glaube, ich habe immer noch Späne im Arsch… Wozu? Mal sehen. Aber sowas meine ich. Nicht langweilig. Hab auch keine Zeit, mich zu langweilen, ist ja immer was. Wie auch immer. Ich wollte nur… Also Gus geht es gut, du musst dir keine Sorgen machen, okay? Ich… wir… bekommen das hin. Er wird nicht so verkorkst enden wie ich, kannst du Mel ausrichten. Naja… Ich muss dann Mal wieder…“ Er stand auf und klopfte sich den leicht lädierten Hintern ab. „Danke für alles, Lindz“, sagte er laut und ging davon. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Justin!“ „Ja…?“ Gus hatte ihn am Ellenbogen gepackt. Justin war dabei gewesen, das mittlerweile Mal wieder recht chaotische Atelier aufzuräumen, während er über sein neustes Projekt sinnierte. Gus hatte am Tapeziertisch am Fenster gesessen und seine Schreibübungen gemacht. So konnten Stunden vergehen, Gus ließ nicht locker, bis alles absolut zu seiner Zufriedenheit war, selbst Spongebob führte ihn da nicht in Versuchung. Erstaunlich. Sowas schien also durchaus erblich zu sein. Jetzt stand der kleine Junge hinter ihm, und zupfte etwas käsig um die Nase an ihm. „Was ist denn, Gus?“ fragte Justin und wandte ihm seine volle Aufmerksamkeit zu. „Mein Zahn!“ brachte Gus hervor, riss den Mund auf und zeigte auf seinen linken Eckzahn. „Was ist denn damit?“ Justin beugte sich zu ihm herunter. „Er wackelt! Er fällt aus! Ich muss zum Zahnarzt!“ quetschte Gus leicht panisch hervor. Justin kniete sich nieder, spähte in Gus‘ weit aufgerissenen Mund und tickte dann mit dem Zeigefinger den Übeltäter an. „Auuu! Justin!“ fuhr Gus empört auf. „Gus… Du musst dich nicht aufregen. Das ist nur ein Wackelzahn“, beruhigte ihn Justin. „Wackelzahn?! Mein Zahn soll damit aufhören! Er soll nicht wackeln! Sonst fällt er noch aus! Dann seh‘ ich aus wie Oma Nathalie ohne Gebiss!“ Gus war kurz davor zu heulen. „Gus, ganz ruhig, okay? Es ist alles in Ordnung. Das ist bei allen Kindern so… Die Zähne, die du im Mund hast, sind noch nicht deine richtigen… Das sind Milchzähne, Kinderzähne… die fallen aus, wenn man größer wird, wenn man ein Schulkind ist“, erklärte Justin so ernsthaft wie möglich, obwohl der Anflug von Panik um sein Äußeres Gus ein wenig arg nach seinem Vater aussehen ließ. So würde das also aussehen, wenn Brian sich nicht zusammen risse… Justin verkniff sich ein Lachen. „Und was dann? Fallen die jetzt alle aus?“ schniefte Gus. „Ja – aber nicht alle gleichzeitig! Dann hast du erst mal Zahnlücken, aber dann kommen deine richtigen, deine Erwachsenenzähne“, fuhr Justin duldsam fort. „Zahnlücke? Wie lange?“ wollte Gus wissen. „Nicht lange, keine Angst. Und dann hast du richtige Zähne wie Papa und ich, das ist doch toll!“ „Ja…“, antwortete Gus wenig überzeugt. „Aber es tut voll weh!“ „Das ist nur das Zahnfleisch, das drückt ein wenig, aber das ist nicht so schlimm – oder hältst du es nicht aus?“ hakte Justin geschickt nach. „Klar, halte ich das aus!“ erwiderte Gus würdevoll. „Sicher, du bist ja ein tapferer Junge. Das weiß die Zahnfee zu schätzen“, lächelte Justin. „Zahnfee?“ wollte Gus interessiert wissen. „Ja… Sie bringt Kindern, denen ein Wackelzahn ausgefallen ist und die ganz tapfer waren, Geschenke, wenn man abends den heraus gefallenen Zahn unters Kopfkissen legt…“ „Was denn so?“ „Alles Mögliche… Kleinigkeiten nur - für jeden Zahn…“ „Zum Beispiel den Anakin Skywalker für Lego?“ „Zum Beispiel.“ „Gut“, sagte Gus, fasste sich an den Zahn und begann zu zerren. Justin schnappte nach ihm, zumindest versuchte er es, doch Gus nahm Reißaus. „Halt Gus! Doch nicht so! Du musst warten, bis er von alleine…“ „Aua!!!“ „Lass den Zahn los, Gus! Der wird noch von selbst lockerer! Komm her, du!!!“ Justin raste hinter ihm her, kam aber über einem offen stehenden Farbeimer ins Straucheln. Die grüne Farbe spritzte über den Boden und über seine Unterschenkel. Er kam ins Rutschen. „Gus! Lass das! Gus!“ „Auuuu!“ „Gus! Gus! Lass den Zahn los! Gus!!!“ Doch Gus war nicht mehr zu halten. Er schaffte es, gleichzeitig über Justins bekleckerte Misere zu lachen, als auch über den Schmerz in seinem Kiefer zu heulen. Aber er ließ nicht locker. „Gus! Hör auf!!! Das eilt doch nicht! Ist doch egal, ob die Zahnfee heute oder Morgen oder Übermorgen…“ Mit einem letzten leisen Aufjaulen kam Gus zum Erfolg. Tränen liefen über sein Gesicht. Zugleich grinste er stolz, seine Beute zwischen den Fingern triumphierend hoch haltend. Aus seinem Mundwinkel sickerte ein feiner Blutfaden. „Zahnfee naja…“, brachte er hervor, „aber ich bin tapfer! Und ich warte nicht, bis der blöde Zahn das macht, ich mache das!“ Justin schnappte sich einen Lappen und schaffte es endlich, zu ihm zu gelangen. Er begann den nun wieder artig still haltenden Jungen notdürftig abzutupfen. „Gus, das ist doch… Jetzt hast du dir weh getan, das musste doch nicht sein!“ schimpfte er. „Nicht so schlimm“, erwiderte Gus, obwohl er immer noch heulte. „Ich habe das gemacht! Nicht der blöde Zahn!“ Justin biss die Zähne zusammen. Meist war Gus ja sehr pflegeleicht. Oder es fiel ihm einfach nicht so auf, weil er ja Brian gewohnt war. Wie hieß es so schön? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Aber immerhin ließ es sich Gus widerspruchslos gefallen, von ihm geputzt und verarztet zu werden, da war Brian schon ein schwierigerer Fall. Nachdem er Gus wieder einigermaßen zusammen geflickt hatte und den Milchzahn sicher gestellt hatte, widmete er sich Lilly, die den ganzen Trubel sauber ignoriert hatte. Gus dampfte mit stolz geschwellter Brust in sein Zimmer ab, um sich dort nach getaner Arbeit den angenehmen Dingen des Lebens zu widmen. Justin putzte die Sauerei im Atelier einigermaßen auf, dann griff er zum Telefon. „Hallo Justin…?“ „Hallo… spreche ich mit der Zahnfee?“ „Du sollst doch in Gegenwart der Kinder keine kleinen bunten Pillchen einschmeißen.“ „Als würde ich sowas tun! Ist auch gar nicht nötig, da die Brut mich auch so an die Grenzen des Seins zu befördern in der Lage ist.“ „Was ist los?“ „Oh, Gus hat Mal wieder das Schicksal in die Hand genommen.“ „Braver Junge.“ „Ja, ganz genau… Wie auch immer, besorge bitte auf dem Rückweg den Lego Anakin-Skywalker.“ „So schlimm ist es schon? Also wenn du Interesse an einem wahrhaft endzeitlichen Lichtschwerter-Duell hast, dann…“ „Ahh… obwohl? Naja, nein, Gus erwartet Besuch von der Zahnfee!“ „Wie das? Hat er einen Wackelzahn? Seit wann denn das?“ „Seit vor zwei Stunden. Und der richtige Terminus ist „hatte“.“ „So schnell geht das?“ „Wenn man dran zerrt, dass das Blut nur so spritzt, dann ja.“ „Geht es Gus gut?“ „Ja… Der platzt vor Stolz über seinen Sieg. Aber frag mal nach mir…“ „Ach was, du kannst das ab.“ „Dein Vertrauen rührt mich…“ „Anakin Skywalker?“ „Ja.“ „Der sieht scharf aus in dieser Ledermontur.“ „Das ist Darth Vader.“ „Ist das nicht derselbe?“ „Ja, schon. Willst du jetzt über Star Wars diskutieren?“ „Nicht wirklich, obwohl Zen-Ben wahrscheinlich einen ziemlich interessanten Vortrag über den homoerotischen Subtext des Ganzen zu bieten hätte.“ „Nur weil unsereins bei allem, was länger als breit ist, an einen Schwanz denkt?“ „Ich liebe deine scharfsinnigen Analysen postmoderner Unterhaltungsmedien.“ „Aber das mit den Laserschwertern…“ „Ich weiß, du Sau.“ „Mmm… ja, gib mir Kosenamen!“ „Dazu bin ich nicht betrunken genug. Ich besorg dann mal den verkappt schwulen Lego-Knilch mit seiner leuchtenden Schwanzattrappe. Reicht das, oder hat Gus überhaupt keine Zähne mehr im Rachen, wenn ich nach Hause komme?“ „Ich garantiere für gar nichts.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Gus schlummerte bereits seit einer Stunde selig, den herausgefallen wordenen Milchzahn unter dem Kissen. Im Garten war es dunkel, nur das gelegentliche Glimmen der Zigarette verriet, dass Brian am Rande des Pools saß. Leise trat Justin zu ihm. Brian drehte sich nicht um, bot ihm lediglich mit ausgestrecktem Arm einen Zug an. Justin nahm die Zigarette aus Brians Fingern und setzte sich neben ihn. Er tat es Brian gleich, indem er seine Jeans ein Stück hoch krempelte und die Füße im von der Tagessonne aufgeheizten Pool versenkte. Stumm reichten sie die Zigarette hin und her, bis sie runter gebrannt war. Brian löschte sie im Pool und legte den Stummel neben sich auf den Beckenrand. „Heute vor einem Jahr ist es passiert“, brach Justin schließlich leise ihr Schweigen. „Ich weiß“, antwortete Brian nur. „Wir haben es hin bekommen.“ „Haben wir wohl, ja.“ „Ich denke immer daran, wenn… Gus erster Milchzahn, das hätten sie bestimmt gerne…“ „Haben sie aber nicht. Hör auf damit.“ „Schon gut…“ „Das hier darf ich wohl bald nicht mehr machen.“ „Was?“ „Kippen rumliegen lassen.“ „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ „Habe ich heute im Internet gelesen. Sobald Lilly anfängt zu krabbeln, steckt sie sich alles ins Maul. Ganz wie du.“ „Ich bin da inzwischen wählerischer geworden.“ „Mit dem Alter kommt wahrscheinlich der Sinn für Qualität.“ „Soll ich’s dir beweisen?“ Kapitel 23: Schöner Schwulsein ------------------------------ XXIII. Schöner Schwulsein „Papa… fo follen wir hin?“ „In die Town Hall, das große Haus am Marktplatz neben der Eisdiele, weißt du?“ „Fieso?“ lispelte Gus mit leicht gedemütigtem Gesichtsausdruck. Nach dem Eckzahn hatten sich auch die beiden vorderen Schneidezähne ziemlich fix verabschiedet, falls Gus da nicht ein wenig nachgeholfen haben sollte. Jedenfalls verlieh ihm das ein ziemlich markantes Lächeln, das ihm die Hauptrolle in jedem Film über Zombiebefall in der Grundschule beschert hätte, und seine Artikulation litt gleichfalls ein wenig. „Feil wir unfere Nafen der lieben Nafbarfacht feigen follen, Fus“, erklärte Brian. „Justin!“ „Frian! Laff daf!“ „Papa!“ „Komm her mein, armer Kleiner!“ „Ne! Du haft angefangen! Ihr feid beide gemein!“ „Ach Gus, du bist nur so niedlich, wenn du lispelst“, tröstete ihn Justin, während er ihm half, in seine Schuhe zu kommen. „If bin nift niedlich! Fed und Emmef find niedlif! Fary bei Fongbob ift niedlif! Aber if bin nift niedlif! If bin fon groß!“ „Niedlich sein ist doch gar nicht so schlimm… Justin macht auch manchmal einen auf niedlich, obwohl er schon groß ist, zumindest so halbwegs, ganz besonders, wenn er was will…“ „Ach fo! Eft?“ „Also…“ „Papa Frian? Kaufst du mir ein Eif? Fenn fir in der Ftadt find? Fokolade? Fratfiatella? Fauerkirfe? Mit ganf viel Fahne?“ Gus setzte seinen Dackelblick auf. Brian biss sich von innen auf die Lippen. „Schlauer Bursche… Morgen, okay, heute hat die Eisdiele wahrscheinlich schon zu.“ Als Brian sich in Richtung Tür drehte, den eleganten hellgrauen Sommermantel um sich schwingend, meinte Justin kurz eine kleine rosa Zunge in diese Richtung vorschießen zu sehen. Aber das hatte er sich bestimmt nur eingebildet… Er riskierte einen letzten Blick in den Spiegel neben der Eingangstür. Er sah aus wie Schwiegermuttis Liebling. Perfekt. Obwohl er das, was Joan anging, garantiert nicht war, nicht irisch genug, nicht katholisch genug und definitiv nicht weiblich genug – nämlich gar nicht. Lilly lag frisch geputzt und gefüttert in ihrem Tragekörbchen und nuckelte hingebungsvoll an ihren Fingern. Damit hatte sie erst vor ein paar Tagen begonnen. Auch streckte sie jetzt die Hände mit verwirrtem Blick nach ihrem Le Corbusier-Mobile aus, das Brian an die Haltestangen ihres Baldachins geknotet hatten. Anscheinend war sie im Begriff, die Außenwelt zu entdecken. Vorsichtig strich Justin mit der weichen Babybürste über die inzwischen schon reichlich sprießenden blonden Löckchen auf Lillys Schädel. Sie quietschte kurz wohlig und grabschte unkoordiniert nach dem Instrument. Justin lächelte: „Selber stylen? Nein, meine Süße, das würde momentan wohl noch ins Auge gehen – in meins oder deins. Aber später darfst du mit deinen Haaren machen, was du willst… Wenn Du dann Brians Rasierer benutzen möchtest, um dir einen Irokesenschnitt zu zulegen, kein Problem…“ „Wie bitte? Bring sie bloß nicht auf dumme Gedanken!“ „Hast du das gehört, Mäuschen? Papa ist ja so ein Spießer…“ Lilly lächelte breit, Justin fasste das als Zustimmung auf. Brian grummelte irgendetwas und scheuchte sie durch die Tür. Es war kurz vor sieben Uhr abends, die späte Sonne schien warm durch die hohen Bäume an der Grundstücksgrenze. Sie marschierten die Hauptstraße hinunter, Gus, immer noch leicht beleidigt, schweigend an Brians Hand, Justin schleppte Lilly in ihrem Tragekörbchen. Auf dem Marktplatz war einiges los, die Einwohner von Green Tree strömten von allen Seiten in Richtung Town Hall. Besonders dicht besiedelt war der Ort ja nicht, die Grundstücke umfasste zumeist große Areale und wurden allerhöchstens von Kleinfamilien bewohnt. Reihenhäuser oder gar Wohnblocks gab es nicht. Bisher waren sie derartigen Veranstaltungen vornehm fern geblieben, getreu Brians Motto: Nur ein nicht existenter Nachbar ist ein guter Nachbar. Aber heute Abend würde Stockwell sprechen, das konnten sie sich ja unmöglich entgehen lassen. Zeit, ihren Einstand in der Gemeinde zu feiern. Sie folgten dem Strom ins Innere des Versammlungsgebäudes, das sich anscheinend als neoklassizistisch ausgeben wollte, indem es mit massiven dorischen Säulen an der Fassade und im Eingangsbereich zu punkten versuchte. Neugierige Blicke trafen sie von allen Seiten, von Feindseligkeit war jedoch nichts zu spüren. Auch wenn ihr Familienstatus die Runde gemacht haben sollte, so hatten die Menschen hier weniger Veranlassung als anderswo, sie für irgendetwas verantwortlich zu machen, das ihnen selber fehlte und das eines schnellen Sündenbockes bedurfte. Auch der Bildungsstand und die nach außen getragenen Manieren mochten dazu beitragen, was jedoch irrationale Feindbilder Einzelner nicht gänzlich ersticken dürfte – aber der Common Sense hielt sie im Zaum. Die Bewohner der Gegend hatten fast ein Jahr Zeit gehabt, sich an ihren Anblick zu gewöhnen, sie waren also keine Neuigkeit, die frisch betrascht werden wollte. Neu war ihre Gegenwart hier in kompletter Formation. Lockeren Schrittes glitten sie voran, freundlich jene grüßend, die sie vom Sehen kannten. Brian bahnte den Weg durch die Menge, während diverse saugnapfartige Blicke der Upper Class-Ehefrauen an ihm klebten. Vergesst es, dachte Justin, ihr hättest auch in Brians wüstesten Zeiten leider keine Chance gehabt, auch wenn Brian ziemlich freigiebig mit seinen Gaben gewesen war. Zielstrebung steuerte Brian durch die Sitzreihen, altes Holzgestühl, das Tradition vermitteln sollte, bis er sein Ziel erreicht hatte. Übertrieben freundlich lächelnd drehte er sich zu Justin um und nickte in Richtung der auserkorenen Plätze. So erfreut wie möglich lächelte Justin zurück und ließ sich nieder. Erste Reihe, direkt vor dem Rednerpult. Auf jeden Fall würden sie einen guten Blick haben. Nicht nur sie. Der Saal füllte sich zunehmend, Gus drehte sich neugierig zu allen Seiten. „Fau mal, Papa, da ift Jimmy! Hallo Jimmy!“ Er winkte zum anderen Flügel der ersten Sitzreihe. Ein kleiner Junge winkte von dort zurück und brüllte durch den Raum: „Huhu, Gus!“ Mrs. Stockwell, die neben ihrem jüngsten Sohn saß, verzog bei Brians Anblick säuerlich den Mund und drückte Jimmy an der Schulter wieder zurück in den Stuhl, als der sich anschickte auszubüxen. „Papa, kann if zu Jimmy?“ fragte Gus aufgeregt. „Besser nicht… Geht auch gleich los“, bremste Brian ihn. „Ihr und euer doofer Ftreit“, grummelte Gus und sank missmutig wieder zurück auf die Sitzfläche. „Gib mir Mal Lilly“, forderte Brian von Justin. „Du willst sie halten? Ihre Sabberflecken werden perfekt auf dem Hellgrau deines Anzugs zu sehen sein…?“ zögerte Justin. „Das will ich doch schwer hoffen, ich nehme meine Vaterpflichten schließlich ernst… Komm schon her, du…“ Brian stand auf, so dass sämtliche hinter ihm liegende Sitzreihen – mit anderen Worten: alle – Zeuge davon wurden, wie er mit beseligtem Blick das Baby von Justin, der artig lächelte als hätte er eine Zuckergussvergiftung, in den Arm gereicht bekam und sich dann vorsichtig wieder setzte. Justin hätte es ja fast für ein bisschen dick aufgetragen gefunden, wenn er nicht ahnte, dass die Leute genau das sehen wollten: Ein vor Stolz fast platzender Vater im Businessanzug, dem nach getaner Arbeit nichts Schöneres einfiel, als sein Töchterchen an sich zu drücken, egal, ob es ihn vollsaute oder nicht. Ob das treusorgende Blondchen an seiner Seite dabei weiblich oder männlich war, war eher sekundär, Hauptsache es passte brav ins süßliche Bild. Nun gut, was Brian konnte, konnte er schon lange. Justin legte den Arm um Gus, der sich das, nachdem sein Vater wegen der Jimmy-Geschichte und der Lispelei heute nicht gerade bei ihm hatte punkten können, von ihm gerne gefallen ließ. Er kuschelte sich vertrauensvoll an Justin und starrte erwartungsvoll nach vorne. „Fau mal, da ift Carlas Oma“, kommentierte Gus das Auftreten der Bürgermeisterin Mrs. Carlson. Die kleine alte Frau erklomm ein extra bereit gestelltes Podest, das ihr es überhaupt ermöglichte, über den Rand des Rednerpultes zu spähen. Die Scheinwerfer spiegelten auf ihrer Riesenbrille. Sie räusperte sich zweimal laut ins Mikrofon, im Saal kehrte Ruhe ein. „Ich wünsche uns allen einen wunderschönen guten Abend!“ begann sie. „Wundervoll, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid. Heute Abend wird ein Mitglied unserer Gemeinde zu uns sprechen, das ich, denke ich, nicht erst lange vorstellen muss. Aber bevor es losgeht, möchte ich eine Familie begrüßen, die erst seid jüngster Zeit ihr Zuhause in Green Tree gefunden hat. Ich denke, fast alle von uns kennen sie bereits vom Sehen, dennoch möchte ich, dass wir sie hier doch auch offiziell begrüßen. Ich heiße die Taylor-Kinneys in meiner Funktion als eure gewählte Vertreterin herzlich in unserer Gemeinde willkommen, es freut mich, dass sie sich dazu entschlossen haben, sich heute Abend zu uns zu gesellen. Das sind Lilly, Gus, Justin und Brian.“ Ein höflicher Applaus und ein vielgestreutes „Willkommen“ folgte, Brian und Justin rafften sich halb auf, lächelten in die Runde und bedankten sich. „Doch nun darf ich das Wort an Mr. Jim Stockwell übergeben. Einen Applaus auch für ihn“, leitete sie elegant über und kletterte von ihrem Podest herab, das ein Mann um die Vierzig – ihr Sohn? Auch er trug eine überdimensionierte Brille, könnte erblich sein – geflissentlich hinter ihr entfernte. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Jim Stockwell hatte ein wenig Zeit gehabt, sich auf die besonderen Gäste der heutigen Versammlung innerlich vorzubereiten. Er hatte es ja fast geahnt, dass die eines Tages hier auftauchen würden, aber ausgerechnet heute? Das war garantiert kein Zufall. Scheiß-Kinney. Aus dem Dunkel hinter dem Rednerpult hatte er sie eingehend studiert. Kein Zweifel, sie waren es. Der elende Brutus und sein blonder Cassius. Kinney trug eines seiner weltmännischen und sehr teuer wirkenden Ensembles, was ihn jedoch nicht davon abhielt, das Baby, das er sich irgendwo angelacht haben musste, auf dem Arm zu halten und demonstrativ zärtlich zu wiegen. Berechnender Mistkerl. Und sein milchgesichtiger Gefolgsmann hielt das andere Kind, das musste Jimmys Gus sein, in väterlicher Fürsorge im Arm. Kein Stück besser, diese kleine Kröte. So wie die hier auftraten, könnte man meinen, dass sie Werbung machen wollten für die Kampagne „Schöner Schwulsein“. Wahrscheinlich war es genau das. Aber von wegen Familienidyll, er hatte in einem ihm völlig ausreichendem Maß Zeuge davon sein können, was hinter der Fassade bei denen lief. Kinney nackt an der Tür, seine Erregung nur notdürftig verbergend, Taylor auf dem Bauch in den weichen Kissen liegend, das weiße Hinterteil, um das es dabei vermutlich ging, gen Himmel gerichtet, die Augen in einem Anfall des Ertapptwerdens bedeckt, wobei das wohl eher den Plakaten gegolten hatte. Die hatten keinen Fatzen Schamgefühl und kannten keine Loyalität außer vielleicht untereinander. Und nun saßen sie da vor ihm, diese Scheißkerle, geputzt und gebügelt, die Kinder umschlungen und sich innige Blicke zuwerfend als seien sie die Hauptdarsteller in einem etwas gewagteren Disney-Film, der nichtsdestotrotz in einem keuschen Küsschen zum tränentreibenden Liebesgeständnis endete. Und diese Idioten im Saal kaufen es ihnen ab, das fühlte er. Sie verkörperten perfekt das Klischee des zivilisierten, kultivierten und erfolgreichen homosexuellen Paares, das eine Gemeinde wie diese als goldenes Kalb der eigenen Weltoffenheit und Toleranz umtanzen würde. Manipulative Missgeburten! In der ersten Reihe! Es würgte ihn beinahe angesichts dieser wohlkalkulierten Frechheit. Aber das hätten die gerne, dass er vor denen den Schwanz einzog, was immer sie im Schilde führten. Und die führten etwas im Schilde, aus rein dekorativen Zwecken hatten die ihre versauten Ärsche hier garantiert nicht hin geschoben. Er lächelte in den Saal, atmete noch einmal tief durch. Mochten die da hocken oder nicht, er sprach schließlich zur gesamten Gemeinde. „Ich will gar nicht viel Aufheben machen, sondern komme lieber gleich zum Punkt, wie es meine Art ist. Als Polizist bin ich ein Verfechter klarer Worte und klarer, aber gerechter Lösungen – und als Mensch bin ich das auch, was meine Familie bezeugen mag.“ Er lächelte in die Richtung seiner Frau und seiner Kinder, diese lächelten artig zurück. „Es ist kein Geheimnis, dass ich mir damit nicht immer Freunde gemacht habe. Doch eines kann ich ihnen vergewissern: Loyalität und Freundschaft sind Werte, die ich nie verraten habe. Loyalität und Freundschaft meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen gegenüber, meinen Nachbarn und Mitbürgern und jedem Menschen, der in Anständigkeit und Rechtschaffenheit sein Leben zu führen anstrebt. Wie ihr ja wisst, plant Veronica kein weiteres Mal als Bürgermeisterin von Green Tree zu kandidieren. Ich stehe heute vor euch, um euch darum zu ersuchen, euer Vertrauen in mich zu setzen. Ich würde mich freuen, wenn ihr mir eure Fragen stellen, mich auf Wichtiges hinweisen oder von Unnötigem abraten würdet.“ Er sah in die Menge. Eine Reihe von Händen reckte sich in die Höhe. Die von Kinneys kleiner Giftnatter war auch dabei. Im Scheinwerferlicht konnte er einen Ehering an der Hand des jungen Mannes glänzen sehen. Das auch noch… reichte es nicht allmählich mal? Er sparte es sich für später auf. „Linda“, rief er die lokale Zahnärztin auf, mit Vornamen, wie es bei solchen Versammlungen üblich war. „Nun Jim, was genau dürften wir denn da erwarten? Ich habe gar nichts dagegen, wenn du dich um den ganzen Verwaltungszirkus kümmerst, niemand von uns reißt sich darum. Ein hohes Lob an Veronica, dass sie das – und uns – so lange durchgehalten hat. Aber wie du weißt, ist bei uns hier etwas der Hund verfroren. Apropos, das schlimmste Delikt des letzten Jahres war es, dass irgendein besoffener Teenager aus Pittsburgh Jessica Hamptons Pudel überfahren hat und dann versucht hat zu türmen. Es hat hier sogar keine Einbruchsversuche mehr gegeben, seitdem der lokale Privatwachdienst hier patrouilliert. Du bist Polizist durch und durch und hast damals in Pitts ordentlich daran gearbeitet, deine Vorstellung von Ordnung durch zu setzten. Aber was hast du hier vor? Willst du uns per Helikopter überwachen lassen, ob wir nicht hinter unseren Zäunen ganz hemmungslos nackt in den Pool springen?“ „Linda… Was im privaten Bereich geschieht, bleibt auch dort, es sei denn, es ist im Interesse der Öffentlichkeit, daran zu rühren.“ „Aha? Und wer entscheidet das, ob mein nackter Hintern im Interesse der Öffentlichkeit ist oder nicht? Du etwa?“ Im Saal wurde Gelächter laut. „Ganz gewiss nicht! Ich handele natürlich nur im Rahmen des gesetzlich Vertretbaren!“ „Das kann heutzutage alles Mögliche bedeuten. Im Rahmen unseres schönen „Kriegs gegen den Terror“ haben wir uns schon von so manchem verabschieden müssen, von dem wir glaubten, es sei unser Recht. Nichts gegen dich Jim, aber mir wäre jemand lieber, der die Dinge mit einem… etwas weiteren Augenmaß sieht.“ „Das ist dein gutes Recht Linda. Aber dennoch hoffe ich natürlich, auch dich von meinen guten Absichten überzeugen zu können. Herbert!“ Ein etwas fülliger bärtiger Mann erhob sich, er war Chef der lokalen Schlachterei und sah merkwürdig aus ohne seine Schürze. „Nun, Jim, du weißt, es sind Sanierungsmaßnahmen am Kinderspielplatz fällig und die Bushaltestelle muss behindertengerecht umgebaut werden. Wie gedenkst du das zu finanzieren und was würdest du vorrangig erledigen, wenn nur Geld für eines in der Stadtkasse ist?“ Okay, die Frage war leichter. Finanzierungskonzept andeuten, Kinderspielplatz bevorzugen, Behindertenrampe loben. Ähnliche Fragen folgten. Kinneys Bürschlein meldete sich immer noch geduldig, dabei das Haar des arg nach seinem Vater schlagenden Kindes streichelnd. Gus musste Kinneys leiblicher Sohn sein, bei der Ähnlichkeit. Wie war das bloß zustande gekommen? Trieb der es mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war? Als er es kaum noch umgehen konnte, stellte er sich seinem Schicksal. Nicht als Letzten, das wäre erbärmlich. „Ja – Justin“, rief er ihn auf. Himmel, hier musste er ihn mit seinem Vornamen nennen, welch Freude. Der Angesprochene erhob sich. Das künstliche Licht ließ sein Haar fast golden leuchten. War bestimmt gefärbt. Taylors Augen richteten sich auf ihn, zum ersten Mal direkt, soweit er sich entsinnen konnte. Sonst hatte der kleine Scheißer ihn immer nur aus dem Augenwinkel fixiert, während er, einen auf unwichtig und harmlos machend, seine Hetzkampagnen ausgeheckt hatte. Ein Unschuldsblick traf ihn, der ihm beinahe Übelkeit erzeugte. „Jim“, hob der junge Mann an, „ich fand es sehr interessant, was du über Loyalität gesagt hast. Aus Liebe zu handeln oder aus Wut – das fällt den meisten Menschen leicht, es sind Gefühle. Loyalität ist mehr als das, sie bedarf wahrer Überzeugung, nicht wahr? Dennoch ist sie keine leichte Sache… Was würdest du tun, wenn wir alle hier, deine Familie, deine Freunde, deine Nachbarn, wir, die Gemeinde von Green Tree, denen deine Loyalität ja gehört, gegen deine andere große Überzeugung verstießen? Wenn wir Recht und Ordnung hinter uns ließen? Was wäre dann mit deiner Loyalität?“ „Das ist eine sehr schwere Frage, Justin. Natürlich hoffe ich, dergleichen rechtzeitig zu bemerken, um das Unheil verhindern zu können, aber das gelingt nicht immer. Schlussendlich käme wohl darauf an, was der Preis wäre.“ „Und wer ihn bezahlen müsste? Wir, dich eingeschlossen – oder jemand, der diese Loyalität niemals verdient hätte? Wollen wir hoffen, dass du niemals vor dieser Entscheidung stehst.“ „Niemand sollte wählen müssen zwischen Skylla und Charybdis. Könntest du es?“ „Manchmal muss man es. Und dann entsteht entweder Unglück oder Unrecht, so oder so. Auf jeden Fall nichts, auf dem man wieder unbedacht solide bauen könnte.“ „Gut, dass es mehr als einen Ort gibt, ein Fundament zu legen. Und das ist es, was meine Loyalität zu Green Tree begründet. Sein fester Boden.“ Justin setzte sich wieder, der Rest des Raums grübelte über den Sinngehalt des Gesprächs und erinnerte sich auf ungünstige Art und Weise an jenen vermaledeiten Fernsehspot. Aber darüber war Gras gewachsen, ihm war nichts nachzuweisen gewesen, nichts weiter als übelster Rufmord. So würden die meisten es hier in ihrer Auffassung von richtigem Benehmen auch sehen. Im Zweifel für den Angeklagten, das galt erst recht bei übler Nachrede. Hatte Taylor darauf nur angespielt, oder wusste er es, weil er dahinter gesteckt hatte…? Aber er war Kunststudent gewesen, woher hätte er das Geld nehmen sollen? Kinney…? Selbiger saß friedlich mit seiner Tochter im Arm da und hatte aufmerksam den Worten seines Gesponses gelauscht. Jim antwortete auf weitere, eher belanglose Fragen, aber er fühlte, dass die Stimmung ihm gegenüber eher… gemischt war. Aber was sollten sie machen, er war der einzige freiwillige Bewerber. Sie konnten seine Wahl ablehnen, das konnten sie. Der Verwaltungskram würde solange von einem Angestellten übernommen werden, der Posten würde vakant bleiben, bis sich jemand fand. Das wäre mehr als demütigend. Kinney meldete sich. Da kam wahrscheinlich sein Todesstoß. Es ließ sich leider nicht vermeiden. „Brian“, sagte er schicksalsergeben. Kinney stand auf, das schlafende Baby gegen die Schulter gelehnt. Der kleine Kopf in seiner großen Hand zeigte zarte blonde Löckchen in derselben Farbe wie Taylors. War der der biologische Vater dieses Sprösslings, oder hatte Kinney nur ein Faible für Blondinen? Dass Frauen sowas mitmachten, sich als lebender Uterus von solchen Gestalten anheuern zu lassen… Aber mit dem entsprechenden Kontostand war wahrscheinlich alles möglich. Auf jeden Fall hatte der große Kerl mit dem winzigen, liebevoll eingepackten Mädchen in den Pranken eine extrem benebelnde Wirkung auf einen nicht unerheblichen Teil der Zuschauer. Alter Diktatoren-Trick, dachte Jim, immer schön mit Kindern auftreten, dann halten einen alle für den perfekten Vorzeigebürger. „Jim“, begann er, „auch ich weiß, was Loyalität dir bedeutet. Und ich kann - wahrscheinlich - nur für mich sprechen, wenn ich sage, dass ihr Wert gar nicht zu hoch bemessen werden kann. Aber nichts, was unfreiwillige Opfer fordert, kann von Wert sein und darf Bestand haben. Aber den Fall haben wir hier ja Gott sei Dank nicht, oder? Du willst hier eintreten für Ruhe und Ordnung? Gut. Aber wird das unsere Ruhe und unsere Ordnung sein? Und ich spreche nicht bloß von mir und meinem Mann und unseren Kindern – sondern von uns allen hier, den Bürgern von Green Tree, deren Bürgermeister zu sein du anstrebst?“ „Dafür stehe ich ein!“ „Dann hast du gewiss auch nichts dagegen, wenn ich den Antrag einbringe, dass jeder Beschluss, der die Rechtsordnung und die Privatsphäre hier betrifft, von der Townshall-Versammlung abgestimmt werden muss? Und dass ein Verstoß dagegen mit einem Misstrauensvotum gegen den Amtsinhaber durch jeden einzelnen von uns beantwortet werden kann? Sieh dies nicht als Angriff, sondern als Angebot. Wir alle sind misstrauisch geworden, was den Bestand unserer Rechte angeht in diesen Zeiten, das ist heute Abend mehr als einmal offensichtlich geworden. Aber jemanden, der diese Konditionen begrüßt und dazu bereit und qualifiziert ist, das Amt zu übernehmen, so wie du es bist, dem würden wir wohl unser Vertrauen entgegen bringen können, nicht wahr?“ Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Jim starrte ihn an. Kinney war es damals gewesen, das hatten seine Worte bedeutet. Brodelnde Wut stieg in ihm auf, aber auch schlechtes Gewissen. Er hatte zwischen den Stühlen gesessen und hatte sich zugunsten seines alten Partners und Freundes entschieden, obwohl das gegen alles verstoßen hatte, woran er glaubte. Er hatte es einfach nicht fassen können. All die Jahre… und dann war der scharf auf kleine Jungs, Drogensüchtige, voller Krankheiten und ohne Zukunft, in schmuddeligen Bars in dunklen Gassen und an Straßenecken… Wie konnte das sein…? Aber er war doch sein ältester und treuster Freund gewesen, und er war verzweifelt gewesen… Hatte es einfach nicht geschafft, die Finger davon zu lassen, egal wie sehr er es versucht hatte. Es war wie eine Sucht gewesen, die ihn Stück für Stück zerstört hatte… und er hatte nichts tun können… nur ihn schützen… Es war wegen nichts gewesen, der Selbsthass war explodiert, wie auch immer es geschehen war, der Junge war tot… Aber das ganze Leben verpfuscht wegen sowas… nein… Aber er, Jim, könnte dem Einhalt gebieten, indem er die Perversion eindämmte, damit nicht noch mehr fielen… Aber diese Idioten hatten sich einfach nicht helfen lassen wollen! Statt ihm dankbar zu sein, ihre HIV-verseuchten Lasterhöhlen, ihre von Drogen nur so triefenden Clubs endlich dicht zu machen, und die Gelegenheit zu ergreifen anständig zu werden… schwul, meinetwegen… aber anständig… aber nein! Sie wollten es nicht! Sie wollten es einfach nicht! Allen voran Kinney aus dem Hinterhalt… aber wozu… da saß er, strotzend vor Selbstbewusstsein, als würde der Laden ihm gehören, mitten in Green Tree! Es war, als habe der Mann zwei Gesichter, auch damals schon. Aber er hatte ihm ein Angebot gemacht. Er und sein Mann, wenn er es denn so wollte. Seinethalben lieber verheiratet als Fürst in diesem Sündenbabel. Eine Warnung – und ein Angebot, ein Schlupfloch, wie sie ihn akzeptieren würden. Kinney könnte ihn – wieder einmal – ruinieren. Oder er könnte den entscheidenden Vorteil bringen – ganz wie er selbst es entschied. Entweder ließ er sich hier als Möchtegern-Despot zerhacken und bekam den Skandal von damals erneut präsentiert – oder er stimmte den Konditionen zu, schränkte sich selbst entscheidend ein, aber kam wahrscheinlich als Amtsinhaber und unblamiert aus der Sache raus. Kneifen ging auch nicht, der Mangel an plausiblen Gründen ließ es ohne immensen Gesichtsverlust und diverse Verdächtigungen nicht zu – außerdem war er niemand, der kniff. Aber er würde Bürgermeister sein von Kinneys Gnaden. Erneut ergriff ihn eine gewisse Übelkeit. Er hatte sich nicht geirrt, Kinney war ein übler Intrigant und Taylor tat ihm da wahrscheinlich nichts nach, mochten sie noch so freundlich lächelnd aus der edlen Wäsche schauen und die pittoresken Kinder knuddeln. „Das würde ich sogar sehr begrüßen, Brian!“ brachte er unter Haltung aller Würde hervor. Kinney stimmte einen Applaus für ihn an. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Die Versammlung zerstreute sich, nachdem man noch ein wenig Small Talk miteinander betrieben hatte. Gus sprang nach der einschläfernden Sitzung kurzzeitig wieder zu Energien auflaufend, ein Stück vor ihnen über das Bürgersteigpflaster der Allee. Lilly begann wieder leicht ungnädig zu werden, aber sie hatte ja auch wundervoll durchgehalten. Sie mussten ohne weitere Vertiefung des Geschehenen kichern und rempelten sich spielerisch gegenseitig an. „Siehst du, Sonnenschein, ich habe Stockwell versprochen, dass ich ihn zum Bürgermeister mache – und ich halte meine Versprechen…“ „Das ist wahr… Da fällt mir ein, das Bad neben dem Atelier ist noch gänzlich unbefleckt…“ „Das ist sogar ziemlich befleckt, da sieht es aus, als sei ein drei Meter großer Alien explodiert. Und überall stehen Pinsel rum.“ „Mag sein, dass da alles Mögliche an den Wänden hängt… aber nicht die Flüssigkeit, nach der mir jetzt der Sinn steht…“ „Genug von der öffentlichkeitstauglichen Bilderbuchfamilie?“ „Für heute reicht’s. Wir könnten die Kinder ins Bett bringen und uns dann ein wenig der Pinselpflege widmen?“ „Sagte ich dir schon, wie sehr ich es schätze, dass du dabei immer so rum saust?“ „Wirklich? Ich dachte, du würdest es eher mögen, wenn ich meinen Pinsel so richtig tief in einer widerspenstigen, engen Farbtube versenke, damit sie sich mit einem Schuss lockert?“ „Das auch… aber manchmal ist es auch nett zu sehen, wenn du voller Konzentration an einem der Stiele rumlutscht, dass man denkt, dass es dich im Rachen juckt.“ „Jetzt, wo du’s sagst – ich fühle da tatsächlich einen gewissen Juckreiz…“ „Den pinsle ich dir gerne weg.“ Kapitel 24: Der richtige Riecher -------------------------------- XXIV. Der richtige Riecher „Na, was meinst du?“ fragte Justin, ein gespanntes Leuchten in den Augen, während Brian sich im morgendlich lichtdurchfluteten Atelier umsah. Seit zwei Tagen hatte Justin sich hier verschanzt und hatte ausnahmsweise keinem von ihnen, Lilly ausgenommen, Zugang gewährt. Nun, das war sein gutes Recht, dies war sein Arbeitsplatz, manchmal dürfte es wohl auch zu verlangen sein, hier in Ruhe gelassen zu werden. Aber um die Ruhe war es Justin wohl weniger gegangen, ihre Gegenwart irritierte ihn ja auch sonst nie, vielmehr um die Geheimniskrämerei, während er die großen Fotopanele aufgezogen hatten. Er hatte sie offensichtlich fertigstellen wollen, bevor jemand anderes einen Blick darauf riskieren durfte. Brian versierter Blick glitt über die im Raum verteilten Flächen. Justin hatte anscheinend am Computer die Aufnahmen, die er von ihm auf seinem Baumstammmassaker gemacht hatte, geschickt ineinander geschnitten, das ganze über die Ebene in verschiedenen Körnigkeitsstufen variiert und zu guter Letzt jedem Druck einen anderen leichten Farbschimmer gegeben. Neben einem rein schwarzweißen Exemplar gab es je eines mit einem leichten Rot-, Grün- wie Blaustich. Die Farbigkeit blieb sehr zurückhaltend, nur genug, um den Ausdruck des Motives leicht zu verändern, dennoch präsent genug, um einen verstörenden Schimmer zu gewährleisten. Das Rot war das einer für immer verlöschenden Sonne, das Grün das eines menschenunfreundlichen, endlosen Waldes und das Blau schien den lebensfeindlichsten Tiefen der See entsprungen zu sein. Die farblose Variante flüsterte von der Leere des Universums. In diesem schrecklichen Licht türmte sich ein Haufen aus zerbrochener und jedem Sinn für Ordnung wild trotzender Natur auf, die durch schiere Gewalt in eine widernatürliche Form gezwungen worden war. Darum wanden sich, Schlangen gleich, Gliedmaßen, schmeichelnd, krallend, niedergeworfen und niederzwingen, lockend und gebrochen, teilweise verschmolzen Körper und Geäst zu einem unentwirrbaren Ganzen. Justin hatte Wort gehalten, er war wirklich nicht zu erkennen. Er hatte von Justin ja schon einiges zu Gesicht bekommen, aber das hier hatte eine ganz neue Qualität. Justin sah ihn, sichtlich ein wenig nervös, immer noch erwartungsvoll an. „Ich hab‘ dir doch gesagt, dass es nicht darauf ankommt, was ich davon halte… Aber da mein Hintern darauf ja in mehrfacher Ausführung zu sehen ist… nun… Ich würde Schlange stehen, um davon Alpträume zu bekommen… Himmel…“, brachte Brian, so leicht es irgend möglich war, hervor. Justin hatte ihn gesehen, als er das hier ausgeheckt hatte…? War er in Justins Augen völlig wahnsinnig? Oder hatte sich der Verstand aus Justins Schädel verabschiedet…? Nein, er zeigte ja nicht die Realität, das war Kunst, etwas weit ab von billiger eindimensionaler Deutbarkeit. Etwas, das nicht einfach darauf aus war, kleine intellektuelle Spielchen zu betreiben und mithilfe eines „Psychologie für Dummies“- Buch klar und einfach erklärbar zu sein. Das hier war wie der Biss eines Tigers. Es streckte einen nieder. Aber konnte man den Tiger nach seinen Gründen fragen? Es war die um ein vielfaches gesteigerte Version des Monsters im Garten. Es haute einen einfach um, ohne sich zu erklären. Das hatte es nicht nötig. Es besaß seine eigene Gewalt aus sich selbst heraus, ohne Entschuldigungen, ohne Bedauern… Brian räusperte sich und sprach es laut aus. Justin lächelte und nickte: „Das ist gut… wirklich gut… perfekt… Ich hatte ja erst gedacht, auf einen Titel zu verzichten, weil mir einfach nichts Passendes eingefallen ist… Aber eigentlich finde ich das blöd, diese Der-Betrachter-soll-frei-assoziieren-Nummer. Klar, das ist immer irgendwie der Fall, aber der Name kann ein Teil davon sein, danke dir!“ „Kein Problem, da bin ich Profi“, murmelte Brian und starrte weiterhin die Fotopanele an. Groß, wie fast alles, was Justin machte… Sicher, seine Hand ließ fragile Arbeiten auf Dauer nicht zu, aber das war gewiss nicht der einzige Grund. Justin war nie ein Freund von Halbheiten gewesen. Vielleicht war er auf dem besten Wege, nicht der neue Andy Warhol, sondern vielmehr der Napoleon der Kunstwelt zu werden… Da würde er sich aber warm einpacken müssen, wenn es erst gen Russland ging… Andy Warhol und sein Pop Art-Kram waren sowieso sehr zeitabhängig… Wer von den Millionen, die sich Strandhandtücher, Notizblöcke und Nasenhaartrimmer mit Warhols Marylin-Porträts kauften, sah bitte etwas anderes darin als ein schönes buntes Bildchen? Tja, Warhol hätte es gefallen… Dass Justins jüngstes Werk so enden könnte, war eher auszuschließen… Das würde auch in tausend Jahren noch verstörend sein. Schön und schrecklich zugleich, ohne dass man hätte sagen können, wo die Trennlinie verliefe. Das war keine Auseinandersetzung mit der Massenkultur oder irgendwelchem zeitaktuellem Firlefanz. Er zwinkerte, weil seine Augen drohten, vom Starren zu tränen, und wandte seinen Blick Justin zu, der in einer schlabberigen, ausgeblichenen, zerrissenen und bekleckerten Jeans und einem Malkittel, der ihn aussehen ließ wie einen Assistenzarzt an seinem ersten Tag, ein paar flüchtige Farbtuben in eines seiner Chaos-Regale räumte. Scheiße… Justin… Er starrte zurück auf die Bilder. Himmel… Er stellte sich kurz Mikey vor und was der davon halten würde. Entweder würde er schreiend davon laufen oder einmal kurz nicken und Justin fragen, ob sie nicht eine weitere Ausgabe von Rage machen wollten. Nix da. Was ihn anging, hatte es sich ausgeraged. Anfangs hatte er es ja durchaus sehr schmeichelhaft gefunden, dass sie ihn und seinen Lebensstil zum Gegenstand ihrer – durchaus erfolgreichen – schwulen Nerd-Fantasien gemacht hatten. Aber die Zeiten, in denen Justin ihn von unten her angebetet hatte, waren endgültig vorbei – zudem war das immer nur eine Haltung unter mehreren gewesen, die Justin ihm gegenüber gezeigt hatte. Mit der Anbetung hatte es ganz flugs vorbei sein können, wenn es Justin zu bunt geworden war. Außerdem war er mit seiner damaligen Lebenseinstellung mehr als einmal kräftig auf die Fresse gefallen. Hatte Rage etwa während der Chemo solange kotzen müssen, bis er ohnmächtig geworden war? Nein, das passierte keinem Superhelden. Aber ihm selber sehr wohl. Entweder man machte einen auf Rage, scheiterte dabei, was unvermeidlich war, und zog sich via Exitus rechtzeitig aus der Affäre, bevor es einer merkte – so geschehen bei diversen jung verstorbenen Hollywood- und Sonstwas-Legenden – oder man pfiff auf diese Scheiße und sah den Tatsachen ins Auge. Dann war das Image zwar im Arsch, aber man lebte, und wenn man Glück und Verstand hatte, sogar durchaus gut. Und Justin machte jetzt sowas… Das war Welten von Rage entfernt… Okay, wenn er irgendwelchen Dünnpfiff zur Entspannung brauchte… War wohl schon ganz gut, dass das damals in L.A. nichts geworden war – hätte Justin sonst jemals diese Bilder machen können, die jetzt dort vor ihm lehnten? Außerdem… wäre er dann jetzt hier…? Wäre, wäre, wäre, egal, so war es nicht. „Was willst du mit ihnen machen?“ fragte er Justin. „Ich wollte sie in die Galerie schicken, was sonst?“ antwortete dieser und setzte sich Brian gegenüber auf einen Tapeziertisch. „Nein“, sagte Brian. „Wie, nein? Du kannst gern eins haben, wenn du möchtest, aber…“, entgegnete Justin, während er sich Farbreste von den Fingern puhlte. „Nein. Wenn ich eins davon bei Kinnetic aufhänge, verklagt mich die Belegschaft wegen seelischer Grausamkeit – was als Kompliment an dich zu verstehen ist“, meinte Brian nur, stand auf und schritt langsam die Tafeln ab. „Okay…? Nicht zu Katlin‘s, nicht an dich… Als Gabe an Gus‘ Grundschule zu meinem Einstand als ehrenamtlicher Kunstlehrer in ein paar Wochen…?“ bohrte Justin, wohl wissend, dass Letzt genannter Ort wohl ganz gewiss nicht in Frage kam. „Sicher, traumatisier doch die süßen Kleinen… Nein, bewirb dich damit“, erläuterte Brian. „Bewerben…?“ fragte Justin, leicht aus dem Konzept. „Korrekt nachgesprochen, du Schlaufuchs. Bewirb dich. Und ich meine damit keines dieser Nachwuchs-Stipendien, die dir 200 Dollar im Monat für neue Pinsel spendieren. Das würde dir sowieso keiner im Angesicht deines… familiären Hintergrundes geben, wenn die einen kurzen Blick auf unsere Konten riskieren. Eine Platin-Kreditkarte ist bei sowas nämlich ausnahmsweise nicht so förderlich. Bewirb dich bei öffentlichen Sammlungen und Museen, lass nicht zu, dass sich irgendein Sammler die Sachen unter den Nagel reißt, bevor es jemand außer der Sammler-Konkurrenz mitbekommen hat, dass es die Bilder gibt. Geh nach draußen, raus aus diesem Kaum-auf-dem-Markt-schon-wie ein-Wertpapier-gehandelt-heute-top-und-morgen-flopp-Zirkus. Dabei spielt Qualität doch kaum eine Rolle, sondern nur das, was gerade angesagt ist. Und das kann ganz fix vorbei sein.“ „Und das fällt dir jetzt auf?“ fragte Justin, die Augenbrauen zusammen ziehend. „Es war eine Weile gut, du konntest dich etablieren, das hat prima geklappt. Aber jetzt ist es Zeit, einen Schritt weiter zu gehen. Und Katlin‘s wird dich da nicht unterstützen, das liegt nicht in ihrem unmittelbaren Interesse und Arbeitsbereich. Aber sie werden natürlich nichts dagegen haben, wenn du deinen Bekanntheitsgrad und dein Renommee selbstständig andernorts weiter ausbaust, solange es auch ihnen zugutekommt. Greif auf sie zurück, wenn du verkaufen willst, aber gib ihnen nicht die Zügel in die Hand!“ redete Brian, auf und ab gehend, weiter. Justin rührte sich nicht vom Fleck. „Und das fällt dir jetzt auf?“ wiederholte er. Brian sah ihn an. „Ja! Das fällt mir jetzt auf! Diese Bilder hier… die sind mehr, mehr als du jemals gemacht hast! Versteh mich nicht falsch, ich setze deine vorherigen Arbeiten nicht herab. Aber das hier…“, er wies mit der Hand auf die Tafeln, „ist Gottverflucht nochmal mehr! Und weiß der Himmel, was noch kommen mag! Und ich habe auch keinen Schimmer, wo es her kommt! Hast du? Aber lass nicht zu, dass du auf dieser Stufe, auch wenn sie bereits hoch zu sein scheint, hängen bleibst! Pack die Sache bei den Eiern! Oder willst du nicht?“ Justin musterte ihn. Dann sagte er langsam: „Sicher will ich. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich gut genug bin…“ Brian schnaufte. „Deine Meinung zählt. Wenn du meist, dass das nichts taugt, dann musst du es wissen. Aber dann bin ich leider gezwungen, dich für einen kompletten Idioten zu halten. Das sollte dich aber auch nicht beirren, wenn das wirklich deine Überzeugung ist.“ „Ist ja gut! Die Bilder sind beschissen gut, ich seh’s ja ein! Und es bedeutet mir wirklich etwas, dass du das auch so siehst, auch wenn das selbstverständlich völlig unbedeutend ist und wahrscheinlich nur der Tatsache geschuldet, dass dein Arsch auf jedem Panel acht Mal zu sehen ist.“ „Acht Mal?“ „Ja, acht Mal pro Bild, vier Bilder, macht Zweiunddreißig plus das Original… macht insgesamt dreiundreißig Mal dein Arsch in diesem Raum“, rechnete Justin ihm vor. „Das dürfte ihren kunsthistorischen wie Marktwert immens erhöhen“, grinste Brian. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Brian hatte es sich in der Abendsonne am Pool bequem gemacht, Lilly in ihrem Sommerdecken im Arm. Sie war wach und schaute mit ihren immer mehr braune Schlieren zeigenden Kulleraugen und leicht geöffnetem Mund staunend in die Gegend. Während sie am Anfang nur mehr oder weniger unwillkürlich gestrampelt hatte, zeigten ihre Bewegungen inzwischen einen gewissen Willen. Ihre kleinen Hände gingen immer wieder hinauf, sie quakte unwillig. Brian hob sie etwas höher. Der Blick war auf sein Gesicht gerichtet. Der rechte Arm fuhr aus, mit einem leichten Patschen landete Lillys Hand auf seiner Nase. Sie lächelte. „Das gefällt dir wohl?“ fragte er. „Papa eins auf die Omme hauen? Ja, sehr witzig… Ja, da grinst du, was…?“ Lilly strahlte. Ihre Zwergenfinger zuckten, sie schien Anstalten zu machen, sich unter Nutzung seines rechten Nasenloches festzuhalten. Zugreifen… ein großer Schritt in der motorischen Entwicklung… aber bitte nicht in seiner Nase. Vorsichtig löste der die kleine Hand. Lilly gab ein unwilliges Gluggern von sich. Kaum hatte er sich befreit, war die Hand wieder da. Erneut lächelte sie wohlig. „Lilly, bitte… Es gibt doch viel tollere Sachen zum Anfassen… Soll ich dich unter diese komische Schaukel mit lautem Plastikkram dran legen, die Justin für dich besorgt hat? Das ist bestimmt viel besser…“ Er befreite sich erneut und schickte sich an, sie auf ihr Spieldecken unter dem Moskitonetz zu befördern. Als ahne sie es, begann sie zu heulen. Er setzte sich wieder. Patsch. Ruhe kehrte ein. Super, seine Charakternase, ein Babyspielzeug… Ein leises Klicken ließ ihn blinzeln. Justin hatte sich angeschlichen und hatte ein Foto von dem Idyll geschossen. „Wehe, damit bewirbst du Dich…“ „Keine Angst, das ist für’s Familienalbum, vielleicht schicke ich auch Debbie eine Kopie, damit sie es im Diner aufhängen kann“, grinste Justin. „Untersteh dich! Das macht sie glatt!“ „Unter Garantie. Aber keine Panik, eure finsteren Geheimnisse sind bei mir sicher.“ „Unsere…?“ „Lilly scheint ja erste Anzeichen eines beginnenden Nasenfetischs zu zeigen…“ „Pah! Lilly weiß nur wahre Schönheit zu schätzen und reduziert mich nicht auf einen nackten Arsch, der zwischen Baumstämmen eingekeilt ist.“ „Wart’s nur ab, bald wird sie kräftiger und kann besser zielen, dann reduziert sie bestimmt zumindest dein Nasenhaar…“ „Als ob ich sowas hätte…“ „Natürlich nicht, du wurdest selbstverständlich ohne geboren…“ Brian biss die Lippen zusammen und wandte sich lieber wieder Lilly zu. Sollte sie doch in seiner Nase rumpopeln, wenn es sie glücklich machte. Was mal wieder bewies, dass Glück nicht käuflich war. Apropos Nase… Er musterte ihr Gesicht. Er mochte sich irren, aber er würde darauf wetten, dass Lilly Justins Nase abbekommen hatte. Wenn sie ihr Gesicht verzog und die Nasenwurzel sich dabei leicht kräuselte trat die Ähnlichkeit noch stärker hervor, fand er. Das war schon… faszinierend. Er dachte an Gus, der ihm äußerlich in vielerlei Hinsicht so ähnlich war. Und innerlich…? Er war beharrlich. Aber das konnte auch die Erziehung sein. Gus liebte ihn, wie nur Kinder einen lieben konnten, selbst wenn man sie Mal wegen ihrer Lispelei aufzog. Vorbehaltslos, bedingungslos. Gus würde ihn selbst dann noch lieben, wenn er jeden Tag besoffen nach Hause käme und ihm grundlos die Fresse polieren würde. So wie er einst Jack geliebt hatte. Auch wenn er dessen Versagen später erkannt, das Weite gesucht und ihn verflucht hatte, so war ein Kern immer geblieben. Ein Kern, der ihn dazu veranlasst hatte, seinem Vater immer wieder Geld zu zuschieben, damit das Gerüst des Selbstbetruges, das er um sich errichtet hatte, nicht zusammen fiel. Denn das hätte Jack aufs erbärmlichste vernichtet. Ein Teil von ihm hatte es ihm an den Hals gewünscht. Er hätte es einfach bleiben lassen können, das hätte gereicht. Aber er hatte nicht gekonnt. Sein Scheiß-Vater, der ihn hatte abtreiben lassen wollen. Ein Teil von Brian hatte ihm da lange Zeit durchaus Recht gegeben. Wozu das alles? Aber das war eben nicht die ganze Wahrheit gewesen. Gus liebte ihn, das war wahr. Und Lilly wahrscheinlich auch, wenn sie so etwas Komplexes bereits empfinden konnte. Was auch immer. Sie vertraute ihm. Sie lächelte, wenn sie in seinem Arm lag, während sie bei Michael zu brüllen angefangen hatte. Und sie mochte seine Nase. Und Justin… „Morgen ist der dreiundzwanzigste August“, sagte Brian. „Ich weiß“, sagte Justin. „Da haben wir geheiratet in Toronto vor einem Jahr.“ Es schien ewig her zu sein. „Willst du irgendetwas…?“ „Nein. Mir fällt nichts ein. Irgendwelche Schokodrops oder Blumensträuße bedeuten gar nichts, du hast mir so viel mehr gegeben unabhängig vom Datum.“ „Ja, du hast recht… Also kein „Justin & Brian forever“-Tatoo inklusive brennendem Herz und jubelnden Tauben auf der Arschbacke…?“ „Jetzt, wo du’s sagst…“ „Die Bagage ist bestimmt enttäuscht, dass wir keine Gartenparty ganz in Weiß geben, um den verpassten Walzer nachzuholen.“ „Das ist deren Problem. Auf Tänze, bei denen man einen Anzug trägt, bin ich ehrlich gesagt nicht mehr so scharf. Obwohl es natürlich…“ „… lächerlich romantisch war? Ja… bis auf die Sache mit dem Baseballschläger…“ „Du sagst es. Der hat die Stimmung nachhaltig zerstört.“ „Lass es dir aber nicht bloß deswegen vermiesen…“ „Nö… auch ansonsten kein Bedarf.“ „Ich habe auch keinen Bock auf irgendwelche Jetzt-seid-ihr-ja-schon-fast-solange-verheiratet-wie-wir-wer-hätte-das-gedacht-da-müssen-wir-ja-aufpassen-dass-ihr-nicht-aufholt-haha-Sprüche. Also keine Wünsche zum Hochzeitstag – ist schließlich ein Sonntag, wir haben Zeit?“ „Nö… rumhängen, die Seele baumeln lassen, mich der Dinge erfreuen, wie sie sind… Und du?“ „Diverse sexuelle Gefälligkeiten?“ „Also auch wie immer“, schloss Justin. Die Ruhe wurde jäh gestört, als Brians Handy anfing zu läuten. Brian spähte auf das Display und seufzte innerlich. Er rappelte sich auf und übergab Lilly an Justin. „Die Firma“, nuschelte er, „bin gleich zurück.“ Er setzte sich in Richtung Haus in Bewegung. „Jetzt?“ fragte Justin überrascht. „Es ist doch fast Samstagabend? Wer arbeitet denn da noch, du Sklaventreiber?“ „Ted prüft noch die Bücher“, sagte Brian kurz angebunden, bevor er im Haus verschwand. Als er außer Hörweite war, nahm er ab. „Hallo, Mikey“, meldete er sich. „Hallo, Brian! Na schon aufgeregt! Morgen ist euer großer Tag! Ein Jahr, na wie ist das?“ „Ich mach mir gleich ins Höschen vor Begeisterung…“ „Du alter Miesepeter! Du bist doch glücklich, das kann man dir doch von der Nase ablesen!“ Ach deswegen war Lilly so scharf auf seine Nase… Sie wollte das Glück herunter sammeln, kleine Kleptomanin. „Jaja, alles ist super. Weswegen gratulierst du eigentlich heute schon?“ „Das ist doch noch keine Gratulation! Ich wollte nur fragen, wann wir Morgen vorbei kommen können, um euch ein wenig hoch leben zu lassen?“ „Gar nicht. Wir sind nicht da.“ „Was? Wieso?“ „Weil das unser Hochzeitstag ist. Ich habe mir was ausgedacht, Justin weiß nichts davon, also halte gefälligst die Klappe.“ „Ach so…“, sagte Michael enttäuscht. „Habe mich schon gewundert, warum ihr gar nicht feiert.“ „Mikey… Das hier wollen wir lieber so machen, okay? Aber wir können was anderes feiern, bevor der Sommer vorbei ist, damit ihr auch noch dazu kommt, den Garten einzuweihen.“ „Okay… Was denn…?“ „Äh… Gus‘ Geburtstag steht noch an, aber diesmal will er eine Kinderparty, oh Schreck. Aber wir könnten… den Tennisplatz einweihen…?“ „Den Tennisplatz…?“ „Naja, der ist frisch renoviert und will genutzt werden.“ „Wer von uns kann denn bitte Tennis spielen?“ „Keiner… außer Justin vielleicht.“ „Wir werden uns gegenseitig mit den Schlägern niederknüppeln!“ „Ohne Risiko kein Vergnügen.“ Kapitel 25: Nichts und Nirgendwo -------------------------------- XXV. Nichts und Nirgendwo Hektisch schoss Justin im Bett auf. Draußen schien die Sonne, der dämliche Specht war bereits an der Arbeit, das Mistvieh hatte wohl noch nie etwas von „Sonntagsruhe“ gehört. Oder rächte der sich immer noch für die Kettensäge…? Der sollte lieber froh sein, dass es kein Luftgewehr gewesen war… Die Freuden des Lebens im Grünen… Er sah sich um. Es war schon viel zu hell. Brian lag friedlich neben ihm und schien den Schlaf der Dreimal-bei-Nacht-aus-dem-Bett-Gebrüllten zu schlafen. Der Wecker zeigte acht Uhr. Acht Uhr?! Gus war wahrscheinlich schon verhungert, warum hatte er sie nicht geweckt?! Und – wo war das Babyfon?! „Brian!“ „Mmm…“ „Brian!“ Justin schüttelte ihn an der Schulter. „Wach auf! Wir haben verschlafen! Du hast das Babyfon vergessen, scheiße!“ „Mmm… nein, habe ich nicht“, kam es gähnend und völlig unbesorgt aus den Kissen. „Und wo ist es denn bitte? Hast du es mit der edleren Version im Farbton „unsichtbar“ ausgetauscht? Scheiße! Hoffentlich ist nichts mit Lilly!“ Justin war im Begriff, mit voller Kraft voraus aus dem Bett zu preschen. Brian bekam ihn an der Fessel zu fassen, dass er recht unsanft, aber weich, bäuchlings zurück auf die breite Matratze krachte. „Lilly geht es super, kein Grund einen auf Panik zu machen“, informierte ihn Brian nur. Justin wollte gerade auffahren, wie er das denn bitte wissen wolle ohne Babyfon, da hielt ihn etwas in Brians Gesicht zurück. Ein ziemlich selbstgefälliges Grinsen hatte sich dort verdächtigerweise breit gemacht. „Was ist los Brian?“ fragte er misstrauisch. „Nichts ist los – das wolltest du doch zum Hochzeitstag, wenn ich das richtig verstanden habe?“antwortete Brian und drückte einen Kuss auf Justins weiche Fußsohle, dass dieser sich kitzelig wand. „Was…?“ fragte Justin perplex. „Was hast du gemacht…?“ „Ich habe heute Morgen in aller Herrgottsfrühe, als du noch deinen Schönheitsschlaf –entschuldige: kreative Regenerationsphase - gehalten hast, die Kinderchen zu Omi und Omi abgeschoben“, erklärte Brian als spräche er mit einem Dreijährigen, immer noch interessiert Justins Zehen musternd. „Äh… und warum…?“ wollte Justin wissen, vom Geknabbere an der sensiblen Haut etwas abgelenkt. „Damit wir beide uns heute ausgiebig feiern können, indem wir genau das tun, was du wolltest: nichts.“ „Wir bleiben den ganzen Tag im Bett?“ wollte Justin wissen. „So faul nun auch nicht…“ „Und was ist mit dir?“ „Ich komme auf meine Kosten, dessen sei gewiss…“ „Aha, und wie soll das konkret aussehen?“ „Du schwingst gleich deinen kleinen Hintern aus dem Bett, ziehst dir etwas Ziviles an und dackelst staunend und voller Anbetung hinter mir her.“ „Ui, nicht da, das kitzelt… Okay… wenn du dir das zum Hochzeitstag wünscht, dann mache ich das…“ „Keine Opfer!“ „Keine Angst… Das ist mir ein dringendes inneres Bedürfnis, immer schon… loslassen, Gnade… ahhh…“ „Okay, dann werde ich Mal Gnade vor Recht walten lassen.“ Justin rappelte sich auf, nachdem Brian endlich von seinem Fuß abgelassen hatte. Als er aus dem Bad trat, stieg ihm schon der feine Geruch frischen Kaffees in die Nase. Eigentlich hatte er erwartet, dass Brian die Chance nutzen würde, sich unter der Dusche zu ihm zu gesellen, aber der schien andere Pläne zu haben. Er ging nach unten, füllte sich einen Becher voll, und begab sich auf die Suche. Es war merkwürdig still, so ohne Lilly und Gus. Er fand Brian auf den Stufen vor dem Eingang sitzend, die langen Beine in der seine Figur sehr vorteilhaft in Szene setzenden Jeans vor sich ausgestreckt. Er lehnte auf den Ellenbogen, die Kaffeetasse neben sich, zwischen den Fingerspitzen eine Rauchkringel ziehende Zigarette. Justin setzte sich neben ihn. Brians Augen waren halb geschlossen in der Morgensonne, er schien zu lächeln. „Was machst du?“ wollte Justin wissen. Brian grinste ihn an: „Nichts.“ „Und… soll das den ganzen Tag so bleiben…?“ „Soso, erst danach schreien und sich dann langweilen… Wie gut, dass man nicht nur zu Hause nichts machen kann.“ Justin zog die Augenbrauen hoch: „Du konntest es einfach nicht lassen, nicht wahr? Nun gut, ich ergebe mich, was steht an?“ „Erst mal trinke ich diesen Kaffee aus, rauche auf, dann setzten wir uns ins Auto und genießen einen Tag süßen Nichts vom Feinsten.“ Gegen seinen Willen musste Justin lachen: „Und wie soll das aussehen?“ „Du bist penetrant neugierig“, antwortete Brian nur unbekümmert, ohne eine Erklärung auch nur anzudeuten. „Deshalb bin ich hier. Aber mir bleibt wohl nur wilder Protest oder devote Folgsamkeit?“ „In beiden Disziplinen bist du ziemlich gut.“ „Ich fange mit der Folgsamkeit an, den Protest hebe ich mir für später auf, falls nötig.“ „Wir werden sehen“, grinste Brian und drückte seine Zigarette aus. „Brauche ich irgendetwas, soll ich irgendetwas einpacken?“ wollte Justin wissen. „Ich habe ja keine Ahnung, wohin es geht…?“ „Nach Nirgendwo. Und du brauchst nichts“, kam sie Ansage. Okay, hier biss man wohl auf Granit. Da Brian auch nichts anderes am Leibe hatte außer Jeans und T-Shirt schien das offensichtlich auch für ihn völlig ausreichend zu sein. Sie stellten die Tassen in die Küche, Justin schnappte sich noch eine Scheibe Brot, dann drückte Brian auch schon auf das Gaspedal der Corvette. Sie folgten der Hauptstraße in Richtung Innenstadt, heute am Sonntag war wenig Verkehr. In den Parks spielten Kinder. Brian bog schließlich rechts ab. „Zum Hafen…?“ fragte Justin verwirrt, die Straßenschilder musternd. Brian sah ihn nur kurz an und sagte kein Wort. Brian parkte schließlich im Bereich des alten Fischereihafens, die großen Containerschiffe zeichneten sich in einiger Entfernung ab. Möwen schrien, es roch nach Fisch – und zwar nicht unbedingt nach dem allerfrischesten. Inzwischen war Justin innerlich fast dabei, vor Neugierde zu platzen. Was zum Teufel sollte das hier werden? Hatte Brian beschlossen, dass es genug des Luxuslebens sei, und dass sie ab heute unter die Hafenarbeiter gehen sollten…? Justin bezweifelte, dass das Leben eines Hafenarbeiters so aussah wie in dem Porno, den er irgendwann einmal in Brians Beständen gefunden hatte… Mit einem heiteren – und immer noch verflucht selbstgefälligen – Gesichtsausdruck schritt Brian vor ihm her in Richtung Mole. Sie liefen einen der hölzernen Anleger hinab, bis Brian endlich sein – oder vielmehr ihr – Ziel erreicht hatte. Mit offenem Mund starrte Justin erst ihn an, dann das kleine Fischerboot, das vor ihnen friedlich in der leichten sommerlichen Brise wippte. „Brian…? Was…?“ „Na komm, hopp, an Bord“, befahl der nur selenruhig und kletterte über die niedrige Reling. Benommen folgte ihm Justin, sich vorsichtig festklammernd. „Du wirst doch nicht seekrank, oder?“ fragte ihn Brian. „Nein, aber… ein Boot…? Brian…?“ „Schlauer Junge“, lachte sich Brian ins Fäustchen angesichts seines belämmerten Gesichtsausdrucks. „Aber… Ich kann sowas nicht fahren… Du etwa…?“ „Das ist ein Motorboot, das kann jeder fahren, der bis drei zählen kann. Aber falls es dich beruhigt: Ich musste früher immer den Angelsklaven für meinen Vater machen. Klar kann ich das fahren – oder dachtest du, dass ich plante, den Tag im Hafen zu vergeuden?“ „Äh, nein, nicht direkt…“ „Na also. Dann hol mal die Vertäuung ein, will sagen: knote uns los.“ „Okay…“, Justin tat wie geheißen, während Brian sich am Motor zu schaffen machte. Das Boot heulte kurz auf, dann startete ein gleichmäßiges lautes Tuckern. Justin krakselte über das Deck, bekam aber allmählich ein Gefühl für den wackeligen Untergrund. „Das nennst du Nirgendwo?“ brüllte er über den Motorenlärm hinweg in Brians Ohr. Brian hielt das Steuer, die Gischt spritzte. Er antwortete nicht, sonder nickte bloß über Justins Schulter. Justin folgte dem Wink. Hinter ihnen lag Pittsburgh, die Skyline mit den hohen Glastürmen am Zusammenfluss des Allegheny und des Monongahela, die sich genau hier zum Ohio River vereinten. Irgendwo dort lag das Babylon, das Loft und Kinnetic. Linkerhand am Ufer Wohnviertel, dort war er aufgewachsen, dort lebten seine Eltern, ihre Freunde, und rechterhand das Ufer, hinter dem sich Green Tree verbarg. Es wirkte fern und fast fremd, so von außen betrachtet. Als sei es eigentlich egal, wo diese Orte alle seien, ob in Pittsburgh oder auf einem anderen Planeten. Sie schossen über das in der Sonne funkelnde Wasser des Ohio Rivers, während die Welt an ihnen vorbei zog. Es stimmte… sie waren nirgendwo… Justin ließ sich auf eine der Bänke fallen und sog den Anblick in sich hinein. Er blinzelte. Sein Hirn leerte sich auf eine angenehme Art und Weise. Es war doch egal, wo sie waren, dort oder an Bord dieses kleinen schwankenden Etwas oder auf dem Mond… Er wusste nicht, wie lange sie gefahren waren. Die Silhouette Pittsburghs war in einiger Entfernung noch auszumachen. Auf dem Fluss selbst war wenig los. Brian drosselte den Motor und steuerte das Ufer an. Schläfrig folgte Justin seinen Bewegungen. Sie machten an einem kleinen, vermoosten Anleger fest. „Hungrig?“ fragte Brian. „Lass mich raten“, murmelte Justin, „es gibt nichts.“ „Hey, ich wollte unseren heiligen Bund feiern, nicht ihn ruinieren, indem ich dich nicht rechtzeitig füttere.“ „Wofür hältst du mich? Für diese blutrünstige Alien-Pflanze aus dem „Kleinen Horrorladen“?“ „Gewisse Ähnlichkeiten bestehen da durchaus… Aber keine Angst, gibt gleich Blut – äh, Fisch.“ „Oh, lecker, Fisch!“ „Wer hätte es gedacht…“ Sie mussten knappe fünf Minuten lang laufen, bis sie zu dem kleinen Ausflugsrestaurant gelangten, dass Brian offensichtlich auserkoren hatte. Vom Äußeren her war es Meilen entfernt von Orten wie dem Ambrosio’s , in denen Brian normalerweise verkehrte, wenn auch nur aus geschäftlichen Gründen. Allerdings würde das Ambrosio’s ihnen wahrscheinlich nie wieder eine Reservierung bestätigen… Justin war es nur recht, er hatte überhaupt keine Lust auf irgendwelchen Schickimicki, sein Magen knurrte schon recht übellaunig. Diese Ansprüche hatte Brian wohl in seiner Planung berücksichtigt. Es roch verdammt lecker nach knusprig gegrilltem Meeresgetier. Es war nicht sonderlich viel los, sie bekamen einen Tisch am Rand der Terrasse, der einen überwältigenden Blick über das direkt vor ihnen einbrechende Flusstal gewährte. Justin speicherte den Eindruck und bedauerte etwas, seine Kamera nicht dabei zu haben. Aber halt… nirgendwo und nichts ließen sich nicht fotografieren… Er musterte Brian, der, die Ray Ban auf der Nase, zurückgelehnt da saß und wie er den Blick schweifen ließ. Seine Züge wirkten entspannt, fast leicht. War es das…? Was ihre Ehe für Brian bedeutete…? Er räusperte sich. „Es ist so… frei… hier?“ sagte er schließlich. „Das ist es, Sonnenschein, das ist es“, sagte Brian nur. Das Essen kam, und es hielt, was der Geruch versprochen hatte. Justin ließ es sich auf der Zunge zergehen… das musste ein Geheimtipp sein hier… Brian wusste eben, was gut war… Sie redeten nicht viel, das war irgendwie auch nicht nötig. Brian hatte eine Ladung Muscheln verputzt, die wahrscheinlich nach deutlich mehr ausgesehen hatten, als sie waren. Sie blieben noch ein paar Minuten sitzen und ließen die Mahlzeit sacken, dann zahlten sie. Statt wieder zurück zum Anleger zu gehen, schlug Brian den Weg weiter das hügelige Gelände hinauf ein. „Also, so wie’s hier aussieht, sind wir wirklich kurz davor, ins Nichts am Ende der Erdscheibe zu stürzen“, bemerkte Justin. „Hast du Höhenangst?“ „Nein. Wieso?“ „Gut.“ Das Gelände wurde immer steiler, die Mittagssonne brannte, wurde aber von den dichten Blättern der hohen Bäume abgefangen. Nach einer Weile bogen sie nach links ab. „Kurzer Zwischenstopp“, verkündete Brian. Justin spähte. Sie standen an einer Felskante, vor ihnen das sprichwörtliche Nichts. Von hier aus konnte man bis nach Pittsburgh und über weite Teile des sonnendurchfluteten Umlands sehen. Man stand im wahrsten Sinne des Wortes über den Dingen, sie lagen einem zu Füßen, aber sie konnten einem hier oben… nun… nichts… Er wandte sich Brian zu und blickte ihm ins immer noch gelöste Gesicht. Dann ließ er sich auf die Knie fallen. „Justin? Was wird das?“ „Ach, du weißt schon… nichts“, antwortete er und drückte seine Nase gegen den warmen duftenden Stoff vor Brians Schritt. „Super, dann führt das hier auch ins Nirgendwo…?“ „Für dich schon“, flüsterte Justin, der an seiner Wange die willkommene Reaktion auf seinen Überfall spürte. Er lächelte… Sie hatten es schon fast überall getrieben, im Darkroom, in irgendwelchen Gassen, auf Brians Schreibtisch, in fast jedem Raum des Hauses, am Froschteich, unzählige Male im Loft – aber am Arsch der Heide mit Blick über halb Pennsylvania? Das war doch mal was Neues. Aber das hier war für Brian, für den Teil von Brian, der fast immer danach schrie, egal wie friedvoll er sich geben mochte. In Brian schlummerte ein Raubtier, und es war an ihm, es heraus zu lassen, weil nur er es wirklich verstand, dessen war er gewiss. Brian sah hinab zu ihm, die Augen schon von einem gewissen Schimmer erfüllt, Justin starrte zurück, fokussierte in die Pupillen, während er Knopf nach Knopf löste. Keine Unterwäsche, lieber unbequem als keine Schlampe… Er drückte die Hose ein Stück nach unten, senkte den Blick wieder und umschloss dann mit der Hand das Objekt seiner steten Anbetung. Justin beugte sich vor und verpasste der Spitze einen raschen Zungenschlag als Kostprobe, bevor er sich langsam von der Wurzel aus quälend langsam wieder hinauf arbeitete. Mit der Linken hielt er sanft den Hodensack umschlungen, streichelte die empfindliche Unterseite und spielte mit den darin geborgenen Eiern. Die Zeiten, in denen Brian wegen der Prothese Panik geschoben hatte, waren Gott sei Dank vorbei. Man fühlte fast gar keinen Unterschied, nur eine winzige Narbe war zurückgeblieben. Nichts könnte Justin gleichgültiger sein. Justin konzentrierte sich. Ein formvollendeter Blowjob war ein Geschenk, es brauchte Technik und Wissen und ein nicht lernbares Gefühl für Timing. Und vor allem musste man den Körper des anderen kennen, um Perfektion erreichen zu können. Der Lohn war die völlige Hingabe des anderen. Justin hatte sich in dieser Disziplin schon früh ins Zeug geworfen mit dem Erfolg, dass Brian sich bevorzugt von ihm hatte einen blasen lassen, wenn er denn in Reichweite war. Daraufhin hatte er das Anforderungsniveau weiter erhöht. Diese Herausforderung hatte er sich selbst gestellt, Brian mit Zunge, Lippen und Mund derartig in den Wahnsinn zu treiben, dass dieser jede Zurückhaltung und Kontrolle verlor. Als Konsequenz hatte Brian ihn seit der Ethan-Geschichte meist einfach gleich mit in den Darkroom geschleift, wenn ihm danach war, was der Funktion eines Darkrooms etwas entgegen gestanden hatte… naja… Jede gute Sache hatte auch ihre Schattenseiten… Und jetzt ließ er Brian seine ganze Meisterschaft angedeihen. Es benebelte ihm, diesem, seinem wunderschönen Mann die Sinne rauben zu können, ihm das größtmögliche Vergnügen zu schenken. Brians Hand legte sich auf seinen Hinterkopf, die einleitenden Spielereien hatten die Grenze des Erträglichen erreicht. Justin entspannte sich und begann mit dem Hauptgang, mit sanftem Druck Brians Hüfte unter Kontrolle haltend. Er wusste, dass Brian ihm zusah, ein weiterer Reiz bei der Sache. Aber er hatte die Kontrolle über den Fortgang, die Kontrolle darüber, Brian die ersehnte Dominanz zu bescheren. Letzteres machte ihn selbst an Brian immer wieder verrückt, wäre es anders gewesen, wäre Justin wohl kaum so derart von ihm hingerissen gewesen. Brian in seiner guten alten Rolle als Hengst, der kompromisslos alles nahm ohne etwas zu versprechen oder gar zu danken… zuweilen wusste Justin das durchaus zu schätzen. Umso größer war die Herausforderung gewesen, Brian ungebremste Hingabe zu entlocken oder ihn unverhofft in die passive Rolle zu circen. Und hier durfte Brian beides sein… der Beherrscher von seinen Gnaden… Justin verfolgte, wie sich die kräftigen langen Schenkel spannten, wie die Hüften begannen, gnadenlos nach vorne zu zucken, er entließ sie und umklammerte stattdessen Brians Hinterbacken. Brian hatte begonnen heiser zu keuchen. Ja so… komm schon… nimm dir alles… Justin fühlte, wie sich der prachtvolle Schwanz in seinem Rachen bis zum Äußersten mit Blut gefüllt hatte, er sandte ein weiteres Zusammenziehen, das Brian einen kehligen Aufschrei entlockte, dann fühlte er, wie das Pulsieren begann. Rasch zog er sich zurück, damit Brian sehen konnte und blickte ihm dabei in die lustverschleierten Augen. Brians Körper bebte, während es ihn schubweise überfuhr. Er taumelte leicht. Justin schnappte ihn an den Knien und hielt ihn fest. „Nana, nicht von der Klippe kippen“, warnte er mit Blick auf den Abgrund. „Gäbe schlimmere Todesarten“, schnaufte Brian, während er sich an Justins Nacken festhielt. „In meinem gegenwärtigen Zustand würde ich es wahrscheinlich nicht Mal bemerken… Mach das bitte noch einmal, wenn ich alt und klapprig bin und dann schmeiß mich bitte runter.“ „Und wer schmeißt mich dann runter?“ fragte Justin. „Das ist natürlich ein Problem… Oh Mist… Du hast dein Gesicht bei deiner Lebensrettungsaktion gegen meine Hose gedrückt… Jetzt sehe ich aus, als habe sich ein Sperma spuckendes Zwerg-Dromedar an mir gerächt…“ „Ja, die lokalen Hasen, Igel, Vögel und Ameisen werden dich ganz schön schief anschauen.“ „Sonnenschein… Hier ist doch noch nicht Endstation.“ „Dann trage es mit Würde. Ich hoffe, dass es das wert ist.“ „Der Blowjob oder die Tatsache, nicht frühzeitig meinem Ende entgegen sehen gemusst zu haben? Egal, war’s beides wert.“ Brian putzte sich notdürftig die Hose mit ein paar Grasbüscheln, was es nicht unbedingt besser machte, dann musterte er Justin. „Du hast da noch immer ein sehr pittoreskes Muster auf der Nase“, bemerkte er. Justin schrubbte sich hastig. „Besser?“ „Naja… Jetzt ist dein Zinken rot. Sieht eher nach Alkoholiker als nach Schlampe aus, ich weiß nicht, ob das besser ist…? Aber zumindest bist du wieder präsentabel.“ „Und was jetzt? Konntest du eine Einladung beim Karneval der Tiere ergattern?“ Wieder einer dieser undurchdringlichen Blicke, während Brian seine Hose in Ordnung zupfte. Dann wandte er sich um und folgte erneut dem Pfad. Kapitel 26: Am Schlund der Hölle -------------------------------- XVI. Am Schlund der Hölle Nach einer weiteren knappen halben Stunde Marsch gelangten sie an einen etwas breiteren Weg, der offensichtlich auch von Autos befahren wurde. Der Wald lichtete sich ein wenig, nach dem Aufstieg bemessen mussten sie sich inzwischen auf einem der Hochplateaus befinden, die das uralte Flussbett des Ohio River flankierten. Es mochte gegen drei Uhr sein, Justin hatte keine Uhr und keine Ahnung. War ja auch überhaupt nicht wichtig. Der Weg endete in etwas, was wie ein Privatgrundstück aussah, ein kleiner Bungalow erhob sich in einiger Entfernung, eher eine Urlaubsbleibe als ein Wohnhaus. Brian wühlte in seiner Hosentasche und förderte sein Schlüsselbund heraus. Er suchte kurz, dann hatte er, was er wollte. Justin hatte diesen Schlüssel noch nie gesehen. Brian steckte ihn in die weit über Kopfhöhe aufragende Pforte, das Grundstück war von einem nicht gerade eine Einladung aussprechenden massiven Gitterzaun umgeben, rüttelte ein paar Mal, dann öffnete sie sich. „Wo sind wir hier?“ wollte Justin wissen, während er Brian hinein folgte. „Dieser Platz gehört zu keiner Ortschaft, hat keinen Namen und keine Adresse, schwer zu sagen also“, erwiderte Brian, ohne sich umzudrehen. Innerlich seufzte Justin. Wenn Brian etwas anpackte, dann mit absoluter Konsequenz. Es war ihm in der Tat gelungen, in Reichweite Pittsburghs das Nirgendwo zu finden. Das war gewiss nicht einfach gewesen. Die Rasenfläche rund um den Bungalow wirkte dennoch gepflegt. Nach einem Stückchen ging sie allerdings wieder in den dicht stehenden Wald über, der anscheinend den größten Teil des Grundstückes bedeckte, soweit Justin das von hier überschauen konnte. „Sag mal – wie hast du den ganzen Kram hier eigentlich gefunden? Oder verheimlichst du mir eine Karriere bei den Pfadfindern?“ fragte Justin. „Glaubst du, ich kann mich nur mit Schuhgeschäften als Orientierungspunkten zu Recht finden? Ich habe mir die Satellitenaufnahmen der Ecke hier angeschaut und ein bisschen was gelesen – und siehe da, wir sind nicht beim Lebkuchenhäuschen gelandet.“ „Aber nahe dran… Wer wohnt hier?“ „Ist das Privatdomizil von irgend so einem reichen Spinner, der es gegen bare Münze an Esoteriker auf Wahrheitssucht vermietet.“ „Was bitte? Wo zum Teufel sind wir hier? Esoteriker?!“ „Tja… Wenn ich seinen Sermon am Telefon zwischen verschiedenen komatösen Anfällen richtig verstanden habe, befinden wir uns auf heiligem Grund der Indianer Pennsylvanias.“ „Indianer??? In Pennsylvania gibt es keine Indianer!“ „Korrekt, Klugscheißer, aber es gab sie Mal, bis der weiße Mann sie fein säuberlich ausgerottet hat. Erst per Krankheit, dann ganz gezielt per Mord und Totschlag. Tragisch, aber wahr.“ „Okay, okay – wer ist hier der Klugscheißer…? Aber was machen wir an diesem romantischem Plätzchen, das ja anscheinend unter keinem besonders guten Stern steht…?“ „Ich zeig’s dir.“ „Ich bin gespannt.“ Oh ja, das war er. Er kannte Brian zu gut, um nicht zu ahnen, dass dieses ausgesprochen merkwürdige Szenario keineswegs willkürlich gewählt worden war. Aber ihm ging im Augenblick beim besten Willen nicht auf, worauf das Ganz hinaus lief. Da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sein Versprechen zu halten und anbetungsvoll hinter Brian her zu dackeln. Zunächst steuerte dieser jedoch das Ferienhaus an. Es war spartanisch eingerichtet, so viel konnte Justin gerade noch erhaschen, während Brian irgendwo in der Dunkelheit wühlte, die die heruntergezogenen Rollos über den Innenraum verhängten. Das charakteristische Geräusch eines auf und zu schnappenden Kühlschranks ließ ihn Hoffnung schöpfen, dass sie ihr Abendessen nicht per Pirschjagd würden erlegen müssen. Brian kam beladen mit zwei Taschen wieder zurück und reichte ihm eine. Sie kamen Justin bekannt vor, sie stammten aus ihren Beständen, Brian musste sie und wohl auch die darin geborgenen Sachen hier her liefern gelassen haben. Wie nicht anders zu erwarten, er hatte offensichtlich alles genau geplant. „Gehen wir“, sagte Brian und lief los, ohne sich umzusehen, wieder mit diesem merkwürdigen Grinsen im Gesicht, bei dem er die Lippen leicht einsog, als wolle er sich selbst auf die Zunge beißen. Okay… Er hatte die Protest-Option ja noch offen, wie er am Morgen angedroht hatte… Aber erst mal abwarten, was das hier werden sollte. Brian steuerte über die Rasenfläche erneut Richtung Wald. „Brian…?“ „Ja, Justin?“ „Irgendwie riecht es hier sehr merkwürdig…?“ „Ein wenig vielleicht.“ Je weiter sie liefen, desto intensiver wurde der Geruch. Das war kein Geruch mehr, das artete in Gestank aus, und zwar in ganz schön üblen. „Brian…?“ „Ja, Justin…?“ „Es stinkt hier wie die Pest!“ „Ein wenig vielleicht.“ „Ein wenig? Im Verhältnis wozu? Einer Stinktierkampfarena? Einer Footballmannschaft mit Cholera? Den Slums von Kalkutta?“ „Überraschung…“ „In der Tat! Ich hätte nie gedacht, dass du mich Mal freiwillig an einen Ort schleifen würdest, der eine solche… Aura versprüht! Dabei ist deine Nase viel größer als meine, wie hältst du das aus?“ „Die Welt stinkt nun mal zum Himmel. Dieser Ort ist nur so ehrlich, gar nicht anders zu tun. Soviel Aufrichtigkeit respektiere ich.“ „Buah… Oh Gott, ist das Nebel???“ In der Tat zogen trübe Schlieren über den Waldboden, die wie feuchte Finger über die Haut glitten. „Kondensation… Ja, sowas wie Nebel wohl. Warmer Nebel“, antwortete Brian. „Warmer Nebel, der nach faulen Eiern mufft? Wo bringst du uns hin? Ist ihr irgendwo die Pforte zur Unterwelt?“ „Genaugenommen… ja“, gab Brian zu. „Was…?“ würgte Justin entgeistert hervor. Brian griff ihn an der Schulter und zog ihn zu sich heran. Vor ihnen öffnete sich eine Lichtung, die von einem trüben Gewässer eingenommen wurde. Aus ihm stieg kontinuierlich Dampf auf, schwüle Hitze lag in der Luft, der Schwefelgeruch war fast überwältigend. „Was? Was? Was?“ stammelte Justin nur. „Laut der selbstverständlich völlig authentischen - wenn man mal davon absieht, dass sie keine Schriftkultur hatten, ein winziger Stamm waren und bereits am Beginn des 18. Jahrhunderts fast vollständig ausgerottet waren - Legende der verblichenen Ureinwohner Pennsylvanias befindet sich genau hier der Eingang zur Welt der Geister, an der alles Irdische endet. Herzlich Willkommen am Nichts.“ Justin starrte in das Schlieren treibende, leicht blubbernde Wasser, das tatsächlich so aussah, als gehöre es in eine andere Welt. Dann starrte er Brian an. Er war sprachlos. Dann hob er an. „Brian, das ist… genial… und völlig verrückt.“ „Genie und Wahnsinn leben nun Mal nah bei einander, ich werte das aus deinem Mund durchaus als Kompliment“, lächelte Brian und stellte seine Tasche auf den bemoosten Grund. Justin tat es ihm nach und ließ sich gleich hinterher zu Boden gleiten. „Es wäre wohl überflüssig zu sagen, dass ich eigentlich nichts zum Hochzeitstag wollte. Aber wie konntest du das wissen? Du hast doch erst am Vorabend gefragt, da war doch nie genug Zeit, das alles hier zu planen?“ „War nicht besonders schwer zu erraten. Was hättest du denn haben wollen sollen? Irgendetwas, was du dir genauso gut selbst im Laden kaufen kannst? Irgendwelchen Müll, den die Romantik-Industrie uns andrehen will und von dem du weißt, dass er mir Kotzkrämpfe verursacht? Irgendwelche hohlen Gesten und Phrasen? Das kann ich nicht, und du willst sie auch nicht haben. Aber nichts? Nichts war machbar. Oder war das falsch?“ „Nein… Nichts stinkt zwar wie die Hölle, aber… ich mag es. Vielen Dank, Brian“, konnte Justin aufrichtig antworten, während seine Nase allmählich gegen den infernalischen Gestank abhärtete. Brian ließ sich neben ihn sinken. Er lächelte. Innerlich wurde es Justin warm ums Herz, zugleich hätte er ihn am liebsten geschüttelt. Das war das Verrückte mit Brian: Wenn man nichts von ihm forderte, gab er einem alles. Auch alles von nichts. Er mochte maßlos dabei erscheinen, aber so war seine Art, er verstellte sich hier nicht. Das annehmen zu können, ohne zu nörgeln oder weg laufen zu wollen, war auch ein Geschenk, das Geschenk, das Brian wollte. Justin rückte ein Stück hinüber und schlang den Arm um Brians Nacken, zog ihn an sich. Brian vergrub sein Gesicht in seiner Schulterbeuge und atmete tief ein. Justin betrachtete ihn aus dem Augenwinkel und strich über sein Haar. Brian ließ es sich gefallen. Bis dahin war es ein weiter Weg gewesen. Es war Brian immer leichter gefallen zu geben als zu nehmen. „Weißt du“, sagte er, „vielleicht ist es gut, manchmal daran zu denken… an das Nichts, meine ich… damit man begreift, was man hat…?“ „Wieso?“ murmelte Brian an seinem Hals. „Glaubst du immer noch, etwas in mir glaubt, etwas zu verpassen? Oder glaubst hast du das Gefühl, dass du…?“ „Nein! Nein, ganz und gar nicht. Was denn auch? Was gäbe es zu verpassen?“ „Manchmal ist es auch gut, etwas zu verpassen…“ „Wie… wie meinst du das…? Ich will nicht, dass du auf etwas verzichtest…“ „Ich verzichte auf gar nichts. Ich meine nur… Es gibt Dinge, die man besser verpasst. Ein Flugzeug, zum Beispiel.“ Justin atmete tief durch. „Ja… Ja… Das haben wir verpasst…“ „Siehst du? Ich verpasse gern die Scheiße, die an jeder Ecke lauert, auch wenn das nicht immer klappt.“ „Und was ist mit nicht so beschissenen Sachen?“ „Die hab ich doch, die verpasse ich nicht. Ich gehöre nicht zu der Fraktion, die in einem Haus aus Gold und Marzipan wohnt und rum heult, warum es nicht aus Platin und Trüffeln sei - abgesehen davon, dass ich in einem Palast aus Rost und Scheiße aufgewachsen bin. So etwas ist… erbärmlich. Sicher sollte man seinen Arsch nicht einfach bequem ins Kissen krachen lassen, ist ja immer was zu tun, es geht voran… Wann bekommt Lilly nochmal Zähne…?“ „In drei Monaten oder so. Du hast recht… Glück… das ist kein objektiv an bestimmten äußeren Dingen messbarer Zustand, sondern hängt wohl eher damit zusammen, wie sehr man das, was man hat und wie man lebt, wertschätz und sich damit identifiziert…?“ „Ja, das meine ich. Und was man dafür getan hat. Und mit… mit… Liebe ist es doch irgendwie auch so, oder? Ich meine… schau sie dir doch an… drei Monate zusammen, schon machen die meisten einen auf altes Paar, ziehen zusammen, kaufen sich einen Dackel, und dann plötzlich – huch – mögen sie sich gar nicht mehr! Wie konnte das geschehen? Egal, nächster her… Und so geht es Jahr für Jahr… Immer ein neuer Dummie für die Leerstelle, die niemand füllen kann, da sie nicht für einen echten Menschen gedacht ist… Aber für einen solchen sind sie zu fantasielos – und zu feige.“ „Gut, dass wir nicht solche Versager sind“, lächelte Justin ihm ins Ohr. „Konnte mir ja auch nicht passieren, ich habe ja auch nie nach so einer kleinkarierten Scheiße gesucht.“ „Nein, du hast das immer verachtet, nicht wahr? Aber das ist nicht ganz fair. Die anderen suchen auch doch nur nach Liebe, Glück…“ „Nein, tun sie nicht. Sie haben eine ziemlich festgelegte Vorstellung davon, wie dergleichen auszusehen hat, aus ihrer Erziehung, spanischen Telenovelas und Disneyfilmen plus einem Hauch von Porno. Sie suchen nur noch nach der richtigen Besetzung für ihren eigenen Groschenroman, aber nach der eigentlichen Sache… nein, das wäre viel zu viel… Und wenn sie wen gefunden haben, geht es nach Schema X… gnadenlos… Wenn man nicht ausgesprochen gute Verdrängungsmechanismen besitzt, scheitert man an der Realität, denn die lässt sich leider selten in ein derart flaches Schema quetschen… und dann heißt es entweder abhauen oder ertragen…“ „Du meinst also… Liebe ist nichts für Feiglinge?“ „Und für Dummköpfe. Und für Spießer.“ „Gut, dass wir das alles nicht sind… Aber jeder Mensch ist da anders… vielleicht gibt es da auch andere Wege, ich weiß es nicht.“ „Mag sein. Aber das ist mir egal. Ich weiß, du hast das wirklich so gemeint mit dem… mit dem Nichts. Aber ich wollte dir zeigen…“ „…dass du mich liebst? Das weiß ich doch.“ Brian drehte den Kopf und sah ihn an. „Nein, darum ging es nicht, sondern darum, dass… dass man nicht einfach rumsitzt und dabei gar nicht mit bekommt, wie es zur Routine verkommt und als Selbstverständlichkeit verdorrt. Der leise Tod, nicht wahr? Ich musste etwas tun…“ „Hast du ja auch. Und es ist verrückt und überhaupt nicht routiniert und selbstverständlich. Und es ist wundervoll… hier am Eingang zur Hölle.“ Justin musste lächeln. „Jetzt habe ich fast ein schlechtes Gewissen…“ „Bloß nicht! Die letzten nicht routinierten, nicht selbstverständlichen Wahnsinnsaktionen gingen auf dein Konto – mein Geburtstag, deine Fotos…“ „Also doch Routine?“ neckte Justin. „In der Irrenanstalt vielleicht.“ „So schlimm?“ „Nein. Ich mag mein Irrenhaus, meine irren Kinder und meinen irren Mann.“ „Na, da freue ich mich doch… wie wahnsinnig“, lachte Justin und küsste ihn. Sie sanken auf den leicht glitschigen Waldboden und erlaubten es sich, die Eichhörnchen durch heftiges Rumgeknutsche zu irritieren. Justins Finger tasteten sich in recht eindeutige Regionen vor, doch Brian fing seine Hand ab. „Was…?“ fragte Justin verwirrt. „Sonnenschein, Sonnenschein… Immer nur das eine im Kopf… vorhin sogar wortwörtlich… Aber bevor wir uns des Bestandes unserer Ehe auch auf der physischen Ebene vergewissern, sollten wir die Vorzüge dieses Ortes gebührend würdigen.“ „Du willst die Natur bewundern? Dazu zähle ich als Nachfahre vieler Generationen von Affen auch… bewundere das!“ protestierte Justin und versuchte Brian wieder an sich zu ziehen, aber dieser hatte sich schon aufgerappelt und schnappte Justins nach ihm greifende Hand, um diesen auch wieder auf die Beine zu zerren. „Du leugnest Gottes Schöpfung? Erzähl das bloß nicht meiner Mutter. Komm her du Affe. Obwohl ich sagen muss, dass dein Fell dafür eher enttäuschend ausfällt.“ Justin verzog die Nase. „Wenn du sowas gewollt hättest, hättest du besser einen bärtigen Leder-Daddy geheiratet.“ „Buah… Dem hätte das Hochzeitskleid bestimmt nicht gestanden…“ „Haha, als hätte ich sowas angehabt.“ „Du hättest bestimmt sehr niedlich ausgesehen.“ „Garantiert – bis zum dem Zeitpunkt, an dem du mir auf die Schleppe gereihert hättest.“ „Auch wahr. Transen waren nie mein Fall. Was hingegen immer mein Fall ist, ist der Look, den wir uns dem Ort entsprechend jetzt zulegen werden.“ „Wir verpassen uns eine Indianer-Kriegsbemalung? Was ist in den Taschen, Federschmuck?“ „Nein, wir machen hier keinen auf Village People. Als dein vor den Menschen und Gott – Kanadas – angetrauter Ehemann befehle ich dir: Klamotten aus!“ „Auch wenn mir dein Kommando-Tonfall missfällt, kann ich der Richtung doch was abgewinnen – oder bindest du mich dann an einen Baum, beschmierst mich mit Honig und läufst weg?“ „Du magst es doch ein wenig härter… Nein, natürlich teile ich dein Schicksal und trenne mich gleichfalls von meinen Kleidungsstücken.“ „Das ist sehr edel“, kommentierte Justin und pellte sich schnell wie der Blitz aus seinen Sachen, ohne dabei den Blick von Brian zu lassen, der sich gemächlich das T-Shirt abstreifte und dann seine Jeans über die Hüften gleiten ließ. Für einen Wimpernschlag fühlte sich Justin wieder wie der paralysiert sabbernde Teenager, dem sich der vollgedröhnte Brian einst völlig ungehemmt im Adamskostüm präsentiert hatte. Nur dass er inzwischen deutlich konkretere Vorstellungen davon hatte, was man mit der Pracht anstellen könnte. Er bückte sich, um sein Kleidungsbündel einigermaßen sauber auf der Tasche zu deponieren, da wurde er schon gepackt. „Hey, Brian“, protestierte er halbherzig, „was wird das?“ Der Griff verhieß nicht unbedingt ein wildes Liebesspiel, sondern vielmehr, dass Brian im Begriff war, ihn zu packen und fort zu schleifen. Aber was immer Brian vor hatte, es machte bestimmt Sinn – auf irgendeine Weise… „Du bist echt handlich“, grinste Brian, während er sich Justin über die Schulter wuchtete. „Danke Schatz… Dieses Kompliment wollte ich schon immer mal hören“, keuchte Justin, der sich fühlte wie ein Sack Gold in der Hand plündernder Wickinger. Da sein Ausblick in Richtung Wald – und Brians Hintern – ging, bemerkte er nicht sofort, wie ihm geschah. Erschrocken schrie er auf, als Brian ihn wie ein Wurfgeschoss vorwärts schleuderte, dann krachte er schon in das heiße, weißlich-undurchsichtige Wasser. Prustend kam Justin wieder an die Oberfläche. „Ihhh!!! Du hast mich in diese Stinkbrühe geworfen, du… du…!“ Brian stand nackt und lachend am Ufer. „Das ist eine Thermalquelle, andernorts zahlen die Leute viel Geld für dieses Vergnügen. Das Wasser ist angenehm temperiert und voller Mineralien. Ist gut für die Haut, die Atemwege, das seelische Gleichgewicht…“ „Danke, da geht’s mir bestens! Schmeiß mich doch nächstes Mal gleich in einen Bottich voll faulender Eier!“ „Riechst du noch was?“ Justin schnupperte. „Nein, irgendwie ist es weg? Komisch?“ „Nach einer Weile nimmt die Nase es nicht mehr wahr. Und jetzt mach mal Platz da, du Memme.“ Das Wasser spritze hoch auf, als Brian sich neben ihm schwungvoll in die Fluten warf. Er kam wieder nach oben und streckte sich wohlig. „Mutter Naturs hauseigener Whirlpool. Da sag mal einer, dass die nur lahme Flüsse und Seen kann…“, lobte er. „Naja, uns hat sie ja auch hin bekommen. Aber weißt du, was hier anders ist als in einem Whirlpool?“ „Das pittoreske Ambiente? Die Indianerflüche?“ „Nein… Es ist tief“, erklärte Justin seelenruhig und stürzte sich auf Brian. Eh der sich recht versah, war er unter geduckert. Spuckend kam Brian wieder an die Oberfläche. „Äh… das Wasser schmeckt zum kotzen… Na warte…“ Er sah sich um, aber Justin war fix und ein guter Schwimmer. Dafür war er größer und kräftiger… Er nahm die Verfolgung auf. Kurze Zeit später flogen die Fetzen, Wasserfontänen schossen in die Höhe, einzelne Gliedmaßen tauchten in einem Knäul auf und verschwanden, die Luft war erfüllt von einem Gemisch aus Gelächter und wilden Flüchen. Das Licht hatte langsam eine abendliche Tönung angenommen, als sie schließlich schnaufend aneinander hängend zur Ruhe kamen. „Einigen wir uns auf ein Unentschieden“, schlug Justin keuchend vor. „Du hast es gesagt – du hast verloren“, sagte Brian, dessen Brustkorb heftig auf und nieder fuhr. „Der Klügere gibt nach…“ „Das sagen alle Verlierer.“ „Meinetwegen… Du hast mich hier rein befördert, du schleppst mich hier wieder raus.“ „Das ist wohl meine Siegerpflicht“, stimmte Brian zu und schnappte sich Justin unter Rücken und Kniebeuge. „Uff… wusstest du schon, dass du über Wasser das Zwanzigfache wiegst?“ „Schwächelt mein wilder Stier etwa? Denk an die Nummer in Dirty Dancing, Patrick Swayze hat auch nicht genörgelt.“ „Du bist auch nicht gerade Jennifer Grey. Ich sag’s ja nur“, meinte Brian und beförderte Justin wieder auf seine eigenen Füße. Kapitel 27: Muse ---------------- XXVII. Muse Die Luft war noch immer warm, dennoch fröstelte es sie leicht nach der Zeit in der heißen Quelle. Brian kramte Handtücher aus einer der Taschen hervor, so dass sie sich abtrocknen konnten. Die Tücher um die Hüften geschlungen setzten sie sich auf einen aus dem Boden hervorbrechenden Feldgrad, der als Bank gerade recht kam und von der Sonne angenehm gewärmt war. Brian zog die andere Tasche zu ihnen hoch und reichte sie Justin. Dieser öffnete den Reißverschluss und förderte einen Kühlbeutel hervor, der oben lag. Er langte hinein und ertastete ein paar immer noch gut temperierte Flaschen. „Kein Champagner?“ grinste er. „Ich mag die Plörre nicht. Du etwa?“ „Nö, Bier ist schon super. Und wer hat denn den Whiskey da rein gepackt… für wen mag der denn sein…?“ „Ausschließlich für dich natürlich. Genauso wie der Kaviar.“ „Kaviar? Nun kommst du aber doch mit der Klischee-Keule…“ „Wenn du gerne fischige Klischees isst, gibt’s halt Glibbereier. Ist mir immer noch lieber als eingeschweißter Ceddar.“ „Oh, da ist Brot… Dann mal rein mit dem, was Frau Fisch einst am Arsch gehabt…“ „Du verstehst es echt, einem eine Mahlzeit schmackhaft zu machen.“ „Ach, da bin ich unbesorgt, schließlich hast du es auch geschafft, das Gruselmenü deiner Mutter lächelnd runter zu würgen.“ „Damit wollte ich Lance los werden. Dich will ich nicht los werden.“ „Dann sei ehrlich, so bleibt mehr für mich.“ „Das hättest du wohl gerne. Her mit den Fischembryonen!“ „Mich schockt das gar nicht.“ „Deine Frustrationstoleranz ist ja auch Gott sei Dank sehr hoch.“ „Ja, nicht wahr? Gut für dich.“ „Pah!“ Justin reichte ihm ein Bier, hielt sein eigenes in die Luft und warf sich in die Brust: „Auf meinen wundervollen Ehemann Brian, der aus Nichts Alles, aus Scheiße Gold und aus der Hölle der Ehe den Himmel auf Erden machen kann, Prost!“ Brians Mundwinkel zuckten verdächtig, als sie anstießen. Sie ließen sich die durch die Blätter dringende Abendsonne auf die Körper scheinen, während sie an ihren Getränken nippten und die Mahlzeit sacken ließen. Justin musterte Brian aus dem Augenwinkel, der mit nichts am Leib außer einer Sonnenbrille entspannt auf dem warmen Stein neben ihm lag. Er sog das Bild in sich auf, der lange gestreckte Oberkörper, die kräftigen, aber nicht aufgepumpten Muskeln, die warm gebräunte Haut und dort unten… dann stutzte er. „Brian?“ „Mmm…?“ „Ich muss dir was sagen, aber du musst mir versprechen, dich nicht aufzuregen.“ „Du weißt doch, ich gebe nicht gerne Versprechen, erst recht nicht, wenn ich nicht weiß, worüber.“ „In diesem Falle wäre es aber besser so – für uns beide.“ „Und zu dieser Überzeugung führt dich was…?“ „Jahrelange Erfahrung. Glaube mir, du wirst mir zustimmen. Ist auch nur etwas, was den Verlauf der nächsten paar Minuten betrifft, die keine schicksalshafte Wendung bringen werden.“ „Wozu dann ein Versprechen?“ „Vorsichtsmaßnahme. Du versprichst mir, dich fünf Minuten lang nicht aufzuregen, dann darfst du, okay?“ „Was ist los?“ fragte Brian misstrauisch. „Nichts Großartiges! Versprichst du es?“ „Fünf Minuten? Was immer es ist, das ist nicht lang. Okay, ich verspreche dir, dass ich mich fünf Minuten lang nicht aufregen werde – als sei ich irgend so eine hyperhysterische Queen…“ „Okay, gut.“ „Was jetzt? Raus mit der Sprache!“ „Du hast eine Zecke am Sack.“ „Was?!!“ Brian fuhr auf wie von der Hornisse gebissen. „Du hast es versprochen!“ „Scheiße! Da habe ich doch nicht geahnt, um was es geht! Scheiße! Wo? Wo, verdammte Scheiße!?“ „Nicht aufregen… Die frisst dir deine Kronjuwelen schon nicht weg, die will nur dein Blut…“ „Scheiße! Warum habe ich das nicht mitbekommen, dass mich so ein Viehzeug in die Eier beißt! Du Mistvieh!“ „Die Biester wären wahrscheinlich nicht so erfolgreich, wenn man sie bemerken würde. Aber keine Panik, das haben wir gleich.“ „Igitt, die sieht ja aus wie ein fetter Pickel! Mach! Das! Weg!!!“ „Jaja, dabei hat die Arme noch nicht einmal fertig gespeist, sonst wäre sie jetzt fett wie eine Fingerkuppe…“ „Ja, nur weiter so, bring mich zum kotzen! Wie war das? Man muss den Kopf mit raus bekommen? Pass bloß auf, ich will kein Insektenhirn in meinen Klöten vermodern lassen! Bekommt man da nicht so fiesen Ausschlag von? Oder Hirnhautentzündung?“ „Wie war das mit dem Versprechen? Ja, die Biester können Krankheiten übertragen, aber das kommt in unseren Breiten selten vor. Nur wenn sich was entzündet oder man Fieber bekommt, sollte man sich Sorgen machen. Und jetzt hältst du still, ich hole sie raus.“ „Kannst du das denn?“ „Ja, mein Vater hatte früher einen Hund, der hatte ständig Zecken.“ „Wie schön.“ „Siehst du, das war’s schon. Oh schau mal, sie strampelt noch…“ „Ich bin entzückt, dass du es geschafft, dass es ihr gut geht…“ „Das bezweifle ich. Aber du siehst auch ganz okay aus.“ „Okay?“ „Fabelhaft?“ „Du verwechselst mich wohl mit Emmet...“ „Nach dem Drama eben… Aber Emmet ist auf dem Land aufgewachsen, der wird sich auch auskennen mit Zecken.“ „Das glaube ich gern“, knurrte Brian, wieder hintenüber kippend, sich aber diesmal das Handtuch vorsichtshalber über die Weichteile ziehend. „Ich stimme dafür, dass wir umziehen.“ „Willst du ins Haus?“ „Ins Meditationsstübchen für Hobby-Asketen? Nein danke. Nur irgendwohin, wo ich nicht das Gefühl habe, dass sich tausend gierige Augen auf meinen Schwanz richten.“ „Wieso? Fandest du das nicht immer ganz klasse?“ „Es mag sich dabei streckenweise auch um krankheitsübertragendes Ungeziefer gehandelt haben, aber zumindest wollte es sich nicht festbeißen, jedenfalls nicht wortwörtlich. Auslutschen allerdings schon, da hast du wohl recht.“ „Der Unterschied sind wahrscheinlich die Facettenaugen.“ „Das wird es sein.“ Sie rafften ihre Siebensachen zusammen, schlüpften behelfsmäßig in ihre Schuhe und setzten sich in Marsch. Brian musterte den vor ihm den Weg hinauf laufenden Justin, von dessen Körper lediglich die Füße verhüllt waren. Der Rücken und die Beine waren in ein helles Goldbraun gefärbt, das in der Luft getrocknete Haar stand wild ab. Lediglich das schneeweiße Hinterteil hob sich arg ab. Nicht zu seinem Nachteil. Da lief man doch gerne hinterher wie ein Lemming. Als sie die Rasenfläche außerhalb der Reichweite von Kamikaze-Zecken erreichten, blieb Justin kurz zögernd stehen. „Wo willst du hin?“ fragte er. Brian umschlang ihn von hinten und ließ seine Handfläche auf Justins rechte Hinterbacke klatschen. „Da rein“, erklärte er, die Aufrichtigkeit seines Bestrebens mit leichtem Druck seines Unterleibs betonend. Justin straffte sich in seinen Armen und schmiegte sich gegen ihn. „Ich dachte schon, du würdest nie fragen“, murmelte er. „Das dachtest du bei meinen gesammelten Heiratsanträgen auch“, erwiderte Brian und begann ihn zu küssen. Der Rasen war weich, die Abendsonne warm, das reichte völlig. Es war an Justin zu schenken. Wenn Brian wild war, dann war er wild, wenn Brian zärtlich war, dann war er das ohne wenn und aber. An Justin war es an diesem Ort nur, ihm zu zeigen, wie sehr er das wollte, egal wie es war, dass es letztlich dieselbe Essenz hatte und dass er mit gleicher Münze zurück geben konnte, dass er ihn betörend fand, wunderschön und dass er ihn über alles liebte. Andere mochten das mit Worten tun. Worte waren schön und gut. Aber das hier waren Taten. Und Brian bevorzugte Taten. Das letzte Licht war geschwunden, der Mond schien über die Fläche, als sie als ein Bündel heller und dunklerer Gliedmaßen langsam wieder zu Atem kamen. Brian lachte leise, Justins Körper von oben umschlingend. „Was?“ murmelte Justin. „Ich danke nur gerade Gott, dem Chaos des Universums, den Stammesgöttern der Susquehannock oder wem auch immer für diese Nummer…n.“ „Susquehannock? Sind das die, deren Fluch uns wahrscheinlich treffen wird? Dank doch mir!“ „Dann hebst du völlig ab.“ „Bin ich doch eben schon – mehrfach. Dank dir.“ „Ich bin einfach gut.“ „Ach… aber ich nicht…?“ „Na gut… Danke Sonnenschein dafür, dass du ein derart hemmungslos geiles Stück bist, dessen Kopf ständig neue Sauereien ausheckt und die alten verfeinert.“ „Um nur ein paar meiner Qualitäten zu benennen. Kreativität und Meisterschaft gehen nun Mal Hand in Hand, ansonsten bleibt nichts als öde Wiederholung, da hilft auch keine Virtuosität…“ „Wie bei deinen Bilder…?“ „Ja…“ „Sehr gut!“ „Wieso?“ „Wenn deine Qualitäten als Künstler mit denen einhergehen, die du beim Matratzensport – in diesem Fall wohl eher Grünflächensport - zeigst, werde ich mich wohl nie über ein ödes Eheliebesleben beklagen müssen.“ „Darauf darfst du Gift nehmen. Außerdem habe ich dir doch gesagt, dass du sowas wie meine Muse für mich bist…“ „Schenkst du mir dann jetzt immer Blumen, Pelzmäntel und winzige Hündchen?“ „Macht man das so mit Musen…? Ich weiß nicht… Ich weiß nur, dass es ähnlich ist, vielleicht auch gleich, dass, was ich mache, wenn ich etwas gestalte, und das, was ich mit dir im Bett, auf dem Rasen, in der Badewanne oder sonst wo mache… Es sind nicht nur Gedanken… sondern Gefühl, Instinkt…“ „Instinkt finde ich gut! Immer her mit deinem Instinkt! Vergiss die Hündchen…“ „Schon geschehen.“ „Aber das ist nicht gut… dass du deine Kunst so abhängig von mir machst…“ „Halt den Schnabel. Kunst existiert nicht getrennt von der Welt, vom Leben. Von meinem Leben. Und davon bist du ein Teil, nicht der einzige, aber ein ganz wesentlicher. Und das ist keine Abhängigkeit im Sinne von Unfreiheit und Einengung. Sondern ganz im Gegenteil.“ Brian richtete sich halb auf Justin gelehnt auf. „Ja, ich verstehe. Wirklich. Es ist gut. Es ist nur immer noch so… ungewohnt. Dass ich… Teil davon bin. Es geht mir ja nicht anders. Vieles von dem, was ich mache, fußt auf dem, was wir… geschaffen haben. Auch beruflich. Denk an Kinnetic. Allein der Name… Das war ich nicht alles allein, es hat Wurzeln…“ „Ja, wir machen beide unser Ding. Aber nicht allein. Und das ist nichts Schlechtes.“ „Nein, das ist es nicht. Und wenn ich an Gus und Lilly denke… Die beiden sind abhängig von uns, ganz und gar. Lilly macht ja eigentlich nichts, sie frisst, pinkelt, schläft, brüllt, grinst und grabscht, aber trotzdem… Okay, Genmanipulation, sie hat uns das Hirn vernebelt… Aber trotzdem…“ „Ich weiß. Es macht glücklich, nicht wahr? Wenn sie etwas machen? Wenn Gus sich darüber freut, etwas Neues in der Schule gelernt zu haben, der kleine Streber, wenn es Lilly schafft, dir in der Nase zu bohren. Es mag nichts Besonderes sein. Aber für mich ist es das. Und für dich auch. Man mag sich den Arsch aufreißen müssen und keine Nacht zum Durchschlafen kommen – aber das ist es wert. Tausendfach.“ „Liebe ist schon komisch.“ „Ja. Ein Geschenk, das es nicht gratis gibt.“ Sie schwiegen eine Weile, sich gegenseitig in der Frische der jungen Nacht wärmend. „Wir müssen bald zurück“, unterbrach Brian schließlich. „Oh weh“, seufzte Justin, „den ganzen Weg. Ich fühle mich gerade so faul und verantwortungslos…“ „Keine Angst, auch das habe ich mit eingeplant. Ein Taxi holt uns hier gegen Mitternacht ab. Für das Boot ist gesorgt. Ich muss Morgen in die Firma. Meine Mutter bringt Gus zur Schule. Du müsstest lediglich morgen früh Lilly bei deiner Mutter abholen, bevor die zur Arbeit muss.“ „Geht klar.“ Justin rappelte sich hoch. „Schön eine Idee, was du nächstes Jahr möchtest?“ fragte ihn Brian. „Gar nichts?“ „Gierhals.“ Kapitel 28: Brians Augen ------------------------ XVIII. Brians Augen Es war halb acht, als es an der Haustür klingelte. Jennifer drückte sich hastig den zweiten Ohrring durchs Ohrläppchen, dann eilte sie zu Tür. Justin stand vor ihr, ein wohlgelauntes Lächeln im Gesicht. „Hallo, Mama!“ grüßte er sie fröhlich, während er eintrat. „Hallo Schatz, gut dass du da bist, ich muss gleich los. Hattet ihr einen schönen Tag?“ „Ja, Mama, danke fürs Aufpassen! Ich wusste ja von nichts“, antwortete er und steuerte Lilly an, die auf einem Deckchen auf dem weichen Teppich den Wohnzimmers lag und voller Faszination die wippenden Tierfiguren anschaute, die über ihr von einem kleinen Gestellt baumelten, das derartiger Baby-Bespaßung diente. „Was habt ihr denn Schönes gemacht? Oder ist das… geheim…?“ fragte Jennifer. „Nein, nein… Wir waren im Grünen, den Ohio River runter, sind Boot gefahren und sind geschwommen… Es war wirklich sehr schön… Hallo, mein Mäuschen, hast du mich vermisst?“ Lilly quietschte vergnügt, als er sie hoch nahm. Sie war mittlerweile in der Lage, zwischen bekannten und unbekannten Personen zu unterscheiden und teilte das in ihren Reaktionen mit. Quietschen, glucksen und lächeln hieß: kenn ich und ist gut – greinen, wimmern und heulen hieß: kenn ich nicht, weg hier. „Das freut mich. Brian gibt sich wirklich viel Mühe, aber daran hatte ich nie Zweifel. Naja… oder inzwischen nicht mehr“, meinte sie und trat zu ihm. „Ja… Molly ist schon weg?“ fragte Justin, der einen unwilligen Laut von Lilly erntete, als er sie erneut ablegte, um ihre Sachen zusammen zu sammeln. „Ja, du hast sie knapp verpasst. Aber ich soll dich grüßen.“ „Grüß sie Mal zurück. Wir können demnächst ja vielleicht zusammen mit Gus ins Kino? Wir könnten Ice Age 2 sehen, die Animationen sind klasse und der erste Teil war auch ziemlich lustig.“ „War das der mit dem Hörnchen und der Nuss?“ „Genau der. Erinnert einen immer ein wenig an Emmet, wenn er versucht zu rennen…“ Jennifer musste kurz lachen. „Ja, gerne. Ich wäre ja mehr für „Der Teufel trägt Prada“, aber das dürfte nichts für Kinder sein.“ „Stimmt. Außerdem habe ich das zur Genüge zuhause…“ „Jetzt tust du Brian aber Unrecht!“ „Stimmt… Er trägt auch Gucci, Armani…“ Erneut musste Jennifer auflachen. „Brian ist doch sehr liebenswürdig unter seinen Edelklamotten“, verteidigte sie ihren Schwiegersohn. „Teure Hülle, weicher Kern? Sag das bloß nicht in der Öffentlichkeit… Außerdem dürften das seine Angestellten anders sehen, neulich habe ich ihn bei einer Stippvisite bei Kinnetic dabei erwischt, wie er Mal wieder eine Praktikantin zum Heulen gebracht hat.“ „Dass Brian kein Weichei ist, dürfte dich wohl kaum überraschen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Angestellten grundlos drangsaliert…“ „Nein, tut er auch nicht. Er erwartet von ihnen nur dasselbe wie von sich selbst – und das ist nicht wenig. War Lilly artig?“ „Ja, sie hatte ein paar Mal Hunger heute Nacht, aber das ist schließlich normal. Sie ist ein sehr pflegeleichtes Baby, wenn ich da an dich denke…“ Das ging noch schlimmer? Justin wollte es gar nicht wissen. „Okay“, sagte Jennifer und schlüpfte in ihre Pumps, „ich muss denn Mal. Hast du alles?“ Justin sah sich noch einmal um, dann nickte er. „Ja, ich denke schon. Wenn dir etwas auffällt, ruf mich einfach nachher an.“ „Mach ich. Dann gib sie mir doch noch mal.“ Jennifer hob Lilly vorsichtig aus dem ihr von Justin vorgehaltenen Tragekörbchen. „Mach’s gut, Engelchen. Du darfst mich und Molly gerne bald wieder besuchen kommen, versprochen? Ja… Du bist so ein liebes Mädchen…“ „Genau“, sagte Justin und grinste, „sag Omi tschüss, Lilly.“ Jennifer straffte sich würdevoll. „Genau, sag deiner Oma tschüss. Die ist nämlich sehr glücklich, dass es dich gibt und dass sie deine Großmutter ist, auch wenn ihr missratener Sohn das anscheinend witzig findet.“ „Entschuldige Mama…“, versuchte sich Justin aus der Affäre zu ziehen. „Schon gut. Ich kann ja verstehen, dass mein jugendliches Aussehen es absurd erscheinen lässt, dass ich schon Großmutter sein soll…“ „Ganz genau!“ „Wollen wir hoffen, dass die Jahre auch so freundlich mit dir umgehen… Apropos, hast du deinen Vater in letzter Zeit mal gesehen?“ „Ja, ab und an hier, wieso…?“ „Ich glaube, er würde sich freuen, wenn du ihn mit Lilly mal besuchst oder ihn einlädst. Er ist schließlich auch ihr Großvater…“ Justin legte den Kopf schief. „Stimmt… Du hast Recht… Ich ruf ihn mal an.“ „Fahr doch einfach zu ihm rüber. Er ist diese Woche zuhause, renoviert am Haus herum, die Firma ist ja mittlerweile weitestgehend ein Selbstgänger. Witzig, so hatten wir es früher immer geplant…“ „Jetzt?“ „Warum nicht? Oder hast du was vor?“ „Ich muss Gus nachher von der Schule abholen und wollte danach ein paar Bewerbungen tippen… Aber bis dahin… eigentlich nein…“ „Na bitte.“ „Okay…“ „Gut, grüß ihn und sag ihm, dass er sich heute Abend Mal die Holzverkleidung im Keller hier ansehen soll. Ich habe den Verdacht, dass es dahinter schimmelt.“ „Das kannst du doch auch selber…?“ Jennifer verdrehte die Augen. „Sicher kann ich das!“ „Ach so… verstehe…“ Justin grinste süffisant. Er drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Eine Viertelstunde später parkte er am Kantstein vor dem Einfamilien – oder eher Einmann- Haus seines Vaters ein. Schon von der Straße auskonnte man das vertraute Röhren einer Säge hören. Vorsorglich klingelte Justin Sturm, dennoch dauerte es fast fünf Minuten, bis die Säge verstummt war und sein Vater ihm die Tür öffnete. Er hatte eine Schutzbrille auf und trug Jeans und T-Shirt. Verblüfft musterte er Justin, sein Blick blieb an Lilly hängen. „Hallo Justin… Nanu, was machst du denn hier…?“ „Wollte dich mal besuchen. Mama meinte, du seist zuhause?“ „Ja, ich baue den Dachboden aus. Außerdem wollte ich Hektor nicht alleine lassen. Komm rein.“ Justin folgte der Einladung. „Hektor?“ fragte er. „Ich habe mir einen Hund besorgt. Hatte ja früher immer Hunde… Er ist noch ein Welpe, und er muss sich erst mal eingewöhnen.“ „Oh… Ist er das?“ fragte Justin überflüssigerweise, als er Hektors ansichtig wurde. „Das soll ein Welpe sein? Der ist ja jetzt schon drei Dackel…?“ „Das ist ein irischer Wolfshund. Der kann einen Meter hoch werden… solange er auf allen Vieren steht.“ „Süß… Wolfshund? Weil er so nah am Wolf ist…?“ „Nein, weil er Wölfe frisst. Die wurden früher für die Großwildjagd eingesetzt. Eine der ältesten Hunderassen der Welt“, erzählte Craig stolz. „Ja, die Wölfe sind hier im Neubaugebiet von Pittsburgh ein echtes Problem in letzter Zeit…“ „Ich wollte nicht so einen Pinscher!“ „Das dürfte dir gelungen sein… Zumindest sind in deinem Haus wenigstens noch die Hunde echte Hunde…“ „Justin, lass das! Das hat überhaupt nichts mit der… anderen Sache zu tun, okay? Ich wollte nur immer schon so einen Hund. Sie sollen sehr klug sein und einen guten Charakter haben. Komm her, Hektor!“ Der Welpe kam vorsichtig um sich schauend angetapst. Seine Pfoten waren geschätzte acht Nummern zu groß, was ihn zum einen sehr niedlich wirken ließ, zum anderen aber von seiner zukünftigen Größe kündete. Justin stellte Lilly auf dem Sofa neben sich ab und ließ sich beschnuppern. Hektor tat das eifrig, dann wedelte er mit dem Schwanz und leckte Justins Finger ab. „Braver Hektor“, lobte Justin, „siehst du, ich schmecke gar nicht nach Wolf! Liebes Monsterbaby!“ Craig hatte seine Konzentration mittlerweile wieder auf Lilly gerichtet. „Darf ich sie mal…?“ fragte er. „Klar, du bist schließlich ihr Opa“, meinte Justin nur und kraulte Hektor hinter den Ohren, der begeistert fiepste. Craig schien die Bemerkung gar nicht zu kratzen. Er hob Lilly vorsichtig hoch und gurrte: „Schau mal, Lilly, wer hier ist, dein Opa…“ Offensichtlich war er ein weiteres Opfer Daphnes Welteroberungsplans. Lilly begann zu greinen. „Was hat sie?“ wollte Craig wissen. „Ach, sie fremdelt ein wenig. Das macht sie bei allen, die sie nicht regelmäßig sieht. Das ist nicht böse gemeint“, erklärte Justin. Craig verzog ein wenig betrübt das Gesicht: „Aber nicht doch… Nicht weinen Lilly… Ich bin’s doch…“ Lilly ließ sich nicht beirren, aber immerhin steigerte sie sich nicht in ein Heulen. „Willst du sie besser nehmen?“ fragte Craig zweifelnd. „Nein, das ist schon gut. Lass ihr einfach Zeit“, meinte Justin und zupfte Hektor leicht am Schwanz, dass dieser sich völlig verwirrt umschaute, woher das gekommen sein mochte. Soviel zum Thema Klugheit. Craig musterte seine ungnädige Enkeltochter. Ihre Augen hatten begonnen, sich zu verfärben. Jedes Mal, wenn er sie zu Gesicht bekam, waren sie Brians ein wenig ähnlicher geworden, die merkwürdig langen Wimpern hatte sie bereits ganz am Anfang gehabt. Seine Enkeltochter würde ihn mit Brian Kinneys Augen anblicken. Das Leben war doch manchmal wirklich absurd. Aber ihr blondes Haar, die feine Knochenstruktur und die helle Haut zeugten von Jennifers und Justins Erbe. Was hatte sie von ihm abbekommen? Bei sich selbst ließ sich das immer am schwersten sagen. Und es gab ja nicht nur Äußerlichkeiten. Da musste er wohl abwarten oder Jennifer fragen. „Und wie läuft’s mit dem Ausbau?“ fragte Justin. „Ganz gut. Die Isolierung habe ich soweit hin bekommen, jetzt wollte ich mit der Vertäflung beginnen“, erklärte Craig. „Ach, da fällt mir ein“, grinste Justin, „Mama lässt fragen, ob du heute Abend nachschauen kannst, ob es bei ihr im Keller schimmelt.“ „Sicher kann ich…“, sagte Craig mit einem schnellen Blick auf seinen Sohn. Sollte der bloß grinsen. Wenn seine Mutter Hilfe brauchte… Und danach könnten sie… „Ach, da fällt mir ein“, sagte Craig. „Ich habe was gebaut… Vielleicht könnt ihr etwas damit anfangen?“ „Was denn?“ fragte Justin, dem Hund, der ihn schwanzwedelnd anbetete, Grimassen schneidend. „Komm mit, ich zeige es dir“, meinte Craig und erhob sich, ohne Lilly los zu lassen, die inzwischen nur noch unwillig gnatschte. Er ging voran, Justin und Hektor folgten im Gänsemarsch. Sie traten hinaus in den rückwärtig gelegenen Garten. Die Terrasse war mit einer Arbeitsbank und diversem Gerät vollgestellt, der selten genutzte Pool lag abgedeckt. „Wow“, meinte Justin. „Nicht übel!“ „Ja, nicht? Ich hatte ja auch mal eine für dich und Molly im alten Haus gebaut, ihr mochtet sie immer gern und gehalten hat sie auch“, erwiderte Craig mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Justin studierte die Schaukel. Sie lastete auf sauber montierten soliden Stämmen, kein billiger Baumarkt-Unsinn, sondern richtig gute Handarbeit. Was wohl sein Vater von seinen Holzbearbeitungskünsten halten würde? „Gus hat nächste Woche Geburtstag. Er würde sich bestimmt sehr darüber freuen?“ „Bin ich denn eingeladen?“ „Klar. Schließlich bist du für ihn „Opa Craig“. Er hat am Samstag Geburtstag, da ist erst mal Kindersause. Brian weigert sich immer noch konsequent, ins Clowns-Kostüm zu schlüpfen und Luftballons zu falten. Und am Sonntag feiern wir in erwachsener Runde und weihen zugleich den Tennisplatz ein. „Tennisplatz? Ihr spielt Tennis?“ „Eigentlich nicht. Aber er gehörte zum Haus und Brian hat ihn wieder herstellen lassen. Da sollten wir ihn der Formalität halber zumindest einmal nutzen…“ „Wir haben das früher ein paar Mal gemacht.“ „Ja, ich erinnere mich.“ „Du mochtest es nicht besonders.“ „Nein, nicht wirklich.“ „Ebenso wenig wie Football, Baseball…“ „Ich mochte die Spieler“, grinste Justin. „Ich weiß“, murmelte Craig. „Wie, du weißt?“ „Dein Skizzenblock war voll mit solchen Zeichnungen, damals als du mit Brian…“ „Du hast in meinen Sachen gewühlt?!“ „Ich wollte wissen, was los ist!“ „Das dürfte dir nach dem Studium meiner Zeichnungen ja dann ziemlich klar gewesen sein.“ „Allerdings. Machst du überhaupt Sport?“ „Außer, dass ich den ganzen Tag lang im Atelier rum wuchte oder Kinder schleppe? Wir haben einen Fitnessraum, da trainiere ich ab und an.“ Justin verschwieg vorsichtshalber, worin seine Trainingseinheiten bestanden. Er bezweifelte, dass sein Vater seinen Kumpels begeistert von seinen Fortschritten beim Pole Dancing berichten wollte, wenn die mit den Football-Ergebnissen ihrer Brut protzten. „Ja, du hast ganz schön viel zu tun… Läuft’s gut?“ „Ja. Ich fange gerade an, mich direkt bei Museen und Ausstellungen zu bewerben.“ „Und das ist gut?“ „Ja, das ist sozusagen der nächste Schritt nach der reinen Galerievertretung. Ich hoffe, es wird etwas draus.“ „Bist du gut?“ „Ja. Ich bin gut.“ „Dann wird was draus. Es ist ewig her, dass ich ein Bild von dir gesehen habe?“ „Ich habe einiges zuhause. Komm doch die Woche einfach vorbei, dann zeige ich sie dir. Dann können wir auch die Schaukel montieren, während Gus in der Schule ist, ich wickel sie dann in eine Plane, damit er sie noch nicht zu Gesicht bekommt.“ „Das wäre schön. Wie geht es Brian?“ „Gut, danke der Nachfrage. Kinnetic brummt, aber er übertreibt es auch nicht, sondern belässt es auch mal dabei, die Zügel in der Hand zu haben.“ „Ihr seid jetzt ja auch schon eine ganze Weile… verheiratet?“ „Ja. Gestern war unser erster Hochzeitstag.“ „Ich weiß. Ich habe die Anzeige von damals aufbewahrt.“ „Ach so.“ „Glückwunsch.“ „Danke.“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Gus an der Hand, Lilly auf dem Arm marschierte Brian die Straße entlang, an der das Anwesen der Novotny-Bruckners lag. Er hatte um die Ecke parken müssen, nach Feierabend waren Parkplätze hier Mangelware. Monty mähte den Rasen vor seinem Haus auf Millimeterkürze. Wahrscheinlich maß er anschließend jeden Halm mit einem Geodreieck nach und brachte ihn in den richtigen Winkel. „Hallo, Monty!“ grüße Brian übertrieben freundlich über das Geknatter hinweg. Monty nickte ihm mit zitronigem Gesichtsausdruck zu, ohne inne zu halten. Es war doch jedes Mal wieder eine Freude. Gus drückte die Klingel, da Brian keine Hand frei hatte, Ben öffnete. „Hallo Brian, Gus, Lilly! Kommt doch rein“, grüßte er freundlich. „Guten Abend Professor“, erwiderte Brian den Gruß und schleppte seine Fracht hinein. „Ui, wen haben wir denn da? Rage, Mini-me und Label-Princess“, kommentierte Hunter. „Und König James I. von den lahmen Sprüchen ist auch zuhause, wie schön“, entgegnete Brian naserümpfend. „Du willst jetzt auch unter die Eierk… äh Gelehrten gehen?“ „Ich studiere Mathematik. Und du solltest ganz ruhig sein, Michael hat gepetzt, dass du der totale Streber warst, der immer gelernt hat, bis er auch garantiert der Beste war…“ „Und nebenher habe ich noch so allerhand mehr getrieben. Was sagt dir das?“ „Dass das Leben unfair ist?“ „Haargenau.“ „Das wusste ich schon vorher.“ „Und hiermit überschritt er den feinen Grat zwischen Streber und Klugscheißer…“ „Hallo, Brian“, meldete sich Michael, der aus seinem Arbeitszimmer im ersten Stock die Treppe hinunter kam. „Hi Mikey“, sagte Brian und gab ihm einen schnellen Kuss, alter Gewohnheit folgend. „Oh, du hast ja Lilly mitgebracht“, freute er sich. „Ja, Justin hat uns rausgeworfen, er will in Ruhe Bewerbungen an Museen schreiben.“ „Oh, er will direkt verhandeln?“ fragte Ben. „Da drücken wir die Daumen.“ „Ganz feste!“ ergänzte James, obwohl die Aufrichtigkeit seiner Äußerung eher dahinzustellen war. Er und Justin waren nie ein Herz und eine Seele gewesen, hatten sich eigentlich gar nichts zu sagen. Sie entstammten verschiedenen Welten und hatten kaum Berührungspunkte finden können noch finden wollen. „Das hört sich gut an“, meinte Michael. „Obwohl das wohl bedeutet, dass es mit einer weiteren Rage-Ausgabe wieder mal nichts wird…“ „Mmm“, stimmte Brian zu, der darauf auch gut verzichten konnte. „Papa, kann ich jetzt mit Jenny spielen?“ fragte Gus ungeduldig, obwohl er wohl eher meinte: „Papa, kann ich jetzt mit Jennys Spielzeug spielen?“ Aber naja. Er war eben noch klein, und sie alle taten ihr Bestes, wie das Testament – und Linds und Mel – es wollte. „Klar, Sonnyboy, zisch ab, ich ruf dich später“, sagte Brian und ließ ihn davon brausen. „Ich sage Bescheid, wenn Jenny etwas braucht“, verkündete Gus, schon fast die Treppe hinauf, „ihr könnt euch ja solange unterhalten!“ „Dankeschön, Gus…“ „Gerne, Papa!“ Weg war er. Ben lud Brian auf die Couch ein, er ließ sich nieder und nahm Lilly auf den Arm. Michael setzte sich neben ihn. „Wahnsinn, wie schnell sie wachsen, nicht wahr?“ meinte er. „Mmm“, antwortete Brian und lehnte sich, Lilly gegen die Schulter gedrückt, zurück. „Jeden Tag entdeckt man etwas Neues an Ihnen, was sie können, wie sie aussehen… es ist unglaublich!“ „Und es wird immer unglaubliches, wenn man jeden Tag darüber diskutiert“, murmelte James verhalten, während er am Küchentisch über seinen Aufgaben brütete. „James. Wir freuen uns eben. Bei dir geht es uns doch auch nicht anders. Und du freust dich doch auch über Jenny?“ rief ihn Ben ruhig zur Raison. „Ja, stimmt schon…“, gab James zu. „Darf ich sie mal…?“ fragte Michael Brian mit Blick auf Lilly. „Besser nicht“, antwortete Brian. „Sie hat begonnen zu fremdeln, sagen das Internet und Justins kluges Supermutti-Buch. Wenn sie wer nimmt, den sie nicht so gut kennt, beginnt sie zu heulen. Nimm’s nicht persönlich, kann ja nicht jeder wie Emmet sein.“ „Du Ferkel! Aber schon klar, war bei Jenny auch nicht anders. Das gibt sich.“ „Echt? Unglaublich! Gut, dass mir das einer sagt!“ „Brian… Du kannst ruhig den Rat von Leuten annehmen, die sich auskennen, wir haben das ja auch alles mitgemacht.“ „Ja… danke“, sagte Brian recht lahm. „Und wie war euer Hochzeitstag?“ fragte Michael. „Okay“, erwiderte Brian. Michael rollte die Augen. „Was habt ihr denn Schönes gemacht?“ „Urlaub auf dem Bareback-Mountain“, antwortete Brian. James verschluckte sich. Was dafür sprach, dass Michael, abgesehen von Ben, was nicht anders zu erwarten gewesen war, wirklich die Klappe gehalten hatte. Aber inzwischen war es Brian auch halbwegs egal. Und wem sollte Heten-James die tolle Nachricht schon verklickern? „Ihr fickt ohne Gummi?“ kam es aus der Küche. „Wow, Abstraktionsgabe A+, Respekt. Tut mir ja leid, wenn ihr dort Einreiseverbot habt, aber ich habe das nicht.“ „Und was ist mit deiner Rumfickerei?“ wollte James wissen. „James!“ mahnte Ben. „Brian kann doch machen, was er…“ „Klar kann er. Aber wenn er es uns so hübsch unter die Nase reibt, darf man doch mal höflich nachfragen?“ „Sagen wir es so: Es gibt auch Wege, safe zu sein, für die man kein Gummi braucht.“ „Also entweder spielst du jetzt auf etwas total Säuisches ein – peitscht ihr euch im Ferkelkostüm gegenseitig aus? – oder du willst uns weis machen, dass du nicht mehr rumfickst?“ „Das zu entscheiden überlasse ich deiner für einen Schüler sehr lebhaften Imaginationsfähigkeit.“ „Das ist aber nicht safe. Nur safe ist safe“, meinte James. „Jaaa… Aber manchmal muss man sich entscheiden. Absolute Garantien gibt es nirgendwo.“ „Du musst es wissen… Wünsche euch viel Vergnügen dabei.“ „Ja. Exakt das haben wir.“ „Altes Ekel…“ „Hey! Das „alt“ habe ich überhört!“ „Du wirst auch nicht frischer…“ „Das nennt man „Reife“ – denk an George Clooney…“ „Okay, na gut. Ganz wie du meinst…“ Lilly hatte während der Diskussion an Brians Schulter den Kopf gedreht. Michael musste lächeln beim Anblick des blondgelockten Babys. Mochte Brian doch seinethalben einen auf Provokateur machen, Michael wusste, dass sein Freund niemals die Zukunft seiner Kinder leichtfertig aufs Spiel setzten würde. Und Justin ebenso wenig. Die kleine Lilly… Sie schlug die Augen auf und sah Michael direkt an. Ihre Augen waren anders, sie verdunkelten sich… Braun… und Grün schwammen im Blau unter den dichten Wimpernkränzen… wie Br… Innerlich fuhr Michael zusammen. Was?! Das konnte doch nicht sein? Verscheißerte Brian ihn schon wieder? Er hatte doch behauptet, nicht zu wissen, wer der Vater… Aber vielleicht wusste er es jetzt?! War Lilly überhaupt adoptiert? Aber Brian hatte Stein und Bein geschworen, dass er nichts von ihr gewusst hatte. Und dass er parallel zu Justin mit einer Frau rumgevögelt haben sollte, war nun völlig abwegig. Spann er? Meinte er das nur zu sehen? Aber die Augen… Das waren Brians Augen… Oder? Hatte Brians Schwester noch ein Kind bekommen und hatte es Brian…? Aber warum denn das? Was ging hier vor? Michael biss sich auf die Zunge. Nur nicht wieder die Pferde scheu machen, obwohl es ihm unter den Nägeln brannte. „Ach ja“, meinte der Verdächtigte. „Ehe ich es vergesse. Am Sonntag nach Gus‘ Geburtstag feiern wir ihn und den Tennisplatz, ihr seid natürlich herzlich eingeladen.“ „Danke“, sagte James, „was wünscht sich der Tennisplatz denn?“ Kapitel 29: Häufchen und Haufen ------------------------------- XXIX. Häufchen und Haufen „Justin… das ist…“ Craig starrte über die im ganzen Atelier aufgestellten Leinwände und Fotopanele. Sein Sohn stand in einer Ecke und tauchte eine Ladung eingetrockneter Pinsel in Terpentin. Er trug eine abgetragene Jeans voller Farbspritzer und ein abgelegtes Herrenhemd, das von der Größe her eher nach Brian aussah und das er in Kittel-Manier mit der Knopfleiste auf dem Rücken angezogen hatte. Eigentlich sah er nicht viel anders aus als Craig beim Werkeln. Auch der technische Aspekt überzeugte, die Holzstämme waren sauber verarbeitet, das erkannte man auf den Bildern und am Original, das man vom Fenster aus im Garten aufgetürmt liegen sah. Die Leinwände waren exakt auf die Rahmen genagelt. Aber… was war das…? Die Gemälde… eigentlich konnte man nichts erkennen… aber… er hatte ja eigentlich wenig Ahnung von Kunst, doch über Jennifer hatte er doch im Laufe der Jahre einiges mitbekommen… aber… So etwas hatte er noch nie gesehen. Er konnte es überhaupt nicht einordnen, und er war sich sicher, damit nicht allein zu sein. Dennoch musste man sie anstarren. Sie waren wie ein Blick in eine völlig fremde Schöpfung, in der andere Naturgesetze galten, eine andere Zeit, ein anderes Licht, und sie sprachen wortlos… bloß was…? Er bekam es nicht zu fassen. Und die Gemälde sagten ihm, dass es ihnen egal war, dass sie dennoch da seien, unabhängig von ihm. Einige wirkten heiter, einige verspielt, andere hingegen wütend, fast rasend. Und die Fotos… das war, als sei ein fremdes Universum in feindseliger Absicht in ihre Realität hinein diffundiert und habe alles auf den Kopf gestellt. Es gab keine Grenzen mehr zwischen Mensch und Natur, Tag und Nacht, Leben und Tod… War das Brians Körper, der sich da in Einzelteile zerlegt zwischen den Stämmen wiederfand…? Er starrte wieder seinen Sohn an, der weiterhin seine Pinsel sortierte. Justin, freundlich, manchmal mehr als nur etwas bockig, aber dennoch immer… Justin hatte dies Monolithen geschaffen und diese… kalten Alpträume…? Er stand vor einem kompletten Rätsel. Er riss sich zusammen: „Justin… Ich weiß gar nicht…“ „Mmm, ja Papa?“ fragte Justin, mit einem Tuch einen eingeweichten Pinsel ausdrückend. „Ich weiß gar nicht…“ „Schon gut, Papa, du musst nichts sagen. Das muss niemand, dazu sind sie auch nicht da.“ „Ja… aber… sie sind etwas Besonderes“, schloss Craig, dankbar irgendeine halbwegs passende Bezeichnung gefunden zu haben. „Danke Papa. Wollen wir jetzt die Schaukel aufstellen?“ „Ja, das sollten wir“, sagte Craig. Die Schaukel war sicherer Grund. Das hier musste er erst mal sacken lassen. Machten Künstler sowas…? Oder hatte Justin in deutlich größerem Maßstab einen abbekommen, als er je geahnt hatte? Aber wenn ja, schien er damit dennoch durchaus Erfolg zu haben. Ob Brian… das hier… kannte? Natürlich, schalt sich Craig, natürlich kannte er die Bilder. Was dachte er darüber? Was sah er in Justin? Die Idee, dass Brian in Justin das niedliche Blondchen sehen könnte, war spätestens nach diesem Atelierbesuch endgültig gestorben. Was war Justin…? Künstler…? Justin legte die Pinsel zur Seite, schnappte sich das Babyfon, Lilly hielt ihr Nickerchen in diesem dekadenten Babybett, das garantiert auf Brians Mist gewachsen war, und lief vor ihm die Treppe hinab. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Papa! Papa! Schau doch! Ein Hund! Da ist ein Hund! Papa!“ „Ich seh‘ ihn, Gus…“ In der Tat, er sah ihn. Er hatte heute bei Kinnetic früh Schluss machen können, hatte Gus von der Schule abgeholt, dann hatten sie gemeinsam Besorgungen für die geplante Geburtstagsparty, oder vielmehr –partys, gemacht. Der Hauptteil des Caterings lief über Emmet, aber einiges hatten sie selber zu erledigen. Und nun standen sie drei Meter vor der Haustür, vor der, als würde der Laden ihm gehören, mittig ein ziemlich groß geratener Welpe hockte und ihnen entgegen hechelte. Er war angeleint, doch seine Reichweite war üppig genug bemessen gewesen, dass er das Beet mit den Kletterrosen gründlich um buddeln und ein hübsches Häufchen direkt vor die Eingangstreppe hatte setzen können, um das die Fliegen bereits Thanksgiving feierten. Das musste Hektor sein. „Oh, komm her, Hund! Komm her!“ lockte Gus und streckte die Hände aus. „Achtung, tritt da nicht rein“, warnte Brian. Das schippte Schwiegerpapi gefälligst selber weg. Der Hund setzte sich schwanzwedelnd in Bewegung und beschnupperte erst Gus Hände, dann Brians Hosenbein. Wehe, du pinkelst mich an, sonst bekommt das Wort „Hundewurst“ hier gleich eine ganz neue Bedeutung… „Braver Hund!“ lobte Gus in Imitation Spongebobs Umgang mit seiner Schnecke. Der Kläffer freute sich wie blöde und hopste wie ein Techno-Twink auf Crack zu um Gus herum. „Oh Papa! Schau!“ forderte Gus entzückt. „Äh… ja, das ist wohl Hektor, der Hund von Opa Craig…“ „Hallo Hektor! Ich bin Gus! Das da ist mein Papa! Du bist ein toller Hund! Ist er zu Besuch, Papa?“ Das da… Er war kein „das da“… „Ja!“ meinte Brian. Ja! Der ist bloß zu Besuch! „Toll Hektor! Du musst uns ganz häufig besuchen kommen!“ … und uns den ganzen Garten vollkacken, ergänzte Brian gedanklich. Wenn er Justin richtig verstanden hatte, plante dieser Hund sich in eine Kuh zu verwandeln, zumindest was das Format anging. Dann machte er bestimmt keine „Häufchen“ mehr, sondern große, stinkende Haufen… Hoffentlich gab Craig nicht den Löffel ab und vererbte ihnen dieses Monster-Mondkalb, das die Knochen von Wölfen als Zahnstocher benutzen konnte. Als Kind hatte sich Brian immer einen Hund gewünscht. Aber inzwischen konnte er auch gut ohne leben. Er passierte den Hund und sein stinkendes Werk und schloss die Haustür auf. „Und was ist mit Hektor?“ fragte Gus. „Der sitzt da doch ganz gut, hat ein sonniges Plätzchen und hier steht sogar eine Wasserschale für ihn…“ „Also mir wäre voll langweilig!“ „Du kannst ja bei ihm bleiben, wenn du willst?“ „Darf ich seine Leine nehmen? Ich weiß, wie das geht! Ich gehe immer mit Oma Nathalie und Zilly Gassi!“ stellte Gus eifrig klar. Zilly war Nathalie Petersons altersdebiler, inkontinenter Zwergpudel. Aber größer war Hektor auch – noch – nicht. „Meinetwegen. Aber ihr bleibt im Vorgarten, okay?“ erlaubte Brian. „Wieso nicht nach hinten?“ „Weil da Opa Craig und Justin was aufbauen, das du noch nicht sehen darfst. Du kannst nachher hallo sagen.“ „Ein Geschenk?“ fragte Gus mit großen Augen. „Vielleicht… du neugierige Nase!“ Gus grinste. Aber einstweilen war er mit dem pelzigen Häufchenproduzenten beschäftigt. Brian lehnte die Tür an und ging nach oben, um nach Lilly zu sehen. Lilly lag in ihrem Bettchen und studierte ihr Mobile. Es würde nicht lange dauern, bis sie heulend Signal geben würde. Er schnappte sich den Sender des Babyfons und brüllte hinein, damit die im Garten ihn auch richtig verstanden, egal was sie gerade schraubten: „Ich bin bei Lilly und übernehme ab hier!“ Das „Sir“ verkniff er sich. Er legte seine Tochter wieder trocken, dann begab er sich mit einem Fläschchen bewaffnet mit ihr auf die Terrasse. Justin und Craig schienen fast fertig zu sein, am Rande der Rasenfläche zwischen Stall und Tennisplatz erhob sich eine rustikale, handgezimmerte Holzschaukel. An seine eigenen Versuche, gemeinsam mit Lindz Gus‘ erste Schaukel aus dem Baumarkt zu montieren, mochte er bei diesem Vergleich besser gar nicht denken. Für sowas gab es Justin. Und manchmal auch seinen Alten. Lilly nuckelte immer noch genüsslich, als das Taylor-Bauteam fertig wurde. Zu guter Letzt hatten sie das Konstrukt in eine getönte Plastikplane eingeschlagen, dass Gus neugieriger Blick nichts erahnen konnte. Justin kam verschwitzt zu ihm herüber und gab ihm, wie immer in Gegenwart seines Vaters, einen möglichst lauten Begrüßungskuss. Er trug eines von Brians abgelegten Armani-Hemden falsch herum, was ihn wie aus der Gummizelle entfleucht aussehen ließ. „Hallo Brian.“ „Hallo Justin – Craig.“ „Hallo.“ „Tolle Schaukel.“ „Ja, danke.“ „Wo ist Gus?“ „Nimmt mit dem trojanischen Prinzen zusammen den Vorgarten auseinander.“ Wahrscheinlich war Hektor genauso behaart wie das Original. „Ich hol ihn mal. Bier, Papa?“ „Ja, eins kann ich.“ „Brian?“ „Ach ja, muss ja auch Vorteile geben, wenn man nicht stillt…“ „Gleich wieder da.“ „Justin hat mir seine Bilder gezeigt…“ „Aha.“ „Was… was ist das…?“ „Kunst…?“ „Ich habe ja auch schon so manches gesehen, aber…“ „Ich weiß.“ „Und…?“ „Und… keine Ahnung. Das ist so. Das macht er. Das kann er. Mathematiker ergründen das Rationale. Philosophen manchmal auch. Er macht das Gegenteil. Zu was macht ihn das? Es gibt kein warum.“ „Das ist schwer zu begreifen.“ „Kann man auch gar nicht. Man kann es nur sehen und irgendwie… fühlen. Aber es ist nichts Sprachliches.“ „Ich sehe nur ihn… und dann diese Bilder.“ „So geht es den meisten. Auch mir manchmal noch.“ Craig schüttelte verhalten den Kopf, wie um seine Gedanken wieder in Ordnung zu ruckeln. „Hallo Opa Craig!“ Gus und Hektor kamen um die Ecke getobt. „Hallo Gus.“ „Dein Hund ist toll, Opa Craig!“ „Ja… Ich habe ihn ganz neu, er ist noch ganz klein.“ „Er ist größer als Oma Nathalies Zilly?“ „Das ist ein irischer Wolfshund, Gus, das sind die größten Hunde der Welt.“ „Oh…? Echt? Wie groß wird der denn?“ „Wie eine Pyramide aus zwanzig Dackeln?“ schlug Brian hilfreich vor. Gus machte riesige Augen. „Was… echt…?“ „Nein, Gus… Nicht so groß. Aber wenn er ausgewachsen wäre, könnte er dir wahrscheinlich direkt ins Gesicht sehen.“ Gus staunte. „Das ist aber groß!“ meinte er. „Dann musst du aber vor niemandem mehr Angst haben, wenn Hektor auf dich aufpasst!“ „Nein, das wohl nicht“, lächelte Craig und zeigte dabei eine gewisse Ähnlichkeit zu Justin. Keine Angst… bis darauf, dass einen das Viehzeug im Schlaf mit einem Happs verschluckt, weil es einen so lieb hat, dachte Brian. Hektor hatte sich vor ihm aufgebaut und versuchte ihn mit Kulleraugen und Schwanzgewedel einzuwickeln. Brian biss die Zähne zusammen und nickte ihm hoheitsvoll zu, ging aber nicht das Risiko ein sich, sich von dem überdimensionierten Fellbrocken die nächste Zecke zu fangen. Eine pro Jahr reichte völlig. Gus hatte derweil die verhüllte Schaukel erspäht. „Was ist das?“ fragte er neugierig und zeigte mit dem Finger darauf. „Oh… das ist eine Überraschung“, antwortete Craig. „Was denn?“ bohrte Gus. „Wenn wir dir das verraten würden, wäre es wohl keine mehr, Gus“, meinte Justin, der mit dem Bier zurück kam. Gus zog ein enttäuschtes Gesicht. „Ja…“, sagte er gedehnt, aber wenig überzeugt. Sie blieben noch eine Weile sitzen, während Gus und Hektor sich gegenseitig ins Halbkoma wetzten. Justin fragte seinen Vater zu irgendwelchen abartigen Handwerks-Techniken aus, Brian ließ die Gedanken schweifen. Die Party… das ganze Haus voller Kinder… oh weh… Gott sei Dank hatten sich Jennifer und Molly als Hilfstruppen angeboten, ansonsten würde er schwarz sehen. Er hatte zwar schon jede Menge Partys geschmissen, aber die waren nur sehr bedingt für Grundschüler geeignet gewesen. Ob sich auch alle brav über die Einladungen freuten? ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Jim Stockwell stöhnte innerlich tief auf. Wie war das gewesen… Bolzenschussgerät…? Er starrte auf die kleine Karte, die Jimmy ihm triumphierend überreicht hatte. Lieber Jimmy! Ich lade Dich herzlich zu meiner Geburtstagsfeier am Sonnabend, dem 3. September ein. Komme doch bitte um drei Uhr zu mir nach Hause. Ich freue mich! Dein Gus! Die Karte war in der geschwungenen Handschrift eines Erwachsenen geschrieben, die Jims gutes Gedächtnis für solche Details sofort als Kinneys identifizierte. Nur die Namen waren in einer krakeligen Kinderhandschrift gehalten. Wie er aus erster Hand wusste, waren sie mit dem Schreiben in der Schule noch nicht so weit, dass der Junge den ganzen Text alleine hätte schreiben können. Was blieb ihm? Den Taylor-Kinneys das Ding um die Ohren hauen? Sie hatten ihm vor jedermanns Nase den Weg ins Bürgermeisteramt geebnet, was würden die Leute denken? Jimmy einfach nicht hin lassen? Alle würden schief gucken, ob er etwas gegen Schwule habe und ihn für einen intoleranten Affen halten. Behaupten, dass Jimmy krank sei? Verdächtig, außerdem würde Jimmy garantiert das Gegenteil in der Schule raus posaunen, was ihn wieder dastehen ließ wie einen verlogenen Idioten. „Und, Papa, darf ich hin?!“ wollte Jimmy wissen. Jim schluckte und zwang sich dazu zu lächeln: „Okay, Jimmy…“ „Juhu!“ jubelte sein Sohn. Dann fragte er: „Zankst du dich nicht mehr mit Gus‘ Papa?“ „Alles gut“, seufzte Jim. „Aber deine Mutter bringt dich und holt dich ab.“ Er hatte nun wirklich keine Lust auf ein Glas Früchtepunsch serviert von den Hausherren persönlich. Aber was blieb ihm? Was für ein Haufen Scheiße. Kapitel 30: Mexikanische Versuchung ----------------------------------- XXX. Mexikanische Versuchung Daphne platzierte ihren dampfenden Kaffeebecher vor sich auf den Konferenztisch. Das Besprechungszimmer grenzte an den Kühlraum für organisches Material, so dass es hier trotz der mexikanischen Sommerhitze, die durch die Fenster drang, angenehm kühl war. Sie hatte sich das Haar sorgsam mit bunten Klammern festgesteckt. So kam sie besser unter die Kopfbedeckung, die sie bei der Arbeit trug. Sie hatte sich die Haare aus diesem Grund kurz geschnitten, mit dem Erfolg, dass sie jetzt erst recht abstanden wie ein Mopp. Und sich jeden Morgen mit einem Glätteeisen zu bearbeiten mochte sich vielleicht Beyonce Knowles aus beruflichen Gründen leisten können, sie garantiert nicht. Aber die hatte wahrscheinlich auch acht Friseurinnen, die den ganzen Tag hinter ihr her scharwenzelten. Da war bei Daphne auch nicht viel los. Die Klammern mussten reichen. Das hier war schließlich nicht Hollywood. Professor Marisoll kam herein, Schweißperlen auf der Stirn. Das kam davon, wenn man so unvorsichtig war, sich bei diesem Wetter vor die Tür zu wagen. Es mochte toll sein, wenn man Urlaub machte, zum Arbeiten lud es aber nicht gerade ein. Wie auch immer die Azteken es geschafft hatten unter diesen Bedingungen eine Hochkultur zu erschaffen. Wahrscheinlich, indem sie die Drecksarbeit den Sklaven überlassen hatten. Ironie des Schicksals, die Spanier hatten dann sie versklavt und als die Azteken schlapp gemacht hatten, waren Daphnes Vorfahren an der Reihe gewesen, die die Brüllhitze besser abkonnten. In der Hinsicht schlug sie wohl eher nach ihren weißen Ahnen. Marisoll setzte sich, sich das verklebte graue Haar aus der Stirn streichend. Er war ein großer, hagerer Mann mit einem im Alter etwas eingefallenen Gesicht voller Lachfalten. Daphne hatte ihn immer gemocht. Er war ein Querdenker, gewiss, aber einer voll Format, der sich um seine Leute kümmerte. Er hatte sie nicht ans Messer geliefert, als sie es ihm gebeichtet hatte. Er hatte ihr geholfen, ohne ihn… Sie sah in die Runde. Benjamin Lancester, etwa zehn Jahre älter als sie, etwas kurz gewachsen und pummelig mit schütterem schwarzem Haar, spezialisiert auf Klontechnologie, ein klassischer Nerd, der in seiner Freizeit wahrscheinlich im Klingonenkostüm herum lief. Frederic Newton, etwa in ihrem Alter, sommersprossig und rothaarig, ein Überflieger. Er hatte ein paar Mal versucht, ihr ein Date ab zu zwacken, hatte aber auf Granit gebissen. Daphne fand, dass er ein sich selbst überschätzender Schnösel war, der die ganze Zeit nur über seine dämlichen Genclusteranalysen und deren Bedeutung für die Menschheit laberte. Außerdem sah er ihres Erachtens aus wie ein Frettchen. Eliza Monroe, irgendetwas zwischen Vierzig und Fünfzig, selbstbewusst, alleinstehend, immer top gekleidet unter ihrem Laborkittel und gerne über ihren Männerverschleiß oder ihren Kater Pinky schwadronierend. Wobei Pinky ihrem Herzen deutlich näher stand als die Kerle. Sie sagte über sich gerne, dass sie alles befruchtet bekam, was man befruchten könne, ausgeschlossen sie selbst. Und schließlich Nadja Thandon, die trotz Pferdegebiss krampfhaft versuchte, einen auf niedlich zu machen, was prinzipiell schrecklich in die Hose ging. Klamottentechnisch sah sie aus wie Massenmörder-Barbie, und doofes Gelispel und Gekicher waren ziemlich unglaubwürdig, wenn man Mitte Dreißig war und zwei Doktortitel in Chemie hatte. Das war der harte Kern. Klar gab es noch Assistenten und Hilfskräfte, aber sie waren es, die die Forschungen leiteten. „Guten Morgen“, grüßte Marisoll. Der Rest gab die Begrüßung mehr oder minder laut zurück, Benjamin biss gerade in sein Frühstücksbrötchen. „Ich befürchte, ich habe nicht so gute Nachrichten“, hob der Professor an. Die allgemeine Aufmerksamkeit nahm deutlich zu. „Ich habe heute Morgen schon mit unseren Finanziers vom Forschungsministerium gesprochen. Sie werden ungeduldig, wollen Ergebnisse sehen – und das, obwohl sie uns freie Hand gegeben haben. Sie überlegen, ob sie uns den Etat nicht runter streichen sollten…“ „Was für Blödmänner!“ ereiferte sich Frederic. „Nur freie Forschung bringt Ergebnisse, wir sind schließlich keine Akkordarbeiter, die am Fließband Erfindungen zusammen schrauben! Und was ist meinen neu gezüchteten Genclustern…?“ „Ja, Freddie, erzähl uns mehr darüber“, gähnte Eliza demonstrativ. Frederic warf ihr einen bösen Blick zu. „Sicher haben wir Ergebnisse“, beruhigte der Professor, „aber das ist diesen Regierungsleuten zu… abstrakt.“ „Zu abstrakt?“ mampfte Benjamin. „Was haben die erwartet? Wir sind Wissenschaftler, keine Grundschullehrer.“ „Ich weiß, ich weiß… Aber wir brauchen etwas, das… handfest ist“, erwiderte Marisoll. „Handfest? Ich könnte ihnen ein Affenbaby mit acht Armen klonen“, schlug Eliza vor. „Eliza!“ fuhr Nadja auf. „Das ist nicht witzig!“ „Außerdem bezweifle ich, dass sie den Nutzen darin erkennen würden“, gab Daphne zu bedenken. „Es könnte Michael Jackson bestimmt noch doller lieb haben als Bubbles….“, meinte Eliza. „Also wirklich“, meinte Marisoll. „Außerdem wäre das unethisch, ein Lebewesen derart zu verunstalten.“ „Und an was hatten Sie gedacht?“ fragte Daphne. „Etwas aus der lebensoptimierenden Ecke, das nicht so umstritten ist… Befruchtung bei Unfruchtbaren…“ „Öde“, meinte Frederic. „…oder Früherkennung von Erbkrankheiten beim befruchteten Ei…“ „Da habe ich so Einiges“, meinte Eliza, „aber das, was präsentabel ist, ist nicht so spektakulär. Da sind die in New York wahrscheinlich schon weiter.“ „Was ist denn mit Daphnes Männer-Baby-Mist?“ fragte Frederic. „Das ist kein Mist!“ fuhr Daphne ihn an. „Hat man ja gesehen. Benni und ich sind immer noch nicht Papas, obwohl seine Wampe ja hoffen lässt“, erwiderte er mit Blick auf den immer noch mit vollem Munde kauenden Benjamin. „Obwohl euer Sprössling bestimmt obersüß wäre“, grinste Nadja. „Schätzchen, das heißt nicht obersüß sondern oberätzend“, korrigierte Eliza. „Na herzlichen Dank“, schmollte Benjamin. „Obwohl ich mir die Mutter meiner Kinder auch nicht unbedingt so vorgestellt hätte wie Freddie.“ „Vater“, verbesserte Daphne. „Darum geht es doch dabei, ihr Knalltüten! Hört ihr mir überhaupt je zu?“ „Nö“, gab Frederic zu. „Wozu auch? Klappt ja eh nicht.“ „Klar klappt das“, giftete Daphne. „Leute!“ mischte sich Marisoll ein. „Das führt doch zu nichts…?“ „Warum ist Daphne noch Mal bei uns?“ fragte Frederic unbeirrt. „Sie hat keinerlei Erfahrung, ist gerade mit dem Studium fertig, ist nicht promoviert. Und verfolgt die ganze Zeit eine blödsinnige Idee, die in den Testreihen ständig als eben solche belegt wird.“ Daphne wollte auffahren, doch Eliza kam ihr zuvor: „Vielleicht ist dein Sperma ja scheiße… oder der Herrgott will nicht, dass gerade du dich vermehrst.“ „Ruhe!“ donnerte Marisoll. Normalerweise war er ein höflicher, kultivierter Mann, aber auch ihm konnte es zu bunt werden. „Daphne hat mich von der Plausibilität ihres Vorhabens überzeugen können! Ein wenig mehr Vertrauen in meine Urteilskraft und Daphnes Vision wäre schon angebracht! Daphne, hast du unseren Geldgebern zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas vorzulegen?“ „Nein… Wir müssten ja auch noch entscheiden, ob wir dies überhaupt…“ „Man kann über nichts entscheiden, dass nicht existiert“, stichelte Frederic. „Also gut“, wurde er ignoriert, „Frederic, bekommst du bist übermorgen eine Präsentation zu deinen Clustern hin, die halbwegs überzeugt?“ „Ja, sicher…“ „Eliza?“ „Zwei Tage? Wenn ich’s schön umschreibe…“ „Nadja?“ „Nicht wirklich.“ „Benjamin?“ „Nö.“ „In Ordnung. Haltet euch ran, ohne die Gelder sehen wir alt aus. Dann mal wieder an die Arbeit.“ Beim Rausgehen flüsterte Eliza in Daphnes Ohr: „Wie wär’s du kreuzt Frederic mit meinem achtarmigen Affen…?“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Erschöpft fiel Daphne auf das kleine Sofa im Wohnzimmer ihres Apartments. Sie öffnete sich eine Wasserflasche und trank gierig. Durch die offene Balkontür konnte sie das Meer rauschen hören. Sie war an drei großen Flüssen aufgewachsen, nicht fern der Großen Seen, war Wasser also durchaus gewohnt, aber das Meer… das Meer war doch etwas gänzlich anderes. Er roch anders, es sah anders aus, es fühlte sich anders an, wenn man auf es hinaus blickte. Sie ging hinüber zum Fenster. Die salzige Luft ließ ihr Haar sich erbarmungslos kräuseln. Der Mond spiegelte sich tausendfach auf den Wogen, als träfe er auf eine spiegelnde Fläche, doch es war nur das Ende der Tiefen… Der Strand hier bestand fast ausschließlich aus Felsen, Touristen verirrten sich kaum hierher. Hinter ihr gluggerte es, der Filter des Aquariums. Für ein richtiges Haustier wie einen Hund hatte sie zu wenig Zeit, aber völlig auf Gesellschaft daheim hatte sie nicht verzichten wollen. „Hallo Justin, hallo Brian“, sagte sie. „Ihr habt Hunger, nicht wahr? Gibt gleich lecker Mückenlarven.“ Die beiden Axolotls sahen sie erwartungsvoll an. Ihre Namensvettern würden Daphne wahrscheinlich killen, wenn sie ahnen würde, dass sie ihre mexikanischen Schwanzlurche nach ihnen benannt hatte. Justin war ein Albino und Brian ein dunkel gemaserter Lurch. Die Ähnlichkeit zu den Originalen hielt sich in Grenzen. Daphne holte die ahnungslos durch ihre Plastikschale hopsenden Larven aus dem Kühlschrank. Vielleicht sollte sie sich auch eine genehmigen, denn ansonsten herrschte da ziemlich Ebbe. „Mmm, lecker Larven“, lockte sie. Justin und Brian paddelten schon artig an der Oberfläche. Sie schmiss die Delikatesse hinein, Justin schnappte zu, Brian schaute in die Röhre. „Na, Brian, auch was? Oder bist du mal wieder auf Diät?“ Der Lurch starrte sie böse an, sie erbarmte sich. Sie schaute zu, wie sich die beiden Axolotls den Magen vollschlugen. „Ich hoffe, es geht euch gut“, sagte sie zu ihnen. „Und dass ihr euch um Lilly kümmert. Sie ist nämlich eure Tochter, wisst ihr. Von mir ist nur ganz, ganz wenig drin, das, was sich nicht isolieren ließ… gerade mal 0,03 Prozent Daphne hat Lilly abbekommen, das reicht wohl nicht für nen Afro… Ob ihr es getan habt…?“ Sie konnte nicht fragen. Sie ging hinüber zu ihrem Schreibtisch. Der Laptop war aufgeklappt. Dem Meer und den fressenden Lurchen lauschend tippte sie gedankenverloren. Lilly. Abertausende Ergebnisse. Lilly Kinney. Ein paar Hundert. Lilly Taylor. Noch mehr. Lilly Kinney-Taylor. Nichts. Sie hießen ja auch anders herum. Lilly Taylor-Kinney. Fünf Ergebnisse. Verweise auf lokale Telefonbücher. Lilly Taylor-Kinney. Houston. Anwältin für Scheidungsrecht. Wohl eher nicht, es sei denn etwas war deutlich schief gegangen. Lilly J. Taylor-Kinney. Arkansas. Keine weiteren Angaben. Lilly Taylor-Kinney. Pittsburgh. Green Tree. Lilly, Gus, Justin, Brian Taylor-Kinney, Adresse, Telefonnummer, Link zu Kinnetic. Sie hatten sie. Sie hatten es getan. Brian war nicht davon gelaufen. Wie Lilly jetzt wohl aussah? Sie hatte sie nie zu Gesicht bekommen, das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie hatte ja einiges ausgewählt, aber bei weitem nicht alles… Sie atmete tief durch. Sie hatte gar nicht bemerkt, wann ihr Herz zu rasen begonnen hatte. Daphne stand auf. Sie ging zurück zum Tank. „Danke“, sagte sie zu den schmatzenden Amphibien. „Ich hoffe, das denkt ihr auch irgendwie über mich abgesehen von den tausend Todesflüchen, die ihr wahrscheinlich gegen mich ausgestoßen habt.“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Du wolltest mich sprechen, Daphne?“ „Ja, Professor Marisoll. Ich wollte nur sagen… sie haben Lilly. Es ist gut. Brian hat sie mitgenommen.“ „Du hast Kontakt aufgenommen?“ fragte der ältere Mann entgeistert. „Nein! Nein. Sie steht nur im Telefonbuch zusammen mit ihren Vätern und ihrem anderen Kind.“ „Gut!“ entfuhr es Marisoll. „Ich dachte schon…“ „Nein! Lillys Sicherheit hat für mich oberste Priorität. Sie soll ein gutes Leben führen können. Niemand soll sie für einen Freak oder ein Versuchskaninchen halten!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Frederic stand, den Atem anhaltend, zwei Schritte vor der Tür. Er war kurz davor gewesen zu klopfen, um Marisoll den fertigen Vortrag zu präsentieren, als er Stimmen gehört hatte. Einem Reflex folgend hatte er sein Ohr gegen das Holz gedrückt, bevor er, vom schlechten Gewissen zurück gerissen, wieder abgelassen hatte. Was hatte er da gerade gehört, worüber hatten der Alte und Daphne da bitte gesprochen? Lilly? Wer war denn Lilly? Versuchskaninchen? Freak? Wovon sprachen die da bitte? Er spähte durch die milchige Scheibe des Büros. Die waren noch beschäftigt. Er ging zurück ins Labor. Daphnes Laptop rödelte offen vor sich hin. Er sah sich um. Keiner da. Okay, er war neugierig. Rasch tippte er. Lilly. Die Anzeige vervollständigte selbständig. Lilly Taylor-Kinney. Er merkte sich den Namen und löschte den Eintrag. An seinem eigenen Arbeitsplatz gab er ihn erneut ein. Fünf Lilly Taylor-Kinneys in den Staaten. Die dritte kam aus Pittsburgh. Wie Daphne. Er las die Angaben. Lilly. Gus. Justin. Brian. Eine Freundin von Daphne aus Schulzeiten und ihre Familie? Aber was sollte daran so geheim sein? Er klickte den Link an. Kinnetic. Eine Werbefirma. Sehr professioneller Internetauftritt. Inhaber war Brian Taylor-Kinney. Kein Foto von ihm zu finden. Er probierte die anderen Namen aus. Gus Taylor-Kinney wurde als Mitglied einer Pittsburgher Kinder-Fußballmannschaft aufgeführt. Ein verwackeltes Mannschaftsfoto zeigte ihn. Er mochte sechs oder sieben Jahre alt sein. Justin Taylor-Kinney. Da kam viel. Ausstellungstipps, Zeitungsbesprechungen. Ein Künstler und offensichtlich kein schlechter. Es gab biografische Daten. Er war auf dieselbe Schule wie Daphne gegangen, war derselbe Jahrgang. Sie kannten sich. Ein Bericht darüber, dass er als junger Mann Opfer einer homosexuellenfeindlichen Attacke gewesen sein, die sein motorisches Zentrum verletzt habe, dennoch sei er nicht vom Weg abgewichen. Es gab Fotos. Ein bleicher blonder Mann mit fein geschnittenen Zügen, etwas stupsnasig und mit auf dem Bild fragend blickenden, leicht schräg stehenden Augen. Frederic überschlug das Szenario. Die Taylor-Kinneys bestanden also aus einem schwulen Paar, Justin und Brian, einem Grundschulkind, Gus, und Lilly. Aber wer war Lilly? Zu ihr gab es hier nichts. Daphne forschte also im Bereich der… Komposition von Kindern, bei denen das Geschlecht der Eltern weitestgehend egal war. Was ganz besonders schwule Paare interessieren dürfte, denen Mutter Natur da keine Angebote machte. Sie war mit einem jungen Mann zur Schule gegangen, vielleicht war er auch ihr Freund, der wahrscheinlich mit seinem Partner ein Kind hatte, das Lilly hieß – und aus dem Daphne und Marisoll ein großes Geheimnis machten. Aha. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Emanuel Marisoll stützte den Kopf in die Hände. Er seufzte. Diesmal waren sie noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Eliza und Frederic hatten ihre Projekte so präsentiert, dass sie auch für die auf Ergebnisse fixierten Heinis vom Forschungsministerium einigermaßen aussichtsreich aussahen. Aber es war nur ein Aufschub, keine Lösung. Er konnte nur hoffen, dass einem von ihnen in den nächsten drei Monaten etwas Brauchbares einfiel. Das war der Nachteil, wenn man sich von Politikern abhängig machte. Kapitel 31: Ein kleines Wunder ------------------------------ XXXI. Ein kleines Wunder Brian schüttete mit einem Zug den Rest des schon reichlich abgekühlten Kaffees in sich und ließ den Blick über den Garten schweifen. Dafür dass hier gestern eine Horde von Sechs- und Siebenjährigen durch getobt war, sah er doch noch ziemlich manierlich aus. Justin hatte all seine Vorschläge, professionelles Bespaßungspersonal anzuheuern mit einem gutmütig-verständigem Lächeln abgewürgt, für das er ihn gern ein wenig geschüttelt hätte. Statt seinen so geleisteten Beitrag als ausreichend zu bewerten, hatte Justin ihn zur Hilfstruppe für einen „richtigen“ Kindergeburtstag degradiert und all seine Fluchtversuche großflächig sabotiert. Nicht mal eine Hüpfburg war drin gewesen, verdammter Purist. Da er nicht nur von Justin, sondern auch von seiner Mutter und Molly für das Backen von Kuchen, das Bereiten von Fingerfood und das Aufbauen von Gartentischen als untauglich eingestuft worden war, hatte er sich mit der Verwaltung der Brause-Bar, der Vorbereitung einer Schnitzeljagd über das Grundstück und dem Decken des Tisches begnügen dürfen – oder vielmehr müssen. Vor zwei Jahren hatte er samstags um diese Uhrzeit normalerweise noch seinen Rausch ausgeschlafen, nun latschte er mit einem Sack voll Kies und Kreide zum Markieren der Marschrichtungen durch seinen Garten. Nur geringfügig weniger schmerzhaft, aber wahrscheinlich deutlich gesünder. Außerdem war es für Gus, hämmerte er sich ein. Fast drei Stunden lang hatte er das Gefühl gehabt, dass ihn jemand aus dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum geblasen hatte. Solange hatte es gedauert, bis Gus‘ Schulfreunde wieder von ihren Müttern, Väter und Großeltern eingesammelt worden waren, die sich derweil wahrscheinlich einen lauen Nachmittag gemacht hatten. Jim Stockwell Junior hatte sich vor Begeisterung über Gus‘ Fußballtor fast gar nicht wieder eingekriegt. Es war zu ahnen, dass er damit seinen Vater richtig nerven würde. Wenigstens etwas. Mit unglaublicher Pünktlichkeit waren die Gäste um drei Uhr von ihren Altvorderen bei ihnen abgeliefert worden und hatten Gus erst mal mit diversem Spongebob-Schrott, Legosets und Fußballbildchensammlelalben-Kram überschüttet. Dann hatten die Kinder unter Mollys Ägide in einem kleckernden Inferno den Kuchen verdrückt, ihm war es untersagt worden, dazu Kaffee zu servieren. Nachdem sie sich vollgehauen hatten, begleitet von lautem aufgeregten Gekreische, was wahrscheinlich die Tischunterhaltung darstellen sollte und sich größtenteils darum drehte, wie toll Mrs. Springrose sei, waren sie Brians Pfeilen über das ganze Grundstück hinterher gerannt. Als Verantwortlicher für die Wegeführung hatte er mit gemusst und war von allen Seiten vollgequatscht und gelöchert worden („Wie heißt du?“, „Was machst du?“, „Was magst du am liebsten?“ – ficken… äh Fußball…). Am Ententeich hatten sie den „Schatz“ bestehend aus Geschenkpäckchen für jeden der Gäste gefunden, über den sie hergefallen waren wie eine Horde Pygmäen über einen siechen Elefanten. Der kleine fette Felix war bäuchlings in den Modder gefallen und hatte geheult wie dreißig hungrige Seehundbabys. Erst die Schokolade aus seinem Päckchen hatte seine Nerven wieder beruhigen können. Der Rest des Unterhaltungsprogramms war Gott sei Dank unter Justins Oberleitung vonstattengegangen, dem dabei sein freundliches Dauergrinsen nicht eine Sekunde abhanden gekommen war, egal was kam („Mein Papa sagt, ihr seid schwul. Was ist das?“ – wenn sich zwei Frauen oder zwei Männer lieb haben wie deine Mama und dein Papa sich lieb haben – „Aha. Und du hast Gus‘ Papa Brian lieb?“ – genau – „Und er hat dich auch lieb?“ – Brian?). Bewundernswert, irgendwie hatte er es auch überstanden, was vielleicht auch an dem kleinen Whiskey lag, den er sich um fünf Uhr unter dem Vorwand, aufs Klo zu müssen, genehmigt hatte. So hatte er auch mit ruhiger Miene zuschauen können, wie Justin seine selbst gebaute Negerkusswurfmaschine installiert hatte und damit die ganze Terrasse eingesaut hatte. Im Pool trieben noch immer ein paar Negerkussleichen, denn dummerweise war Justin der Einzige gewesen, der in der Lage gewesen war, die fliegenden Zuckerbomben mit dem Mund aufzufangen. Er hatte schon immer eine große Klappe gehabt. Die Kinder hatte das schwer beeindruckt, Brian selbst hatte sich erst schwer geduckt und sich dann schwer außer Schussweite verdrückt. Die Party klang aus mit einem Fingerfood-Massaker, bei dem sich Georgia Carlson, die Enkelin der scheidenden Bürgermeisterin, zwei Mini-Würstchenketten in die Nasenlöcher gestopft hatte („Buh! Jetzt bin ich Thaddäus!“). Gus war jedenfalls hellauf begeistert gewesen, und darauf war es schließlich angekommen. Früh übt sich, was ein Partykracher werden wollte… Und jetzt begann gleich Runde zwei, deren Gästen ein gewisser Grad an Infantilität auch nicht abzusprechen war. Emmet wuselte bereits im Garten durch die Gegend, dieses Mal hatte immerhin ein Profi das Ruder in der Hand. Brian schaute auf die Uhr. Zehn vor Drei. Er brachte seine Tasse in die Küche und ging zur Tür, dennoch war er zu spät, die Glocke schrillte bereits. „Hallo Brian! Lass dich ansehen, gut siehst du aus!“ wurde er begrüßt, während Debbie ihn an sich presste. „Hallo Debbie. Das wird sich schnell ändern, wenn du mich hier zu Brei zerquetscht“, versuchte er sich zu wehren. „Nun hab‘ dich nicht so! Du wurdest schon ganz anders gequetscht und hast es immer überstanden. Wo ist denn das Geburtstagskind?“ „Hinten im Garten… Hallo Carl… Geht einfach durch, Justin ist auch da…“ „Machen wir, danke. Und wo ist das Mäuschen?“ „Sie schläft. Der ganze Trubel… das ist nichts für sie…“ „Ach was, Babys mögen es, wenn ordentlich was los ist! Lilly ist schließlich nicht aus Zucker! Hol sie doch runter, wenn sie wach ist!“ „Ja… mal sehen… Schaut, da ist Gus!“ „Hallo, du Großer! Sieben Jahre schon, Himmel! Wie ist das denn passiert! Herzlichen Glückwunsch!“ „Danke Tante Debbie! Ich gehe jetzt auch schon zur Schule!“ „Das ist ja toll, Gus! Du bist wirklich groß!“ „Ja!“ lachte Gus stolz und immer noch ziemlich zahnlos. „Ich werde so groß wie Papa! Schau mal, da ist Justin mit meinem Getränk!“ Er hopste dem jungen Mann entgegen. „Das ist nicht groß… sondern lang“, murmelte Debbie. „Auch Länge kann erfreulich sein, Debb“, grinste Brian. „Huch, was ist das denn? Habt ihr einen Hund?“ Hektor war ums Haus gewetzt gekommen und flitzte jetzt begeistert auf Gus zu, der sofort Justin wieder sein Glas in die Hand drückte, um sich abschlecken zu lassen. „Nein! Der gehört Justins Vater!“ „Das ist aber ein Süßer – ganz im Gegensatz zu seinem Herrchen.“ „Der wird mal süße drei Meter hoch. Und Craig ist mittlerweile auch recht pflegeleicht.“ „Ja, Jennifer erzählte sowas… sie muss es wissen, aber sie hat ihn damals wahrscheinlich auch nicht aus reiner geistiger Verwirrung geheiratet, nicht Jenn.“ „Ja, Weisheit bei der Partnerwahl scheint da durchaus erblich zu sein…“ „… oder jeder hat Mal einen schwachen Moment…“ „Sehr schmeichelhaft. Moment, es hat geklingelt…“ Er überließ Debbie und Carl Justin und ging wieder nach vorne. Nach und nach trudelte die Gesellschaft ein, die gesammelten Taylors, Ted und Blake, die Petersons mit Zilly, deren Überlebenschancen Brian in Hinblick auf Hektor eher pessimistisch einschätzte, die kompletten Novotny-Bruckners und zum krönenden Abschluss Joan mit Jack und John im Schlepptau. Claire sollte gefälligst bleiben, wo der Pfeffer wächst, sich seinethalben alle Talkshows rein pfeifen, die der Sonntagnachmittag zu bieten hatte – aber ihm gefälligst vom Leibe bleiben mit ihrer Aura des Nörgelns und Duckmäusern. Die Gesellschaft stopfte sich graduell zivilisierter als die Kinder gestern mit Kuchen voll. Gus bejubelte seine neue Schaukel, und Craig ließ sich stolz von Jennifer loben. So war es wahrscheinlich auch gedacht gewesen, zumindest teilweise, argwöhnte Brian. Ted und Emmet verloren bodenlos beim Tennis gegen Mutter und Sohn Taylor, die ihnen wie die geölten Blitze die Bälle um die Ohren krachen ließen. Brian gab sich da lieber nicht die Blöße, sondern widmete sich mit Russel einer von ihm aus dem letzten Urlaub aus Kuba geschmuggelten Zigarre, was Hektor gar nicht mochte und sich verkrümelte. Gut zu wissen. ………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Michael saß mit Jenny auf ihrer Spieldecke im Halbschatten und verfolgte den Trubel. Eine heitere Stimmung lag in der Luft, es war spätsommerlich warm. Sie waren alle da, fast wie in alten Zeiten… bis auf Mel und Lindz… In dem Jahr von Gus‘ Geburt war es an diesem Tag deutlich kälter gewesen, was Brian auch nicht daran gehindert hatte, Justin im offenen Jeep abzuschleppen. Ob Brian das auch gemacht hätte, wenn er geahnt hätte, wohin ihn das führen würde? Wohl kaum, bei dem bloßen Gedanken hätte er sich vermutlich kringelig gelacht. Wenn er überhaupt hingehört hätte, was zu bezweifeln war. Er hatte Brians Blick gesehen, als dieser Justin damals ins Auge gefasst hatte. Es war der Blick eines Jägers gewesen, der das Wild erspäht hatte, wie so häufig. Aber da war noch mehr gewesen. In Brians Augen hatte nur noch eines gestanden: Haben! Ich will den haben! Der gehört mir! Tja, das hatte wohl geklappt… Aber dieses Wild hatte zurück gebissen, hatte den Jäger zum Gejagten gemacht. Damals hatte es ihm einen Stich gegeben, als er diesen Ausdruck in Brians Augen gesehen hatte. Brians Augen… „Ben?“ „Ja, Michael?“ „Könntest du Jenny ein Weilchen übernehmen?“ „Klar, geh du auch mal rum, amüsier dich!“ „Das mache ich, danke“, er drückte seinem Mann einen schnellen Kuss auf die Wange und erhob sich. Er schritt über die Rasenfläche zu seiner Mutter, die sich gerade lachend mit Carl unterhielt und sich noch ein Stück Sahnetorte gönnte. „Mama? Darf ich kurz stören, Carl?“ „Sicher, ich habe sie ja immer am Hals“, grinste Carl betont charmant. Debbie schenkte ihm einen gespielt-empörten Blick. „Und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen“, schloss er versöhnlich. „Das will ich dir auch geraten haben“, drohte Debbie mit unterdrücktem Lächeln und küsste ich dann. „Mama?!“ „Ja, Schatz, den Tonfall hattest du schon mit drei drauf… also was ist so Dringendes?“ „Könntest du kurz mal mitkommen? Ich würde dir gern etwas zeigen…“ „Klar!“ Jetzt war Debbies Neugierde geweckt. „Was denn?“ „Musst du sehen, Moment…“ Er sah sich um. Brian und Justin waren gerade dabei, den Petersons das Grundstück zu zeigen und marschierten in Richtung hinterer Garten. Gut. „Komm mit“, sagte er zu Debbie. Er lief voran ins Haus, seine Mutter folgte mit erstauntem Blick. Sie gingen die Treppe hinauf. Michael öffnete die zweite Tür auf der rechten Seite. Er bedeutete seiner Mutter, still zu sein und zu warten, was diese stirnrunzelnd glücklicherweise auch tat. Auf der Kommode blinkte das Babyfon. Er schnappte es sich und schaltete es aus, dann winkte er Debbie hinein. „Michael, was soll das? Das Mäuschen schläft, Brian wollte sie später raus holen…“ „Das glaube ich nicht“, sagte Michael. „Was…? Wieso denn um Himmels Willen nicht? Willst du mir erzählen, dass bei Brian eine neue Schraube locker ist und er sein Prinzesschen im Turm eingeschlossen hat, damit ihr ja nichts passiert? Das hier soll ein Kinderzimmer sein…?“ „Nein. Ich glaube nicht, dass er und Justin wollen, dass wir sie zu Gesicht bekommen“, meinte Michael. „Warum zum Geier sollten sie das wollen?“ fragte Debbie verständnislos. Vorsichtig hob er Lilly aus ihrem Bettchen, sie quakte äußerst ungehalten, als sie aufwachte und er nicht Papa war. „Michael! Was soll das! Lass das Baby doch schlafen!“ protestierte Debbie. „Wenn sie den ganzen Tag nur schläft, brüllt sie die ganze Nacht… Schau sie dir mal an…“ „Ich sehe nur Lilly, Brians und Justins Tochter…“ „Schau dir mal ihre Augen an“, sagte Michael. Debbie schüttelte zweifelnd den Kopf, trat näher und nahm ihm Lilly ab. „Hallo, Mäuschen… Schau mich mal an, mein verrückter Sohn da drüben meint, es sei irgendetwas mit deinen Augen…“ Das Baby starrte sie an. Die Augen waren Blau gewesen, als Debbie sie das letzte Mal gesehen hatte. Jetzt waren sie von braunen und grünen Schlieren durchzogen, die von einem dichten Wimpernkranz überschattet wurden. „Siehst du eine gewisse Ähnlichkeit?“ fragte Michael. Debbie sah ihn an. „Du meinst, sie hat Brians Augen?“ „Ja!“ „Sieht wirklich ähnlich aus, ich weiß... Aber auch das könnte Zufall sein. Genauso gut könnte man sagen, dass sie Justin sehr ähnelt, die Haut, die Haare, die Nase… Glaubst du, Brian hat dir, uns allen mit der Adoptions-Geschichte einen Bären aufgebunden?“ „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ich will nicht glauben, dass Brian mich belogen hat, aber das hier… Mama, das sind Brians Augen, glaub mir!“ „Naja… Und was heißt das dann? Dass sie eine Leihmutter beauftragt haben…? Aber wozu dann die Geheimniskrämerei, warum sollte ihnen das peinlich sein…?“ „Lilly ist uns nicht peinlich“, kam Brians Stimme scharf von der Tür. In der Hand hielt der den Empfänger des Babyfons. „Brian!“ fuhr Michael etwas erschrocken zusammen. „Michael“, sagte er nur und trat mit langen Schritten ein. „Debbie. Wie schön, dass ihr für mich nach dem Rechten schauen wolltet, warum das Babyfon plötzlich auf Sendepause gegangen ist…“ Er nahm den Sender in die Hand und schaltete ihn wieder ein. „Na sowas, und schon ist es wieder heil, ich Technikgenie, ich… Da muss wohl ganz zufällig ein neugieriger Finger drauf gefallen sein…“ „Brian…“ „Ja bitte? Das war deiner? Es tut dir leid? Ich bin bass erstaunt.“ Ohne Michael eines Blickes zu würdigen schritt er zu Debbie und nahm ihr Lilly aus dem Arm, die prompt mit ihrer Nörgelei aufhörte. Brian drehte sich mit dem Baby auf dem Arm um und lehnte sich gegen den Wickeltisch. „Ich höre!“ eröffnete er in einem Tonfall, der keine Ausreden zuließ. Debbie räusperte sich. „Michael meint, dass Lilly deine Augen hat… Und ich muss sagen, dass das nicht ganz von der Hand zu weisen ist…“ „Ach ja? Schon mal was von fragen gehört?“ „Ich… Ich wollte sicher sein, dass ich nicht spinne… Ich meine, du hast doch gesagt, dass ihr nicht wüsstet, wer Lillys Eltern sind und dass ihr sie… überraschend… bekommen habt, nicht geplant… aber…“ „Ja, aber“, seufzte Brian. „Ich habe dich nicht angelogen, Mikey, falls du das befürchten solltest.“ „Das hätte ich auch nicht glauben können… Aber… ist Lilly deine Tochter?“ „Lilly ist Justins und meine Tochter.“ „Ja, ich weiß. Biologisch meine ich?“ „Ich finde ja, sie sieht Sonnenschein ähnlich“, meldete sich Debbie. Brian sah die beiden prüfend an. Dann stand er auf und schloss dir Tür. Er fixierte sie mit zusammen gekniffenen Augen. „Okay“, sagte er dann langsam. „Ich sag euch, was los ist, bevor ihr hier mit euren Mutmaßungen Gerüchte verbreitet. Aber das, was ich euch sage, verlässt dieses Zimmer nicht. Hört ihr? Kein Wort nach draußen. Auf gar keinen Fall.“ „Brian, was ist los?“ fragte Debbie und ließ sich auf dickes Sitzkissen nieder, das neben Lillys Bettchen stand. „Lilly ist Justins und meine Tochter“, sagte er. „Das wissen wir doch“, meinte Michael verwirrt. „Nein, das wisst ihr nicht. Lilly ist Justins und meine Tochter“, wiederholte Brian. „Wie…?“ fragte Michael ratlos. „Wie meinst du das.“ „Genauso wie ich es sage. Justin und ich sind Lillys biologische Eltern.“ „Aber…? Das geht doch gar nicht…?“ entfuhr es Michael. „Guter Punkt. Davon bin ich auch immer ausgegangen, bis mir in Mexiko unverhofft Lilly in die Hände gedrückt wurde.“ „Mexiko?“ fragte Debbie. „Die gute alte Daphne hat doch Medizin studiert. Und sie hat sich auf Fortpflanzungsmedizin und irgendwelchen Gentechnik-Scheiß spezialisiert, war in einer Forschungsgruppe… Und als sie uns dann vor fast einem Jahr im Loft besucht hat, hat sie wohl unsere Wichslappen im Klomülleimer entdeckt und hat sich gedacht, dass das doch zu schade zum Wegschmeißen sei. Neun Monate später bekam ich den Panik-Anruf, dass sie kurz davor sei, am Arsch der Heide in Mexiko, wohin sie sich verkrümelt hatte, nachdem die Ethikkommission ihr Labor dicht gemacht hatte, zu entbinden. Justin hatte die Masern, also bin ich gefahren. Und morgens früh gegen vier am 1. Juni hat mir eine dicke mexikanische Nonne namens Antonia Lilly in den Arm gedrückt und mir herzlich gratuliert. Als ich dagegen leichten Protest einlegen wollte, hat mir der Onkel Doktor gesagt, dass Daphne sich auf Nimmerwiedersehen verzogen hatte – allerdings nicht, bevor sie mich als Vater angegeben hatte. Also habe ich Lilly erst mal mitgenommen. Zuhause haben wir Vaterschaftstests gemacht, da uns die Sache mehr als spanisch vorkam – beide positiv. Da haben wir ganz scharf nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Daphne wohl ein kleines bisschen mit unserem Erbmaterial gepuzzelt hat. Tja… Ich hatte wirklich keine Ahnung, so wie ich es dir gesagt habe, Michael.“ Michael und Debbie starrten ihn sprachlos an. „Aber Brian…“, fasste sich Debbie. „Das ist ja wundervoll! Schwule können Kinder bekommen, dann unterscheidet sie nichts mehr von…“ „Halt! Stopp!“ unterbrach sie Brian. „Weder Justin noch ich haben Lilly ausgehustet, sondern Daphne, wörtlich und im übertragenen Sinne. Und was glaubst du wohl, was mit Daphne passiert, wenn das raus kommt?“ „Sie würde vielen Hoffnung machen…“, meinte Debbie. Michael starrte immer noch paralysiert Lilly an, die friedlich an ihrem Fingern nuckelte. „Da hast du es. Vielen. Sie würden uns die Bude einrennen. Sie würden Lilly bis in die letzte Darmzotte durchleuchten wollen. Sie würden überall über sie schreiben. Und neben dem Jubel kommt der Protest. Irgendwelche Spinner wollen das nicht von Gott geschaffene Kind ausmerzen und uns gleich mit. Und Daphne darf sich ins Kittchen verabschieden, falls sie sie schnappen, weil sie höchstwahrscheinlich gegen mindestens dreitausend Gesetze verstoßen hat. Aber das würden wir wahrscheinlich gar nicht mit bekommen, weil wir damit beschäftigt wären, uns die Meute vom Hals zu halten – oder schon dabei wären, schreiend davon zu laufen und unbekannt nach Katmandu zu verziehen. Kein Wort! Keine Silbe! Nicht einmal ein Hauch!“ „Aber Brian“, meinte Michael. „Wenn sie euch ähnelt… Irgendwann werden es auch die anderen bemerken…“ „Gott sei Dank haben Ted und Emmet nicht so einen Baby-Fetisch, das dauert noch. Je später mehr davon erfahren, desto besser. Wir können nur hoffen, dass es gut geht. Außer euch wissen von der Sache nur meine Mutter und Justins Eltern, denen ist das auch schon früher aufgefallen. Aber wie auch immer. Das ist kein Spaß. Kein Tuntentratsch. Das ist mein bitterer Ernst. Niemand darf davon erfahren, niemand. Hört ihr? Niemand!“ „Ja, ich verstehe, Brian“, sagte Michael schließlich. „Aber das ist… Es ist unglaublich, oh Gott! Oh Gott! Ich hätte nie gedacht… Wie hat Daphne das gemacht…?“ „Keine Ahnung“, sagte Brian. „Ist mir persönlich auch egal.“ Debbie stand auf und blickte in Lillys friedliches kleines Gesicht. „Sie ist wunderschön, Brian“, sagte sie sanft. „Wäre ja auch ein Wunder, wenn nicht“, meinte Brian, den kleinen blondgelockten Kopf mit der Hand stützend. Debbie lächelte und strich über Lillys weiche Wange. „Ja“, sagte sie, „ein Wunder. Ein kleines Wunder.“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Brian? Hilfst du mir kurz dabei, die Bank hier zur Seite zu räumen? Der Partyservice holt sie Morgen ab.“ „Nein geht nicht.“ „Wie, geht nicht?“ „Andere Pläne.“ „Und was, wenn ich fragen darf?“ „Ich muss jetzt so einen scharfen blonden Twink flachlegen, den ich unter einer Straßenlaterne aufgegabelt habe.“ „Das sehe ich ein. Aber ich muss dich warnen, der steht voll auf Leder…“ Kapitel 32: Cowboy-Gus und die Mistmaden ---------------------------------------- XXXII. Cowboy-Gus und die Mistmaden „Was kann ich für dich tun, Frederic?“ fragte Professor Marisoll und blickte von seinen Unterlagen auf. „Entschuldigung, wenn ich störe… Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich für ein paar Tage Urlaub nehmen kann?“ Frederic sah ihn erwartungsvoll an. „Urlaub…? Wie stecken gerade in einer kritischen Phase. Das Meer ist doch direkt vor der Tür…“, blockte Marisoll ab. „Ja, ich weiß. Ich würde auch nicht fragen, wenn es sich nicht dabei um eine dringende Familienangelegenheit handeln würde. Meine Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht, wahrscheinlich ein Schlaganfall, aber ich traue den Kurpfuschern nicht, sondern würde lieber selbst nach ihr sehen.“ Frederic sah ernsthaft besorgt aus. „Oh“, meinte Marisoll, „das ist natürlich etwas anderes, mein Junge, natürlich… Was meinst du, wie lange du fort sein wirst?“ „Eine Woche, zehn Tage? Ich weiß es nicht, kommt drauf an, wie es ihr geht. Ziehen Sie es mir ruhig von meinem Jahresurlaub ab. Und ich werde natürlich auch unterwegs arbeiten, soweit ich kann… Vielen Dank!“ Frederic lächelte ihn aufrichtig dankbar an. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Mit klopfendem Herzen öffnete Justin den Umschlag. Keine Mail, sondern ein Schreiben… Er verbot es sich zu hoffen. Mit zitternden Fingern öffnete er den Brief. Das Art Institute of Chicago, eine der renommiertesten Einrichtungen für junge Kunst weltweit… Sehr geehrter Mr. Taylor-Kinney, wir verfolgen Ihre Arbeit schon seit einer Weile interessiert und freuen uns, dass Sie mit uns in Kontakt getreten sind. Wir planen eine Ausstellung der Werke junger amerikanischer Künstler für das Frühjahr des kommenden Jahres und denken, dass Sie in unser Profil passen könnten. Die Fotografien Ihrer aktuellen Werke erscheinen uns sehr vielversprechend, wir würden sie gerne im Original in Augenschein nehmen, um uns ein genaues Bild machen zu können, bevor wir uns entscheiden. Wäre es möglich, dass unser Kurator, Mr. Finnings, Sie in Ihrem Atelier vor Ort besuchen könnten? Wir bitten hierin um Nachricht, um einen Termin vereinbaren zu können. Mit freundlichen Grüßen Paula Nether-Winston, Art Institute of Chicago Justin starrte den Brief an. Er las ihn noch mal. Dann entfuhr ihm ein lauter Jubelschrei und er begann, durch den Flur zu hopsen, weil er sich schlichtweg nicht halten konnte. „Ja! Ja! Jahahaha! Juhu! Hast du das gehört, Schuhschrank? Sie wollen mich! Ja! Okay, kann immer noch schief gehen… Aber trotzdem, sie haben Interesse! Jahahahaja!“ „Papa…?“ Gus stand am oberen Ende der Treppe und starrte ihn mit offenem Mund an, so dass das nachmittägliche Licht sehr malerisch seine Zahnlücken betonte. „Huhu Gus! Alles klar mit den Schularbeiten?“ „Ja… Was ist denn mit dir, du schreist so, bist du wieder krank…?“ „Nein! Nein“, lachte Justin. „Ich bin kerngesund. Ich freue mich nur!“ „Deswegen schreist du…? Und redest mit dem Schuhschrank…?“ „Ganz genau, Gus“, strahlte Justin und startete in Richtung Treppe durch. Gus konnte sich gar nicht recht besinnen, da war er schon geschnappt und hoch gehoben. Rasch schlang er Arme und Beine um Justin, der ihn festhielt und sich drehte. „Du hast recht. Mit dem Schuhschrank freuen ist doof. Mit dir freuen ist viel besser!“ Gus kicherte geschmeichelt und quietschte ein wenig, weil Justin an Tempo gewann. „Aber warum freust du dich denn do?“ wollte er wissen. „Weil die Leute von einem Museum in Chicago wahrscheinlich meine Bilder ausstellen wollen! In einem richtigen Museum!“ „Toll“, sagte Gus, während Justin langsam wieder bremste. „Wo ist denn Chicago?“ „Oben bei den Großen Seen. Wir sind da lang gefahren, letztes Jahr als Papa und ich geheiratet haben, erinnerst du dich?“ „Ja… Aber Chicago habe ich nicht gesehen…?“ „Das liegt auch ein Stückchen weg von dort, wo wir lang gefahren sind. Die Großen Seen sind groß, deshalb…“ „… heißen sie auch Große Seen, aha. Musst du dann nach Chicago?“ Gus hörte sich plötzlich nicht mehr so begeistert an. „Ja, wohl schon. Aber nur kurz, so wie ich ja auch ab und an nach New York fahre.“ „Mmm… kann ich mit?“ „Wenn du keine Schule hast, klar. Aber du bist ja jetzt ein Schulkind, da kannst du nicht einfach weg. Aber ich komme auch ganz schnell wieder, okay?“ „Okay… Guck mal!“ Gus riss seinen Mund auf und deutete auf seinen Oberkiefer. Justin hielt ihn ins Licht und schaute hinein. „Mann, Gus, du bekommst ja einen Zahn! Einen richtigen Erwachsenenzahn! Toll!“ Gus grinste stolz. „Da haben wir ja beide was zu feiern… Wir können ja etwas machen, was wir beide mögen, und für das wir keine Zähne brauchen…“ „Eis?“ schlug Gus unschuldig schauend vor. „Eis! Geniale Idee, könnte von mir kommen. Ich hol kurz Lilly, dann brausen wir los!“ „Was ist mit Papa?“ „Der muss noch arbeiten. Wir essen einfach eins für ihn mit, damit er sich nicht benachteiligt fühlt?“ „Okay… Dann wird er auch nicht zu dick“, grinste Gus und ähnelte dabei seinem um die Kalorien gebrachten Vater bestechend. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Brian!“ „Ja, Nathalie…?“ „Ist das etwa Gus in dieser Joghurtreklame!“ „Der einzig Wahre…“ „Unser Enkel ist keines von diesen Kindern, die gegen Geld an die Industrie verhökert werden!“ „Ich vermiete Gus nicht, falls dich das beruhigt… Du siehst auf das stolze Erzeugnis des Familienunternehmens Taylor-Kinney.“ „Die Anzeige stammt aus deiner Firma?“ „Was sonst, ich habe eine Werbefirma, schon vergessen?“ „Natürlich nicht. Aber muss das sein? Ihn so exponieren…“ „Ach was, das war ein Spaß für ihn, für uns beide. Ich musste zu Hause arbeiten wegen Lilly, und Gus hat sich gelangweilt. Die Sache mit dem Cowboy war sogar seine Idee.“ „Mmm… nun ja. Aber ich hoffe, das bleibt eine einmalige Sache…“ „Kann ich nicht versprechen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich garantiert nicht zu einer Eiskunstlauf-Mutti mutiere, die den Nachwuchs zu jeder sich bietenden Gelegenheit vor die Linse zerrt und behauptet, das Kind wolle es ja nicht anders, um in Wirklichkeit nur den eigenen gescheiterten Ehrgeiz zu befriedigen. Die Sache war für Gus ein Spiel, ein Abenteuer, mehr nicht.“ „Naja… Ich will nur, dass es ihm gut geht.“ „Ich instrumentalisiere ihn nicht, okay?“ „Nun gut. Ich wollte nur sicher sein.“ „Zufrieden?“ „Lindsay hätte das bestimmt nicht gefallen – aber du bist jetzt ja der Verantwortliche.“ „Haargenau. Und ich handele immer in Gus bestem Interesse, irgendwelche Zweifel daran?“ „Nein. Schon gut. Ihr kümmert euch gut um Gus. Und um Lilly. Wie geht es der Kleinen?“ „Gut. Sie versucht ständig, mir in die Nase zu fassen.“ „Ja, das mögen Babys gern. Wart’s nur ab, das richtige Zugreifalter kommt erst noch. Da wird dann alles geschnappt, befühlt und in den Mund gestopft. Lindsay hat damals einen halben Hundehaufen verputzt, bevor wir es bemerkt hatten.“ „Igitt! Die orale Phase habe ich mir irgendwie schöner vorgestellt…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Boah… Das bin ich!“ „Genau. Und du siehst richtig gut aus“, lobte Justin das große Plakat an der Litfaßsäule am Marktplatz von Green Tree. Gus strahlte. Justin biss sich auf die Lippe. „Bist du das Gus?“ kam eine helle Stimme. „Ja! Hat mein Papa gemacht!“ erklärte Gus mit geschwellter Brust. „Toll!“ lobte Jimmy tief beeindruckt. „Ich bin auch in ganz vielen Zeitschriften!“ prahlte Gus ungehemmt. „Dann bist du ja richtig berühmt!“ folgte Jimmy haarscharf. „Jimmy, wo bist du…? Ach da…“ Jim Stockwell trug eine große Tüte mit Einkäufen aus dem Lebensmittelgeschäft und erspähte seinen ausgebüxten Filius neben Gus Taylor-Kinney und Hetzplakat Taylor-Kinney, der das Baby in einem Tragekörbchen mit sich herum schleppte. „Schau mal, das da ist Gus auf dem Plakat!“ erklärte Jimmy aufgeregt, während er mit dem Finger auf die Säule zeigte. Jim biss die Zähne zusammen. Das sah Kinney ähnlich, seinen Sohn in einer Reklame zu verwursten, die er wahrscheinlich beim Sehen von „Brokeback Mountain“ ausgeheckt hatte, während alle anderen im Saal geheult hatten. Seine Frau hatte ihn genötigt, den Film zu sehen. Dummerweise waren die ganze Zeit nur diese beiden blöden Berufs-Schwulen vor seinem inneren Auge erschienen, denen die Outing-Probleme irgendwelcher Cowboys von anno Schnee wahrscheinlich komplett am Arsch vorbei gingen. „Ja, ich seh’s“, würgte er hervor. Kinney Junior lächelte ihn schüchtern an. Himmel, sah der seinem Alten ähnlich – bis auf die Zahnlücken, die Jim Brian zeitweise auch gerne verpasst hätte. Aber nein… Brian und er waren ja jetzt ganz dicke… verdammte Mistmade von Werbefuzzi… Mistmade zwei lächelte ihn die strahleweißen Zähne zeigend breit an. „Hallo Jim“, grüßte er fies-freundlich. „Justin“, nickte er zurück. „Ich drücke die Daumen für die Wahl“, grinste Taylor-Kinney. Gegen diesen Praktikanten war Monica Lewinsky wahrscheinlich eine harmlose Dorfpomeranze gewesen. „Vielen Dank“, erwiderte Jim, sich zu einem neutralen Tonfall zwingend. „Kein Problem“, sagte Justin großzügig, „ich freue mich wirklich, wenn diese Gemeinde von jemand Rechtschaffendem geleitet wird… da Sie ja den Konditionen zugestimmt haben…“ „Ich werde mir meine größte Mühe geben“, entgegnete Jim würdevoll. „Da bin ich mir sicher… ansonsten gibt es ja auch noch das Misstrauensvotum…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Nanu? Was grinst ihr beiden so?“ „Wir haben dein Eis gegessen!“ petzte Gus kichernd. „Das ist aber sehr nett von euch“, meinte Brian in ernsthaftem Tonfall und streckte ihnen die Zunge raus. „Justin! Papa zeigt uns die Zunge!“ „Du weißt, was da zu machen ist!“ „Bähhhh!“ „Bähhhh!“ „Da arbeite ich mir den ganzen Tag den Buckel krumm – und ihr esst mein Eis und schneidet mir dann auch noch Grimassen!“ „Nichts zu danken, das machen wir gerne“, grinste Justin. „Das glaube ich gern. Ihr scheint ja beide verfluc… ganz schön gute Laune zu haben?“ „Ich bin in der Werbung! Und ich bekomme einen Zahn!“ „Zeig mal!“ „Ahhhhh!“ „Super Gus! Mmm… der wird wohl schief…“ „Was?!“ „Keine Panik, Gus… Siehst du, meiner ist auch schief…“ Gus äugte. „Stimmt. Total schief. Mist.“ „Was?!“ „Nein Gus… Papa hat sehr schöne Zähne…“ „Papas Zahn ist schief!“ „Ja… Aber das sieht sehr hei… hübsch aus. Gerade wäre doch langweilig…“ „Du hast doch total gerade Zähne! Ist das dann langweilig?!“ „Nein Gus… Justins Zähne sind halt anders… Er muss ja auch immer fest zubeißen können…“ „Ich kann nicht zubeißen mit dem schiefen Zahn!?“ „Doch! Alles in Ordnung mit deinem Zahn!“ „Aber er ist schief!“ „Ja…“ „Ich will Justins Zähne! Nicht deine Schiefen!“ „Es ist nur einer schief! Und das geht nicht, du hast meine geerbt, wie’s aussieht.“ „Mist! Ich bekomm schiefe Zähne wegen dir!“ „Wir können die ja eine Klammer…“ „Nein! Papas schiefer Zahn ist klasse! Sei froh, dass du auch so einen schönen schiefen Zahn abbekommen hast!“ „Muss ich...?“ „Ja! Glaub mir, eines Tages wirst du uns dankbar sein!“ „Pffff…“ Gus verzog sich, George an sich drückend in Richtung Fernseher, es war Spongebob-Zeit. „Dein schiefer Zahn ist sexy wie die Hölle“, versuchte es Justin. „Ich weiß!“ erwiderte Brian leicht eingeschnappt infolge geringer Wertschätzung durch seinen Sohn. „Na, dann muss ich es ja nicht extra sagen… Die aus Chicago haben sich gemeldet“, wechselte Justin das Thema. „Oh – und?“ nahm Brian dankbar den Faden auf. „Sie sind interessiert“, sagte Justin, dem es nicht gelingen wollte, das stolze Grinsen zu unterdrücken. „Habe ich doch gesagt!“ triumphierte Brian. „Hast du. Nächste Woche kommt einer der Kuratoren vorbei. Packst du es, dich bei Kinnetic frei zu eisen wegen der Kinder oder soll ich Joan anrufen?“ „Wann denn?“ „Mittwoch, drei Uhr.“ „Moment… doch, das geht. Ich hole Gus von der Schule ab, das passt dann.“ „Klasse, danke. Und jetzt komm her du schie… äh steiler Zahn!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Frederic drückte aufs Gas. Ein Leihwagen war in jedem Fall unauffälliger als ein Flugticket, das sich leicht zurück verfolgen ließ. Reine Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich wusste er auch nicht so recht, was er machen wollte. Aber er musste der Sache auf den Grund gehen. Hatte es Daphne vielleicht wirklich geschafft mit dem Erbgut von diesem Justin und diesem Brian? Zumindest Justin musste sie kennen, er hatte Daphnes Vita überprüft, die beiden waren in derselben Abschlussklasse gewesen. Behielt sie Marisoll deswegen im Programm? Aber selbst wenn es einmal geklappt hatte, Daphne schien es nicht zu gelingen, die Sache zu wiederholen. Musst ein Glückstreffer gewesen sein, aus dem sie selbst jetzt nicht mehr schlau wurde. Aber Daphne war, gut hin oder her, eine Anfängerin, ihr hatte er einiges voraus, er bräuchte lediglich die Daten. Wenn diese Lilly Taylor-Kinney also das Produkt Daphnes Forschungen war, warum wertete sie es nicht aus? Warum hatte sie es nicht bei sich behalten, um den Versuch vernünftig zu analysieren und zu dokumentieren? Hatten die beiden Kerle es gewusst und ihr das Endergebnis abgeluchst, weil sie irgendwelche sentimentalen Gefühle hegten? Wenn Daphne es geschafft hatte, dann wäre das ein unglaublicher Durchbruch. Aber offensichtlich war sie nicht in der Lage, daraus etwas zu machen. Er hingegen vielleicht schon. Kapitel 33: Justin schläft sich hoch ------------------------------------ XXXIII. Justin schläft sich hoch Brian musterte, ein halbes Ohr am Babyfon, Mr. Finnings. Der Kurator hatte sich schwer in Schale geschmissen, aber Brian sah sofort mit geübtem Blick, dass das kein Armani war, obwohl es sich als solches ausgeben mochte. Der Mann mochte Anfang vierzig sein, eine gepflegte, auf sein Äußeres bedachte Erscheinung, muskulös, das schütter werdende Haar konsequent raspelkurz geschnitten, eine modische Intellektuellenbrille auf der Nase. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Finnings entzückt war von dem, was er hier zu sehen bekam. Justins Werke waren auch überwältigend, der Mann hätte ein totaler Trottel sein müssen, um das nicht zu erkennen. Allerdings fixierte er mit demselben hingerissenen Blick auch den Maestro höchstpersönlich, der unter der nach außen getragenen Lässigkeit vor Aufregung fast platzte. Wie auch immer, Justin hatte die Sache so gut wie in der Tasche, falls der andere nicht auf krumme Gedanken kam und ihn auf die Besetzungscouch zu bitten wagte. Daraus würde wohl nichts werden – aber ein Profi würde sich trotz Abfuhr nicht so etwas durch die Lappen gehen lassen. Mochte der Kerl Justin an sabbern, so viel er wollte, schauen war ja nicht verboten. Einsauen tat ihn hier jedoch nur einer. Finnings laberte irgendwelchen Stuss über postmodern-antiexpressionistische Gattungsvermischung im Zeichen symbolistisch-surrealer Genresymbiose, was wahrscheinlich bedeutete, dass er Justins Kram geil fand. Justin nickte lediglich verhalten und lächelte, aber Brian konnte ihm ansehen, dass er das Geschwafel gleichfalls für gequirlte Scheiße hielt. Seine Geduld zahlte sich aus, Finnings schloss seine Tirade mit dem heißen Versprechen, Justin ganz nach oben auf die Liste der extern zu ladenden Künstler zu setzen. Dabei sah er Justin ganz tief in die Augen und schwor Stein und Bein, dass er es gar nicht erwarten könne, ihn in Chicago begrüßen zu dürfen. Justin zwinkerte zwei Mal hinreißend, bedankte sich dann unverbindlich und zugleich überschwänglich, als habe er die unterschwellige Anmache gar nicht bemerkt. Finnings verabschiedete sich salbungsvoll, Justin schloss die Tür und atmete tief durch. „Puh“, sagte er, „aber das wird was, oder?“ „Denke auch“, meinte Brian. „Der fand deine Sachen seien der totale Hammer, wenn ich sein poststrukturalistisch-koksantroposophisches Gequassel richtig gedeutet habe, womit er ja auch Recht hat. Und er fand dich scharf.“ „Ich bin scharf“, grinste Justin. „Früher wäre das kein Problem gewesen…“, meinte Brian mit Blick zur Tür. „Ist auch jetzt keins. Und falls du damit andeuten willst, dass die Welt leichter ist, wenn man sich brav hochschläft, muss ich dich leider treten. Oder hast du das etwa so gemacht?“ „Ich habe mich nicht unbedingt geweigert, jemanden zu ficken, der mir weiter helfen konnte.“ „Weil du den Job wolltest? Oder weil du den eh ficken wolltest?“ „Eher letzteres, das andere war ein angenehmer Nebeneffekt. Ich hab’s mal versucht… so eine alte Klemmschwester, hatte ich dir ja erzählt…“ „Mmm, und ich habe da auch so meine Erfahrungen gemacht.“ „Gogo-Justin?“ „Genau, Gogo-Justin, der es via Blow Job in null Komma nichts ganz nach oben gebracht hat, nämlich auf die Bar…“ „Die Flügelchen waren doch ganz apart…“ „Jaaaa…. Wie man‘s nimmt. Der krönende Abschluss dieser Karriere war es, dass ich beinahe vollgedröhnt im Sling gelandet wäre und das Ende vom Lied will ich mir gar nicht vorstellen. Tja, wie heißt es so schön: Hochmut kommt vor dem Fall…“ „Du bist – was?!“ „Das ist Schnee von gestern.“ „Die Party… Ich hatte ja vermutet, dass man dich dort behandelt hatte, wie das billige Stück Fleisch, zu dem du dich damals selbst degradiert hattest, aber das da ist wirklich gar nicht witzig…“ „Du hattest mich ja gewarnt. Und wahrscheinlich war es nötig, damit ich es wirklich kapiere. Verdammter Stolz, nicht wahr?“ „Ja, manchmal. Himmel, dir hätte sonst was passieren können…“ „Ist es aber nicht. Ich hatte Glück. Und ich hatte dich. Und wenn ich bedenke, wie der Abend ausging…“ „Ja, irgendwas war da, nicht?“ „Irgendwas… ja… Mein Gedächtnis wird mit zunehmendem Alter wohl schwächer, ist wohl Zeit, es ein wenig aufzufrischen…“ „Wenn Gus im Bett ist, darfst du dich gerne auf die Suche machen. Wenn du Glück hast, winkt vielleicht auch eine interne Beförderung, wenn sich schon nicht auswärtig hoch gevögelt wird.“ „Beförderung? Wozu solltest du mich denn befördern?“ „Zu meinen Lieblings-Lustsklaven…?“ „Bin ich das nicht sowieso schon…?“ „Das lässt sich gewiss noch steigern.“ „Super. Ich bin nämlich sehr karrierebewusst.“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Frederic drückte sein Gesicht in das Handtuch. Mit dem Auto von Mexiko bis nach Pennsylvania zu fahren erschien ihm rückblickend nicht mehr wie der beste Plan. Trotz der Erfrischung durch das kühle Wasser zitterte sein Körper. Er war mit einem Minimum an Pausen durch gefahren, keine Zeit zu verschwenden. Als Mediziner hatte man ja praktischerweise leicht Zugriff auf Mittelchen, die einen bei der Stange hielten. Er spähte durch das Motelfenster. Es war etwas bewölkt, aber dennoch auf eine angenehme Weise noch warm. Endlich mal wieder ein zivilisiertes Wetter, nicht diese verkackte mexikanische Bruthitze, die, sobald man aus den kühl temperierten Laborräumen kam, einem sofort Kleidung und Haar am Leib kleben ließ. Und was jetzt? Er brauchte Proben, doch wie? Wenn diese Lilly das Ergebnis von Daphnes Forschungen war, dann gehörte sie in erster Linie der Wissenschaft. Genau genommen hätte sie nie geboren werden dürfen, sie war nur ein Experiment. Was zum Teufel hatte Daphne geritten, die Sache durchzuziehen - und sie dann nicht mal auszuwerten? Oder hatte sie einen Deal mit den Vätern gehabt? So ein Blödsinn, eine persönliche Beziehung mit seinen Forschungssubjekten aufzubauen, das war äußerst unprofessionell. Oder hatten die beiden Schwulen ihr das Ergebnis abgeknöpft, bevor sie die Sache zu Ende bringen konnte, und gedroht, sie anzuzeigen? Aber zuvor hätte Daphne doch Proben nehmen können… Er wurde aus der Sache nicht schlau. Er ging hinüber zum Bett und öffnete seine Reisetasche. Erst mal die Lage sondieren. Er schnappte sich ein Baseball-Cap, das seine verdammten roten Haare verdeckte, und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. Dem würde er wohl noch weiter Abhilfe schaffen müssen, aber fürs erste reichte es. Am Laptop studierte er die Busfahrpläne, das mexikanische Leihauto war viel zu auffällig, solange es sich vermeiden ließ. Er schnappte sich die Schlüssel und setzte sich in Bewegung. Sein erster Stopp war eine Drogerie, wo er sich eine mausbraune Haartönung kaufte sowie eine billige, mit Glas bestückte Plastikbrille mit fettem, hässlichem Rahmen. Wenn er hier rumspionieren wollte, sollte man ihn besser nicht zwei Mal an demselben Ort sehen. Sein Herz klopfte schneller, er fühlte sich ein wenig wie in einem billigen Agenten-Thriller und rief sich zur Ordnung. Das hier war notwendig, er musste lediglich die logischen Schritte vollziehen und sich konzentrieren. Er wartete fünf Minuten an der Bushaltestelle, dann hielt die Linie und er stieg ein. Es war Vormittag, die Menschen waren bei der Arbeit, die Kinder in der Schule, nur ein paar Alte, Leute mit Kleinkindern und Studenten bevölkerten die Sitze. Er setzte sich ganz nach vorne und studierte die Gegend. Green Tree, ein vornehmer, in seiner Verwaltung unabhängiger Ort vor den Toren Pittsburghs. Die Straßen waren von hohen Bäumen flankiert, die Grundstücke ähnelten immer mehr kleinen Parkanlagen, je weiter man ins Innere kam. Wer hier wohnte, hatte zweifelsohne Geld. Die Taylor-Kinneys dürften nicht gerade am Hungertuch nagen, wenn sie hier ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Gehörten wahrscheinlich zu jener Gruppe von Schwulen, von denen jeder Marktforscher nur träumte: statusbewusst, beruflich erfolgreich, immer die Nase am Trend. Und wahrscheinlich hatte es passend zur Luxusvilla mit Pool auch noch ein Designer-Baby sein dürfen. Seinetwegen konnten sie treiben, was sie wollten, er hatte nichts gegen Schwule, fand das Phänomen sogar ziemlich interessant, obwohl es ihn selbst nicht betraf. Aber umso klarer mochte der Blick sein, wenn er nicht auf einen selbst gerichtet war. Menschliche Sexualität war ein faszinierendes Feld, mit dem er sich im Zuge seiner Studien zumindest am Rande beschäftigt hatte. Aber es war chaotisch, kaum überblickbar oder auf feste Regeln bringbar, zu vielfältig waren die durch Erbgut und Sozialisation erbrachten Variablen, vieles fiel da in den Bereich der Psychologie und der Soziologie. Er selber bevorzugte da sein deutlich klarer zu überblickendes Feld, bei dem man getrost die gelebte Form außer Acht lassen konnte. Ein Gencluster bedingte zwar die Form des daraus entstehenden Lebens, aber um das Endergebnis mochten sich da andere kümmern, nicht zuletzt es selbst. Er war nur der Konstrukteur, der Pläne entwarf und Fehler ausmerzte, bevor das Haus die vom Prinzip des Zufalls bestimmte krumme Form einnahm oder gar einstürzte. Er erschuf zwar kein Leben im strengen Sinne – aber er verbesserte es, nicht nur für einzelne, sondern für viele. Und dafür war einiges zu tun, was vielleicht nicht jedem Kleingeist gefiel. Sie mochten zetern, so viel sie wollten, sobald es aber um die eigene Existenz oder den eigenen Nachwuchs ging, knickten die meisten erfahrungsgemäß ein und schufen sich ihre eigene bigotte Hölle. Aber das war nicht sein Problem. Die Haltestelle wurde angezeigt, Fredric drückte den Knopf und stieg aus. Langsam ging er die Straße hinab, den Ortsplan genau im Kopf. Er hatte sich die Knöpfe seines MP3-Players in die Ohren geschoben und sah jetzt wahrscheinlich aus wie ein x-beliebiger Student, der durch seinen Tag gammelte. Das Haus, falls man es so nennen wollte, der Taylor-Kinneys kam nach fünf Minuten in Sicht, ein altertümlicher, aber auf Hochglanz polierter Kasten. Im Vorgarten blühten Heckenrosen, ein Fußballtor dümpelte auf der Fläche. Er ordnete es Gus zu. Linkerhand stand ein klapperiger Van, gehörte wahrscheinlich dem Künstler, der solche pseudo-Bescheidenheit chic fand. Der Briefträger musste kurze Zeit vorher da gewesen sein, im Postkasten klemmten mehrere Briefe. Er tat so, als sei ihm etwas aus der Tasche gefallen, und bückte sich, einen scharfen Blick auf die Briefe werfend. Ganz oben war eine graugrüne Karte eingequetscht. Ein Termin zum Stromablesen, morgen um Zehn. Er schärfte sich im Aufstehen die Daten ein, dann ging er gemessenen Schrittes weiter. Am Marktplatz von Green Tree, flankiert von Läden für die Bedürfnisse des gehobenen Publikums, stieg er wieder in den Bus. Zurück im Hotelzimmer, schlug Frederic kurz die Nummer im Internet nach, dann wählte er sein Handy. „Stromwerke Pittsburgh Süd, Nigao am Apparat, was können wir für sie tun?“ „Guten Tag, Taylor-Kinney hier, Sie wollten Morgen bei uns den Strom ablesen?“ Er nannte die Adresse. „Moment… Ja, hier habe ich es, um zehn Uhr?“ „Das passt leider nicht, weil wir verreisen. Wäre es möglich, den Termin um zwei Wochen zu verschieben?“ „Nein, das ist kein Problem. Ich trage sie für denselben Tag zur selben Zeit in zwei Wochen ein. Soll ich Ihnen noch eine Benachrichtigung schicken?“ „Nein, das ist nicht nötig, ich habe es eingetragen, vielen Dank.“ „Wir danken Ihnen, Mr. Taylor-Kinney. Einen schönen Tag noch.“ „Ihnen auch, Wiederhören.“ Gut, was jetzt? Haare tönen. Arbeitsstiefel hatte er, ein Blaumann wäre vielleicht noch ganz hilfreich. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Justin hastete zur Tür, die heulende Lilly auf dem Arm. Mist, warum musste sie ihr Frühstück ausgerechnet jetzt entsorgen? „Ist ja gut, meine Süße, ist ja gut“, versuchte er es. „Du bekommst gleich einen trockenen Hintern, versprochen… Ich muss nur dem Heini von den Stadtwerken die Tür aufmachen…“ Er hangelte nach dem Türknauf und öffnete. Ohne hinzusehen sagte er: „Kommen Sie rein, bitte. Entschuldigen Sie… meine Tochter ist gerade leider ein wenig ungnädig.“ Der Mann, etwa in seinem Alter mit langweilig braunem Haar und einer sehr unvorteilhaften Brille, trat ein. „Oh, kein Problem, so sind Kinder… Ein hübsches Mädchen…“ „Ja“, lächelte Justin, „hübsch laut ist sie auch…“ „Zahnt sie?“ „Nein, sie ist nicht mal vier Monate alt, das steht uns noch bevor. Lilly, gleich geht’s los… Sie müssen zum Sicherungskasten?“ „Ja, nur fix Ablesen, dann bin ich schon wieder weg. Mit so einem Baby hat man bestimmt immer ordentlich was um die Ohren?“ „Sie sagen es… Kommen Sie… Die Treppe da runter und dann gleich rechts… Kommen Sie allein zurecht?“ „Ja, sicher, danke. Sie müssten am Schluss kurz unterschreiben?“ „Bin gleich wieder da.“ Justin flitzte die Treppe hinauf und versorgte Lilly mit frischer Windel und frischem Strampelanzug. Sie grunzte zufrieden, sofern man ein solches Geräusch mit einer so kleinen Person in Verbindung bringen mochte. Justin nahm sie wieder auf den Arm. Der Strom-Heini wartete schon unten und hielt ihm ein Formular voller Zahlen unter die Nase. Justin musterte es kurz, die Angaben stimmten, er unterschrieb. „Jetzt ist sie ja wieder ganz friedlich“, stellte der Mann fest. „Ja, normalerweise ist sie ein Engel – wenn sie nicht gerade brüllt“, erwiderte Justin und lächelte Lilly an, die mit offenem Mund gähnte. „Aber man ist wahrscheinlich im Dauereinsatz? Entschuldigen Sie, wenn ich neugierig bin, aber meine Freundin und ich denken gerade darüber nach…“ „Ach ja, schon, aber es lohnt sich. Es geht, wenn man sich die Arbeit teilt und Familie hat, die einen unterstützt. Aber man muss schon auf alles genau achten. Ich muss Morgen in aller Herrgottsfrühe geschäftlich verreisen, dann ist mein Mann voll eingespannt. Nicht einfach, aber es geht.“ Frederic versuchte ein wenig herunterschluckend-belämmert auszusehen, wie es von einem Stromableser im Angesicht eines schwulen Ehepaars wahrscheinlich erwartet wurde. „Äh… ja, kann ich mir vorstellen“, murmelte er. „Nun gut“, sagte Justin, „dann will ich sie auch nicht weiter aufhalten.“ Ratzfatz ward er hinaus komplimentiert. Gut, das war also Lilly Taylor-Kinney. Frederics kundiger Blick hatte sofort die genetisch bedingte Ähnlichkeit zu ihrem Vater ausmachen können. Wie wohl der andere aussah? Eigentlich war es ihm egal, er bräuchte nur die Erbinformationen. Die kurze Zeit hatte es nicht erlaubt, irgendwelches brauchbare Material einzusammeln. Die machten hier einen auf Familienidyll mit etwas, das ins Labor gehörte… unglaublich… Künstler-Taylor-Kinney würde also ab Morgen weg sein, blieb nur noch der mit der Werbefirma, Brian. Gus Taylor-Kinney dürfte morgens die Schulbank drücken. Ab neun Uhr morgens war hier vermutlich Ruhe im Karton, nur der Werbeheini und das Baby. Er dachte nach. Es gab Grenzen in diesem verfluchten Land. Der Teufel würde los sein. Konnte er das? Ja, nicht umsonst hatten sie ihn schon im Kindergarten als hochbegabt eingestuft. Es war seine Pflicht, etwas daraus zu machen, es nicht einfach verkommen zu lassen. Sich, Daphnes Experiment. War er bereit dazu, auch bei allen denkbaren Konsequenzen? Er musste. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Mmm… Brian…“ Justin reckte sich wohlig, während Brian an seinem Ohrläppchen knabberte, die heiße Zunge durch seine Ohrmuschel zog, so dass sein ganzer Körper von einer Gänsehaut überzogen wurde. Morgen würde er für drei Tage in New York sein, Katlin’s hatte auf seine Anwesenheit bei der abschließenden Präsentationsvorbereitung und der anschließenden Vernissage gedrängt, bei der auch fünf seiner Bilder gezeigt werden würden. Aber drei Tage waren ja nicht viel, außerdem versprach es durchaus interessant zu werden. Brians Hände strichen seine Seiten hinauf, drängten seine Arme nach oben zum Kopf des Bettes, während weitere kleine Bisse Justins Nacken verwöhnten. Er folgte den vorgegeben Bewegungen, drückte sich Brian entgegen, ließ seine Zunge über die dargebotene Kehle gleiten. Brian streckte sich, beugte sich hinab und reckte sich hinauf, während Justins Lippen ihren Weg zum Ansatz des Brustbeines suchten. Brians Brustwarzen kamen in Sicht, verführerisch hart, wie Waldbeeren auf der gebräunten Haut. Brian wand sich weiter nach oben, als habe er den Gedanken erahnt, und Justin haschte nach seiner Beute. Brians Hand umfasste noch immer seine fort gestreckten Handgelenke, nichts Ungewöhnliches. Plötzlich traf ihn eine vertraute, dennoch überraschende Berührung. „Hey… was?“ fuhr Justin auf, als Brian den Verschluss fest schnallte. „He… ich bin gesund! Die Masern sind weg… was soll das…?“ „Du wirst es nicht glauben, aber die Dinger haben ursprünglich noch einen anderen Verwendungszweck…“ „Du fesselst mich ans Bett…? Was..?“ „Glückwunsch. Nach der Nummer gestern wurdest du befördert. Ich halte meine Versprechen.“ Während Justin noch etwas entgeistert nach oben starrte, hatte sich Brian schon seiner Fußgelenke bemächtigt. Eh er sich recht versah hing er auch damit in den Schlaufen. Sieh an, bei sowas schien sein Gatte plötzlich über ein gewisses Montagetalent zu verfügen… Aber was…? Fesseln, das hatte Brian früher mit irgendwelchen Tricks gemacht… aber die hatten sich aus ihrem Leben verabschiedet… jetzt war wohl er an der Reihe… Seit einer Weile war er selbst es meist gewesen, der die Grenzen weiter getrieben hatte, jetzt holte Brian anscheinend zum Gegenschlag aus… Nichts dagegen, ein dominanter Brian gehörte nun wirklich nicht zu den Dingen, vor denen er schreiend davon lief… Wenn Brian das wollte, versprach das spannend zu werden… Justin schielte an sich herunter, und zerrte probehalber ein wenig. Ohne Zweifel, er hing fest. Brian grinste ihn breit an, sah ihm in den Augen und zog. Sein rechtes Bein wurde zur Seite gezwungen, dann das linke. Brian fixierte die Schnallen und baute sich neben dem Bett auf. Nun gut, machte er eben mit. Er trug noch immer seine Jeans, wie gedachte sein Gemahl denn dieses Problem zu lösen? „Okay…“, sagte er, „was kommt jetzt? Knebelst du mich auch noch oder was?“ „Ein sehr verführerischer Gedanke, der mir in vielen Situationen schon durch den Geist gegangen ist. Aber nein, dein Mund wird hier noch gebraucht…“ „Sieh an… Und was jetzt? Muss ich dich jetzt mit „Meister Brian“ ansprechen?“ „Ich gehe einfach mal davon aus, dass du das innerlich sowieso immer tust. Nein, eigentlich musst du nur ganz brav liegen bleiben – bleibt dir eigentlich auch nichts anderes übrig – und artig zuschauen…“ „Zuschauen…? Nur zuschauen…? Das hört sich aber nicht sonderlich devot an…“ Brian grinste immer noch unverschämt. Mit in einer langen Bewegung glitt er zurück ins Bett und kam breitbeinig auf Justins Brustkorb zum Sitzen. Mit einem Schlag drang dem Lahmgelegten Brians ureigenster Geruch in die Nase, er schielte nach unten. Brian schaute ihn an, das Lächeln war immer noch da, aber es lag jetzt etwas Anderes darin… Begehren… Er sah kurz zu Brian hinauf, dann klebte sein Blick wieder an dessen Schritt. Er kam nicht dran, er hing fest. Er konnte nur starren, während Brians lange Finger über den Stoff der Jeans glitten, hinauf zur geraden Haarspur, die vom Bauchnabel aus wie ein Pfeil nach unten deutete. Mit einem leisen Plopp öffnete Brian den obersten Knopf, verweilte ein wenig, strich wieder über die sich zunehmend abzeichnende Beule, bevor er den nächsten öffnete. Justin konnte den Blick nicht lösen, das Blut stieg ihm in den Unterkörper, aber niemand war so nett, ihn von der einzwängenden Hose zu befreien. Plopp. Das Schamhaar kam in Sicht, während Brian in aller Gemütsruhe weiter machte, allmählich schwerer atmend. Justin hatte das Gefühl, kurz davor zu sein, los zu sabbern wie Hektor vor dem Hundekuchen. Plopp. Der Ansatz kam in Sicht. „Oh Scheiße, Brian…“, flüsterte Justin. „Ganz und gar nicht“, erwiderte der nur und ließ die Hand unter den Stoff gleiten. Er ließ sich enervierend viel Zeit, bevor er seine ganze Länge zu Tage förderte. „Oh, Mann…“ „Definitiv ja, was?“ sagte Brian und strich über seine Pracht. Die glänzende Spitze stand direkt vor Justins Nase – aber er kam nicht dran. Er kam nicht dran, verdammter Mist. Brian schob seine Hose noch ein Stückchen über die Hüften, dann begann er, den Blick auf Justin gerichtet. Justin bekam nichts mit, er konnte seine Augen einfach nicht lösen. Er versuchte zu strampeln, spannte die Nackenmuskulatur, riss an den Armfesseln, doch es war zwecklos. Brian umschloss seinen harten Schaft mit der ganzen Hand und machte weiter, Justins weg getretenen Gesichtsausdruck in sich aufsaugend. Er erhöhte das Tempo, blieb aber knapp außerhalb Justins Reichweite. „Oh Gott, bitte…“, schnaufte Justin. „Na bitte, geht doch mit devot“, keuchte Brian zurück. „Du verdammter… oh Gott…“ Justin verfolgte atemlos, wie Brians Hoden sich zusammen zog, er starrte nach oben, wo Brian den Kopf in den Nacken geworfen hatte. Der Oberkörper spannte sich, bog sich zurück, dann schleuderte er vorwärts mit glasigem Blick auf Justin, dem Brians Lust wortwörtlich um die Ohren flog. Brian stützte sich schwer atmend ab, Justin unter ihm zitterte in einer Mischung aus Erregung und Frustration. „Himmel… bist du eingesaut…“, murmelte Brian, beugte sich herab und küsste den völlig Besudelten, der nicht anders konnte, als dies bebend zu erwidern. „Wie konnte das bloß passieren“, erwiderte dieser schwach. „Alles in Ordnung?“ fragte Brian scheinheilig. „Bis darauf, dass ich gleich durchdrehe? Alles super, besten Dank…“ „Na, da will ich Mal nicht unbarmherzig sein… schauen wir doch mal…“ „Ja, Herr Doktor, bitte! Ich befürchte, ich leide an einem schlimmen Sadistischer-Ehemann-Befall! Und außerdem habe ich schreckliche Probleme mit einer zu engen Hose!“ „Das haben wir gleich, keine Angst.“ „Juhu, ein Wunder… Was machst du da… Nein! Nein das machst du jetzt nicht! Halt…“ „Aber sicher doch – und jetzt Ruhe, ich bin der Arzt…“ Von irgendwoher hatte Brian eine Schere gezaubert, wahrscheinlich hatte er das geplant. Justin entschloss sich spontan dazu, das Strampeln besser zu lassen, während Brian an ihm herum säbelte. Offensichtlich hielt der nicht viel von Reißverschluss und Knopf, denn diese sparte er großzügig aus. Es fühlte sich ziemlich merkwürdig an, so frei gelegt zu werden, aber irgendwie goss das sorgsame Schnippeln und die beruhigende Hand auf seinen Hüften erst recht Öl in sein Feuer. Brian schaute zufrieden auf sein Werk. Justin war auf Hundertachzig, sein ganzer Körper schien zu vibrieren. Er hatte die Hacken fest in die Matratze gegraben, die Hüften waren unwillkürlich leicht erhoben und sein endlich befreiter Schwanz tropfte sehnsüchtig. „Scheiße!“ keuchte er. „Scheiße! Nun mach doch was!“ „Mmm… was machen… ich weiß nicht…die Nummer eben hat mir gefallen…“ „Nein! Nein! Nicht nochmal! Das überleb ich nicht! Fass mich an!“ „So fordernd… vielleicht geh ich erst mal Kaffeetrinken, ein Päuschen kann ja nicht schaden… Hoffentlich penn ich dann nicht auf der Couch ein und vergess dich hier. Wäre schon peinlich, so von der Putzfrau gefunden zu werden…“ „Nein! Brian! Nein! Mach was! Bitte! Bitte!!!“ „Schon besser… bitte was?“ „Bitte fass mich an! Bitte berühre mich!“ Brian streckte die Hand aus und streichelte sanft Justins flatternde Bauchdecke. „Oh… nicht da… bitte…“, ächzte Justin. „Wo dann?“ flüsterte Brian und ließ seine Hand zu Justins Brust hinauf gleiten. Er kurzer Kniff in die Brustwarze ließ Justin nach Luft schnappen. Atemlos betrachtete Brian seinen still gelegten Mann. Die rosigen Lippen standen leicht offen und glänzten feucht. Die gebräunten Wangen waren gerötet, die ihn fixierenden Pupillen weit aufgerissen. Die feinen Härchen an Justins Armen standen zu Berge, der Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Die beweglichen Schenkel waren leicht angewinkelt und gespreizt, die Muskeln arbeiteten unter dem Stoff. Und in der Mitte, von ihm sorgfältig frei gelegt, das pochende, feuchte Glied, in seinem Schatten die eng zusammen gepressten Hinterbacken. Er sah hinreißend aus, und das fand Brian nicht nur, weil er ihn liebte. Dies war nur ein Spiel unter vielen, der Zwang nur freiwillig, aber dennoch war es berauschend, Justin um Erfüllung flehen zu sehen, die nur er gewähren konnte. Justin mochte den bossy Bottom geben oder auch den Top – aber heute nicht. Heute war er am Ruder. Justin gab Laute von sich, irgendwo zwischen Verzweiflung und Genuss, während Brian jeden Millimeter seines Körpers mit den Fingerspitzen zärtlich liebkoste. Normalweise liebte Justin das, aber aktuell machte es ihn rasend, da Brians Hände ihm gerade dort die Berührung verweigerten, wo es brannte. Brian verfolgte, wie Justins Unterkörper sich verzweifelt nach Kontakt suchend wand. „Brian!“ krächzte der Geschundene. „Wenn du Morgen auch noch einen Ehemann haben willst, dann tu um Himmels Willen was, sonst krepiere ich hier gleich am Herzkasper! Bitte! Meinetwegen bittebittebittebittebitte!!!“ Brian lachte in Justins Ohr, dann ließ er ganz langsam die Hand an Justins innerem Schenkel hinauf gleiten. Er fühlte das Zucken, das ihm den Weg bereiten wollte, aber fest hing. Er wartete noch einmal ein paar Herzschläge, was mit einem Laut quittiert wurde, der auch von Lilly stammen könnte, kurz bevor sie losheulte. Dann griff er zu. Justin schrie fast auf, sein Kopf klappte zurück, er stemmte sich mit Gewalt gegen die Fesseln ihm entgegen. „Oh ja, genau so!“ gurgelte er. Nana… das ging ja viel zu schnell… Brian ließ los. „Nein! Nicht aufhören! Nein!“ erschallte es nur. Brian ließ sich nicht beirren. Justin war völlig jenseits von Gut und Böse, das wollte genutzt werden – und nicht vergeudet. Er setzte eine Fingerspitze auf und fuhr dann wie ein Hauch den Damm hinunter. Justins Hinterteil hob vom Laken ab, soweit es ging. Brian schnappte sich die Gleitcreme, präparierte seine Finger, dann drängte er in die verheißungsvolle Spalte. Mehr als ein Umschmeicheln der sensiblen Öffnung war erst mal nicht drin. Mittlerweile war er selbst wieder knallhart, allerdings fiel es ihm dank Vorspeise nicht so schwer zu warten. Justin erging es da deutlich schlechter. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ brachte der lediglich hervor, mehr ein Röcheln. Brian erbarmte sich und ließ einen Finger hinein sinken. Justin entfuhr ein: „Jahaha… mehr…“ „Mehr? Wie immer ein Gierhals…“ „Das da ist nicht mein Hals…“ „Ist aber ähnlich schluckfreudig…“ „Ich würde ja lachen, wenn ich noch könnte… Oh, jahhhhaaa…!!!“ Brian hatte die kleine Erhebung in Justins Inneren ertastet und gönnte ihr ab und an einen kleinen Streich. Justin hing völlig durchgestreckt und durchgedreht in den Seilen und gab nur noch Ächtz- und Stöhnlaute von sich. Brian schob sich zwischen seine Beine und griff zu den Seiten. Mit einem Klicken löste er die Beinriemen. Für einen Wimpernschlag starrte Justin ihn an. Dann schnappten seine Schenkel zu wie die Blätter einer fleischfressenden Pflanze. Binnen Sekunden fand sich Brian umschlungen, heran- und hineingezerrt. Vor seinen Lidern tanzten helle Pünktchen wie eine Horde besoffener Glühwürmchen, während seine Sinne überrollt wurden. Auf Justins Gesicht zeigte sich ein beseligtes Lächeln. Brian beugte sich herab und küsste ihn, was dieser wie ein Wahnsinniger erwiderte. Wahrscheinlich war er selbst da auch nicht anders, gefangen in der Enge, der Hitze, dem tobenden Verlangen nach ihm… ihm… Seine Hüften bewegten sich fast wie von allein, fanden den richtigen Winkel, passten das Tempo an… Justins Körper war ein offenes Buch, er stand in Flammen, die blauen Augen loderten ihn an. Er spürte den rauen Stoff der lädierten Jeans in seinem Kreuz, die fordernde Nacktheit direkt unter sich, drosselte den Rhythmus, wurde umklammert, vorwärts gerissen, hörte die Schreie und wusste nicht, wessen sie waren, konnte nur noch voran… voran… hinein… Justins Inneres zog sich zusammen, hämmerte in Wellen auf ihn ein, während er sich in Schüben über ihre Körper ergoss, dann brach es auch wie ein Donnerschlag über Brian hinein, ungebremst raste er in den zuckenden Körper, der nicht ihm gehörte und dennoch sein war. Alles was er vorbringen konnte war: „Justin… Justin…“ Alles zwischen ihnen klebte, Schweiß und Sperma bildeten eine glitschige Mixtur. Justins Mund stand offen, seine Lider flatterten, er seufzte, sein Herz klopfte noch immer wild. Brian griff nach oben und löste die Handfesseln, nahm die Handgelenke und massierte sie. „Danke, Meister Brian“, flüsterte Justin, wieder mit seinem gewissen mutwilligen Unterton in der Stimme. „Nicht zu danken… Gott sei Dank ist das Schlafzimmer schallgedämmt… Du hast dir deine Beförderung ja auch redlich verdient…“ „Dir ist schon klar, dass diese Dinger nicht nur mir passen…?“ „Schon klar.“ Brian rollte sich zusammen und kam mit dem Kopf auf Justins vollgemanschtem Bauch zum Liegen. Aber das war egal… es war weich und warm und wiegte ihn leicht, während Justins Finger ziellos durch sein Haar fuhren… Er schloss die Augen… gut… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)