Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 32: Cowboy-Gus und die Mistmaden ---------------------------------------- XXXII. Cowboy-Gus und die Mistmaden „Was kann ich für dich tun, Frederic?“ fragte Professor Marisoll und blickte von seinen Unterlagen auf. „Entschuldigung, wenn ich störe… Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich für ein paar Tage Urlaub nehmen kann?“ Frederic sah ihn erwartungsvoll an. „Urlaub…? Wie stecken gerade in einer kritischen Phase. Das Meer ist doch direkt vor der Tür…“, blockte Marisoll ab. „Ja, ich weiß. Ich würde auch nicht fragen, wenn es sich nicht dabei um eine dringende Familienangelegenheit handeln würde. Meine Mutter wurde ins Krankenhaus gebracht, wahrscheinlich ein Schlaganfall, aber ich traue den Kurpfuschern nicht, sondern würde lieber selbst nach ihr sehen.“ Frederic sah ernsthaft besorgt aus. „Oh“, meinte Marisoll, „das ist natürlich etwas anderes, mein Junge, natürlich… Was meinst du, wie lange du fort sein wirst?“ „Eine Woche, zehn Tage? Ich weiß es nicht, kommt drauf an, wie es ihr geht. Ziehen Sie es mir ruhig von meinem Jahresurlaub ab. Und ich werde natürlich auch unterwegs arbeiten, soweit ich kann… Vielen Dank!“ Frederic lächelte ihn aufrichtig dankbar an. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Mit klopfendem Herzen öffnete Justin den Umschlag. Keine Mail, sondern ein Schreiben… Er verbot es sich zu hoffen. Mit zitternden Fingern öffnete er den Brief. Das Art Institute of Chicago, eine der renommiertesten Einrichtungen für junge Kunst weltweit… Sehr geehrter Mr. Taylor-Kinney, wir verfolgen Ihre Arbeit schon seit einer Weile interessiert und freuen uns, dass Sie mit uns in Kontakt getreten sind. Wir planen eine Ausstellung der Werke junger amerikanischer Künstler für das Frühjahr des kommenden Jahres und denken, dass Sie in unser Profil passen könnten. Die Fotografien Ihrer aktuellen Werke erscheinen uns sehr vielversprechend, wir würden sie gerne im Original in Augenschein nehmen, um uns ein genaues Bild machen zu können, bevor wir uns entscheiden. Wäre es möglich, dass unser Kurator, Mr. Finnings, Sie in Ihrem Atelier vor Ort besuchen könnten? Wir bitten hierin um Nachricht, um einen Termin vereinbaren zu können. Mit freundlichen Grüßen Paula Nether-Winston, Art Institute of Chicago Justin starrte den Brief an. Er las ihn noch mal. Dann entfuhr ihm ein lauter Jubelschrei und er begann, durch den Flur zu hopsen, weil er sich schlichtweg nicht halten konnte. „Ja! Ja! Jahahaha! Juhu! Hast du das gehört, Schuhschrank? Sie wollen mich! Ja! Okay, kann immer noch schief gehen… Aber trotzdem, sie haben Interesse! Jahahahaja!“ „Papa…?“ Gus stand am oberen Ende der Treppe und starrte ihn mit offenem Mund an, so dass das nachmittägliche Licht sehr malerisch seine Zahnlücken betonte. „Huhu Gus! Alles klar mit den Schularbeiten?“ „Ja… Was ist denn mit dir, du schreist so, bist du wieder krank…?“ „Nein! Nein“, lachte Justin. „Ich bin kerngesund. Ich freue mich nur!“ „Deswegen schreist du…? Und redest mit dem Schuhschrank…?“ „Ganz genau, Gus“, strahlte Justin und startete in Richtung Treppe durch. Gus konnte sich gar nicht recht besinnen, da war er schon geschnappt und hoch gehoben. Rasch schlang er Arme und Beine um Justin, der ihn festhielt und sich drehte. „Du hast recht. Mit dem Schuhschrank freuen ist doof. Mit dir freuen ist viel besser!“ Gus kicherte geschmeichelt und quietschte ein wenig, weil Justin an Tempo gewann. „Aber warum freust du dich denn do?“ wollte er wissen. „Weil die Leute von einem Museum in Chicago wahrscheinlich meine Bilder ausstellen wollen! In einem richtigen Museum!“ „Toll“, sagte Gus, während Justin langsam wieder bremste. „Wo ist denn Chicago?“ „Oben bei den Großen Seen. Wir sind da lang gefahren, letztes Jahr als Papa und ich geheiratet haben, erinnerst du dich?“ „Ja… Aber Chicago habe ich nicht gesehen…?“ „Das liegt auch ein Stückchen weg von dort, wo wir lang gefahren sind. Die Großen Seen sind groß, deshalb…“ „… heißen sie auch Große Seen, aha. Musst du dann nach Chicago?“ Gus hörte sich plötzlich nicht mehr so begeistert an. „Ja, wohl schon. Aber nur kurz, so wie ich ja auch ab und an nach New York fahre.“ „Mmm… kann ich mit?“ „Wenn du keine Schule hast, klar. Aber du bist ja jetzt ein Schulkind, da kannst du nicht einfach weg. Aber ich komme auch ganz schnell wieder, okay?“ „Okay… Guck mal!“ Gus riss seinen Mund auf und deutete auf seinen Oberkiefer. Justin hielt ihn ins Licht und schaute hinein. „Mann, Gus, du bekommst ja einen Zahn! Einen richtigen Erwachsenenzahn! Toll!“ Gus grinste stolz. „Da haben wir ja beide was zu feiern… Wir können ja etwas machen, was wir beide mögen, und für das wir keine Zähne brauchen…“ „Eis?“ schlug Gus unschuldig schauend vor. „Eis! Geniale Idee, könnte von mir kommen. Ich hol kurz Lilly, dann brausen wir los!“ „Was ist mit Papa?“ „Der muss noch arbeiten. Wir essen einfach eins für ihn mit, damit er sich nicht benachteiligt fühlt?“ „Okay… Dann wird er auch nicht zu dick“, grinste Gus und ähnelte dabei seinem um die Kalorien gebrachten Vater bestechend. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… „Brian!“ „Ja, Nathalie…?“ „Ist das etwa Gus in dieser Joghurtreklame!“ „Der einzig Wahre…“ „Unser Enkel ist keines von diesen Kindern, die gegen Geld an die Industrie verhökert werden!“ „Ich vermiete Gus nicht, falls dich das beruhigt… Du siehst auf das stolze Erzeugnis des Familienunternehmens Taylor-Kinney.“ „Die Anzeige stammt aus deiner Firma?“ „Was sonst, ich habe eine Werbefirma, schon vergessen?“ „Natürlich nicht. Aber muss das sein? Ihn so exponieren…“ „Ach was, das war ein Spaß für ihn, für uns beide. Ich musste zu Hause arbeiten wegen Lilly, und Gus hat sich gelangweilt. Die Sache mit dem Cowboy war sogar seine Idee.“ „Mmm… nun ja. Aber ich hoffe, das bleibt eine einmalige Sache…“ „Kann ich nicht versprechen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich garantiert nicht zu einer Eiskunstlauf-Mutti mutiere, die den Nachwuchs zu jeder sich bietenden Gelegenheit vor die Linse zerrt und behauptet, das Kind wolle es ja nicht anders, um in Wirklichkeit nur den eigenen gescheiterten Ehrgeiz zu befriedigen. Die Sache war für Gus ein Spiel, ein Abenteuer, mehr nicht.“ „Naja… Ich will nur, dass es ihm gut geht.“ „Ich instrumentalisiere ihn nicht, okay?“ „Nun gut. Ich wollte nur sicher sein.“ „Zufrieden?“ „Lindsay hätte das bestimmt nicht gefallen – aber du bist jetzt ja der Verantwortliche.“ „Haargenau. Und ich handele immer in Gus bestem Interesse, irgendwelche Zweifel daran?“ „Nein. Schon gut. Ihr kümmert euch gut um Gus. Und um Lilly. Wie geht es der Kleinen?“ „Gut. Sie versucht ständig, mir in die Nase zu fassen.“ „Ja, das mögen Babys gern. Wart’s nur ab, das richtige Zugreifalter kommt erst noch. Da wird dann alles geschnappt, befühlt und in den Mund gestopft. Lindsay hat damals einen halben Hundehaufen verputzt, bevor wir es bemerkt hatten.“ „Igitt! Die orale Phase habe ich mir irgendwie schöner vorgestellt…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Boah… Das bin ich!“ „Genau. Und du siehst richtig gut aus“, lobte Justin das große Plakat an der Litfaßsäule am Marktplatz von Green Tree. Gus strahlte. Justin biss sich auf die Lippe. „Bist du das Gus?“ kam eine helle Stimme. „Ja! Hat mein Papa gemacht!“ erklärte Gus mit geschwellter Brust. „Toll!“ lobte Jimmy tief beeindruckt. „Ich bin auch in ganz vielen Zeitschriften!“ prahlte Gus ungehemmt. „Dann bist du ja richtig berühmt!“ folgte Jimmy haarscharf. „Jimmy, wo bist du…? Ach da…“ Jim Stockwell trug eine große Tüte mit Einkäufen aus dem Lebensmittelgeschäft und erspähte seinen ausgebüxten Filius neben Gus Taylor-Kinney und Hetzplakat Taylor-Kinney, der das Baby in einem Tragekörbchen mit sich herum schleppte. „Schau mal, das da ist Gus auf dem Plakat!“ erklärte Jimmy aufgeregt, während er mit dem Finger auf die Säule zeigte. Jim biss die Zähne zusammen. Das sah Kinney ähnlich, seinen Sohn in einer Reklame zu verwursten, die er wahrscheinlich beim Sehen von „Brokeback Mountain“ ausgeheckt hatte, während alle anderen im Saal geheult hatten. Seine Frau hatte ihn genötigt, den Film zu sehen. Dummerweise waren die ganze Zeit nur diese beiden blöden Berufs-Schwulen vor seinem inneren Auge erschienen, denen die Outing-Probleme irgendwelcher Cowboys von anno Schnee wahrscheinlich komplett am Arsch vorbei gingen. „Ja, ich seh’s“, würgte er hervor. Kinney Junior lächelte ihn schüchtern an. Himmel, sah der seinem Alten ähnlich – bis auf die Zahnlücken, die Jim Brian zeitweise auch gerne verpasst hätte. Aber nein… Brian und er waren ja jetzt ganz dicke… verdammte Mistmade von Werbefuzzi… Mistmade zwei lächelte ihn die strahleweißen Zähne zeigend breit an. „Hallo Jim“, grüßte er fies-freundlich. „Justin“, nickte er zurück. „Ich drücke die Daumen für die Wahl“, grinste Taylor-Kinney. Gegen diesen Praktikanten war Monica Lewinsky wahrscheinlich eine harmlose Dorfpomeranze gewesen. „Vielen Dank“, erwiderte Jim, sich zu einem neutralen Tonfall zwingend. „Kein Problem“, sagte Justin großzügig, „ich freue mich wirklich, wenn diese Gemeinde von jemand Rechtschaffendem geleitet wird… da Sie ja den Konditionen zugestimmt haben…“ „Ich werde mir meine größte Mühe geben“, entgegnete Jim würdevoll. „Da bin ich mir sicher… ansonsten gibt es ja auch noch das Misstrauensvotum…“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. „Nanu? Was grinst ihr beiden so?“ „Wir haben dein Eis gegessen!“ petzte Gus kichernd. „Das ist aber sehr nett von euch“, meinte Brian in ernsthaftem Tonfall und streckte ihnen die Zunge raus. „Justin! Papa zeigt uns die Zunge!“ „Du weißt, was da zu machen ist!“ „Bähhhh!“ „Bähhhh!“ „Da arbeite ich mir den ganzen Tag den Buckel krumm – und ihr esst mein Eis und schneidet mir dann auch noch Grimassen!“ „Nichts zu danken, das machen wir gerne“, grinste Justin. „Das glaube ich gern. Ihr scheint ja beide verfluc… ganz schön gute Laune zu haben?“ „Ich bin in der Werbung! Und ich bekomme einen Zahn!“ „Zeig mal!“ „Ahhhhh!“ „Super Gus! Mmm… der wird wohl schief…“ „Was?!“ „Keine Panik, Gus… Siehst du, meiner ist auch schief…“ Gus äugte. „Stimmt. Total schief. Mist.“ „Was?!“ „Nein Gus… Papa hat sehr schöne Zähne…“ „Papas Zahn ist schief!“ „Ja… Aber das sieht sehr hei… hübsch aus. Gerade wäre doch langweilig…“ „Du hast doch total gerade Zähne! Ist das dann langweilig?!“ „Nein Gus… Justins Zähne sind halt anders… Er muss ja auch immer fest zubeißen können…“ „Ich kann nicht zubeißen mit dem schiefen Zahn!?“ „Doch! Alles in Ordnung mit deinem Zahn!“ „Aber er ist schief!“ „Ja…“ „Ich will Justins Zähne! Nicht deine Schiefen!“ „Es ist nur einer schief! Und das geht nicht, du hast meine geerbt, wie’s aussieht.“ „Mist! Ich bekomm schiefe Zähne wegen dir!“ „Wir können die ja eine Klammer…“ „Nein! Papas schiefer Zahn ist klasse! Sei froh, dass du auch so einen schönen schiefen Zahn abbekommen hast!“ „Muss ich...?“ „Ja! Glaub mir, eines Tages wirst du uns dankbar sein!“ „Pffff…“ Gus verzog sich, George an sich drückend in Richtung Fernseher, es war Spongebob-Zeit. „Dein schiefer Zahn ist sexy wie die Hölle“, versuchte es Justin. „Ich weiß!“ erwiderte Brian leicht eingeschnappt infolge geringer Wertschätzung durch seinen Sohn. „Na, dann muss ich es ja nicht extra sagen… Die aus Chicago haben sich gemeldet“, wechselte Justin das Thema. „Oh – und?“ nahm Brian dankbar den Faden auf. „Sie sind interessiert“, sagte Justin, dem es nicht gelingen wollte, das stolze Grinsen zu unterdrücken. „Habe ich doch gesagt!“ triumphierte Brian. „Hast du. Nächste Woche kommt einer der Kuratoren vorbei. Packst du es, dich bei Kinnetic frei zu eisen wegen der Kinder oder soll ich Joan anrufen?“ „Wann denn?“ „Mittwoch, drei Uhr.“ „Moment… doch, das geht. Ich hole Gus von der Schule ab, das passt dann.“ „Klasse, danke. Und jetzt komm her du schie… äh steiler Zahn!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Frederic drückte aufs Gas. Ein Leihwagen war in jedem Fall unauffälliger als ein Flugticket, das sich leicht zurück verfolgen ließ. Reine Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich wusste er auch nicht so recht, was er machen wollte. Aber er musste der Sache auf den Grund gehen. Hatte es Daphne vielleicht wirklich geschafft mit dem Erbgut von diesem Justin und diesem Brian? Zumindest Justin musste sie kennen, er hatte Daphnes Vita überprüft, die beiden waren in derselben Abschlussklasse gewesen. Behielt sie Marisoll deswegen im Programm? Aber selbst wenn es einmal geklappt hatte, Daphne schien es nicht zu gelingen, die Sache zu wiederholen. Musst ein Glückstreffer gewesen sein, aus dem sie selbst jetzt nicht mehr schlau wurde. Aber Daphne war, gut hin oder her, eine Anfängerin, ihr hatte er einiges voraus, er bräuchte lediglich die Daten. Wenn diese Lilly Taylor-Kinney also das Produkt Daphnes Forschungen war, warum wertete sie es nicht aus? Warum hatte sie es nicht bei sich behalten, um den Versuch vernünftig zu analysieren und zu dokumentieren? Hatten die beiden Kerle es gewusst und ihr das Endergebnis abgeluchst, weil sie irgendwelche sentimentalen Gefühle hegten? Wenn Daphne es geschafft hatte, dann wäre das ein unglaublicher Durchbruch. Aber offensichtlich war sie nicht in der Lage, daraus etwas zu machen. Er hingegen vielleicht schon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)