Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 23: Schöner Schwulsein ------------------------------ XXIII. Schöner Schwulsein „Papa… fo follen wir hin?“ „In die Town Hall, das große Haus am Marktplatz neben der Eisdiele, weißt du?“ „Fieso?“ lispelte Gus mit leicht gedemütigtem Gesichtsausdruck. Nach dem Eckzahn hatten sich auch die beiden vorderen Schneidezähne ziemlich fix verabschiedet, falls Gus da nicht ein wenig nachgeholfen haben sollte. Jedenfalls verlieh ihm das ein ziemlich markantes Lächeln, das ihm die Hauptrolle in jedem Film über Zombiebefall in der Grundschule beschert hätte, und seine Artikulation litt gleichfalls ein wenig. „Feil wir unfere Nafen der lieben Nafbarfacht feigen follen, Fus“, erklärte Brian. „Justin!“ „Frian! Laff daf!“ „Papa!“ „Komm her mein, armer Kleiner!“ „Ne! Du haft angefangen! Ihr feid beide gemein!“ „Ach Gus, du bist nur so niedlich, wenn du lispelst“, tröstete ihn Justin, während er ihm half, in seine Schuhe zu kommen. „If bin nift niedlich! Fed und Emmef find niedlif! Fary bei Fongbob ift niedlif! Aber if bin nift niedlif! If bin fon groß!“ „Niedlich sein ist doch gar nicht so schlimm… Justin macht auch manchmal einen auf niedlich, obwohl er schon groß ist, zumindest so halbwegs, ganz besonders, wenn er was will…“ „Ach fo! Eft?“ „Also…“ „Papa Frian? Kaufst du mir ein Eif? Fenn fir in der Ftadt find? Fokolade? Fratfiatella? Fauerkirfe? Mit ganf viel Fahne?“ Gus setzte seinen Dackelblick auf. Brian biss sich von innen auf die Lippen. „Schlauer Bursche… Morgen, okay, heute hat die Eisdiele wahrscheinlich schon zu.“ Als Brian sich in Richtung Tür drehte, den eleganten hellgrauen Sommermantel um sich schwingend, meinte Justin kurz eine kleine rosa Zunge in diese Richtung vorschießen zu sehen. Aber das hatte er sich bestimmt nur eingebildet… Er riskierte einen letzten Blick in den Spiegel neben der Eingangstür. Er sah aus wie Schwiegermuttis Liebling. Perfekt. Obwohl er das, was Joan anging, garantiert nicht war, nicht irisch genug, nicht katholisch genug und definitiv nicht weiblich genug – nämlich gar nicht. Lilly lag frisch geputzt und gefüttert in ihrem Tragekörbchen und nuckelte hingebungsvoll an ihren Fingern. Damit hatte sie erst vor ein paar Tagen begonnen. Auch streckte sie jetzt die Hände mit verwirrtem Blick nach ihrem Le Corbusier-Mobile aus, das Brian an die Haltestangen ihres Baldachins geknotet hatten. Anscheinend war sie im Begriff, die Außenwelt zu entdecken. Vorsichtig strich Justin mit der weichen Babybürste über die inzwischen schon reichlich sprießenden blonden Löckchen auf Lillys Schädel. Sie quietschte kurz wohlig und grabschte unkoordiniert nach dem Instrument. Justin lächelte: „Selber stylen? Nein, meine Süße, das würde momentan wohl noch ins Auge gehen – in meins oder deins. Aber später darfst du mit deinen Haaren machen, was du willst… Wenn Du dann Brians Rasierer benutzen möchtest, um dir einen Irokesenschnitt zu zulegen, kein Problem…“ „Wie bitte? Bring sie bloß nicht auf dumme Gedanken!“ „Hast du das gehört, Mäuschen? Papa ist ja so ein Spießer…“ Lilly lächelte breit, Justin fasste das als Zustimmung auf. Brian grummelte irgendetwas und scheuchte sie durch die Tür. Es war kurz vor sieben Uhr abends, die späte Sonne schien warm durch die hohen Bäume an der Grundstücksgrenze. Sie marschierten die Hauptstraße hinunter, Gus, immer noch leicht beleidigt, schweigend an Brians Hand, Justin schleppte Lilly in ihrem Tragekörbchen. Auf dem Marktplatz war einiges los, die Einwohner von Green Tree strömten von allen Seiten in Richtung Town Hall. Besonders dicht besiedelt war der Ort ja nicht, die Grundstücke umfasste zumeist große Areale und wurden allerhöchstens von Kleinfamilien bewohnt. Reihenhäuser oder gar Wohnblocks gab es nicht. Bisher waren sie derartigen Veranstaltungen vornehm fern geblieben, getreu Brians Motto: Nur ein nicht existenter Nachbar ist ein guter Nachbar. Aber heute Abend würde Stockwell sprechen, das konnten sie sich ja unmöglich entgehen lassen. Zeit, ihren Einstand in der Gemeinde zu feiern. Sie folgten dem Strom ins Innere des Versammlungsgebäudes, das sich anscheinend als neoklassizistisch ausgeben wollte, indem es mit massiven dorischen Säulen an der Fassade und im Eingangsbereich zu punkten versuchte. Neugierige Blicke trafen sie von allen Seiten, von Feindseligkeit war jedoch nichts zu spüren. Auch wenn ihr Familienstatus die Runde gemacht haben sollte, so hatten die Menschen hier weniger Veranlassung als anderswo, sie für irgendetwas verantwortlich zu machen, das ihnen selber fehlte und das eines schnellen Sündenbockes bedurfte. Auch der Bildungsstand und die nach außen getragenen Manieren mochten dazu beitragen, was jedoch irrationale Feindbilder Einzelner nicht gänzlich ersticken dürfte – aber der Common Sense hielt sie im Zaum. Die Bewohner der Gegend hatten fast ein Jahr Zeit gehabt, sich an ihren Anblick zu gewöhnen, sie waren also keine Neuigkeit, die frisch betrascht werden wollte. Neu war ihre Gegenwart hier in kompletter Formation. Lockeren Schrittes glitten sie voran, freundlich jene grüßend, die sie vom Sehen kannten. Brian bahnte den Weg durch die Menge, während diverse saugnapfartige Blicke der Upper Class-Ehefrauen an ihm klebten. Vergesst es, dachte Justin, ihr hättest auch in Brians wüstesten Zeiten leider keine Chance gehabt, auch wenn Brian ziemlich freigiebig mit seinen Gaben gewesen war. Zielstrebung steuerte Brian durch die Sitzreihen, altes Holzgestühl, das Tradition vermitteln sollte, bis er sein Ziel erreicht hatte. Übertrieben freundlich lächelnd drehte er sich zu Justin um und nickte in Richtung der auserkorenen Plätze. So erfreut wie möglich lächelte Justin zurück und ließ sich nieder. Erste Reihe, direkt vor dem Rednerpult. Auf jeden Fall würden sie einen guten Blick haben. Nicht nur sie. Der Saal füllte sich zunehmend, Gus drehte sich neugierig zu allen Seiten. „Fau mal, Papa, da ift Jimmy! Hallo Jimmy!“ Er winkte zum anderen Flügel der ersten Sitzreihe. Ein kleiner Junge winkte von dort zurück und brüllte durch den Raum: „Huhu, Gus!“ Mrs. Stockwell, die neben ihrem jüngsten Sohn saß, verzog bei Brians Anblick säuerlich den Mund und drückte Jimmy an der Schulter wieder zurück in den Stuhl, als der sich anschickte auszubüxen. „Papa, kann if zu Jimmy?“ fragte Gus aufgeregt. „Besser nicht… Geht auch gleich los“, bremste Brian ihn. „Ihr und euer doofer Ftreit“, grummelte Gus und sank missmutig wieder zurück auf die Sitzfläche. „Gib mir Mal Lilly“, forderte Brian von Justin. „Du willst sie halten? Ihre Sabberflecken werden perfekt auf dem Hellgrau deines Anzugs zu sehen sein…?“ zögerte Justin. „Das will ich doch schwer hoffen, ich nehme meine Vaterpflichten schließlich ernst… Komm schon her, du…“ Brian stand auf, so dass sämtliche hinter ihm liegende Sitzreihen – mit anderen Worten: alle – Zeuge davon wurden, wie er mit beseligtem Blick das Baby von Justin, der artig lächelte als hätte er eine Zuckergussvergiftung, in den Arm gereicht bekam und sich dann vorsichtig wieder setzte. Justin hätte es ja fast für ein bisschen dick aufgetragen gefunden, wenn er nicht ahnte, dass die Leute genau das sehen wollten: Ein vor Stolz fast platzender Vater im Businessanzug, dem nach getaner Arbeit nichts Schöneres einfiel, als sein Töchterchen an sich zu drücken, egal, ob es ihn vollsaute oder nicht. Ob das treusorgende Blondchen an seiner Seite dabei weiblich oder männlich war, war eher sekundär, Hauptsache es passte brav ins süßliche Bild. Nun gut, was Brian konnte, konnte er schon lange. Justin legte den Arm um Gus, der sich das, nachdem sein Vater wegen der Jimmy-Geschichte und der Lispelei heute nicht gerade bei ihm hatte punkten können, von ihm gerne gefallen ließ. Er kuschelte sich vertrauensvoll an Justin und starrte erwartungsvoll nach vorne. „Fau mal, da ift Carlas Oma“, kommentierte Gus das Auftreten der Bürgermeisterin Mrs. Carlson. Die kleine alte Frau erklomm ein extra bereit gestelltes Podest, das ihr es überhaupt ermöglichte, über den Rand des Rednerpultes zu spähen. Die Scheinwerfer spiegelten auf ihrer Riesenbrille. Sie räusperte sich zweimal laut ins Mikrofon, im Saal kehrte Ruhe ein. „Ich wünsche uns allen einen wunderschönen guten Abend!“ begann sie. „Wundervoll, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid. Heute Abend wird ein Mitglied unserer Gemeinde zu uns sprechen, das ich, denke ich, nicht erst lange vorstellen muss. Aber bevor es losgeht, möchte ich eine Familie begrüßen, die erst seid jüngster Zeit ihr Zuhause in Green Tree gefunden hat. Ich denke, fast alle von uns kennen sie bereits vom Sehen, dennoch möchte ich, dass wir sie hier doch auch offiziell begrüßen. Ich heiße die Taylor-Kinneys in meiner Funktion als eure gewählte Vertreterin herzlich in unserer Gemeinde willkommen, es freut mich, dass sie sich dazu entschlossen haben, sich heute Abend zu uns zu gesellen. Das sind Lilly, Gus, Justin und Brian.“ Ein höflicher Applaus und ein vielgestreutes „Willkommen“ folgte, Brian und Justin rafften sich halb auf, lächelten in die Runde und bedankten sich. „Doch nun darf ich das Wort an Mr. Jim Stockwell übergeben. Einen Applaus auch für ihn“, leitete sie elegant über und kletterte von ihrem Podest herab, das ein Mann um die Vierzig – ihr Sohn? Auch er trug eine überdimensionierte Brille, könnte erblich sein – geflissentlich hinter ihr entfernte. …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Jim Stockwell hatte ein wenig Zeit gehabt, sich auf die besonderen Gäste der heutigen Versammlung innerlich vorzubereiten. Er hatte es ja fast geahnt, dass die eines Tages hier auftauchen würden, aber ausgerechnet heute? Das war garantiert kein Zufall. Scheiß-Kinney. Aus dem Dunkel hinter dem Rednerpult hatte er sie eingehend studiert. Kein Zweifel, sie waren es. Der elende Brutus und sein blonder Cassius. Kinney trug eines seiner weltmännischen und sehr teuer wirkenden Ensembles, was ihn jedoch nicht davon abhielt, das Baby, das er sich irgendwo angelacht haben musste, auf dem Arm zu halten und demonstrativ zärtlich zu wiegen. Berechnender Mistkerl. Und sein milchgesichtiger Gefolgsmann hielt das andere Kind, das musste Jimmys Gus sein, in väterlicher Fürsorge im Arm. Kein Stück besser, diese kleine Kröte. So wie die hier auftraten, könnte man meinen, dass sie Werbung machen wollten für die Kampagne „Schöner Schwulsein“. Wahrscheinlich war es genau das. Aber von wegen Familienidyll, er hatte in einem ihm völlig ausreichendem Maß Zeuge davon sein können, was hinter der Fassade bei denen lief. Kinney nackt an der Tür, seine Erregung nur notdürftig verbergend, Taylor auf dem Bauch in den weichen Kissen liegend, das weiße Hinterteil, um das es dabei vermutlich ging, gen Himmel gerichtet, die Augen in einem Anfall des Ertapptwerdens bedeckt, wobei das wohl eher den Plakaten gegolten hatte. Die hatten keinen Fatzen Schamgefühl und kannten keine Loyalität außer vielleicht untereinander. Und nun saßen sie da vor ihm, diese Scheißkerle, geputzt und gebügelt, die Kinder umschlungen und sich innige Blicke zuwerfend als seien sie die Hauptdarsteller in einem etwas gewagteren Disney-Film, der nichtsdestotrotz in einem keuschen Küsschen zum tränentreibenden Liebesgeständnis endete. Und diese Idioten im Saal kaufen es ihnen ab, das fühlte er. Sie verkörperten perfekt das Klischee des zivilisierten, kultivierten und erfolgreichen homosexuellen Paares, das eine Gemeinde wie diese als goldenes Kalb der eigenen Weltoffenheit und Toleranz umtanzen würde. Manipulative Missgeburten! In der ersten Reihe! Es würgte ihn beinahe angesichts dieser wohlkalkulierten Frechheit. Aber das hätten die gerne, dass er vor denen den Schwanz einzog, was immer sie im Schilde führten. Und die führten etwas im Schilde, aus rein dekorativen Zwecken hatten die ihre versauten Ärsche hier garantiert nicht hin geschoben. Er lächelte in den Saal, atmete noch einmal tief durch. Mochten die da hocken oder nicht, er sprach schließlich zur gesamten Gemeinde. „Ich will gar nicht viel Aufheben machen, sondern komme lieber gleich zum Punkt, wie es meine Art ist. Als Polizist bin ich ein Verfechter klarer Worte und klarer, aber gerechter Lösungen – und als Mensch bin ich das auch, was meine Familie bezeugen mag.“ Er lächelte in die Richtung seiner Frau und seiner Kinder, diese lächelten artig zurück. „Es ist kein Geheimnis, dass ich mir damit nicht immer Freunde gemacht habe. Doch eines kann ich ihnen vergewissern: Loyalität und Freundschaft sind Werte, die ich nie verraten habe. Loyalität und Freundschaft meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen gegenüber, meinen Nachbarn und Mitbürgern und jedem Menschen, der in Anständigkeit und Rechtschaffenheit sein Leben zu führen anstrebt. Wie ihr ja wisst, plant Veronica kein weiteres Mal als Bürgermeisterin von Green Tree zu kandidieren. Ich stehe heute vor euch, um euch darum zu ersuchen, euer Vertrauen in mich zu setzen. Ich würde mich freuen, wenn ihr mir eure Fragen stellen, mich auf Wichtiges hinweisen oder von Unnötigem abraten würdet.“ Er sah in die Menge. Eine Reihe von Händen reckte sich in die Höhe. Die von Kinneys kleiner Giftnatter war auch dabei. Im Scheinwerferlicht konnte er einen Ehering an der Hand des jungen Mannes glänzen sehen. Das auch noch… reichte es nicht allmählich mal? Er sparte es sich für später auf. „Linda“, rief er die lokale Zahnärztin auf, mit Vornamen, wie es bei solchen Versammlungen üblich war. „Nun Jim, was genau dürften wir denn da erwarten? Ich habe gar nichts dagegen, wenn du dich um den ganzen Verwaltungszirkus kümmerst, niemand von uns reißt sich darum. Ein hohes Lob an Veronica, dass sie das – und uns – so lange durchgehalten hat. Aber wie du weißt, ist bei uns hier etwas der Hund verfroren. Apropos, das schlimmste Delikt des letzten Jahres war es, dass irgendein besoffener Teenager aus Pittsburgh Jessica Hamptons Pudel überfahren hat und dann versucht hat zu türmen. Es hat hier sogar keine Einbruchsversuche mehr gegeben, seitdem der lokale Privatwachdienst hier patrouilliert. Du bist Polizist durch und durch und hast damals in Pitts ordentlich daran gearbeitet, deine Vorstellung von Ordnung durch zu setzten. Aber was hast du hier vor? Willst du uns per Helikopter überwachen lassen, ob wir nicht hinter unseren Zäunen ganz hemmungslos nackt in den Pool springen?“ „Linda… Was im privaten Bereich geschieht, bleibt auch dort, es sei denn, es ist im Interesse der Öffentlichkeit, daran zu rühren.“ „Aha? Und wer entscheidet das, ob mein nackter Hintern im Interesse der Öffentlichkeit ist oder nicht? Du etwa?“ Im Saal wurde Gelächter laut. „Ganz gewiss nicht! Ich handele natürlich nur im Rahmen des gesetzlich Vertretbaren!“ „Das kann heutzutage alles Mögliche bedeuten. Im Rahmen unseres schönen „Kriegs gegen den Terror“ haben wir uns schon von so manchem verabschieden müssen, von dem wir glaubten, es sei unser Recht. Nichts gegen dich Jim, aber mir wäre jemand lieber, der die Dinge mit einem… etwas weiteren Augenmaß sieht.“ „Das ist dein gutes Recht Linda. Aber dennoch hoffe ich natürlich, auch dich von meinen guten Absichten überzeugen zu können. Herbert!“ Ein etwas fülliger bärtiger Mann erhob sich, er war Chef der lokalen Schlachterei und sah merkwürdig aus ohne seine Schürze. „Nun, Jim, du weißt, es sind Sanierungsmaßnahmen am Kinderspielplatz fällig und die Bushaltestelle muss behindertengerecht umgebaut werden. Wie gedenkst du das zu finanzieren und was würdest du vorrangig erledigen, wenn nur Geld für eines in der Stadtkasse ist?“ Okay, die Frage war leichter. Finanzierungskonzept andeuten, Kinderspielplatz bevorzugen, Behindertenrampe loben. Ähnliche Fragen folgten. Kinneys Bürschlein meldete sich immer noch geduldig, dabei das Haar des arg nach seinem Vater schlagenden Kindes streichelnd. Gus musste Kinneys leiblicher Sohn sein, bei der Ähnlichkeit. Wie war das bloß zustande gekommen? Trieb der es mit allem, was nicht bei drei auf den Bäumen war? Als er es kaum noch umgehen konnte, stellte er sich seinem Schicksal. Nicht als Letzten, das wäre erbärmlich. „Ja – Justin“, rief er ihn auf. Himmel, hier musste er ihn mit seinem Vornamen nennen, welch Freude. Der Angesprochene erhob sich. Das künstliche Licht ließ sein Haar fast golden leuchten. War bestimmt gefärbt. Taylors Augen richteten sich auf ihn, zum ersten Mal direkt, soweit er sich entsinnen konnte. Sonst hatte der kleine Scheißer ihn immer nur aus dem Augenwinkel fixiert, während er, einen auf unwichtig und harmlos machend, seine Hetzkampagnen ausgeheckt hatte. Ein Unschuldsblick traf ihn, der ihm beinahe Übelkeit erzeugte. „Jim“, hob der junge Mann an, „ich fand es sehr interessant, was du über Loyalität gesagt hast. Aus Liebe zu handeln oder aus Wut – das fällt den meisten Menschen leicht, es sind Gefühle. Loyalität ist mehr als das, sie bedarf wahrer Überzeugung, nicht wahr? Dennoch ist sie keine leichte Sache… Was würdest du tun, wenn wir alle hier, deine Familie, deine Freunde, deine Nachbarn, wir, die Gemeinde von Green Tree, denen deine Loyalität ja gehört, gegen deine andere große Überzeugung verstießen? Wenn wir Recht und Ordnung hinter uns ließen? Was wäre dann mit deiner Loyalität?“ „Das ist eine sehr schwere Frage, Justin. Natürlich hoffe ich, dergleichen rechtzeitig zu bemerken, um das Unheil verhindern zu können, aber das gelingt nicht immer. Schlussendlich käme wohl darauf an, was der Preis wäre.“ „Und wer ihn bezahlen müsste? Wir, dich eingeschlossen – oder jemand, der diese Loyalität niemals verdient hätte? Wollen wir hoffen, dass du niemals vor dieser Entscheidung stehst.“ „Niemand sollte wählen müssen zwischen Skylla und Charybdis. Könntest du es?“ „Manchmal muss man es. Und dann entsteht entweder Unglück oder Unrecht, so oder so. Auf jeden Fall nichts, auf dem man wieder unbedacht solide bauen könnte.“ „Gut, dass es mehr als einen Ort gibt, ein Fundament zu legen. Und das ist es, was meine Loyalität zu Green Tree begründet. Sein fester Boden.“ Justin setzte sich wieder, der Rest des Raums grübelte über den Sinngehalt des Gesprächs und erinnerte sich auf ungünstige Art und Weise an jenen vermaledeiten Fernsehspot. Aber darüber war Gras gewachsen, ihm war nichts nachzuweisen gewesen, nichts weiter als übelster Rufmord. So würden die meisten es hier in ihrer Auffassung von richtigem Benehmen auch sehen. Im Zweifel für den Angeklagten, das galt erst recht bei übler Nachrede. Hatte Taylor darauf nur angespielt, oder wusste er es, weil er dahinter gesteckt hatte…? Aber er war Kunststudent gewesen, woher hätte er das Geld nehmen sollen? Kinney…? Selbiger saß friedlich mit seiner Tochter im Arm da und hatte aufmerksam den Worten seines Gesponses gelauscht. Jim antwortete auf weitere, eher belanglose Fragen, aber er fühlte, dass die Stimmung ihm gegenüber eher… gemischt war. Aber was sollten sie machen, er war der einzige freiwillige Bewerber. Sie konnten seine Wahl ablehnen, das konnten sie. Der Verwaltungskram würde solange von einem Angestellten übernommen werden, der Posten würde vakant bleiben, bis sich jemand fand. Das wäre mehr als demütigend. Kinney meldete sich. Da kam wahrscheinlich sein Todesstoß. Es ließ sich leider nicht vermeiden. „Brian“, sagte er schicksalsergeben. Kinney stand auf, das schlafende Baby gegen die Schulter gelehnt. Der kleine Kopf in seiner großen Hand zeigte zarte blonde Löckchen in derselben Farbe wie Taylors. War der der biologische Vater dieses Sprösslings, oder hatte Kinney nur ein Faible für Blondinen? Dass Frauen sowas mitmachten, sich als lebender Uterus von solchen Gestalten anheuern zu lassen… Aber mit dem entsprechenden Kontostand war wahrscheinlich alles möglich. Auf jeden Fall hatte der große Kerl mit dem winzigen, liebevoll eingepackten Mädchen in den Pranken eine extrem benebelnde Wirkung auf einen nicht unerheblichen Teil der Zuschauer. Alter Diktatoren-Trick, dachte Jim, immer schön mit Kindern auftreten, dann halten einen alle für den perfekten Vorzeigebürger. „Jim“, begann er, „auch ich weiß, was Loyalität dir bedeutet. Und ich kann - wahrscheinlich - nur für mich sprechen, wenn ich sage, dass ihr Wert gar nicht zu hoch bemessen werden kann. Aber nichts, was unfreiwillige Opfer fordert, kann von Wert sein und darf Bestand haben. Aber den Fall haben wir hier ja Gott sei Dank nicht, oder? Du willst hier eintreten für Ruhe und Ordnung? Gut. Aber wird das unsere Ruhe und unsere Ordnung sein? Und ich spreche nicht bloß von mir und meinem Mann und unseren Kindern – sondern von uns allen hier, den Bürgern von Green Tree, deren Bürgermeister zu sein du anstrebst?“ „Dafür stehe ich ein!“ „Dann hast du gewiss auch nichts dagegen, wenn ich den Antrag einbringe, dass jeder Beschluss, der die Rechtsordnung und die Privatsphäre hier betrifft, von der Townshall-Versammlung abgestimmt werden muss? Und dass ein Verstoß dagegen mit einem Misstrauensvotum gegen den Amtsinhaber durch jeden einzelnen von uns beantwortet werden kann? Sieh dies nicht als Angriff, sondern als Angebot. Wir alle sind misstrauisch geworden, was den Bestand unserer Rechte angeht in diesen Zeiten, das ist heute Abend mehr als einmal offensichtlich geworden. Aber jemanden, der diese Konditionen begrüßt und dazu bereit und qualifiziert ist, das Amt zu übernehmen, so wie du es bist, dem würden wir wohl unser Vertrauen entgegen bringen können, nicht wahr?“ Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Jim starrte ihn an. Kinney war es damals gewesen, das hatten seine Worte bedeutet. Brodelnde Wut stieg in ihm auf, aber auch schlechtes Gewissen. Er hatte zwischen den Stühlen gesessen und hatte sich zugunsten seines alten Partners und Freundes entschieden, obwohl das gegen alles verstoßen hatte, woran er glaubte. Er hatte es einfach nicht fassen können. All die Jahre… und dann war der scharf auf kleine Jungs, Drogensüchtige, voller Krankheiten und ohne Zukunft, in schmuddeligen Bars in dunklen Gassen und an Straßenecken… Wie konnte das sein…? Aber er war doch sein ältester und treuster Freund gewesen, und er war verzweifelt gewesen… Hatte es einfach nicht geschafft, die Finger davon zu lassen, egal wie sehr er es versucht hatte. Es war wie eine Sucht gewesen, die ihn Stück für Stück zerstört hatte… und er hatte nichts tun können… nur ihn schützen… Es war wegen nichts gewesen, der Selbsthass war explodiert, wie auch immer es geschehen war, der Junge war tot… Aber das ganze Leben verpfuscht wegen sowas… nein… Aber er, Jim, könnte dem Einhalt gebieten, indem er die Perversion eindämmte, damit nicht noch mehr fielen… Aber diese Idioten hatten sich einfach nicht helfen lassen wollen! Statt ihm dankbar zu sein, ihre HIV-verseuchten Lasterhöhlen, ihre von Drogen nur so triefenden Clubs endlich dicht zu machen, und die Gelegenheit zu ergreifen anständig zu werden… schwul, meinetwegen… aber anständig… aber nein! Sie wollten es nicht! Sie wollten es einfach nicht! Allen voran Kinney aus dem Hinterhalt… aber wozu… da saß er, strotzend vor Selbstbewusstsein, als würde der Laden ihm gehören, mitten in Green Tree! Es war, als habe der Mann zwei Gesichter, auch damals schon. Aber er hatte ihm ein Angebot gemacht. Er und sein Mann, wenn er es denn so wollte. Seinethalben lieber verheiratet als Fürst in diesem Sündenbabel. Eine Warnung – und ein Angebot, ein Schlupfloch, wie sie ihn akzeptieren würden. Kinney könnte ihn – wieder einmal – ruinieren. Oder er könnte den entscheidenden Vorteil bringen – ganz wie er selbst es entschied. Entweder ließ er sich hier als Möchtegern-Despot zerhacken und bekam den Skandal von damals erneut präsentiert – oder er stimmte den Konditionen zu, schränkte sich selbst entscheidend ein, aber kam wahrscheinlich als Amtsinhaber und unblamiert aus der Sache raus. Kneifen ging auch nicht, der Mangel an plausiblen Gründen ließ es ohne immensen Gesichtsverlust und diverse Verdächtigungen nicht zu – außerdem war er niemand, der kniff. Aber er würde Bürgermeister sein von Kinneys Gnaden. Erneut ergriff ihn eine gewisse Übelkeit. Er hatte sich nicht geirrt, Kinney war ein übler Intrigant und Taylor tat ihm da wahrscheinlich nichts nach, mochten sie noch so freundlich lächelnd aus der edlen Wäsche schauen und die pittoresken Kinder knuddeln. „Das würde ich sogar sehr begrüßen, Brian!“ brachte er unter Haltung aller Würde hervor. Kinney stimmte einen Applaus für ihn an. ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………….. Die Versammlung zerstreute sich, nachdem man noch ein wenig Small Talk miteinander betrieben hatte. Gus sprang nach der einschläfernden Sitzung kurzzeitig wieder zu Energien auflaufend, ein Stück vor ihnen über das Bürgersteigpflaster der Allee. Lilly begann wieder leicht ungnädig zu werden, aber sie hatte ja auch wundervoll durchgehalten. Sie mussten ohne weitere Vertiefung des Geschehenen kichern und rempelten sich spielerisch gegenseitig an. „Siehst du, Sonnenschein, ich habe Stockwell versprochen, dass ich ihn zum Bürgermeister mache – und ich halte meine Versprechen…“ „Das ist wahr… Da fällt mir ein, das Bad neben dem Atelier ist noch gänzlich unbefleckt…“ „Das ist sogar ziemlich befleckt, da sieht es aus, als sei ein drei Meter großer Alien explodiert. Und überall stehen Pinsel rum.“ „Mag sein, dass da alles Mögliche an den Wänden hängt… aber nicht die Flüssigkeit, nach der mir jetzt der Sinn steht…“ „Genug von der öffentlichkeitstauglichen Bilderbuchfamilie?“ „Für heute reicht’s. Wir könnten die Kinder ins Bett bringen und uns dann ein wenig der Pinselpflege widmen?“ „Sagte ich dir schon, wie sehr ich es schätze, dass du dabei immer so rum saust?“ „Wirklich? Ich dachte, du würdest es eher mögen, wenn ich meinen Pinsel so richtig tief in einer widerspenstigen, engen Farbtube versenke, damit sie sich mit einem Schuss lockert?“ „Das auch… aber manchmal ist es auch nett zu sehen, wenn du voller Konzentration an einem der Stiele rumlutscht, dass man denkt, dass es dich im Rachen juckt.“ „Jetzt, wo du’s sagst – ich fühle da tatsächlich einen gewissen Juckreiz…“ „Den pinsle ich dir gerne weg.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)