Das Wunder des Lebens von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 7: Nöse --------------- VII. Nöse Justin lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und nippte an einer Tasse ziemlich übelriechenden Kräutertees, als sie zurück kamen. Er wirkte noch immer ziemlich mitgenommen, aber seine Augen hatten den fiebrigen Glanz verloren und blickten jetzt nur noch vornehmlich müde. Er trug Jeans und T-Shirt, anscheinend in dem Bemühen, der Bettlägerigkeit zumindest optisch Lebewohl zu sagen. Gus, der immer noch recht gedämpfter Stimmung war, gab seinem jüngeren Erziehungsberechtigten pflichtschuldig einen Kuss und schnappte sich dann seinen Fußball, um damit in den Vorgarten zu verschwinden. Der riesige rückwärtige Garten war ja noch immer ein Dschungel. Im Keller hämmerten die Handwerker, um das Spa-Wunderland, gesponsert von Lance, passend zur heißesten Zeit fertigzustellen, damit sie sich dann schön in die Saune oder ins Solarium verkrümeln könnten… genialer Plan… Der Pool draußen war auch noch nicht einsatzbereit... und die Terrasse… der Stall… der Tennisplatz… die leer stehenden Zimmer… Brian haute innerlich mit einem Hammer auf diese Gedankenkette. Für ein Zimmer hatten sie ja jetzt eine Verwendung… Justin rappelte sich hoch, als Brian, bewaffnet mit einem Fläschchen und der hungrig maulenden Lilly ins Zimmer trat. Seine Gestik sprach für sich, also drückte ihm Brian beides in die Hand. Geschickt hielt Justin das Neugeborene und verpasste ihm seine Mahlzeit. „Na, du Würmchen, leeeecker“, gurrte er voller Verständnis für Lillys Kohldampf. Brian ließ sich neben die beiden fallen und sah ihnen zu. Wozu brauchte man da bitte Fernsehen… Nach dem Besuchs-Marathon machte sich eine angenehme Ruhe in Brian breit. Lilly beendete ihre Mahlzeit mit einem lieblichen Baby-Rülpser und plapperte dann sinn- und ziellos vor sich hin, während Justin sie angemessen bewunderte und ihr zu ihrer Großtat gratulierte. Von draußen drang das Geräusch von Gus rhythmisch gegen die Hauswand donnerndem Fußball. „Und, wie war’s?“ fragte Justin schließlich, während Jenny langsam eindöselte. „Michael hat’s mit Fassung getragen. Er wusste ja nichts von Daphnes Schwangerschaft und nimmt an, sie sei adoptiert… ist auch besser so. Und meine Mutter hält ihre bibelreue Klappe, obwohl sie schon eins und eins zusammen zählen konnte. Allerdings ist sie jetzt scharf wie Fritzchen Müller auf Zack O’Tool darauf, Gus und Lilly ins Taufbecken duckern zu lassen…“ „Das muss nicht sein… Sollen sie selbst entscheiden…“ „Meine Rede. Und sag ihr bloß nicht, dass deine Familie reformiert ist – schwul mag ja noch angehen, aber vom wahren Glauben abgefallen, da wird sie dir wahrscheinlich einen Exorzisten auf den Hals hetzten.“ „Ich schweige wie ein Grab – Du guter katholischer Junge, du…“ „Jaja, spotte nur. Und sie meint, dass… dass Lillys Augen, wie meine bei der Geburt waren, sind…“ „Glaube ich gern. Du hattest Mal blaue Augen? Gott sei Dank haben sie sich verfärbt, so sind sie viel schöner! Vielleicht hat Deine Mutter ja recht… Aber wenn Lilly deine Augen bekommt, dann werden wir uns eine Kampfhund-Zucht zulegen müssen, um die ganzen Typen zur Hölle zu schicken, die uns dann eines Tages die Bude einrennen werden…“ „Wo du recht hast, hast du recht. Oder wir erziehen Gus zum Obermacho, so dass er jedem auf die Fresse haut, der seine Schwester auch nur aus dem Augenwinkel anschaut, dann haben wir Ruhe…“ „Oder wir drillen Lilly zur Karate-Meisterin und reden ihr ein, dass alle Männer Schweine sind, die eh nur das eine wollen…“ „Stimmt ja auch… Aber dann wird sie noch eine Lesbe, will Bauarbeiterin werden, rennt in Karohemden rum und wünscht sich zum 18. Geburtstag eine Harley. Nicht, solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, junge Dame!“ „Na, wer hat hier Vorurteile…“ „Aber vielleicht hat meine Mutter ja auch bloß einen Knick in der Linse oder wird senil, was ich nicht zu hoffen wage… Ich finde ja, dass die Haut und die Gesichtsform eher für dich sprechen… Womit wir dasselbe Problem hätten…“ „Findest du…? Naja, danke für die Blumen. Vielleicht haben wir auch nichts mit ihrer Entstehung zu tun… fändest du das schlimm?“ „Eigentlich… nicht, nein. Du…?“ „Nein. Biologische Verwandtschaft ist nicht der entscheidende Punkt, wie wir beide ja zu gut wissen.“ „Wie wahr… Sie braucht ein Zimmer, sie kann schließlich nicht in meinem – äh, unserem – Kleiderschrank aufwachsen…“ „Stimmt. Sonst kommt eines Tages eine Eule durch den Kamin mit einer Einladung nach Hoghwarts.“ „Was?“ „Harry Potter?“ „Hab ich nicht gesehen…“ „Kommen auch verflucht wenig nackte Kerle drin vor… Aber zu dem Vergnügen wirst du schon noch kommen.“ „Drohungen… leere Drohungen. Okay, Kinderzimmer…“ „Ich bin zwar noch ziemlich matsch, aber ich kann mich heute Nachmittag ans Internet hängen und nach passendem Krempel suchen… Das neben Gus‘?“ „Ja, das ist gut, da drin hört man momentan nur das leise Husten der Spinnen.“ „Okay… Was brauchen wir… Rosa Farbe für die Wände, Schablonen für Wölkchenmotive, ein Prinzessinnen-Bett…“ „Wie gut, dass ich mir absolut sicher bin, dass du mich verarscht.“ „Einen Versuch war’s wert.“ „Ich kann heute auf dem Weg zum Arzt auch noch Mal einkaufen…“ „Bis du sicher, dass du dieses riesige Opfer verkraftest?“ „Mit Entschlossenheit und tiefer Würde…“ „Prima, dann geh doch gleich auch in einen Buchladen und besorg Lektüre aus der „Juhu, mein Baby ist da“-Ecke.“ „Muss das sein?“ „Besser ist es. Oder fällt dir so spontan ein, welche Impfungen sie braucht? Wann sie lernen sollte aufs Töpfchen zu gehen – und wie? Oder ob ein Naserümpfen eine spontane Selbstentzündung ankündigt oder nur ein Zeichen dafür ist, dass wir sie nerven?“ „Okay, okay… Ich besorg‘ eine Bedienungsanleitung… Du und dein dämlicher Pragmatismus… Sei doch mal romantisch…“ „Jetzt verarscht du mich. Du willst ficken?“ „Pssst! Willst du, dass ihr erstes Wort „ficken“ ist?“ „Wenn du’s ständig wiederholst, könnte das natürlich passieren… Aber ich glaube, darüber müssen wir uns vorerst keine Sorgen machen. Ich bin leider noch zu sehr zerschrotet… Die Masern haben meine Schleimhäute arg angegriffen und mein Arsch ist auch ziemlich im Arsch…“ „Blöde Ausreden. Aber ist schon okay… darf ich mir dann wenigstens in deinem Beisein einen runterholen?“ „Was für ein sadistischer Plan… Aber ich kann echt noch nicht wieder, insofern okay. Darf ich dir dann wenigstens sagen, was du machen sollt?“ „So gefällst du mir schon besser!“ „Sehr schön. Erste Order: Spül die Tücher gefälligst das Klo runter, sonst gehen uns bald die Zimmer aus!“ ……………………………………………………………………………………………………………………………………………………………. Als Brian das Haus verließ, schnarchte Justin wieder leise auf dem Sofa, Lilly in ihrem Körbchen neben sich. Trotz seiner angeschlagenen Konstitution hatte er ein bemerkenswertes Spektrum verbaler Sauereien über Brian ergossen, die nicht ganz ohne Reiz gewesen waren… Gelobt seien kreative Menschen. Gus hatte sich wieder in sein Zimmer verzogen, lauschte einem Hörspiel und malte dabei anscheinend ein Porträt von Lilly. Hier schien sich Lindsays Erbe bemerkbar zu machen. Dennoch ähnelten seine Darstellungen des schlafenden Babys eher einer mit Augen bewaffneten Banane – aber vielleicht war das nur eine formale Abstraktion, mit der der Künstler in die Welt des Metaphysischen verwies… Brian hob Lilly plus Marschgepäck hoch, ohne Justin aufzuwecken, und machte sich auf den Weg. Die Sonne schien und tauchte die Landschaft in ein warmes frühsommerliches Licht. Die Bäume entlang der Alleen von Green Tree zeigten erste Blüten und standen in üppigem Grün. Ein Idyll, das verflixt viele Vögel anzog, wie ein Blick auf die Kühlerhaube der Corvette verwies. Das Problem hatte er im Loft nicht gehabt. Er parkte vor dem aufdringlich klinisch-modern gestaltetem Gebäude des Ärztezentrums – was für ein Kontrast zu der Bruchbude in Mexiko, aber das Aussehen mochte auch täuschen – schnappte sich sein Anhängsel, beförderte es in den provisorischen Kinderwagen – so ein no name Ding ging auf Dauer ja gar nicht, war das überhaupt ergonomisch? – und steuerte den gläsernen Aufzug an. Dank seiner erstklassigen und seit seiner Krankheit auch abartig teuren Krankenversicherung schob er kalt lächelnd an der wartenden Meute im Empfangszimmer vorbei. Die Ärztin behandelte ihn auch ausgesprochen zuvorkommend, dass er fast argwöhnte, sie wolle ihm obendrein noch ein Nasenlifting andrehen. Danke, ich mag meinen Zinken. Die Sache an sich war schnell erledigt. Sie machte bei ihm einen Abstrich und krallte sich ein wenig von Lillys Sabber. Das Ganze würde ins Labor gehen, in etwa fünf Tagen würde er Gewissheit haben. Ihre DNA würde verglichen werden, Wahrscheinlichkeiten berechnet und hoffentlich Sicherheiten gewonnen. Lilly schien der Vortrag anzuöden. Das war’s schon. Er lieferte Lilly wieder zu Hause ab. Gus hatte Justin wieder wach gerüttelt, die beiden spielten irgendein furchteinflößendes Geschicklichkeitsspiel mit Kugeln und neonfarbenden Spießen, bei der der etwas zitterige Justin ausnahmsweise Mal verlor. Gus schien das als ein Zeichen zu sehen, dass das Schicksal ihm wieder hold sei. „Du bist ungeschickt! Ich hab‘ gewonnen! Gewinner! Verlierer! Gewinner! Verlierer!“ tanzte er, abwechselnd auf sich und auf Justin zeigend durch den Raum, als Brian eintrat. „Gus“, sagte der vernichtend Geschlagene, „du bist echt nöse!“ „Das heißt böse!“ wurde er korrigiert. „Nein, nöse“, beharrte Justin, „niedlich – aber böse.“ Gus kicherte. Brian musste auch grinsen. Er schob Lilly inklusive Tragekorb zu Justin. „Na, du Nösewicht“, sagte er zu Gus, „Lust auf eine Runde Shoppen, um Lillys Kinderzimmer einzurichten?“ „Klar! Ich kann schließlich helfen! Sie braucht ein Stofftier so wie ich George!“ stürzte sich Gus, in bester Feierlaune, auf die neue Aufgabe. „Steht ganz oben auf der Liste – und du musst es aussuchen, das ist dein Job!“ Nicht dass Lilly an etwas anderem als ihrem Essen und ihrem Schlummer vertieft interessiert wäre – okay, sie mochte es wohl auch, gehalten zu werden – aber Gus musste Anteil haben. „In Ordnung“, meinte Gus gnädig. „Aber kein Meerschweinchen, das habe ich ja.“ „Du entscheidest.“ „Klar. Und sie braucht Klamotten, die nicht nach Walmart aussehen…“ „Ich nicht!“ „Jaja… schon wieder nöse. Und Einrichtung für ihr Zimmer…“ „Welches ist ihrs?“ „Das neben deinem.“ „Okay. Dann kann ich auch besser auf sie aufpassen!“ „Genau, Gus, genau…“ Justin hatte alle Viere von sich gestreckt, seine Lider waren auf Halbmast, sein Haar stand zerwusselt und er spielte träge mit Lillys durch die Gegend paddelnden Zehen. Sie gab Laute von sich. War sie etwa kitzelig? Gus war nicht der einzig Nöse in diesem Raum… Kinderquäler. Brian stülpte vorsichtshalber die Decke über Lilly, bevor Justin sie noch ins Koma folterte, und verfuhr mit ihm genauso. Ziemlich abrupt kehrte Ruhe ein. Vielleicht war sie doch Justins leibliche Tochter. „Mann, sind das Schnarchnasen“, kommentierte Gus. „Psst! Ja… lassen wir sie Mal eine Runde sägen, wir haben eine Aufgabe zu erfüllen!“ „Ja! Papa!“ „Auf geht’s“ …………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… Drei Stunden später hatten sie wahrscheinlich mehr Kohle verprasst, als ein mittelgroßes Entwicklungsland für die Ernährung aller seiner Kinder aufbringen konnte. Gott sei Dank konnte Gus noch nicht rechnen, obwohl er Brian mit seiner ständigen Frage „Ist das teuer?“ auf die Nerven ging. Getoppt noch von „Gibt es das auch in billiger?“. Himmel war das schwer, einem Sechsjährigen die Bedeutung von Markenware klar zu machen. Leider gab der Buchhandel hierfür keine Bedienungsanleitung her. Mobile im Bauhaus-Chic? Meins. Äh – Lillys. Strampelanzug von Junior-Armani? Die Welt war voller Wunder. Wickeltisch a la Le Corbusier? Warum nicht. Brian ließ die Karte glühen. Gus hatte bei der Kuscheltierwahl eifrig gängigen Geschlechterklischees entsprochen und hatte für Lilly eine rosafarbende Maus ausgesucht. Brian wand sich zwar innerlich, aber versprochen war versprochen. Woher hatte er das? Garantiert nicht von seinen Müttern oder ihnen – mit dem Kindergarten als Hauptverdächtigen müsste er noch ein ernsthaftes Wörtchen reden… Bei der Wahl des Kinderbettes beschlichen ihn kurze Schuldgefühle. Was würde Justin dazu sagen…? Egal, der war nicht da. Und er wollte das Ding. Her damit. „Aber Lilly hat doch schon ein Bett!“ protestierte Gus. „Kein… richtiges… Das andere spenden wir Kindern, die es brauchen…?“ versuchte Brian sich heraus zu retten. Jennifer hatte es von Ikea besorgt, was als Notlösung völlig okay gewesen war – aber doch nicht auf Dauer! „Okay…“, sagte Gus halb überzeugt. Zum krönenden Abschluss gönnten sie sich ein Essen in einem Diner – nicht das, in dem Debbie arbeitete, diese Konfrontatation musste heute nicht auch noch sein. Und das halbe schwule Pittsburgh hatte gefälligst die Flossen von Lilly zu halten. Sollten die sich ihre „Gutschi-gutschis“ sonst wohin schieben. Das ging diese Hupfdohlen gar nichts an. Gus hatte sich formvollendet mit Eis bekleckert, als sie zuhause ankamen. Die Corvette war bis zum Anschlag voll mit Kleinzeug gestopft, der Rest würde geliefert werden. Sie hatten ein Care-Paket mit wahrscheinlich inzwischen recht pappigen Fritten und zwei monströsen Burgern für Justin im Gepäck. Sie fanden ihn in fast derselben Haltung, wie sie ihn zurück gelassen hatten, tief schlafend auf dem Sofa. Lilly schlief ruhig neben ihm. Brian bedeutete Gus ruhig zu sein. Gemeinsam brachten sie Lilly in das Ankleidezimmer, in dem ihr Bett stand. Brian ließ Gus die Flasche halten. „Und was ist mit Justin?“ wollte der kleine Junge dann wissen. „Den bringen wir jetzt auch zu Bett und füttern ihn… Du trägst die Tüte mit dem Essen.“ Benommen nahm Justin wahr, wie jemand seinen erschöpften Körper die Treppe hochwuchtete. Kurz wollte er auffahren und protestieren, dann drang ihm der Geruch in die Nase. Burger… und Brian. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)