Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 12: Hallows ------------------- Bei seiner Rückkehr fand er das Restaurant geöffnet vor. Sechs Personen – eine vierköpfige Gruppe, die sich lachend unterhielt und ein Paar, das sich gegenüber saß und sich nur gegenseitig verliebt anstarrte – waren als Gäste anwesend, aber er beachtete kaum einen der ihm Unbekannten und sah stattdessen lieber an den Tresen, wo er Seline entdecken konnte. Wieder einmal schaffte ihre orangefarbene Aura es, ihre Umgebung so sehr zu erhellen, dass er sie über den Rand seiner Brillengläser hinweg sehen konnte. Es sah fast so aus als wäre sie der Mittelpunkt der Sonne. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn begeistert gefragt, was er bei ihr sehen könnte – und trotz seiner poetischen Antwort war sie sehr enttäuscht gewesen. Später hatte sie ihm verraten, dass ihre Hoffnung eine grüne Aura gewesen war, aber die Erklärung dafür war sie ihm schuldig geblieben. Sie fuhr sich mit ihren schlanken Fingern durch das goldblonde Haar und wurde dabei auf ihn aufmerksam, so dass sie ihn direkt zu sich winkte. Ihren blauen Augen konnte er kaum einen Wunsch – oder einen Befehl – abschlagen, weswegen er zu ihr hinüberging und sich neben sie an den Tresen setzte. „Wie geht’s dir, Ray?“, fragte sie lächelnd. „Es ging mir schon wesentlich besser“, antwortete er. „Wie geht es dir?“ Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Was für ein höflicher junger Mann du doch bist. Mir geht es außerordentlich gut und die Einnahmen verstärken meine Laune nur noch.“ „Es läuft wohl gut“, schloss er daraus. „Hervorragend“, erwiderte sie. „Ich glaube, wir sind eines der erfolgreichsten Restaurants in ganz Lanchest.“ „Dabei sind wir ein Café“, erwiderte Ryu, während er an der Theke vorbeilief. „Ein Café, das Steaks anbietet.“ Ganz offensichtlich kam er einfach nicht über dieses Detail hinweg und musste es immer wieder erwähnen, selbst im Vorbeigehen, wie in diesem Moment, denn direkt danach war er schon wieder fort. Seline schnitt ihm dennoch eine Grimasse, ehe sie sich wieder Raymond zuwandte. „Ich habe gehört, du lebst gerade hier.“ Er hatte sich eigentlich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo er übernachten wollte. In seine Wohnung zurückkehren wollte er zwar auch noch nicht, da er immer noch fürchtete, dass jemand dort war, aber konnte er einfach hier bleiben? Zu den Chandlers wollte er auch vorerst nicht zurück, deswegen blieb ihm nur diese Möglichkeit, wenn er genauer darüber nachdachte. „Ja, sieht ganz danach aus“, antwortete er. „Höchstens ein paar Tage.“ „Du kannst bleiben, solange du willst“, erwiderte sie lächelnd und er hoffte, dass auch ihre Geschwister das so sahen – auch wenn er eigentlich wusste, dass dem so war. Sie waren eine Familie, auch wenn er nur über die ein oder andere Ecke mit ihnen verwandt war und als solche half man sich eben, wie sie ihm oft genug erklärt hatten. „Ich möchte mit Joy sprechen“, sagte er schließlich, statt etwas darauf zu erwidern. „Ist sie hier?“ Seline nickte und verwies ihn in die Küche, wohin er sich auch sofort begab, um die Fragen zu klären, die ihm gerade auf der Seele brannten. Tatsächlich saß Joy in einer Ecke, in der nicht gearbeitet wurde und rechnete dort einige Dinge durch, was durchaus dazu passte, dass sie die Buchhaltung des Cafés führte, was er zu Beginn durchaus merkwürdig gefunden hatte, aber inzwischen war er das bereits gewohnt, weswegen er sich ihr ohne größeres Nachhaken gegenübersetzte. „Hallo, Joy“, grüßte er sie, was sie nur mit einem „Mhm“ erwiderte, ohne von ihren Unterlagen aufzublicken. „Ich wollte dich eigentlich was fragen.“ Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, die ihm wohl sagen sollte, einfach anzufangen, was auch zu ihrer Frage passte: „Was hindert dich daran?“ „Du bist die Anführerin der Hallows, oder? Was tut ihr, um Mimikry zu bekämpfen?“ Nun hielt sie tatsächlich inne und hob den Blick, um ihn anzusehen. „Ich werde dich sicherlich nicht rekrutieren, damit du ebenfalls kämpfst, solange diese GS-Hexe dich verfolgt. Das wäre für dich alles andere als angenehm.“ „Darum geht es mir nicht“, erwiderte er, obwohl er tatsächlich bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, aber die Furcht vor diesen Wesen saß viel zu tief und erlaubte ihm das nicht. „Es geht mir mehr um Christine und Joel. Ich will ihnen irgendwie helfen.“ „Sehr ehrenwert von dir. Was hat Christine dir denn gesagt?“ Er wiederholte alles, was sie ihm gesagt hatte, inklusive der Aussage, dass sie ihnen allen nur etwas vorspielte. Joy lauschte ihm mit neutralem Gesichtsausdruck und ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Erst als er fertig war, seufzte sie leise. „Ich finde ja, dass du viel zu tief in diese Sache hineingezogen wirst, aber ich kenne deine Neugier und weiß, dass du nicht nachgeben wirst, also ist es vielleicht besser, wenn ich dir antworte.“ Sie seufzte noch einmal, als er zufrieden lächelte, begann dann aber zu erzählen: „Was Christine gesagt hat, stimmt, jedenfalls soweit wir es sagen können. Mimikry entstehen aus negativen Gedanken und Gefühlen, sie werden also nicht künstlich erschaffen. Aber etwas in ihnen treibt sie dazu an, vollständig zu werden, also lauern sie Menschen auf, die besondere, positive Dinge in sich tragen, um ihnen Fragmente zu entreißen und sie sich selbst einzuverleiben. Normalerweise bemerkt man davon nichts, denn sie jagen nicht im Rudel und so verspürst du höchstens einen kurzen Stich in deinem Inneren, der dich vielleicht deprimiert sein lässt, aber das war es.“ Raymond erinnerte sich an die letzte Nacht zurück. Joel war von zahlreichen Mimikry angegriffen worden, die sich allesamt an seiner Seele vergriffen hatten, also mussten es unzählige dieser Stiche gewesen sein – es wunderte ihn nicht weiter, dass er derart hatte schreien müssen. „Je mehr Fragmente sie in sich aufnehmen“, fuhr Joy fort, „desto menschlicher werden sie, bis sie irgendwann nicht mehr von diesen zu unterscheiden sind. Jedenfalls äußerlich.“ Sie machte eine kurze Pause, es schien ihm, als wollte sie gar nicht sagen, was kommen sollte, tat es dann aber dennoch: „Sobald sie menschlich sind, ermorden sie andere Menschen.“ Ein eiskalter Schauer durchlief Raymond bei diesen Worten. Auch wenn er sie bereits von Christine gehört hatte, so klangen sie bei Joy wesentlich bedrohlicher und brachten ihn auf einen anderen Gedanken: Auf den Straßen liefen, möglicherweise genau jetzt, Wesen umher, die aussahen wie Menschen, aber keine waren und ohne jegliche Moral und Anstand, andere umbrachten, vielleicht sogar vollkommen grundlos. Viel schlimmer empfand er aber die unvermeidliche Parallele, die er nach seiner Zeit im Waisenhaus ziehen musste: Diese Wesen waren genau wie die Rekruten des Peligro Waisenhauses. Ohne Moral, ohne Gewissen, die einen hatten nie ein solches besessen, den anderen war es abtrainiert worden... Aber er verstand nicht, weswegen das so war. Warum tat jemand solche Dinge? „Deswegen bekämpfen wir sie“, sagte Joy. „Mehr oder minder erfolgreich.“ „Warum tut ihr euch nicht mit der GS zusammen?“ Joy schnaubte. „Ihre Methoden sind unmenschlich! Anfangs habe ich versucht, mit dem Anführer zu sprechen, aber er bestand auf seine eigenen Mittel und wollte nichts von meinen Alternativen hören – und deswegen habe ich beschlossen, die Hallows zu gründen, auch für Opfer der GS.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich daran zurückerinnerte, es war deutlich, dass sie sehr stolz auf ihre Entscheidung war und nichts davon bereute – und wenn er an Christine oder Joel dachte, war er auch froh darüber, dass sie es getan hatte. Diese Gedanken führten ihn aber direkt zu einer weiteren Frage: „Wird Joel dann auch so werden wie diese Frau, die mich verfolgt hat?“ Allein diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ließ ihn frösteln. Er wollte nicht sehen, wie hasserfüllt und verbittert sein bester Freund werden könnte und hoffte, dass Joy ihm etwas anderes sagen könnte, doch sie blickte ihn ernst an, wie eine Lehrerin, die ihrem Schüler gerade beizubringen versuchte, dass er das Klassenziel nicht erreicht hatte. „Es ist gut möglich“, bestätigte sie und ließ seine Hoffnung zerbrechen. „Ich kann es nicht direkt sagen, denn wir haben nicht viele Versuchsmöglichkeiten gehabt. Auch bei der GS ist diese Methode noch nicht sonderlich verbreitet und die meisten sterben innerhalb des ersten Jahres. Christine ist so ziemlich die einzige Probandin, die länger lebt. Zumindest soweit ich es weiß, aber ich habe keinen Zugriff auf die GS-Datenbank und kann auch nur das sagen, was ich auf deren Website sehe.“ Dass eine solche Organisation sogar eine Homepage besaß, überraschte ihn allerdings, das war nicht unbedingt etwas Selbstverständliches. Er fragte sich, welche Informationen wohl dort abrufbar waren, sicherlich nicht unbedingt Dinge, die ihn interessierten, wie zum Beispiel der Name dieser Frau, die ihn verfolgte und für die er langsam – wie er in diesem Moment bemerkte – eine morbide Faszination entwickelte. Um sich von ihr wieder abzulenken, stellte er eine andere Frage, die ihn interessierte: „Stimmt es auch, dass Christine sagte, sie spielt uns allen nur etwas vor?“ Noch immer konnte er sich das nicht vorstellen. Er wollte nicht glauben, dass ihre Fröhlichkeit nur eine Maske war unter der sich Bitterkeit und Wut verbarg, die sie niemand anderem zeigte. „Wie es in Christine aussieht, kann letztendlich nur sie selbst dir sagen“, antwortete Joy schulterzuckend. „Natürlich trägt sie diese düsteren Emotionen in sich – aber die haben auch andere Menschen, jeder besitzt sie. Allerdings bin ich sicher, dass ihr Optimismus und ihr positives Wesen nicht nur gespielt sind. Es ist gut möglich, dass sie sich an diese Emotionen von früher erinnert und sie umzusetzen versucht oder dass sie echt sind. Ich kann es dir nicht sicher sagen.“ Was seine Freunde anging, fühlte er sich also so schlau wie zuvor. Joel würde vielleicht bitter werden, Christine war unter Umständen nur eine wahnsinnig gute Schauspielerin... und er fühlte sich verantwortlich für die ganze Misere. Wie könnte er mit diesem Wissen nur weiter Zeit mit ihnen verbringen? Wollten sie das überhaupt? „Du solltest dir nicht so viele Gedanken darum machen“, riet Joy ihm, auch wenn dies für ihn hohl klang. „Du kannst jetzt ohnehin nichts mehr dagegen tun, die Milch wurde bereits verschüttet.“ „Aber ich muss doch irgendetwas tun können, um ihnen zu helfen, oder?“ Joy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ihr Blick verriet nicht, was sie dachte, aber er hoffte, dass sie einigermaßen beeindruckt davon war, dass er sich so sehr für seine Freunde einsetzte. Jedenfalls wäre das besser, als sein Gedanke, dass sie vielleicht nur überlegte, wie sie ihn loswerden könnte. „Das einzige, was mir einfällt wäre, dass du ihnen beistehst“, antwortete sie schließlich. „Sei ihnen ein guter Freund, lass sie nicht im Regen stehen, sie brauchen dich beide.“ „Das ist alles?“ Es störte ihn nicht weiter, immerhin hatte er auch nichts anderes vorgehabt, selbst wenn ihr Rat ein anderer gewesen wäre. „Das kriege ich hin.“ „Sicher?“ Joy zog die Brauen zusammen. „Es kann manchmal ziemlich schwer werden, jemandem ein Freund zu sein, der keinerlei positive Emotionen mehr kennt.“ Es klang, als würde sie aus eigener Erfahrung sprechen, aber er hakte nicht nach, welche das sein könnte. Stattdessen nickte er. „Ich bin mir ganz sicher. Die beiden können jederzeit auf mich zählen, ob mit positiven Emotionen oder ohne.“ Diese Worte brachten Joy tatsächlich zum Lächeln. „Das ist schön. Ich hoffe, du vergisst diesen Vorsatz nicht – oder störst dich nicht daran, wenn du ihn plötzlich ausweiten musst.“ Wieder einmal verstand er nicht, was sie meinen könnte, aber er blieb dem Gedanken treu, lieber nicht nachzuhaken, immerhin kannte er sie nicht als jemanden, der gern über sich selbst sprach. „Wenn das Thema nun erledigt ist, bin ich dafür, dass du etwas isst und dann ins Bett gehst.“ Sie tarnte es als Vorschlag, aber ihre Stimme verriet eindeutig, dass es ein nicht zu diskutierender Befehl war. „Du musst morgen immerhin wieder in die Schule.“ Bei allem, was geschehen war, hatte er diese inzwischen schon fast wieder ausgeblendet, aber als sie ihm wieder einfiel, musste er einsehen, dass sie recht hatte. Er durfte sich von diesen Dingen nicht einschüchtern lassen, durfte nicht vergessen, dass es noch ein normales Leben gab, dem er nachgehen musste, weil es wichtig war. „Gut, das mache ich.“ Wieder lächelte sie, diesmal ein wenig herzlicher als noch zuvor. „Du bist wirklich ein guter Junge. Jeder kann froh sein, etwas mit dir zu tun zu haben.“ Ein leichter Rotschimmer lag auf seinem Gesicht, als er sich dafür bedankte und sich dann aber auch für den Tag von ihr verabschiedete, ehe er wieder in den Gästebereich ging, um dort etwas zu essen. Es waren keine weiteren Gäste eingetroffen, während er sich mit Joy unterhalten hatte, dafür fühlte er sich plötzlich neidisch, als er die Gruppe oder das Liebespaar betrachtete. Ihre Leben waren normal, so wie es aussah, sie wussten nichts von dem, was im Schatten lauerte, ihre Freunde waren keine Probanden für irgendwelche abartigen Versuche, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Womit hatte er das alles verdient? Warum war gerade er in dieser Situation? Doch ehe er wütend werden konnte, bemerkte er, wie Seline seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte zu ihr hinüber und bei ihrem fröhlichen Lächeln, das sie trotz des Wissens trug, konnte er nicht mehr wütend sein. Stattdessen ging er zu ihr hinüber, um sich den restlichen Abend mit ihr zu vertreiben und vorerst alles zu vergessen, was er an diesem Tag erfahren hatte, nur um seinen Seelenfrieden zu bewahren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)