Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 2: Ein Abend unter Freunden ----------------------------------- Wann immer Raymond sich im Heim der Familie Chandler befand, fühlte er sich tatsächlich zu Hause. Vielleicht lag es daran, dass er seine erste Nacht in Lanchest in diesem Haus verbracht hatte, vielleicht aber auch an der familiären Atmosphäre und der Liebe, die im ganzen Gebäude verteilt war und jeden willkommenen Besucher sofort in seinen Bann zog. Im Endeffekt war es ihm aber egal, was denn nun genau der Grund war, solange er dort ebenfalls als gern gesehener Gast galt und jederzeit ohne Vorwarnung vorbeikommen konnte. Nicht, dass er von dieser Freiheit oft Gebrauch machte, immerhin erschien es ihm grob unhöflich, dauernd bei anderen Leuten vor der Tür zu stehen, aber es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass er zumindest die Möglichkeit dafür hatte. Christine schien es ähnlich zu gehen. Zumindest wirkte sie so, als sie mit beiden Händen nach der Tasse mit dem Tee griff, den es bei den Chandlers standardmäßig nach dem Abendessen gab, und diese vergnügt lächelnd hob. „Ah, er riecht so gut, Tante Theia.“ Sie hatte sich kurz nach Raymonds Ankunft in Lanchest bereits mit ihm und Joel angefreundet und war genauso ein gern gesehener Gast und da sie sich sichtlich wohlfühlte, hatte sie irgendwann angefangen, Theia immer mit Tante anzusprechen, was diese nicht zu stören schien. Raymond dagegen tat es nicht. Nicht, weil er sich nicht traute, sondern weil es ihm wie eine Lüge vorkam, immerhin war sie nicht seine Tante, also gab es keinen Grund, sie als solche zu bezeichnen. Theia lächelte. „Ich hoffe, er schmeckt auch so gut wie er riecht.“ Sofern es Raymond bekannt war, veränderten Auren sich nicht. Wann immer er eine Aura sah, konnte er sicher sein, dass sie Jahre später immer noch dieselbe war, wenn er diese Person wiedertraf. Die einzige Ausnahme bildete da Joel, dessen Aura sich stets an seinem Gemütszustand orientierte – und die seiner Mutter. Das einstmals tiefe Dunkelblau, das Theia wie einen perfekten Kreis umgeben hatte, war inzwischen mit silbernen Fäden durchzogen, die je nach einfallendem Licht entweder hell leuchteten oder geheimnisvoll schimmerten. Allein diese Aura war es wert, dass Raymond, wann immer er Joel besuchen ging, seine Brille in einer Tasche seiner Kleidung trug, um einen ungehinderten Blick auf Theia zu haben. In diesem kleinen Kreis war es inzwischen jeder gewohnt, ihn ohne Brille zu sehen, jeder von ihnen wusste, dass er nicht darauf angewiesen war, sie zu tragen, sondern sie nur brauchte, um das Sehen von Auren zu unterdrücken. Die meisten waren zwar ein äußerst schöner Anblick, aber mit der Zeit ermüdeten sie einen. Das menschliche Gehirn, wie sein Biologielehrer ihm immer erklärte, war nicht dafür geschaffen, derlei zusätzliche Reize andauernd zu verarbeiten. Aber für Theias Aura nahm er selbst Kopfschmerzen in Kauf. Abgesehen von diesem Schein hatte sie sich absolut nicht verändert. Ihre blauen Augen glitzerten immer noch fröhlich, ihr schwarzes Haar saß perfekt wie eh und je und ging fast übergangslos in ihre Aura über als ob diese direkt daraus hervorfließen würde. Aber irgendwann endete auch dieses ruhige Beisammensein, bei dem nur über Belanglosigkeiten gesprochen wurde und die drei Jugendlichen versammelten sich in Joels Zimmer, um endlich ihre Strafarbeit zu erledigen. In einem Anfall von Großzügigkeit – und wohl ein wenig Mitleid – hatte Rufus einst einen riesigen Schreibtisch für seinen Sohn gekauft, der eigentlich eher in einen Lernsaal gepasst hätte und für Raymonds Geschmack auch viel zu sperrig war. Aber Joel liebte diesen Tisch geradezu, er war innerhalb kürzester Zeit zum Dreh- und Angelpunkt seiner Freizeit geworden und das merkte man deutlich. Alles Wichtige in seinem Zimmer war in Reichweite, so dass er mit seinem Bürostuhl nur an die entsprechende Stelle rollen musste, so war er nicht einmal gezwungen, irgendwann aufzustehen, wenn er etwas brauchte; allerlei Papier und Stifte waren auf dem Tisch verstreut, damit er in jeder Ecke nur den Arm auszustrecken brauche, um daran zu kommen, falls ihn das Bedürfnis zu schreiben oder zu zeichnen überkommen sollte, auch wenn Raymond aus Erfahrung wusste, dass das eigentlich nie der Fall war. Zuguterletzt waren noch die aktuellsten Ausgaben seiner Lieblingsbuchreihe lagen auf dem Tisch gestapelt, so dass Raymond fast schon automatisch einen Blick auf diese warf. „Tausend Möglichkeiten, Träume zu deuten?“ Joel blickte nicht einmal auf, während er den Tisch freizuräumen versuchte. „Ich bin auch nicht unbedingt ein Fan von Traumdeutung, aber ich mag die Bücher.“ Auch wenn Raymond froh war, dass sein Freund sich zumindest für eine Reihe begeistern konnte, so würde er wohl nie verstehen, weswegen es gerade diese sein musste. Er hatte selbst einmal versucht, zumindest eines der Bücher zu lesen und nachdem Joel ihm einmal ausgiebig aus Tausend Wege, wie Sie zu Hause verunglücken könnten vorgelesen hatte – und er sich im Anschluss nicht einmal mehr getraut hatte, seinen Kühlschrank zu öffnen – war in ihm der Entschluss gewachsen, nie wieder eines davon zu lesen. „Ich mag Traumdeutung“, ließ Christine sich vernehmen. Sie saß inzwischen auf Joels Stuhl und ließ diesen immer wieder drehen. Als das Gespräch auf Traumdeutung fiel, hielt sie allerdings inne und blickte ihre beiden Freunde direkt an. In ihren Augen – und auch ihrer Aura – glitzerte etwas, das Raymond sofort als Begeisterung wiedererkannte und als ihre Aufforderung, dass einer von ihnen sie nun fragte, weswegen sie das Thema mochte, was Raymond auch sofort tat. „Gut, dass du fragst.“ Sie tat so als ob es nicht im Geringsten etwas mit ihrer stillen Aufforderung zu tun gehabt hätte und straffte unmerklich ihre Schultern, als sie zum Erklären ansetzte. „Träume entstehen aus unserem Unterbewusstsein, nicht wahr? Wenn man es versteht, sie zu deuten, kann man sich selbst verstehen und das ist ziemlich viel wert.“ Sie warf Raymond dabei einen vielsagenden Blick zu, der ihn wieder ins Grübeln geraten ließ. Christine wusste von dem Albtraum, der ihn jede Nacht heimsuchte, aber sie war nicht davon überzeugt, dass es nur auf den Stress zurückzuführen war. Diese Einstellung hatte ihn auch eine Weile darüber nachdenken lassen, aber das Ergebnis waren nur Kopfschmerzen gewesen, deswegen tat er das inzwischen nicht mehr. „Also ich verstehe mich selbst ziemlich gut“, erwiderte Joel und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Ich brauche dafür keine Traumdeutung – aber he, ich träume ohnehin nur jede Nacht davon, dass ich endlich mit der Schule fertig werde. Und um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir endlich die Strafarbeiten machen, sonst stuft Professor Liam uns alle fünf Jahre zurück.“ Mit einem Wink besagte er Raymond, dass dieser sich an den Tisch setzen sollte. Durch die Größe der Arbeitsfläche konnte jeder von ihnen eine eigene Ecke in Beschlag nehmen und dort die nächsten zwei Stunden überlegen, was sie schreiben sollten. „Tausend Wörter“, ächzte Joel nach gerade einmal der Hälfte. „Was denkt der sich eigentlich? Dass wir Weltmeister im Schwafeln sind?“ Christine seufzte zustimmend. „Wenn es wenigstens nach Seitenanzahl und nicht nach Wörtern ginge...“ Ein kurzer Blick auf ihr Blatt genügte, um Raymond ihre Einstellung zu erklären. Durch Eves und Theias schwungvolle Schriften, die eine eigene Art von Kunst sein mussten, war Raymond früher immer der Überzeugung gewesen, dass alle Frauen oder Mädchen eine schöne und verträumte Schrift innehaben würden – aber die von Christine war nicht einmal annähernd etwas davon. Manchmal zweifelte er sogar daran, dass diese Linien, die sie über das Papier zog, überhaupt Buchstaben waren, aber sie verteidigte sich stets damit, dass sie es als Kind so gelernt hatte und ihre damaligen Lehrer immer sehr zufrieden mit ihr gewesen waren. Jedenfalls schaffte sie es so aber locker auf die doppelte Seitenanzahl aller anderen Schüler, wann immer eine Prüfung anstand, die handschriftlich abgelegt werden musste. „Professor Liam ist ja nicht dumm“, meinte Raymond. „Würde er so vorgehen, würde jeder lediglich fünf Wörter in einer gewissen Größe schreiben und damit hätte es sich.“ Das war offenbar nicht das, was Christine hören wollte, denn sie warf ihm bereits wieder einen frustrierten Blick zu. „Warum hältst du eigentlich immer zu den Lehrern, Ray?“ Er wollte gerade erwidern, dass er das nicht tat, sondern nur versuchte, hinter die Taten zu sehen, um die Motivation zu erblicken, aber Joel nahm ihm das bereits ab: „Du weißt doch, Kinder aus dem Peligro Waisenhaus müssen immer wie der Feind denken, um diesen zu besiegen.“ Während Christine auf diese Logik hin verständnisvoll nickte, war sich Raymond nicht sicher, ob er sich für diese Rückendeckung bedanken oder wegen diesem Seitenhieb erzürnt sein sollte, weswegen er das tat, was ihm am Logischsten erschien: Er konzentrierte sich wieder auf seine Strafarbeit, um diese zu beenden. Tatsächlich war er nicht lange danach auch damit fertig und kurz nach ihm beendeten auch Joel und Christine ihre eigenen Arbeiten, aber um zu entspannen blieb nicht mehr viel Zeit. Wie üblich hatte sich das Essen und der anschließende Tee so lange hingezogen, dass es nun bereits Zeit war, nach Hause zu gehen. Christine wurde von ihren Eltern immerhin erwartet – und Raymond war nach dem Abend ohne Brille einfach nur noch müde und sehnte sich nach seinem Bett. Und auch wie üblich, machte er sich nach der Verabschiedung gemeinsam mit Christine auf den Rückweg, da sie in dieselbe Richtung musste wie er. Sie schob das Fahrrad, mit dem sie stets unterwegs war, neben sich her und blickte dabei unentwegt auf den Boden – zumindest der letztere Teil war allerdings neu, weswegen Raymond nicht anders konnte als sie zu fragen, ob alles in Ordnung war. Erschrocken zuckte sie zusammen und hob eilig den Blick, um ihn anzusehen. „Ah, du redest ja mit mir.“ „Natürlich, warum sollte ich nicht?“ Seine Stimme war ernsthaft verwundert, aber da er damit beschäftigt war, seine Brille wiederzufinden und aufzusetzen, erwiderte er ihren Blick nicht und konnte so nicht bemerken, dass sie lautlos erleichtert ausatmete. „Na ja, wegen meiner Frage vorhin, warum du immer zu den Lehrern hältst. Du hast nach Joels Antwort nichts mehr gesagt.“ Aufmunternd lächelte er ihr zu. „Mach dir keine Sorgen, ich trage dir das nicht nach. Ich habe schon gar nicht mehr daran gedacht.“ Das stimmte zwar nicht ganz, hatte ihm dieses Ereignis doch nur erneut vor Augen geführt, dass er anders war als seine Freunde und dass diese es nie vergessen würden, selbst wenn sie deswegen nicht schlecht über ihn dachten. Aber es brachte nichts, das Christine zu erzählen und damit ihr Gewissen zu belasten. Sie atmete noch einmal auf. „Gut. Ich dachte schon, du würdest Joel oder mich nun für immer hassen.“ „Das wird wohl kaum jemals geschehen.“ „Das wäre auch sehr übel für uns. Es gibt niemanden, auf den wir uns so gut verlassen können wie auf dich.“ „Und niemand, der es dir erlaubt, mit Joel Zeit zu verbringen ohne dass es aussieht als würdest du etwas von ihm wollen.“ Ihr Gesichtsausdruck nahm sofort einen gänzlich anderen Ausdruck an, leicht panisch und nicht im Mindesten erfreut darüber, dass er diese Feststellung machte. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie sich wieder beruhigt hatte und etwas erwidern konnte: „Ist das deine Rache für deine Frage vorhin?“ „Vielleicht. Aber ernsthaft, hast du irgendwann auch einmal vor, ihm etwas davon zu erzählen?“ In einem Versuch, ihm und diesem Gespräch auszuweichen, wandte sie den Blick ab und hob den Kopf ein wenig, so dass es aussah als würde sie interessiert die Hochhäuser auf ihrem Weg betrachten. Da sie allerdings bemerkte, dass er weiterhin auf ihre Antwort wartete, wandte sie sich ihm wieder ruckartig zu. „Keine Ahnung. Vielleicht nie, vielleicht morgen, vielleicht bei unserer Abschlussfeier.“ „Du weißt doch aber, was man sagt, oder? Man sollte nicht zu lange zögern, so etwas Wichtiges zu tun.“ „Warum? Was sollte denn schon passieren, wenn man es nicht tut?“ „Du könntest vorher sterben – oder er. Und was dann?“ Schon wieder war der Tod in seinen Gedanken. In den letzten Tagen dachte er viel zu oft an solche düsteren Dinge, bekam er das Gefühl. Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern lachte nur leise. „Wir sind alle sterblich, ich weiß, aber das gilt hoffentlich nicht für mich.“ Statt einer Erwiderung blieb er abrupt stehen und hielt ihren Arm fest, damit sie ebenfalls innehielt. Noch bevor sie fragen konnte, was das sollte, kreuzte ein Laster lautstark die Straße auf der sie liefen. Christine sah dem Fahrzeug verdutzt hinterher, das keine einzige Sekunde lang auch nur ein wenig langsamer zu werden schien. „R-Rowdy...“ Die Worte verließen ihre Lippen nur schwach und kraftlos, anders als sonst. „Scheint als könntest du einfacher sterben, als du denkst“, meinte Raymond leicht schmunzelnd. Doch zu seiner Überraschung lächelte sie bereits wieder schelmisch, als sie sich ihm erneut zuwandte. „Damit das nicht passiert, hab ich ja dich. Ich sage doch, wir können uns auf dich verlassen.“ „Ich kann nicht immer da sein, um euch zu beschützen“, erwiderte er, wenn auch ein wenig verlegen; es kam nicht oft vor, dass jemand tatsächlich derart viel Vertrauen in ihn legte und das auch offen zugab. Christines Lächeln wurde ein wenig sanfter, fast schon liebevoll. „Ich bin sicher, dass du sofort angerannt kommen würdest, wenn Joel oder ich Hilfe brauchen oder in Gefahr sind. Da mache ich mir absolut keine Gedanken.“ „Danke, Chris.“ Sie sagte nichts mehr darauf, sondern stieg auf ihr Rad. „Ich fahr dann mal, bevor mein Dad noch einen Herzinfarkt bekommt, weil ich immer noch nicht zu Hause bin.“ Als sie das sagte, rollte sie mit den Augen, lächelte dann aber gleich darauf. „Wir sehen uns morgen in der Schule. Gute Nacht, Ray.“ Er erwiderte die Verabschiedung und sah ihr hinterher, bis das rote Rücklicht ihres Fahrrads nicht mehr auszumachen war. Wie jedesmal fühlte er sich in jenem Moment, in dem er das realisierte, allein, einsam, so als wäre er der letzte Mensch in einer Stadt voller Zombies – dass ihm dieser Vergleich kam, war auch die Schuld von Joels Lieblingsreihe und dem Band Tausend Wege, als letzter Mensch in der Großstadt eine Zombieinvasion zu überleben aus dem sein Freund ihm natürlich auch dauernd hatte vorlesen müssen. Ein plötzliches Gefühl von Unruhe überkam ihm, kaum, dass er das gedacht hatte. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut, so als ob sich etwas Bedrohliches nähern würde, sein Herz schlug augenblicklich schneller, sein Verstand wies ihn an, zu rennen solange er noch konnte – aber seine Vernunft beruhigte ihn mit einer ruhigen inneren Stimme und brachte ihn dazu, den Kopf zu wenden, um erst einmal herauszufinden, ob und was sich hinter ihm befand. Sollte es sich um einen Zombie – oder mehrere – handeln, wüsste er dank Joel ja, wie er diese am Effektivsten bekämpfen sollte. Doch nichts und niemand war zu sehen. Die Straße hinter ihm war vollkommen leer, verlassen, geradezu einsam. Er entspannte sich wieder einmal. Das angespannte Gefühl schwand zwar nicht völlig, aber immerhin war sein Verstand nun zufrieden und schob diesen Verfolgungswahn auf die Gedanken mit den Zombies um die er sich nicht weiter zu kümmern brauchte. So konnte er sich wieder nach vorne wenden und seinen restlichen Heimweg hinter sich bringen. Hätte er die Brille abgenommen, wäre ihm das unförmige, schleimige Wesen aufgefallen, das in der Dunkelheit saß und Raymond mit seinen roten Augen hinterhersah, bis weder er noch seine hell strahlende Aura noch zu erkennen waren. Kaum war das geschehen, verschmolz das Wesen mit der Dunkelheit und nun war wirklich nichts mehr auf der Straße zu sehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)