Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 23: Ein Tag für Gespräche --------------------------------- Am nächsten Morgen ging Raymond, wie von Alona verlangt, in die Schule. Nach dem Aufwachen hatte er einen Moment mit sich kämpfen müssen, aber ihr Argument war immer noch überzeugend gewesen. Also hatte er geduscht und war anschließend losgezogen. Wie erwartet kam Joel nicht – trotz seiner Versicherung, dass er es täte –, aber dennoch enttäuschte es ihn. Mit seinem besten Freund wäre dieser Tag mit Sicherheit besser zu ertragen gewesen. Jedenfalls hoffte er, dass Joel und er immer noch derart unverfänglich miteinander umgehen könnten wie früher, bevor die Mauer zwischen ihnen erschienen war. Seine Mitschüler warfen ihm verstohlene Blicke zu, runzelten die Stirn und unterhielten sich flüsternd, wann immer sie glaubten, er wäre nicht aufmerksam. Allerdings bekam er dennoch mit, dass sie über seine Abwesenheit sprachen und über die Gerüchte, die sich darum rankten. Interessanterweise besagten diese, dass er Christine während eines plötzlichen Überfalls getötet und Joel schwer verwundet haben sollte. Wie auch immer die anderen nur darauf kamen oder warum er das tun sollte … „Mach dir nichts daraus.“ Alona saß gemeinsam mit ihm beim Mittagessen an einem Tisch in der Cafeteria, ein wenig abseits aller anderen, was ihm half, das Summen der anderen Gespräche zu ignorieren. Lustlos stocherte er in dem Salat, den sie ihm aufgedrückt hatte, während sie ihren eigenen mit großem Appetit verzehrte. Nach außen wirkte es nicht, als hätte sie am Vortag eine Freundin beerdigt, obwohl sie den neben ihr Sitzenden eindringlich vor dieser Konsequenz gewarnt hatte. Er kam nicht umhin, dieses Schauspieltalent zu bewundern. Dadurch, dass sie derart viel Zeit mit ihm verbrachte, erregte sie auch Bildung von Gerüchten über sich, aber das schien sie nicht zu kümmern. Obwohl nur sie beide hier waren, wirkte sie so fröhlich wie immer, wenn sie in der Schule war. Entweder fürchtete sie, von jemandem beobachtet zu werden oder diese ganze Sache machte ihr wirklich Spaß. Aber heute konnte er sich darüber keine Gedanken machen. „Wie soll ich mir nichts daraus machen, wenn mir vorgeworfen wird, ich hätte Chris getötet?“ „Die wollen doch nur über irgendetwas reden, um sich die Welt zu erklären.“ Sie spießte eine Cocktail-Tomate mit ihrer Plastik-Gabel auf. „Und du bist ihnen derart unerklärlich, dass sie besonders viel über dich reden. Lass sie einfach und ignorier sie. Eines Tages werden sie schon erkennen, dass sie dich unterschätzt haben.“ Sie nahm die Tomate in den Mund und kaute, während Raymond sich fragte, ob das gerade ein verstecktes Kompliment von ihr gewesen war. Aber er fragte sie lieber nicht danach. „Werden wir heute Nacht wieder losziehen?“ „Das lohnt sich nicht. Du hast ja gesehen, dass es kaum Mimikry draußen gibt. Warten wir lieber ein wenig, bis die Population sich wieder erhöht hat.“ „Aber fordert das nicht Opfer von der Bevölkerung?“ Ehe Alona antwortete, warf sie einen kurzen Blick umher. Niemand beachtete sie, es saß nicht einmal jemand in der Nähe des kleinen Tischs, fast als gäbe es ein unsichtbares Bannfeld um sie herum, also waren sie weiterhin ungestört. „Nicht wirklich. Also, klar, sie ernähren sich von Seelensplittern, aber das ist im Großen und Ganzen nicht zwingend gefährlich. Jedenfalls nicht, wenn es nicht im großen Stil vorkommt – und soweit werden wir es schon nicht kommen lassen.“ „Ich habe bisher kaum etwas getan, was macht dich da so sicher?“ „Du bist immerhin nicht allein bei der Sache.“ Sie belud sich die Gabel mit Mais. „Und ich habe bislang noch jeden Feind besiegt, der sich mir in den Weg stellte.“ Ein stolzes Lächeln umspielte ihre Lippen, die sich gleich darauf öffneten, damit sie sich die Gabel in den Mund schieben konnte. Mit einem Nicken deutete sie darauf hin, dass er ebenfalls essen sollte. Nur widerwillig folgte er dieser Aufforderung und aß zumindest einige der grünen Blätter, die einfach nach nichts schmeckten, wenn man ihn fragte. Nur der saure Essig gab dem ganzen ein wenig Geschmack – wenn auch keinen guten. „Du hast gestern doch mit Chandler gesprochen“, begann Alona. „Was hat er eigentlich gesagt, dass du plötzlich so wild auf das Kämpfen wurdest?“ Sie sah ihn sogar an, als sie das fragte und konzentrierte sich nicht mehr auf ihren Salat, es musste sie sehr interessieren – oder sie wollte einfach nur sichergehen, dass er auch wirklich aß. Aber konnte er ihr einfach von dem erzählen, was mit Joel vor sich ging? Andererseits verstand sie es mit Sicherheit besser als jeder andere und er zweifelte, dass sie zu ihm gehen und ihm direkt erzählte, dass Raymond ihr alles verraten hatte. Vielmehr schien es, dass sie Joel nicht leiden könnte – was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte –, Raymond aber durchaus, obwohl dieser ihr wesentlich mehr angetan hatte. Unter diesen Voraussetzungen konnte er aber durchaus einfach alles weitererzählen, wenn sie das wollte. Das war auch angenehmer, als alles für sich zu behalten. „Joel hat festgestellt, dass er nun auch diese seltsamen Fähigkeiten hat. Also, diese Mimikry-Fähigkeiten, so ähnlich wie Christine und du.“ Auch wenn er sich fragte, was genau Alonas Fähigkeit eigentlich war. Konnte sie auch Ketten beschwören und kontrollieren? Aber sie hatte diese noch nie eingesetzt, auch nicht bei seiner Verfolgung. Also musste es doch etwas anderes sein. Es wäre einfacher, sie zu fragen, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihm darauf antworten würde. Sie hakte jedenfalls nicht nach, worin Joels Fähigkeiten bestanden, sondern runzelte die Stirn. „Ich verstehe. Du hast ein schlechtes Gewissen und willst verhindern, dass er dasselbe Schicksal erleidet wie Christine. Ist das so?“ „Auch. Aber zusätzlich ist er außerdem mein bester Freund, ich kann nicht zulassen, dass er stirbt.“ Auf diese Worte hin, schien sie noch um einiges nachdenklicher zu werden. „Selbst auf die Gefahr hin, dass du stirbst?“, fragte sie weiter. An diese Möglichkeit hatte er bislang noch nicht gedacht, eigentlich wollte er das auch in diesem Moment nicht, deswegen kam eine ausweichende Antwort: „Ich werde versuchen, das zu vermeiden. Aber Joels Leben wäre mir das wert. Er ist mein bester Freund und auch mein erster. Ohne ihn wäre ich immer einsam gewesen.“ So hatte er, seit seiner Ankunft in Lanchest, immer jemanden gehabt, an den er sich hatte wenden können. Gut, das war selten notwendig gewesen, da Raymond von klein auf daran gewöhnt worden war, sich um sich selbst zu kümmern, aber das Leben in der Großstadt war doch um einiges anstrengender geworden, als er es sich als Kind jemals hätte träumen lassen – und genau in dieser Zeit war Joels Hilfe für ihn unerlässlich gewesen. Auch wenn sich die Schwerpunkte inzwischen verschoben hatten, wollte Raymond an dieser Freundschaft, die noch immer bestand, festhalten. Dafür musste Joel selbstredend am Leben bleiben. Alonas anhaltendes Schweigen verunsicherte ihn ein wenig, weswegen er sich ihr zuwandte. „Stimmt etwas nicht?“ Sie sah ihn nicht an, stocherte nun aber selbst lustlos in ihrem Salat. „Ich habe nur gerade daran gedacht, wie glücklich Chandler sich schätzen kann, einen Freund wie dich zu haben. Nicht jeder kann das von sich behaupten.“ Er glaubte, einen Hauch von Verbitterung aus ihrer Stimme herauszuhören, war sich aber nicht sicher, ob er es sich nicht vielleicht doch nur einbildete. Weiter darauf eingehen wollte er allerdings nicht, auch wenn es ihm unter den Nägeln brannte, mehr zu erfahren, darüber wie sie dachte oder fühlte oder was in ihrer Vergangenheit noch alles geschehen war. Später würde Joel vermuten, dass er an einer Unterform des Stockholm-Syndrom leide, aber im Moment gab es noch keinen Grund, dass Raymond sich deswegen Sorgen machen musste. „Was machen wir denn heute?“ Das Thema zu wechseln erschien ihm besser, um die Stimmung nicht weiter zu drücken. „Ich habe dir schon gesagt, dass wir heute nicht mehr kämpfen gehen.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, starrte aber weiter in den Salat. „Das lohnt sich einfach nicht.“ „Nein, ich meinte, ob wir nicht vielleicht einfach so etwas miteinander unternehmen wollen. Wir müssen ja nicht nur miteinander kämpfen, oder?“ Einen Moment lang schien sie es tatsächlich in Erwägung zu ziehen, aber dann schüttelte sie mit dem Kopf. „Du solltest lieber etwas mit Joel machen, er braucht dich sicher auch.“ Auch? Wollte sie ihm damit sagen, dass sie ihn benötigte oder dass sie der Meinung war, Raymond brauche Joel? Er wollte nicht fragen, akzeptierte es einfach nur und widmete sich dann schweigend wieder seinem Essen, genau wie sie – wobei sie einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck auflegte. Nach der Schule befand er sich tatsächlich vor dem Haus von Joel, wagte aber erst noch nicht, zu klingeln, sondern betrachtete das Gebäude lediglich. Hinter den Fenstern von Küche und Wohnzimmer waren Bewegungen wahrzunehmen, Schemen, die er im Halbdunkel des Gebäudes nicht so richtig erkennen konnte. Früher war es ihm wie eine Heimat erschienen, aber nun wirkte es vielmehr wie ein abweisendes Gefängnis, das nur dafür errichtet worden war, ihn fernzuhalten. Aber diesem Triumph konnte er ihm nicht gönnen. Raymond löste sich aus seiner Starre und ging mit langsamen Schritten auf die Tür zu und betätigte die inzwischen vertraute Klingel, deren Ton ihn willkommen zu heißen schien. Er hoffte, es galt nicht nur für diesen. Nach wenigen Sekunden erklangen Schritte, die er sofort als jene von Theia identifizierte, im nächsten Moment öffnete sie bereits die Tür. Heute hatte er die Brille extra behalten, weil er keine Auren sehen wollte, nur jene Personen, die seine Familie geworden waren, deswegen war es ihm unmöglich, ihre wundervolle Aura zu sehen, so musste er sie furchtsam anblicken, da er nicht wusste, wie sie reagieren würde. Schweigend sah sie ihn eine Weile an, dann durchbrach sie die angespannte Stille einfach dadurch, dass sie ihn in ihre Arme zog. „Es ist schön, dich zu sehen, Ray.“ Wärme breitete sich in seiner Brust aus, vorsichtig erwiderte er die Umarmung. „Danke, Theia.“ Sie zog ihn mit sich rein, schloss die Tür wieder und schob ihn dann vorsichtig, die Hände auf seinen Schultern, weiter den Gang entlang. „Es tut mir leid, dass wir in der letzten Zeit derart distanziert waren.“ „Das ist schon in Ordnung. Nach allem, was geschehen ist.“ Sie brachte ihn wieder dazu, anzuhalten und sie anzusehen. Vielleicht lag es daran, dass er sie lange nicht gesehen hatte oder an ihrer Sorge um Joel, aber es schien Raymond, als nähme er die Falten in ihrem Gesicht erst jetzt wahr. Sie wirkte gealtert und diese Erkenntnis weckte die Schuldgefühle in seinem Inneren wieder. Wenn er nur mehr getan hätte, um zu helfen … „Das ist nicht in Ordnung“, erwiderte Theia mit ungewohnter Strenge. „Gerade nach allem, was geschehen ist, hättest du bestimmt auch jemanden an deiner Seite gebraucht, der dir beisteht.“ Er war versucht, ihr zu sagen, dass Unterstützung bei ihm gewesen war, einfach nur um sie zu beruhigen, aber das wäre eine Lüge gewesen, die er ihr nicht zumuten wollte. Also legte er lediglich eine Hand beruhigend auf ihre, die noch immer auf seinem Arm lag. „Es ist schon in Ordnung, ich kann es vollkommen verstehen, also mach dir keine Gedanken mehr.“ Die Besorgnis schwand aus Theias Gesicht und machte einem erleichterten Lächeln Platz. „Möchtest du dann heute bei uns essen?“ „Nur wenn es dir keine Umstände macht.“ „Aber überhaupt nicht.“ Sie winkte ab. „Geh ruhig zu Joel, er kann dich bestimmt gerade brauchen. Den ganzen Tag sitzt er nur in seinem Zimmer, das ist nicht gut für ihn.“ Nachdem er ihr versichert hatte, dass er deswegen hier war, ging er die Treppe hinauf, klopfte kurz an die richtige Tür und trat ein, ehe es eine Antwort geben konnte. Joel saß an seinem riesigen Schreibtisch, die Arme darauf gelegt und den Kopf darin gebettet. Er blickte nicht einmal auf, als die Tür geöffnet wurde. „Hey, Ray.“ „Woher wusstest du, dass ich es bin?“ Er setzte sich ungebeten auf einen der Stühle, stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch und bettete sein Kinn auf seiner Hand, während er Joel erwartungsvoll ansah. Dieser hob endlich den Kopf. Er wirkte müde, schien aber zumindest nicht geweint zu haben. „Du bist der einzige, der reinkommt, ohne abzuwarten, bis ich ihn hereinbitte.“ „Und bislang habe ich auch keinen Ärger dafür bekommen.“ „Ich hab ja nicht gesagt, dass du in Schwierigkeiten steckst.“ Er lächelte zaghaft. „Was willst du?“ „Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.“ Joel zögerte einen Moment. „Na ja, es geht einigermaßen. Ich würde am liebsten den ganzen Tag heulen. Ganz schön erbärmlich, oder?“ „Absolut nicht.“ Raymond wünschte, er selbst könnte auch weinen. „Wir haben immerhin Chris verloren. Und dann die Veränderungen, die in dir vorgehen … es wäre eigenartig, wenn du nicht weinen würdest.“ „Ich wäre im Moment glücklich darüber.“ „Nein, wärst du nicht.“ Raymond lächelte ihn zuversichtlich an, worauf auch Joel nicht anders konnte als zu lächeln. „Vielleicht hast du ja recht“, gab er zu. „Aber ich würde dennoch gern ein bisschen weniger weinen. Irgendwann wird man so … leer.“ „Du solltest dich von deinen Gedanken ablenken. Bei mir funktioniert es.“ Aber er war sich nicht sicher, wie er das mit Joel anstellen sollte. Vielleicht wäre die Schule schon einmal ein guter Anfang. „Dein Vater wäre sicher froh, wenn du wieder in die Schule kommst.“ Joel wägte diesen Gedanken ab, dann nickte er tatsächlich. „Okay, ich komme morgen wieder. Du kommst aber auch, oder?“ „Klar. Ich lasse dich doch nicht hängen.“ Er nickte noch einmal, dann wandte er seinen Blick auf den dritten Stuhl, auf dem vor gar nicht allzulanger Zeit Christine gesessen hatte, um mit ihnen die Strafarbeit von Professor Liam zu erledigen. Damals hatten sie gedacht, für immer zusammen zu sein. Nun schien es eine halbe Ewigkeit her zu sein. „Glaubst du, es wird irgendwann leichter werden?“, fragte Joel leise. Raymond hätte ihm gern eine Antwort gegeben, einfach nur um ihn zu beruhigen. Aber er hatte noch nie zuvor jemanden verloren, abgesehen von seinen Eltern, an die er sich ohnehin nicht mehr erinnerte und die er deswegen nie vermisst hatte. „Ich weiß es nicht. Aber wir können es nur herausfinden, wenn wir weitermachen. Das ist die einzige Art, Chris' Opfer zu würdigen.“ Sonst wäre sie vollkommen umsonst gestorben und das konnte nicht im Interesse der beiden sein. Joel musterte ihn, mit einem Blick, den Raymond selten an ihm gesehen hatte, weswegen er ihn nicht wirklich einschätzen konnte. Doch ehe er nachfragen konnte, was los war, lächelte Joel bereits wieder traurig. „Du bist so erwachsen geworden. Wann ist das passiert?“ Raymond hob die Hände ein wenig, um von seiner Verlegenheit abzulenken. „Du bist auch erwachsen geworden. Das werden wir zwangsläufig alle. Besonders nach solchen Erlebnissen.“ „Wahrscheinlich. Irgendwie traurig.“ Joel lehnte sich zurück, ließ die Arme an seinen Seiten herunterhängen. „Aber wir können so nicht weitermachen.“ „Wir müssen nach vorne sehen, auch wenn das wie ein Spruch aus einem Selbsthilfebuch klingt.“ Solche hatte er zwar nie gelesen, aber er glaubte dennoch, den Inhalt einigermaßen erfassen zu können, jedenfalls nach dem, was ihm bislang alles erzählt worden war. Joel lachte leise. „Ja, das stimmt schon irgendwie~.“ Er hob die Arme wieder an, damit er seine Hände auf den Tisch legen konnte, er wirkte damit schon wesentlich dynamischer. Als er Raymond ansah, konnte dieser sogar einen Hauch des alten Ichs seines Freundes entdecken. „Wenn wir nach vorne sehen wollen, müssen wir auch mal an das Naheliegende denken: das Essen!“ Ja, das war schon eher Joel, wie er ihn kannte, selbst wenn die Traurigkeit noch immer in seinen Augen schimmerte. „Also? Willst du heute bei uns essen, Ray?“ „Aber sicher.“ So könnte er mehr Zeit mit seinem besten Freund verbringen und weiter sicherstellen, dass es ihm zumindest heute gut ginge – genau wie er es versprochen hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)