Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 19: Zahle den Preis --------------------------- Joel liebte Horrorfilme, was für Raymond schon immer unverständlich gewesen war. All dieses Kunstblut, die viel zu überzeugenden Schreie und die überraschend flachen Handlungen, die keinerlei Denkleistung erforderten, weckten keinerlei Interesse in ihm und verhinderten, dass er die Faszination seines Freundes nachempfinden konnte. Selbst wenn dieser beständig darüber redete und dabei alle besonders interessante Szenen noch einmal wiederholte, wie auch in diesem Moment, als sie eigentlich auf dem Weg zu Raymonds Wohnung waren. Dem anhaltenden Plappern schenkte dieser keine Beachtung, seine Gedanken waren schon wieder bei dem, was Alona zuvor gesagt hatte. Es war seine Schuld, dass es soweit hatte kommen können, wie es im Moment war und wenn er nicht auf die anderen acht gab, würde er sie ins Verderben reißen. Sobald diese Nacht vorbei war, müsste er wirklich zusehen, dass er keinen von ihnen mehr in Gefahr brachte. Bis dahin hoffte er, dass nichts geschehen würde. Auf Joels Vorschlag hin hatten sie beschlossen, eine Abkürzung durch die kleinen Seitenstraßen zu nehmen. Raymond war erst abgeneigt gewesen, da er glaubte, die Gefahr sei dort wesentlich höher, aber dann war ihm eingefallen, dass es auch eine erhebliche Zeitersparnis bedeutete und dieser Vorteil war wesentlich höher und jedes Risiko wert. In den Gassen, durch die sie liefen, sammelten sich die leeren Verpackungen und Becher aus dem Kino, die von anderen Besuchern hier achtlos weggeworfen wurden, das gelbe Licht vereinzelt aufgestellter Straßenlaternen war das einzige, was ihren Weg erhellte. Zumindest waren sie im Moment vollkommen allein, Raymond konnte keinerlei fremde Anwesenheit spüren und auch nichts sehen, obwohl seine Brille in seiner Brusttasche war und er damit ungehinderte Sicht auf alles besaß, was sich jenseits der normalen Vorstellungskraft befand. Christine ging es wohl genauso, immerhin lächelte sie sanft, während sie Joel lauschte. Dieser sprach gerade über die letzte Szene des Films, in dem die Protagonistin sich in einem Schlachthaus verstecken musste, dabei strahlte er regelrecht, als er auf die beste Stelle zu sprechen kam und sie aus den Seiten- wieder auf die – wie üblich um diese Zeit – verlassene Hauptstraße traten. Es waren nur noch wenige Meter bis zu dem Platz vor den Wohnheimen der Schüler. Inzwischen fühlte Raymond sich fast schon in Sicherheit, weswegen er sich wieder mehr auf Joel konzentrierte. „... und dann dieses Blutbecken, in dem sie sich verstecken musste!“, rief dieser gerade aus. „Das sah echt ekelhaft aus, aber absolut nicht echt. Ich meine, richtiges Blut sieht ja ganz anders aus. Ich frage mich, was sie da immer verwenden dafür und ...“ Seine Stimme erstarb langsam und verstummte schließlich ganz, gleichzeitig blieb er stehen. Raymond und Christine folgten seinem Beispiel, warfen sich beide einen besorgten Blick zu und sahen dann zu Joel. Inzwischen stand er vollkommen still da, die Augen geradeaus gerichtet, aber als Raymond seinem Blick folgte, konnte er nichts entdecken. Dennoch spürte er, wie die feinen Härchen an seinem Nacken sich aufstellten, eine Gänsehaut entstand auf seinen Armen, obwohl es keinerlei Grund dafür gab. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Christine den Kopf neigte, also war sie ebenso verwirrt – und im selben Moment stieß Joel einen erfreuten Laut aus. „Aber natürlich!“, verkündete er. „Sie nehmen bestimmt Himbeersirup!“ Raymond sah wieder zu Christine, die seinen Blick genauso verwirrt erwiderte, dann aber erleichtert zu lächeln begann, was er ihr nachmachte. Joel beachtete das offenbar nicht, denn er fuhr einfach fort: „Ich meine, das Zeug in der Wanne sah schon stark nach Himbeersirup aus und es ist vermutlich wesentlich günstiger als sonst irgendein Zeug.“ Während er nun weiterlief und dabei wieder zu plappern begann, atmete Raymond auf. In ihm war bereits die Befürchtung erwacht, dass sie Mimikry begegnet waren oder dass Joel sich schlagartig an irgendetwas aus jener Neumondnacht erinnert hatte. Christine schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln, als sie beide ebenfalls weiterliefen, damit Joels Abstand zu ihnen nicht zu groß wurde. Es waren nur noch wenige hundert Meter, bis sie bei ihm zu Hause in Sicherheit waren, weswegen Raymond sich endlich erlaubte, erleichtert aufzuatmen – und es gleich darauf zu bereuen. Joel stellte gerade seinen Fuß auf die erste der drei Stufen, die zum Vorplatz führten, als sich die Atmosphäre schlagartig änderte. Pure Kälte erfüllte plötzlich die Luft und auch seine Lungen und ließ Raymond sich darüber wundern, warum die Straßenlaternen, die nun eine nach der anderen langsam erloschen, nicht beschlugen. Mit einer ihm unbekannten Ruhe schaffte er es, sich umzudrehen, in jene Richtung aus der die Bedrohung zu kommen schien. Es war nun das dritte Mal, dass er diese furchterregende Atmosphäre spürte, aber gleichzeitig empfand er das inzwischen auch als Vorteil. Er fühlte sich nicht mehr, als würde er wie festgewurzelt am selben Ort verharren müssen, nicht mehr, als würde allein die Anwesenheit der Feinde, die langsam in sein Sichtfeld robbten, ihn zur Flucht zwingen. Auch Christine wirkte dieses Mal um einiges entspannter, wie ihm auffiel, als sie gut hörbar neben ihm durchatmete. Joel dagegen wich ein wenig zurück, stolperte dabei über die nächste Stufe und versuchte erst gar nicht, sich aufzurichten. „W-was ist das denn?“ In seiner Stimme klang weniger Furcht, vielmehr war Verwirrung und Unverständnis zu hören, die Raymond wiederum gut verstehen konnte. Er wusste inzwischen, worum es sich handelte und dass es jemanden gab, der etwas dagegen tun konnte, so dass er sich keine Sorgen mehr machte. Im Moment war er sogar der Überzeugung, dass Joy jeden Moment wie ein rettender Engel herbeigeeilt kommen würde. Dabei ignorierte er, dass dies auch bei den letzten Malen nicht geschehen war. Christine beachtete den gefallenen Joel nicht und wandte sich stattdessen Raymond zu. „Ich kümmere mich schon darum. Pass du solange auf ihn auf, ja?“ Er nickte ihr zu, um ihr zu zeigen, dass er diesmal durchaus in der Lage war, sich zu bewegen und auch zu handeln gewillt war, was sie mit einem Lächeln quittierte. In diesem Moment waren sie beide wirklich wieder auf einer Wellenlänge, genau wie sie es früher immer gewesen waren. Für einen kurzen Atemzug wünschte er sich sogar, dass sie ewig miteinander kämpfen könnten, wenn es immer so ablaufen würde. Also ging er zu Joel hinüber und kniete sich neben ihn. Sein Freund sah ihn irritiert an und Raymond glaubte zu ahnen, was ihn derart verwunderte, deswegen konnte er direkt darauf reagieren: „Wir haben diese Wesen schon einmal gesehen. Es ist in Ordnung, Christine wird sich darum kümmern.“ Alonas Warnung, dass das Mädchen sich an seinem Limit befand, war gerade vollkommen vergessen, immerhin war er auch überzeugt, dass dieser Kampf nur wenige Sekunden andauern würde, genau wie der letzte. Und wie signifikant konnten einige Sekunden schon sein? Joel schien ihm das zu glauben, denn er schien plötzlich nicht mehr derart zu zittern und beobachtete, was vor ihm geschah. Christines Aura legte sich wieder auf ihr ab, die vier Ketten brachen aus ihrem Rücken und begannen sofort damit, die Mimikry anzugreifen. Wie auch schon beim letzten Mal kam es zu keinerlei Gegenwehr dieser Wesen, während sie von den Klingen zerfetzt wurden, sie sich auflösten und dann glitzernde Splitter aus ihnen entstanden. Joel betrachtete dieses Spektakel fasziniert, gleichzeitig sah es aber aufgrund seines verzogenen Gesichts so aus, als würde er einen Schmerz erleiden, der sich Raymond nicht erschloss. Als ob er Sicherheit fühlen wollte, drückte Joel den Arm seines Freundes, was dieser aber nicht erwiderte, da er viel zu vertieft in die Betrachtung von Christine war. Aus den wenigen Sekunden wurden rasch Minuten, in denen sie kämpfte. Es kamen immer mehr Mimikry nach, aber sie kümmerte sich nicht darum. Ihr gesamter Kampfstil entsprach dem eines Tanzes, wie sie zwischen den Gegnern umherwirbelte, dabei elegante Bewegungen vollführte, denen die Ketten folgten, um die Mimikry allesamt zu vernichten. Sie bewegte sich dabei in einem glitzernden Vorhang, entstanden aus allen Splittern, die sich aufgelöst hatten und wirkte dabei nicht nur überirdisch schön, sondern sogar wie der rettende Engel, den er sich in dieser Situation ersehnte. Doch die Sicherheit, die Raymond anfangs empfand, schwand rasch, als er bemerkte, wie sich ihre Aura weiterhin änderte. Das Gold verdichtete sich weiter auf ihrer Haut, nur noch ihr Gesicht und bestimmte Stellen ihrer Arme waren frei davon und je fester es zu werden schien, desto unkoordinierter wurden die Bewegungen ihrer Ketten. Der Tanz geriet aus dem Rhythmus, sie runzelte ihre Stirn, verstand offenbar selbst nicht, was eigentlich vor sich ging. „Das dauert zu lange“, murmelte Joel. Er empfand es ebenfalls so, weswegen er sich vorsichtig von seinem Freund löste und aufstand. Zwar wusste er nicht, was er überhaupt tun sollte, da er nicht einmal eine Waffe mit sich führte, aber irgendetwas musste er tun, er könnte nicht einfach nur daneben stehen und zusehen. Also machte er einen Schritt nach vorne – und im selben Moment vervollständigte sich die goldene Schicht auf ihrem Körper endgültig. Die Ketten fielen mit einem klirrenden Geräusch untätig zu Boden. Christine sah fassungslos darauf hinunter. Die Mimikry bewegten sich nicht, sondern schienen auf etwas zu warten und starrten sie mit großen Augen überraschend geduldig an. Raymond empfand es als durchaus möglich, dass sie genauso verwirrt über die Ereignisse waren, wenn sie denn in irgendeiner Form zum Denken fähig waren, und er wusste auch genau, dass er nicht mehr zögern dürfte – und tat es doch, um die nächsten Geschehnisse zu betrachten. Schlagartig wurde die Schicht auf ihrer Haut schwarz. Die Ketten schossen nach oben, direkt an Christine vorbei. Doch statt einen Mimikry anzugreifen, hielten sie sich für einen Moment senkrecht in der Luft, als wären sie unschlüssig, wie sie nun vorgehen sollten. Sowohl Raymond, als auch Joel und Christine blickten nach oben, sogar die Mimikry schienen das zu tun, während es wirkte, als würde die Zeit stillstehen. In diesem Augenblick war gerade alles möglich, sie befanden sich gleichzeitig in Sicherheit und waren doch in Gefahr; der Kampf war vorbei und hielt immer noch an; und jede unbedachte Bewegung könnte dazu führen, dass die grausame Idylle zersplitterte. Mit einem Schlag lief die Zeit weiter, die Ketten schossen wieder nach unten – und durchbohrten Christines Oberkörper; die schwarze Kruste zersplitterte und fiel gänzlich von ihr ab. Sie stieß einen leisen Schrei aus, der mehr von Überraschung, als Schmerz herrührte und sank gleichzeitig in die Knie. Die Ketten verhinderten, dass ihr Körper gänzlich stürzte, was sie zu einem morbiden Kunstwerk machte, das von den Mimikry ausgiebig bewundert wurde. In diesem Moment schien es Raymond, als wären sämtliche Töne verschwunden, er glaubte, Joel hinter sich schreien zu hören, war sich aber nicht sicher und schaffte es auch nicht, den Blick von Christine abzuwenden. Noch hegte er die Hoffnung, dass sie gleich wieder aufstehen und ihm lachend sagen würde, dass es nur ein Witz gewesen war, aber sie schwand immer mehr, als er das Blut bemerkte, das aus ihren Wunden herausfloss und die Kette herabtropfte. „Christine“, hauchte er und ging einen Schritt näher. Vor seinem inneren Auge sah er sie wieder in jener Nacht, hörte, wie sie mit ihm sprach: „Wir sind alle sterblich, ich weiß, aber das gilt hoffentlich nicht für mich.“ „Chris ...“ Noch ein Schritt. Wieder hörte er deutlich ihre Stimme: „Dass das nicht passiert, hab ich ja dich. Ich sage doch, wir können uns auf dich verlassen.“ Ein kaum verständlicher Laut kam aus seiner Kehle, als er noch einen Schritt tat. Dann erklang noch einmal ihre Stimme: „Ich bin sicher, dass du sofort angerannt kommen würdest, wenn Joel oder ich Hilfe brauchen oder in Gefahr sind. Da mache ich mir absolut keine Gedanken.“ Die Mimikry wandten sich nun ihm zu und kaum spürte er die Blicke der Wesen auf sich, kam es ihm vor, als würde ein viel zu heißes Feuer in seinem Inneren zu brennen beginnen. Es kam so plötzlich, dass er für eine Sekunde sogar glaubte, wirklich in Flammen zu stehen und doch kümmerte es ihn in diesem Zeitraum gar nicht, es wäre sogar von ihm begrüßt worden. Sein ganzes Inneres brannte, schrie nach Erlösung, nach Rache! Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein Heulen aus, in dem sämtliches Leid der Welt widerzuhallen schien. Dann stürzte er auf die Mimikry zu, mit Bewegungen, die nicht seine eigenen zu sein schienen, schlug immer wieder auf die Wesen ein, jeder Schlag begleitet von einem wütenden Heulen und einem blauen Glühen, dessen Existenz ihm unerklärlich war, das ihm im Moment aber auch vollkommen gleichgültig war. Die Mimikry zerplatzten unter seinen Schlägen, lösten sich auf, vollkommen chancenlos im Angesicht seiner Wut. Das Brennen in seinem Inneren ließ nicht nach, egal wie viele seiner Feinde er zerstörte, wie sehr seine Umgebung zu leuchten begann, als die Scherben verschwanden. Der Zorn ließ nicht nach, denn er konzentrierte sich nicht auf die Feinde, seine Wut galt ihm selbst, der Tatsache, dass er zugelassen hatte, dass Christine, die ihm vertraut hatte, getötet werden konnte. Der Hass in seinem Inneren richtete sich gegen ihn, wollte, dass er sich selbst vernichtete, bis nichts mehr davon übrig war und deswegen schlug er auf die Feinde ein, selbst dann noch, als eigentlich keiner von ihnen mehr stand. Die letzten schleimigen Reste eines Wesens, das einmal ein Mimikry gewesen sein mochte, waren das einzige, was noch seinen Schlägen ausgesetzt war, die blinde Wut in seinem Inneren und der Wunsch nach einer Strafe verhinderten, dass er einfach aufhörte. Er wollte weitermachen, so lange, bis seine Hände auf Asphalt trafen, bis sie zu blutigen Stümpfen wurden, bis er endlich die Schmerzen erlitt, die er seiner Ansicht nach auch verdient hatte. Doch in dem Moment, in dem seine Fingerknöchel das erste Mal auf die Straße trafen, seine Haut aufgeschürft wurde, spürte er, wie jemand die Arme um seine Hüfte schlang. Ein beruhigendes, angenehmes Gefühl versuchte plötzlich, ihn zu erfüllen, die Wut mit sich zu nehmen und stattdessen die Trauer einzulassen, so dass er endlich innehalten konnte. Er sah an sich herab, um festzustellen, wer ihn da gerade gestört hatte. Joel klammerte sich zitternd an seinen Körper, er schluchzte leise, so dass seine Worte kaum zu hören waren: „Bitte, Ray ... hör auf. Das ist ... das ist so grausam ... es ist schon in Ordnung ...“ Er wiederholte diese Worte immer wieder, während er weinte, seine Schultern zuckten und dieser Anblick löschte das Feuer in Raymonds Inneren gänzlich, worauf aber auch die Trauer verschwand. Es brachte keine neuen Gefühle hervor, aber es nahm die Wut gänzlich von ihm und hinterließ eine verbrannte Fläche, die sich nach nichts mehr sehnen konnte. Er sank neben seinem besten Freund – eine Bezeichnung, die er im Moment als höchst lächerlich empfand – in die Knie und ließ zu, dass dieser ihn richtig in die Arme schloss um ihn selbst in eine, als tröstend gemeinte, Umarmung zu ziehen. Diese Bewegung geschah automatisch, weil er wusste, dass die Gepflogenheiten das von ihm verlangte, er wusste nicht einmal etwas zu sagen, sein Innerstes war leer und ausgebrannt, aber für Joel genügte es im Moment offenbar. Er drückte sein Gesicht einfach nur in Raymonds Schulter und weinte hemmungslos weiter. Sein eigener Blick ging derweil ins Leere, irgendwo auf die Straße hinaus, wo er die Sirene eines sich nähernden Krankenwagen hören konnte – und wieder vernahm er Christines Stimme: „Ray? Alles in Ordnung? Du wirkst so weggetreten.“ Das war das letzte, was er hörte, ehe er plötzlich in tiefe Dunkelheit fiel, die ihm Frieden und Erlösung versprach und aus der er am liebsten nie wieder erwachen würde. Hosted by Animexx e.V. 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