The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 19: Fluchtgedanken -------------------------- Das Licht der Öllampe blendete Cassandra, als sie sich zur Seite drehte und müde in Leias Richtung blinzelte. Ihr Kopf brummte und sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Im Moment war es einfach nur schön hier zu liegen und nichts zu tun, alles andere kam ihr wie eine Welt aus Watte vor, die vollkommen nebensächlich geworden war. „Geht es dir besser, Cassandra?“ Leia setzte sich an die Kante des Sofas und servierte Tee und Muffins auf einem Tablett. „Iss etwas und trink deinen Tee.“ „Mache ich“, murmelte Cassie dankbar, nahm einen großen Schluck des gesüßten Tees und biss in einen Erdbeermuffin. Danach legte sie sich wieder hin, schloss die Augen und driftete ab ins Traumreich. Sie rannte und das Geräusch des knirschenden Schnees unter ihren Füßen war so ohrenbetäubend laut in ihrem Kopf, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Mit aller Kraft zwang sie ihren kindlichen Körper immer weiter zu laufen. Licht tat sich vor ihr auf, verschluckte sie und schleuderte sie in tiefste Finsternis. Sie schrie. Ihr Blick traf ein letztes Mal eine Gruppe von fünf Personen, die wie riesige Gestalten gesichtslos vor ihr standen. Cassie riss die Augen auf. Ihr Herz raste, als wäre dieser Traum viel zu nah an der Realität gewesen. Noch nie hatte sie ihren Alptraum weiter erlebt als bis zu dem Punkt, an dem sie zu schreien begonnen hatte. Nie. Doch jetzt wusste sie nicht, ob diese fünf Personen zu ihrem Traum gehörten oder nicht, es war so wahnsinnig verwirrend. „Golb…“ Sie schaute neben sich, wo Golbit auf dem Boden saß und hungrig zu ihr starrte. In diesem Augenblick dämmerte es ihr und zum ersten Mal seit Tagen hatte sie einen halbwegs klaren Kopf, was wohl an dem Adrenalin liegen musste, das ihr Alptraum freigesetzt hatte. Wann hatte sie ihrem Pokémon das letzte Mal etwas zu fressen gegeben? „Es tut mir so leid, Golbit.“ Die junge Trainerin drückte ihr Pokémon versöhnlich und reichte ihm die beiden Erdbeermuffins von ihrem Tablett, von denen sie am Abend nur einen Bissen gekostet hatte. Ihr Blick wanderte durch das dunkle Zimmer bis zum Fenster, durch das nicht wie sonst Mondlicht drang. „Neumond, mein Traum… Golbit, ich kann Leia nicht vertrauen. Sie gibt mir ständig ihre seltsamen Tees, aber was soll ich dagegen tun?“ Eine Antwort erhielt sie natürlich nicht, aber es beruhigte sie, dass sie dem Bodenpokémon beim Fressen zusehen konnte. Als Golbit fertig war und noch immer hungrig wirkte, stand sie auf und wankte auf wackeligen Beinen rüber in die Küche. Schnell fand sie eine Schale, die sie mit Wasser füllte. Von dem Backblech mit den Muffins nahm sie noch zwei weitere, dieses Mal Blaubeermuffins, einen für Golbit und einen für sich. Schweigend saßen sie wieder nebeneinander auf und neben dem Sofa und aßen. Der Blaubeermuffin schmeckte köstlich, Leia war eine sehr gute Köchin. Dennoch fühlte Cassie sich hier von Sekunde zu Sekunde unwohler und begann zu begreifen, dass sie den Überblick darüber verloren hatte, wie lange sie schon hier war. Drei Tage? Vier? Oder schon eine ganze Woche? Angestrengt versuchte sie sich zu erinnern, aber die letzten Tage waren nur eine verschwommene, graue Masse in ihrer Erinnerung. Stattdessen wurde ihr immer bewusster, dass sie hier weg musste. Sie war Leias Gefangene. „Und hast du gut geschlafen?“, fragte Leia am nächsten Morgen mit einer säuselnden Stimme, während sie am Herd stand und Eier für ein Omelett machte. „Zum Glück geht es mit deiner Erkältung bergauf, so ein Pech aber auch, dass Milotic dich beim Wässern des Gartens mit seinem Wasser erwischt hat. Möchtest du noch einen Tee?“ „Nein danke, ich habe nur Hunger, keinen Durst“, log Cassie. Früher war es ihr immer schwer gefallen zu lügen, aber mittlerweile hatte sie es als eine Notwendigkeit anerkannt. Die Wahrheit war, dass sie pausenlos durstig war, weil sie viel zu wenig trank, obwohl sie immer Leias Tees vorgesetzt bekam. „Oh du solltest aber etwas trinken, das ist gesund und du willst doch wieder fit werden?“ Leia lächelte sie an und kam bereits mit einer frisch aufgebrühten Tasse Tee zu Cassie. „Ich habe ihn mit Honig gesüßt. Trink ihn aus, bis das Omelett fertig ist.“ Cassandra starrte auf die Tasse auf dem Couchtisch. Sie wollte diesen Tee nicht trinken, würde sie es aber nicht tun, würde Leia merken, dass etwas nicht stimmte und dass sie ihr misstraute. „Gut, mache ich. Ich muss nur erst auf Toilette, bin gleich wieder da.“ „Sehr schön. Ich warte mit dem Essen auf dich.“ Cassie rang sich ein Lächeln ab, schlug die Decke zur Seite und ging die Treppe hoch ins Obergeschoss, wo auch das Badezimmer lag. Sie hatte nur wenige Minuten, in denen Leia unten noch beschäftigt war, reichte das, um Leias Zimmer nach irgendwelchen Hinweisen – worauf auch immer – zu durchsuchen? Vermutlich nicht, wie sie resigniert feststellte, weshalb sie sich von Leias Zimmertür abwandte und ins Badezimmer ging. Nachdem sie auf Toilette gewesen war und sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, putzte sie sich noch die Zähne und ging zurück nach unten. Leia war bereits mit dem Kochen fertig und deutete auf den Platz gegenüber, wo auch schon der Tee auf Cassie wartete. „Guten Appetit. Vergiss den Tee nicht.“ „Danke, dir auch einen guten Appetit.“ Sie nahm einen Bissen von dem Frühstück und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit Leia von dem Tee abzulenken. „Schmeckt wirklich gut.“ „Schön, das freut mich.“ Die Bürgermeisterin ließ ihren Schützling keine Sekunde aus den Augen, was bei Cassandra eine Gänsehaut verursachte. „Ich habe nachher noch ein Treffen mit einigen Leuten aus dem Dorf, wir werden erst später zu Mittag essen können.“ Die Weißhaarige tat so, als würde sie an dem Tee nippen, vermied jedoch tatsächlich auch nur einen Tropfen zu sich zu nehmen. Das schien Leia soweit zu beruhigen, dass auch sie zu essen begann. „Ein Treffen, das klingt interessant. Was muss dort besprochen werden?“ „So dies und das, langweiliges Zeug. Möchtest du noch ein wenig Gemüse für dein Omelett?“ „Gerne.“ Mit einem engelsgleichen und vollkommen unschuldigen Lächeln reichte Cassie Leia ihren Teller und wartete auf den Moment, in dem Leia ihr den Rücken zuwandte, um zum Herd zu gehen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, in denen Cassie die Tasse genommen und auf einen Schlag die Hälfte des Inhalts in die Topfpflanze neben sich gegossen hatte. Gerade rechtzeitig führte sie die Tasse zum Mund. „Der Tee schmeckt auch gut, was ist das für eine Mischung?“ „Nur ein paar Kräuter für deine Erkältung, Liebes. Bitte, dein Gemüse.“ Schweigend aßen die beiden fertig und letzten Endes blieb Cassie nichts anderes übrig als die halbe Tasse Tee zu trinken, doch sie hoffte einfach, dass die Wirkung nicht so stark sein würde wie bei einer vollen Tasse. Leia räumte das Geschirr ab und stellte es ins Spülbecken. „Ich mache nur noch ein paar Dinge fertig und dann muss ich auch schon los, du kannst dich weiter ausruhen und nachher koche ich uns einen leckeren Kartoffelauflauf.“ „Klingt gut. Danke für deine Gastfreundschaft, Leia.“ „Gerne doch. Ich bin froh, wenn ich meinen Mitmenschen helfen kann.“ „Das sehe ich.“ Für einen winzigen Augenblick lag so eine Spannung in der Luft, dass Cassandra befürchtete, dass Leia hinter ihr kleines Geheimnis kam. Doch die Bürgermeisterin drehte sich weg und Cassie legte sich zurück aufs Sofa, wo sie auch schon mit der aufkeimenden Müdigkeit zu kämpfen hatte. Es musste einfach klappen, dass sie früh genug aufwachte. Eine andere Möglichkeit hatte sie nicht und es würde ihr nicht oft gelingen Leia zu täuschen. Es war vollkommen still im Haus, Leia war bereits gegangen. Cassandra fühlte sich nicht so beschwert wie sonst, auch war sie sofort klar im Kopf, als sie sich aufsetzte und über die Augen rieb. Ihr kleiner Trick hatte funktioniert, doch wie viel Zeit blieb ihr nun? War Milotic auch fort? Mucksmäuschenstill lauschte sie, doch wie schon vorher bemerkt blieb es ruhig. Vorsichtig stand sie auf, durchsuchte das Erdgeschoss nach Milotic. Ein kurzer Seitenblick zur Standuhr verriet ihr, dass es kurz nach elf Uhr war, sie hatte also etwas mehr als eine Stunde, bis Leia zurückkommen würde. Diese Zeitspanne musste einfach ausreichen, um das zu erledigen, was sie vorhatte. Cassie schlich sich nach oben, noch immer besorgt, dass das Wasserpokémon sie überraschen könnte, doch auch oben war keine Spur von der Seeschlange. Erst jetzt entspannte sie sich etwas und öffnete die Tür zu Leias Zimmer. Sie trat ein, schaute sich in dem aufgeräumten Raum um und überlegte kurz, ob sie Golbit für ein bisschen Bewegung aus dem Pokéball entlassen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Ihr Pokémon würde vermutlich nur Unordnung anrichten, dabei sollte Leia nie erfahren, dass sie ihre Sachen durchwühlte. Wo fing man bei so einer Durchsuchung überhaupt an? Zuerst nahm Cassandra sich den Kleiderschrank vor. Sie schob die Tür zur Seite, konnte aber nur Kleidung finden und ein paar Schuhe und Socken, also schob sie die Tür wieder zu und ging zum Schreibtisch. Einige Blätter lagen dort lose herum, andere waren in dicken Mappen mit Ledereinband verstaut. Nach was genau sie suchte, wusste sie nicht, aber sie war fest davon überzeugt, dass Leia ein paar sprichwörtliche Leichen im Keller haben musste. Doch obwohl sie so fest davon überzeugt war, konnte sie die ersten zwanzig Minuten nichts Verdächtiges finden; die Zeit rannte ihr davon. Gerade wollte sie schon aufgeben, als ihr Blick auf ein kleines Foto fiel, das zwischen den ganzen Blättern unterging. Zu sehen waren drei Männer und zwei Frauen mittleren Alters, die mit ihren Pokémon auf einer Wiese saßen und picknickten. Alles wirkte so harmonisch und ruhig, bis Cassie genauer hinschaute und die verbitterten Gesichtsausdrücke erkannte. Drei der Personen hatten dem Fotografen den Rücken zugewandt und von den beiden anderen kam ihr der Mann sogar recht bekannt vor. Wenn sie sich nicht irrte, war das der alte Besucher kurz nach ihrem Eintreffen, den Leia mitten in der Nacht empfangen hatte. Er sah bestimmt dreißig Jahre jünger aus. Vielleicht gehörte er ja zu Leias Familie oder war ein guter Bekannter. Cassie legte das Gruppenfoto weg, streckte ihren verspannten Nacken und suchte weiter vorsichtig in den Unterlagen, bis ihr das zu langweilig wurde. Stattdessen trat sie ans Fenster und blickte hinaus auf das Fischerdorf. Siebzehn Häuser konnte sie zählen, eine sehr kleine, beschauliche Gemeinde also. Bisher hatte sie mitbekommen, dass die meisten Familien vom Handel mit größeren Gemeinden lebten. Fischfang sicherte natürlich das Haupteinkommen, aber manche Familien hatten sich auch dem Anbau von Obst verschrieben, dafür gab es etwas außerhalb des Dorfes kleine Obstplantagen. Viele bauten auch im eigenen Garten Gemüse und Obst an, Leia beispielsweise erntete jedes Jahr ihre eigenen Erdbeeren und besaß auf der Plantage ihrer Familie zwei Birnbäume, um die sie sich kümmerte. Viel erzählte die rothaarige Bürgermeisterin jedoch nicht von ihrem Privatleben. Cassie hatte die wenigen Infos eher nebenbei mitbekommen und wusste auch, dass Leias Verlobter momentan für einige Monate in einer weiter entfernten Stadt arbeitete. Sie trat vom Fenster weg und ging rüber ins Badezimmer, wo ihre schon längst getrockneten Sachen lagen. In den letzten Tagen war es draußen wärmer geworden, der Schnee war geschmolzen und das Eis getaut, es setzte auch hier der Frühling ein. Sie nahm ihre Sachen und brachte sie runter zum Sofa, unter dessen Decke sie ihre kanariengelbe Regenjacke zusammen mit ihrer Hose und ihrem Oberteil versteckte. Anschließend ging sie wieder nach oben. Es war bereits kurz vor zwölf und Leia würde bald nach Hause kommen, weshalb Cassie die Ordnung auf dem Schreibtisch so gut es ging wieder herstellte. Die Lederakten legte sie auf einen Stapel auf der linken Seite, die losen Blätter drehte sie so, wie sie vorher auch lagen. Gerade hatte sie den letzten Stapel Blätter in der Hand. „Cassandra, was tust du da!“, ertönte Leias Stimme direkt hinter ihr aus dem Türrahmen. Noch nie in ihrem Leben hatte die Jungtrainerin sich so erschreckt. Sie wirbelte mit angstgeweiteten Augen herum, ließ die Blätter fallen und konnte nur zusehen, wie sie zu Boden fielen. In Leias Augen funkelte Zorn, als sie zwei Schritte auf Cassie zuging. „Du durchsuchst meine Sachen? Was fällt dir ein!“ Eine Rechtfertigung kam Cassie gar nicht erst über die Lippen, sie war wie erstarrt und blickte runter auf die Blätter, die zwischen ihnen lagen. Auch das Gruppenfoto lag dort, doch daneben noch ein zweites Bild, das Cassandra augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dort lag ein Foto von Lyra und ihr aus der Nacht, in der sie Golbits Ei gefunden hatten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)