The Crystal Palace von Kalliope ================================================================================ Kapitel 16: Weißer Wald ----------------------- Der Weiße Wald ragte majestätisch vor ihnen auf. In den Kronen der riesigen Bäume raschelten die Blätter in der warmen Brise, während die drei jungen Trainer ihr verschobenes Frühstück auf einer Holzbank im Schatten einnahmen. Sie hatten schnell festgestellt, dass es im Pokémoncenter zwar auch überregionale Gerichte gab, die sie schon aus ihren Heimatregionen kannten, doch dass es bereits zum Frühstück dicke Pfannkuchen mit Heidelbeeren und süßem Sirup oder gar Cheeseburger gab, hatte sie ein wenig irritiert. Die anderen Trainer und Reisenden hatten sich wie hungrige Aasgeier darauf gestürzt, doch Lyra und ihre beiden Begleiter wählten lieber mit Bedacht aus. Nichtsdestotrotz hatte jeder von ihnen nun einen Cheeseburger vom morgendlichen Büffet verdrückt und fühlte sich gleich fünf Kilo schwerer. „Wir sollten jetzt weitergehen“, bemerkte Leo, nachdem er einen Blick auf die digitale Uhrenanzeige seines ComDex geworfen hatte. „Elf Uhr, wo auch immer Nero sich hier aufhält, jetzt dürfte er auf den Beinen sein.“ „Wenn er nicht arbeiten ist“, fügte Grace hinzu und stand von der Bank auf. „Eher nicht, schätze ich. Wenn er in Aeros und Airas Alter ist, dürfte er so ungefähr steinalt sein“, witzelte der Schwarzhaarige und folgte Grace zusammen mit Lyra, die gerade ihre fettigen Finger an einer Serviette abwischte und diese dann in ihren Rucksack stopfte. Kurz darauf kamen einige Häuser in Sicht, deren Gärten sich kaum von der Umgebung abgrenzten, wenn da nicht die hüfthohen Holzzäune wären. In einem der Gärten saß eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn, der einem Vegimak hinterherjagte, während die Mutter Unkraut jätete. „Kommt, wir fragen mal nach“, schlug Lyra vor, überholte Grace und trat an den Gartenzaun. „Entschuldigen Sie?“ Sowohl Pokémon und Sohn als auch die Mutter blickten überrascht auf, dann stand die Frau auf und klopfte sich etwas Erde von der Kleidung. „Ja, bitte? Kann ich euch helfen?“ „Wir sind auf der Suche nach jemandem“, erklärte Lyra, während die Frau an den Zaun kam. „Man hat uns gesagt, dass er hier im Weißen Wald lebt. Sein Name ist Nero und er müsste schon relativ alt sein.“ „Nero?“ Die Frau legte nachdenklich den Kopf schief, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich lebe schon seit meiner Geburt hier im Wald, aber einen Nero kenne ich nicht.“ Die drei Jungtrainer wechselten einen Blick und die Enttäuschung war ihnen anzusehen. Dennoch sprach Lyra weiter. „Vielleicht ist er vor langer Zeit aus Johto zugezogen. Wir sind von Johto hier her gereist, weil wir etwas Wichtiges mit ihm besprechen müssen. Freunde von ihm haben uns geschickt.“ „Johto?“, wiederholte die Frau und wirkte noch immer nicht überzeugt davon, dass es jemanden in diesem Wald geben sollte, den sie nicht kannte. Doch nach einigen Sekunden, in denen Lyra schon die Hoffnung aufgegeben hatte, erhellte sich ihr Gesicht. „Johto, sagtest du? Nun, ich kenne nur einen, den ihr vielleicht meinen könntet, wobei ‚kennen‘ nicht das richtige Wort ist, niemand hat wirklich viel mit ihm zu tun.“ Ein nervöses Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Der Alte ist ein ziemlicher Einsiedler, er kommt nur etwa einmal die Woche ins Dorf, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen, die er nicht selbst anbauen kann.“ „Und wo finden wir diesen Mann?“ „Herr Blackwood lebt, wie gesagt, als Einsiedler ziemlich außerhalb.“ Dann deutete sie in eine Richtung. „Folgt diesem Weg bis ganz ans Ende, dann könnt ihr sein Haus nicht verfehlen. Wir alle wissen nicht viel über ihn, aber er muss in seinen jüngeren Jahren viel herumgekommen sein. Bestimmt war er auch in Johto.“ „Vielen Dank für die Auskunft!“ Lyra lächelte der Mutter zu, dann drehte sie sich zu Grace und Leo um und beschleunigte sofort ihren Gang. „Das klingt doch vielversprechend, meint ihr nicht?“ „Hoffen wir, dass Nero wirklich Blackwood mit Nachnamen heißt, sonst haben wir keinen Anhaltspunkt mehr“, murmelte Leo, schüttelte jedoch den Kopf und schaute sich genauer um, während sie durch das Dorf liefen und es schon bald darauf hinter sich ließen. Es gab gut dreißig Häuser, die den Kern des Dorfes bildeten, und noch einmal etwa zehn, die in einem Umkreis von zwei- bis dreihundert Metern zu finden waren. Man konnte also wirklich von einer sehr beschaulichen Gemeinde sprechen, für die es wirklich seltsam wirken musste, wenn jemand sich so selten blicken ließ. Sie waren etwa eine halbe Stunde zu Fuß unterwegs, als der Waldweg breiter wurde und schließlich in eine kleine Lichtung mündete, auf der ein wirklich alt anmutendes Haus stand. Die Wände waren aus unregelmäßigen Steinen geformt, doch die Fenster und Fensterläden strahlten in frisch lackiertem, weißem Holz. Daneben befanden sich noch ein Schuppen und ein Brunnen, weiter hinter dem Haus konnten sie die Konturen eines Gewächshauses erahnen. „Meint ihr, er ist hier?“, flüsterte Lyra, obwohl sie nicht einmal genau wusste, wieso sie sich mit der Stimme zurücknahm. „Es kommt Rauch aus dem Schornstein, also wird er wohl noch vor kurzem hier gewesen sein.“ Die drei schauten sich einige Minuten ratlos an und beobachteten das Haus, bis sie hinter einer der Gardinen eine Bewegung wahrnahmen. „Er beobachtet uns, wie wir ihn beobachten!“, stieß Lyra erschrocken aus und ihr Herz hämmerte hart in ihrer Brust. „Lasst und anklopfen, wenn er schon weiß, dass wir da sind.“ Grace machte den ersten Schritt, die beiden anderen folgten ihr bis zur Türschwelle, wo Grace den Türklopfer aus Metall in die Hand nahm. Beinahe blechern klang das Geräusch, doch es tat sich nichts. Noch einmal klopfte Grace, zog dann die Augenbrauen in die Höhe und zuckte passend dazu mit den Schultern. „Herr Blackwood? Wir wissen, dass Sie da sind. Wir möchten uns nur kurz mit Ihnen unterhalten. Hallo? Öffnen Sie doch die Tür!“ Wieder keine Reaktion und das ließ Lyra frustriert seufzen. „Er will nicht mit uns reden, vielleicht haben wir den Falschen erwischt.“ „Nein.“ Grace schüttelte ihren Lockenkopf, trat ein paar Schritte zurück und starrte provozierend zu den dichten Fenstergardinen. „Herr Blackwood? Nero Blackwood?“ Keine drei Sekunden später wurde die Tür aufgerissen und ein alter Mann blickte sie griesgrämig aus seinen tiefschwarzen, intelligenten Augen an. Sein Haar war dunkelgrau und der Dreitagebart wirkte sehr ungepflegt. „Was wollt ihr Gören von mir?“, zischte er und verengte die Augen zu misstrauischen Schlitzen. Neben ihm kam ein Magnayen in Sicht, das sein Fell aufgestellt hatte und leise knurrte. „Woher kennt ihr meinen Namen?“ Die drei rotteten sich etwas verschreckt zusammen und sowohl Grace und Leo warfen Lyra einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie mit ihm reden sollte, weil sie Cassandras Freundin war. Lyra räusperte sich, trat vor und nestelte nervös an dem Saum ihrer Jacke herum. „Wir wollen Sie wirklich nicht lange stören, aber wir haben einen sehr weiten Weg hinter uns.“ „Ihr habt nach mir gesucht? Wer seid ihr?“ Mit jedem Wort klang seine Stimme noch bedrohlicher als zuvor. Hektisch blickte er sich um. „Seid ihr allein gekommen?“ „Ja, aber wir…“ Nero starrte sie an, dann öffnete er die Tür ganz und ging ins Haus – eine stumme Anweisung einzutreten. Lyra zögerte einen Moment, doch Leo und Grace schoben sie vor und folgten ihr dann nach drinnen. „Nun mach schon“, zischte Leos Stimme nah an Lyras Ohr. Diese schaute sich nur flüchtig um. Ein eigentlich recht gemütliches Wohnzimmer, viele Bücherregale und in der Ecke ein kleiner Kamin. Doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte Nero sich zu ihnen um und musterte sie eingehend. „Woher kommt ihr?“ „Aus Johto“, antwortete Lyra schnell. „Nun, ich komme aus Johto. Mein Name ist Lyra Hawkins. Das sind Grace Light und Leo Galloway, die beiden kommen aus Kanto und Sinnoh, aber wir haben uns in Johto kennen gelernt.“ „Komm zum Punkt.“ Nero wirkte gelangweilt und machte deutlich, dass er niemand war, den man unnötig langweilen sollte. Währenddessen legte sich sein Magnayen zu seinen Füßen nieder und leckte sich die Pfoten. „Der Weise Aero und die Kimono-Girl-Älteste Aira schicken uns.“ Nero hob die Hand und augenblicklich verstummte Lyra. „Aero und Aira, sagst du?“ Er stieß einen abfälligen Grunzlaut aus. „Dann kann ich euch nicht helfen. Wir haben uns vor sehr, sehr langer Zeit im Streit getrennt. Geht jetzt, das Gespräch ist beendet.“ „Nein, bitte, lassen Sie mich erzählen!“ Ein Flehen lag in ihrem Blick, doch sie traute sich auch nicht näher an Nero heranzutreten, da zwischen ihnen noch sein Magnayen lag. „Sie müssen uns helfen! Meine beste Freundin Cassandra ist in Gefahr und Aero und Aira haben uns deshalb den ganzen Weg hier her geschickt. Sie können doch nicht einfach sagen, dass Sie uns nicht helfen können! Cassandra und ich waren in der Ruine des Bronzeturms, als irgendein Teleportmechanismus sie an einen anderen Ort gebracht hat. Aero und Aira sagten, dass Sie wüssten, wohin Cassie gebracht worden ist. Bitte!“ „Du solltest dich selbst reden hören, Mädchen. So einen Unfug habe ich schon lange nicht mehr gehört. Wo habt ihr diesen Schwachsinn aufgeschnappt, hm?“ Nero schüttelte den Kopf, presste dabei seine Lippen hart aufeinander, wenn er nicht gerade sprach. „Ich sagte, ihr sollt verschwinden. Raus hier!“ Allmählich stieg pure Verzweiflung in Lyras Körper auf. Ihre Kehle fühlte sich trocken und zugeschnürt an. Sollte das etwa alles gewesen sein? Sie konnte nicht glauben, dass sie den ganzen Weg umsonst gekommen waren. Die letzten drei Wochen konnten doch nicht verschenkte Zeit gewesen sein. Nero musste irgendetwas wissen! „Bitte!“ „Raus!“ Magnayen sprang auf, fletschte mit den Zähnen und trieb die drei Stück für Stück zurück zur Haustür. „Lyra, es hat keinen Sinn.“ Leo und Grace verließen zuerst das Haus und schauten zu Lyra. „Warum wollen Sie uns nicht helfen? Sie kennen die beiden doch, Sie müssen etwas darüber wissen!“ Lyra wich noch immer vor den scharfen Zähnen des Unlichtpokémon zurück, doch dabei suchte sie auch fieberhaft in ihrem Rucksack nach dem Bruchstück der mysteriösen Steinplatte. Als sie die kühle Oberfläche fühlte, entspannte sie sich ein wenig und zog das Bruchstück heraus. „Sehen Sie doch, hat das denn keine Bedeutung?“ Magnayen sprang mit einem Satz nach vorne, schnappte nach ihr und scheuchte alle drei bis zu den Bäumen. Dann kehrte es ihnen mit einem letzten Knurren den Rücken zu und ins Haus zurück. Mit pochenden Herzen schauten die drei sich an und Lyra kamen sogar vor Wut die Tränen. „Er hat nicht einmal mit sich reden lassen!“ Wütend kickte sie gegen eine Baumwurzel, hatte jedoch einen schmerzenden Zeh und das Nachsehen, also ließ sie sich auf der Wurzel nieder und starrte auf den Stein in ihrer Hand. „Wir sind den ganzen Weg völlig umsonst gekommen.“ „Oh, Lyra…“ Grace setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. So saßen sie einige Minuten lang schweigend da, bis sie hörten, dass sich die Tür erneut öffnete und Nero zu ihnen schaute. „Was wollen Sie noch von uns, wir verschwinden doch gleich“, fuhr Leo ihn sauer an. Nero reagierte darauf gar nicht, sondern kam mit einigen Schritten zu ihnen. „Der Stein, den du bei dir hast, lass mich ihn sehen.“ „Wozu?“, erwiderte Lyra trotzig, stand auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Sie sind doch nur ein verbitterter, alter Mann.“ Trotzdem drückte sie ihm ihren Teil der Steinplatte in die Hand und beobachtete Nero, wie er den Stein drehte und wendete. Seine dunklen Augen lagen auf der speziellen Maserung, auf der glatten Oberfläche, wobei er auch das Gewicht testete, indem er den Stein hin und wieder ein kleines Stück in die Luft warf. Schließlich bildete sich zum ersten Mal ein leicht amüsiertes Schmunzeln um seine Mundwinkel. „Weißt du, was das für ein Stein ist?“ „Nein“, gestand Lyra ehrlich. „Aira hat meiner Freundin Cassandra und mir eine Steinplatte geschenkt und wir haben sie in zwei Hälften gebrochen, damit jede von uns etwas hat.“ „Zerbrochen, ja?“ Nun schien Nero wirklich amüsiert zu sein. Er gab Lyra den Stein zurück. „Und du hast keine Ahnung, was das für eine Steinplatte ist?“ „Nicht die geringste“, mischte sich nun auch Leo ein, wurde jedoch von einem Seitenblick Neros zum Schweigen gebracht. Es war offensichtlich, dass er nur mit Lyra sprach. „Leo sagt die Wahrheit, Aira hat uns nichts über diese Platte gesagt. Hat sie etwas mit Cassandras Verschwinden zu tun?“ „Diese Platte?“ Nero grunzte und fuhr sich durch das graue, volle Haar. In jungen Jahren musste er einmal sehr ansehnlich gewesen sein. „Du weißt nicht, was für Kräfte die Platte hat und du hast sie einfach zerbrochen. Das ist amüsant, wirklich amüsant.“ „Was genau ist so amüsant? Herr Blackwood, bitte, uns läuft die Zeit davon. Wissen Sie, wo wir Cassie finden können?“ Er ignorierte Lyras Frage zum widerholten Male. „Und Aero und Aira haben euch den ganzen Weg zu mir geschickt, damit du mir die zerbrochene Platte zeigst und mir erzählst, dass deine kleine Freundin in den Ruinen vom Bronzeturm verschwunden ist?“ „Ja, das sagte ich doch bereits. Cassie und ich waren in den Ruinen und haben eine Wand entdeckt, in die das Bild eines Golgantes eingemeißelt war. Unsere Steinplatte hat in die Vertiefung der Mitte gepasst, aber wir haben sie nicht eingesetzt, das schwöre ich! Auf einmal kam der Vollmond hinter den Wolken hervor und alles leuchtete um uns herum, dann ist Cassie von so einem Lichtstrudel eingesperrt worden und kurz darauf… war sie verschwunden.“ „Hmm…“ Nero runzelte die Stirn, schaute eine Weile in den Himmel und wieder zu Lyra. „Und deshalb schicken Aira und Aero dich zu mir. Ja, das sieht ihnen ähnlich, sie haben schon immer ihre eigenen Spielchen gespielt.“ „Was meinen Sie damit?“ Nero schnaubte verächtlich und deutete auf den Stein in ihrer Hand. „Diese Platte, wenn sie denn ganz ist, ist der Schlüssel zu der Wandmalerei. Sie aktiviert den Mechanismus, doch die Platte alleine reicht nicht aus. Und dass du jetzt hier bist und nicht bei den Zwillingen“, damit meinte er Aira und Aero, „zeigt, dass ich Recht habe. Sie planen etwas. Wenn sie euch die Platte gaben, vertrauten sie darauf, dass ihr sie auch benutzen würdet, wobei ich mich frage, ob… Nun ja.“ Lyras Herz zog sich ängstlich und angespannt zusammen. „Was meinen Sie damit?“, wisperte sie und auf einmal schien ihr der Stein in ihrer Hand viel zu verhängnisvoll zu sein. Der Weise und das alte Kimono-Girl hatten ihr doch geholfen, als sie vollkommen verzweifelt war, wieso sollten sie auf einmal etwas damit zu tun haben? Mit einem finsteren Blick schaute Nero ihr tief in die Augen. „Ich kann euch nicht besser helfen als die beiden es auch könnten. Wir beschützen diesen Mechanismus, Lyra.“ Zum ersten Mal benutzte er ihren Namen. „Wir sind diejenigen, die ihn aktivieren und verschließen können. Wir sind… die Wächter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)